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Christian J. Jäggi

Bausteine einer politischen
Friedensordnung im Judentum

Christian J. Jäggi

Bausteine einer politischen
Friedensordnung im Judentum

Ethische Grundlagen

Tectum Verlag

Bereits erschienen:

Frieden, politische Ordnung und Ethik (2018)

Weitere Bände in Vorbereitung:

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Christentum (2020)

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Islam (2021)

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung – eine Zusammenschau (2022)

Christian J. Jäggi

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Judentum

Ethische Grundlagen

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

ePub 978-3-8288-7276-9

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4239-7 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung

Ausgangspunkt und Fragestellungen

1. Methodisch-hermeneutische Vorüberlegungen

Probleme

2. Vorstellungen einer gerechten Gesellschaftsordnung im Judentum

2.1 Tora

Gerechtigkeit und Frieden

Herrschaft Gottes und Bundestheologie

Gott als Kriegsherr

Vergeltung oder Versöhnung?

Unterdrückung

Mann und Frau

Geist

Nächstenliebe

Die interkulturelle Frage

Ämtergesetz (Dtn 16,18–18,22)

2.2 Nevi’im

Gott als Kriegsherr und die Richter und Könige als seine Stellvertreter

Königsherrschaft, Feudalherrschaft und Feudalismus

Zur Rolle der Propheten

Gerechtigkeit und Gewalt

Geist

Interkulturalität und Endogamie

Friedensvision, pragmatische Friedenspolitik und Versöhnung

Gleichheit aller Menschen

Solidarität und Gerechtigkeit gegen Benachteiligte

Innenpolitische Konflikte

Fremdherrschaft, Fremde und andere Völker

2.3 Ketuvim

Gerechtigkeit

Gottesbild

Zorn in der Hebräischen Bibel

Gerechtigkeit als kommunikativer Akt

Gesetz

Frieden

Mann und Frau

Interkulturelle Kommunikation

2.4 Talmud, Mischna und rabbinische Quellen

Exkurs: Realpolitische Entwicklungen in der talmudischen Zeit

Politische Vorstellungen in Mischna und Talmud

Krieg und Waffen in Mischna und in den halachischen Midraschim

2.5 Mittelalterliche Quellen

Geltung des Gesetzes für Nicht-Juden

Solidarität innerhalb und ausserhalb der Gemeinschaft

Heiligkeit

2.6 Moderne jüdische Quellen

2.7 Aktueller Diskurs

Gewalt

Gehorsam

Friedensvision

Trauer-Kaddisch (Nussach Aschkenas)

Gerechtigkeit

Liebe

Nochmals: das interkulturelle Problem

Versöhnung

3. Ethische Folgerungen für aktuelle Probleme

Fazit

Abkürzungen

Bibliographie

Einführung

Am 1. Februar 2019 gab die US-amerikanische Regierung ihre Kündigung des Vertrags über atomare Mittelstrecken (Intermediate-Range Nuclear Forces INF) bekannt. Dieser Vertrag von 1987 verbot die Entwicklung, Herstellung und Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen, die auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können. Der INF-Vertrag war – trotz allen Mängeln – ein wichtiger Baustein für die internationale Sicherheitsarchitektur gewesen. Die Regierung Trump gab bekannt, dass sie sich nach einer im Vertrag vorgesehenen sechsmonatigen Übergangszeit nicht mehr an den Vertrag gebunden fühle. Als Gründe für die Vertragskündigung durch die USA wurde einerseits die Aufrüstung Chinas mit Mittelstreckenraketen angegeben, mit der die USA wegen des INF-Vertrags nicht gleichziehen konnte. Anderseits warfen die USA Russland vor, sich nach 2000 nicht mehr an den Vertrag gehalten zu haben, und eine als Kurzstreckenwaffe deklarierte Rakete gebaut zu haben, die in Wahrheit deutlich über 500 km Reichweite hatte und damit eigentlich den Regelungen des INF-Vertrag unterstanden hätte. Diese als SSC-8 bekannte Mittelstreckenrakete soll bereits Anfang 2019 an mindestens zwei Orten stationiert worden sein (vgl. Ackeret 2019).

Dieses Beispiel zeigt, wie zerbrechlich und im Grunde unsicher die Sicherheits- und Friedensstruktur der heutigen Welt ist. Jederzeit kann eine neue Aufrüstungsrunde beginnen.

Deshalb stellt sich so dringend wie nie mehr in den letzten 25 Jahren die Frage nach einer globalen Friedensordnung und Sicherheitsstruktur. Vor dem Hintergrund aktueller politischer Bedrohungen durch Terrorismus, ausufernde Grossmachtpolitik einer Reihe von Supermächten und regionalen Militärmächten sowie neo-nationalistischen Bestrebungen in vielen Ländern stellt sich die Frage nach tragfähigen Bausteinen einer umfassenden Friedensethik.

Das vorliegende Werk ist der zweite Band einer Buch- und Forschungsreihe, in welchem Fragen der politischen Ethik und einer globalen Friedensordnung thematisiert werden. Im ersten Band (vgl. Jäggi 2018) wurden Bausteine einer säkularen politischen Ethik und einer entsprechenden Friedensordnung thematisiert. Die weiteren Bände arbeiten Elemente friