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»Es gibt in unserem politischen Vokabular nur wenige Begriffe, die sich einer solch umfassenden Beliebtheit wie das Wort Faschismus erfreuen, ebenso aber gibt es nicht viele Konzepte im politischen Vokabular der Gegenwart, die gleichzeitig derart verschwommen und unpräzise umrissen sind.«

Mit diesem Satz leitete der bedeutende israelische Historiker Zeev Sternhell 1976 seinen Aufsatz »Faschistische Ideologie« ein. Dieser Satz gilt bis heute – insbesondere für Deutschland. Daher nimmt Sternhell in dieser Einführung (die nun in einer überarbeiteten Neuausgabe vorliegt) eine genaue Bestimmung des Begriffes Faschismus aus seiner historischen und ideologischen Entwicklung heraus vor.

Zeev Sternhell ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und lebt in Tel Aviv. Er veröffentlichte unter anderem: »Maurice Barrès et le nationalisme français« (1972) »Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France« (1983), »Naissance de l’idéologie fasciste« (1989, deutsch: »Die Entstehung der faschistischen Ideologie«, Hamburg 1999).

ZEEV STERNHELL

FASCHISTISCHE IDEOLOGIE

EINE EINFÜHRUNG

Aus dem Englischen von Volkmar Wölk

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Erste Auflage

ISBN: 978-3-95732-312-5

Printed in Germany

Der Verlag dankt Leonie Jeismann, Laura lo Conte, Till Tannhäuser und Philipp Bräuner.

INHALT

Die intellektuelle Krise der Jahre nach 1890

Nationalismus, Sozialismus und Anti-Liberalismus

Eine neue Zivilisation

Der Einzelne und die Gemeinschaft

Ein neuer »Sozialismus«

Totalitarismus

Weiterführende Literatur

Zu dieser Ausgabe

Es gibt in unserem politischen Vokabular nur wenige Begriffe, die sich einer solch umfassenden Beliebtheit wie das Wort Faschismus erfreuen, ebenso aber gibt es nicht viele Konzepte im politischen Vokabular der Gegenwart, die gleichzeitig derart verschwommen und unpräzise umrissen sind.

Tatsächlich scheint es so zu sein, als ob die Erforschung des Faschismus noch in den Kinderschuhen stecke, und dass es zu wenige Wissenschaftler gebe, die sich umfassend um ein tiefgreifendes Verständnis dieses Phänomens bemühen. Die bisherigen Forschungen wurden dabei u. a. durch den Umstand behindert, dass der Faschismus, der vor allem nationalistisch und deshalb an erster Stelle eine Ideologie des Ausschlusses war, unter Gegebenheiten gedieh, die sich erheblich voneinander unterschieden – sowohl in den großen Industriezentren Westeuropas als auch in den unterentwickelten Ländern Osteuropas – und sich seit seinen Anfängen sowohl an die jeweiligen intellektuellen Eliten als auch an die unwissende Landbevölkerung wandte. Der Faschismus findet seine Anhängerschaft oder seine offensichtliche Verankerung nicht in irgendeiner bestimmten sozialen Klasse, und seine geistigen Ursprünge sind in sich selbst bereits verwirrend. In seinem eingeschränktesten Sinn wird das Wort Faschismus einfach auf das politische Regime in Italien in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen angewandt; im Gegensatz dazu wird die Kennzeichnung faschistisch in ihrem weitesten Sinn als Schimpfwort par excellence, endgültig und keinen Widerspruch duldend, besonders durch Linke unterschiedlichster Färbung genutzt.

Der emotionale Gehalt dieses Wortes hat lange Zeit dazu beigetragen, dass ein politisches Konzept im Dunkeln verblieb, das noch nie ganz klar war. Wenn sowohl Mussolini als auch Léon Blum, Franklin D. Roosevelt, Franco und José Antonio, Codreanu, Pilsudski, Henri de Man, Joseph McCarthy und Charles de Gaulle als Faschisten bezeichnet worden sind, was kann dann ein Gattungsbegriff Faschismus noch aussagen? Und solange Sozialisten von Kommunisten als Sozialfaschisten bezeichnet wurden, während die preußischen Junker, die italienischen Konservativen oder die französische Bewegung Croix de Feu von genau den gleichen Leuten als faschistisch beschrieben wurden, die selbst durch Togliatti, Thorez und Thälmann als Faschisten denunziert wurden, wie konnte es da für die Mehrheit der politisch gebildeten Menschen möglich sein zu beurteilen, was Faschismus wirklich bedeutet?

Obwohl in den 1960er Jahren ein Durchbruch gelang, indem die ersten umfassenden Untersuchungen des Gegenstands es uns ermöglicht haben, die Gestalt des Faschismus in einer Weise zu skizzieren, die nur wenige Jahre zuvor nicht möglich gewesen wäre, ist inzwischen klar, dass es noch immer keine einfache Angelegenheit ist, Faschismus präzise zu bestimmen, und dass noch immer keine allgemein anerkannte oder eine als gültig angesehene Definition des Faschismus existiert. Wir können uns mit einiger Berechtigung optimistischer fühlen als Professor Hugh Seton-Watson, der die Ansicht vertritt, dass wissenschaftliche Präzision gegenwärtig nicht erreichbar und es zweifelhaft sei, ob sie es jemals sein werde.1 Aber trotz dieses Optimismus dürfen wir nicht die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten übersehen.

Wir sollten allerdings bedenken, dass eine Definition des Begriffs Demokratie keineswegs einfacher ist: Die Konzepte sind zu breit angelegt, um sie in Worte zu fassen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass kein einziges historisches Beispiel die genauen Definitionskriterien eines sorgsam konstruierten »Modells« von Faschismus oder Demokratie erfüllen kann. Das mag Professor N. Kogan im Sinn gehabt haben, der nach der sorgfältigen Erarbeitung eines Sechs-Punkte-Modells des Faschismus, wobei er viele seiner Beispiele für faschistisches Denken und Handeln aus dem italienischen Regime übernommen hatte, zu dem ziemlich überraschenden Schluss kam, dass der Praxis nach »Italien unter dem Faschismus kein faschistischer Staat war«2. Dies ist in der Tat zutreffend, wenn Kogan zu verstehen geben will, dass Italien unter dem Faschismus kein idealer faschistischer Staat gewesen ist. Der gleiche Nachweis könnte bezüglich der Demokratie oder des Kommunismus geführt werden. Was ist das Idealbild der Demokratie oder des Kommunismus, was sind – in aller Exaktheit – die dazu gehörenden Bestandteile und wo sind sie in die Praxis umgesetzt?

Die Beantwortung der Frage wird sogar noch komplexer, wenn wir das Feld der Untersuchung auf die Ideologie des Faschismus einschränken. Umfassende Übereinstimmung bestand über lange Jahre hinweg in der Ansicht, beim Faschismus entweder einen völligen Mangel ideologischer Konzepte feststellen zu können oder aber davon auszugehen, dass sich dieser um des Erfolges willen in einige wenige Fetzen einer Lehre gehüllt habe, die deshalb weder ernst genommen werden müsse, noch im mindesten die Bedeutung habe, die der Herrschaft politischer Ideen über eine politische Bewegung allgemein zugewiesen wird. Diese Meinung war fast immer mit einer grundsätzlichen Weigerung verbunden, den Faschismus als irgendetwas anderes als einen schrecklichen Lapsus in der europäischen Geschichte zu betrachten. Dem Faschismus eine theoretische Dimension zuzugestehen, könnte dazu führen, ihm einen Platz und eine Bedeutung in der Zeitgeschichte zuzuweisen, was vielen Menschen, von der Linken wie von der Rechten, widerstrebte, oftmals aus Gründen, die zugleich ähnlich und widersprüchlich sind.

Die offizielle marxistische Interpretation des Faschismus, die diesen als die Schöpfung des Monopol- oder Finanzkapitalismus begreift und seine Ideologie als unreife Rationalisierung kapitalistischer Interessen, hat ebenfalls dazu beigetragen, das Studium der faschistischen Ideologie im Stillstand verharren zu lassen. Lange Zeit galt die bloße Vorstellung, dass der Faschismus eine Massenbewegung sein könnte, die von einer Ideologie getragen sei, die an die Bedürfnisse der modernen Politik und der Massengesellschaft angepasst sei, als contra bona mores. Und während der Kriegsjahre wurde derjenige, der diese Ansicht vertrat, – zuweilen mit gutem Grund – verdächtigt, wenn schon nicht mit dem Faschismus bzw. Nazismus zusammenzuarbeiten, so doch zumindest dieser Ideologie gegenüber eine positive Haltung einzunehmen.

Andere Interpretationen des Faschismus stützten sich auf die Argumentation, dass es dem Faschismus oder dem Nationalsozialismus zwar nicht völlig an einer Ideologie mangelte, dass diese aber vollkommen nebensächlich und unwichtig gewesen sei. Sie behaupteten, dass Mussolini und Hitler zur Macht gekommen seien, ohne Wert auf die Natur ihrer Doktrin gelegt zu haben, bzw. dass diese Doktrin nach der Machtübertragung nicht in die Praxis umgesetzt worden sei. Beide könnten deshalb als Abenteurer und Opportunisten ohne Überzeugung und Prinzipien charakterisiert werden. Es ist notwendig zu erwähnen, dass solcherlei Überlegungen bei der Analyse des Kommunismus selten ins Spiel gebracht werden. Denn wenn dies getan würde, könnte niemand mehr behaupten, in der Oktoberrevolution oder in der Machtergreifung durch andere kommunistische Parteien sei eine sorgfältige Umsetzung der von Marx und Lenin oder irgendeinem ihrer Schüler verkündeten Ideen zu erkennen. Es wäre tatsächlich schwer zu behaupten, dass die Entwicklung im Sowjetstaat durch einen solchen ursächlichen Zusammenhang beherrscht wird, da die Politik den Anforderungen der marxistischen Philosophie entspricht. Wer wäre, was das betrifft, in der Lage, von Tag zu Tag zu bestimmen, was diese Anforderungen sind? Und wer würde dafür als kompetent erachtet werden?

Und trotzdem wird die kommunistische Ideologie breit untersucht, um Einsichten in die kommunistische Praxis zu erhalten. Sie wird allgemein als wesentlich für unser Verständnis des Kommunismus als eines umfassenden Systems sozialer und politischer Organisation betrachtet. Es besteht keinerlei Grund, warum eine identische Methode nicht auf den Faschismus angewendet werden sollte. Überdies hat Professor Eugen Weber herausgestellt, dass wir selbst dann aus der Untersuchung faschistischer oder nationalsozialistischer Manifeste beträchtlich lernen können, wenn diese nicht vollständig oder überhaupt nicht umgesetzt worden sind. Dies gilt besonders dann, wenn wir sie mit ähnlichen Programmen oder Doktrinen vergleichen, die in anderen Ländern und möglicherweise unter anderen Verhältnissen entwickelt worden sind. Politiker wissen ebenso wie Politikwissenschaftler sehr wohl, dass Plattformen und Ideologien Bedeutung zukommt. Teilweise erzählen sie uns tatsächlich etwas darüber, was ein Kandidat und seine Partei denken (gerne denken würden oder wünschen, dass die Öffentlichkeit denkt, dass sie es denken), und teilweise spiegeln sie die Meinung der Öffentlichkeit wider, nämlich bezüglich der Themen, die diese Öffentlichkeit wahrscheinlich ansprechen, damit sie entsprechend wählt oder in irgendeiner anderen Weise unterstützend wirkt.3

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Faschismus. Sie beschränkt sich auf den Faschismus und ignoriert bewusst den Nazismus. Dies geschieht sowohl aus Platzgründen und der Arbeitsteilung mit anderen Autoren als auch aus inhaltlichen Überlegungen. Eine Diskussion über den Nazismus hätte die Betrachtung weit über das hinaus ausgeweitet, was vernünftigerweise im Rahmen dieses Bandes erreicht werden kann, denn Nazismus kann meiner Meinung nach nicht als eine bloße Variante des Faschismus behandelt werden: seine Betonung des biologischen Determinismus schließt alle Bemühungen aus, ihn als solche zu betrachten. Bereits diese Frage ist hochkompliziert, und eine Untersuchung der spezifischen Charakteristika des Nazismus in Bezug auf seine Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus würde weniger ein Studium des Faschismus erfordern als vielmehr eine vergleichende Analyse von Faschismus und Nazismus. Dies bleibt selbst dann richtig, wenn man den Nazismus als eine Verschärfung des Faschismus betrachtet. Die neue Qualität eines politischen Phänomens ergibt selbst ein neues und davon abweichendes Phänomen. Dies soll nicht heißen, dass es in bestimmten Ausprägungen des Faschismus nicht ebenfalls einen rassistischen Faktor gegeben hätte. Beispielsweise gab es in Frankreich eine Strömung des Faschismus, die in dieser Hinsicht dem Nazismus stärker ähnelte als dem italienischen Faschismus. Trotzdem zwingen uns die offenkundigen Tatsachen insgesamt zu dem Eingeständnis, dass es einen Punkt gibt, ab dem der Grad des Extremismus einer politischen Bewegung radikal den grundlegenden Charakter dieser Bewegung verändert.

Darüber hinaus wird sich dieser Artikel auf die Untersuchung der faschistischen Ideologie beschränken. Professor Martin Seliger zufolge wird der Terminus Ideologie benutzt, um einen konzeptionellen Bezugsrahmen mit Auswahlkriterien und Entscheidungshilfen zu schaffen, durch den die wesentlichen Aktivitäten einer organisierten Gemeinschaft bestimmt werden. Deshalb sind die Zusammenstellungen von Ideen, durch die Menschen die Ziele und Zwecke organisierter sozialer Handlung zur Bewahrung oder Wiederherstellung einer gegebenen Realität erklären und rechtfertigen, Ideologien. In der Tagespolitik können zwei unterschiedliche Arten ideologischer Argumentation beobachtet werden. Jedes handlungsorientierte Denken, von der politischen Philosophie bis herab zur Parteiideologie, beinhaltet von Anfang an pragmatische Rücksichtnahmen. Für eine Partei oder Bewegung an der Macht oder im Kampf um die Macht steigt unvermeidlich die Notwendigkeit einer mehr oder weniger offenen Darlegung der unmittelbaren Ziele. Keine Partei ist bei der Gestaltung spezifischer Politikfelder unter den herrschenden Gegebenheiten jemals in der Lage gewesen, Handlungsweisen zu vermeiden, die unvereinbar oder zumindest schwer in Einklang zu bringen sind mit den grundlegenden Prinzipien und Zielen, die sie in ihrer Ideologie herausgestellt hat. Ein Konflikt entsteht nicht einfach zwischen Ideologie und Handlung, sondern auch innerhalb der Ideologie selbst. Das Problem, die doktrinäre Reinheit der Bewegung zu wahren, besteht in den Parteien aller politischen Systeme, und seine Existenz bestätigt die Tatsache einer zweidimensionalen Argumentation.4

Deshalb besteht die erste grundlegende Unterscheidung bei der Betrachtung faschistischer Ideologie in der zwischen Faschismus an der Macht und Faschismus in der Opposition, zwischen Bewegungen und Herrschaftssystemen, zwischen den Ursprüngen und dem Reifestadium. Faschismus an der Macht war etwas, zu dem faschistische Parteien, abhängig vom betreffenden Land, bemerkenswert unterschiedliche Beiträge erbrachten. Jedes Land, in dem es eine faschistische Partei gab, wies Besonderheiten auf, die berechtigterweise von den dortigen politischen Organisationen berücksichtigt wurden. Nichtsdestotrotz wurden diese nationalen Gegebenheiten normalerweise nochmals stärker herausgehoben, wenn ein sogenanntes faschistisches Regime im Entstehen begriffen war. Deshalb weisen Bewegungen wesentlich mehr Gemeinsamkeiten auf als dies bei Regimen der Fall ist. Sie verfügen in der Tat über eine beträchtliche Menge an Gemeinsamkeiten. Daher lässt sich daraus eine klare Vorstellung davon ableiten, was die faschistische Ideologie ausmacht.5

Mussolini und andere faschistische Führer argumentierten folgerichtig, dass die grundlegenden doktrinären Postulate faschistischer Regime eine Art von universalem Charakter aufwiesen, aber bis Mitte der sechziger Jahre wurde seltsamerweise der universale Aspekt der faschistischen Lehre fast vollständig übersehen. Trotzdem werden faschistische Ideologen niemals müde zu behaupten, der Faschismus sei, in den Worten von Sir Oswald Mosley, »ein weltweites Glaubensbekenntnis. Jede der großen politischen Denkschulen ist ihrerseits eine universale Bewegung gewesen: Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus stimmen in nahezu jedem Land überein … In dieser Hinsicht nimmt Faschismus genau die gleiche Stellung ein«6. Bereits Mussolini hatte angeführt, dass »Faschismus als Idee, Doktrin und Verwirklichung universal ist«, denn »niemals zuvor haben die Völker so wie heute nach Autorität, Führung und Ordnung gedürstet. Wenn jedes Zeitalter seine Doktrin hat, dann deuten zahllose Symptome darauf hin, dass die Doktrin unseres Zeitalters die faschistische ist.«7

Die zweite Unterscheidung, die man im Gedächtnis behalten muss, besteht in dem, was wir mit Seliger die fundamentalen und die operativen Dimensionen der Ideologie nennen können: die grundlegenden Prinzipien, die die Endziele bestimmen, und die operative Ideologie, deren Aufgabe darin besteht, die aktuell durch eine Partei ersonnene oder durchgeführte Politik zu rechtfertigen. Abweichungen von den Grundaussagen in der Praxis sind ein universales Phänomen.8 Faschistische Bewegungen und faschistische Regime können deshalb nicht als prinzipienloser betrachtet werden als irgendwelche anderen Bewegungen und Regime, besonders wenn es sich um revolutionäre handelt. Als Leonard Shapiro über dieses Thema in »The Communist Party of the Soviet Union« (London 1960) schrieb, betonte er, er habe »bisher noch keinen einzigen Fall entdeckt, in dem die Partei aus doktrinären Überlegungen heraus bereit gewesen wäre, den eigenen Machterhalt zu gefährden«. Dies bedeutet nicht, dass das Auseinanderklaffen zwischen Theorie und Praxis niemals ernsthafte Schwierigkeiten hervorrief. Dergleichen ist in Italien, in Deutschland oder in jeder anderen faschistischen Partei geschehen. Ein beträchtlicher Teil des faschistischen Opportunismus, seiner Praxis, unmittelbare Ziele zu legitimieren, egal wie stark sie den grundlegenden Prinzipien widersprechen, ist der Natur jeder Ideologie inhärent, die sich als Grundlage einer neuen Gesellschaft betrachtet. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass mit der wachsenden Kluft zwischen den letztendlichen Zielen und den ursprünglichen Plänen für die Umgestaltung der Gesellschaft auch die Diskrepanz zwischen Ideologie und Praxis immer wichtiger und somit die Tendenz bestärkt wird, das Regime des Opportunismus zu beschuldigen oder die Ideologie, auf die es behauptet sich zu berufen, gleich ganz zu ignorieren.

Die Anpassung von Ideologien an wechselnde Bedingungen, seien es falsch bewertete Fakten oder unvorhergesehene Konsequenzen der Verwirklichung von Prinzipien, ist ebenso eine allgemeine Erscheinung wie die Tatsache, dass auf längere Sicht keine wichtige Organisation ohne ideologische Abdeckung bleibt, selbst wenn wir annehmen, dass sie zunächst ohne eine solche überhaupt entstehen kann.

In dieser Hinsicht entspricht die faschistische Ideologie eher dem Regelfall, als dass sie eine Ausnahme wäre. Richtig ist aber auch, dass es sich hier um eine Ideologie handelte, die darauf ausgerichtet war, sowohl pragmatisch als auch revolutionär zu sein und den Alltag mit all seinen Angelegenheiten nicht aus dem Blick zu verlieren. Mussolini machte es zu einem politischen Prinzip, dass die faschistische Ideologie den Notwendigkeiten des wirklichen Lebens angepasst werden könne: Ideologie »darf nicht ein Hemd des Nessus sein, das uns für alle Ewigkeit anhängt, denn das Morgen ist ungewiss und unvorhersehbar.« Gleichfalls war er sich sehr bewusst, dass eine ideologische Argumentation auf zwei verschiedenen Ebenen existiert. Vor vierzig Jahren griff Mussolini einige der damals neuesten Erkenntnisse der modernen politischen Wissenschaft auf und vollzog eine deutliche Trennung zwischen »den bescheidenen Sammlungen unserer Gesetze und Programme – dem theoretischen und praktischen Leitfaden des Faschismus« und »den Grundlagen der Doktrin«. Er erläuterte, dass die ersteren »überarbeitet, korrigiert, erweitert und weiterentwickelt werden sollten, weil sie in einigen Fällen bereits durch die Entwicklung modifiziert worden sind.«9

Indem er eine Ideologie verkündete, die eng mit der Aktion, die sowohl eine inspirierende Tat sein konnte als auch die Reflexion derselben,10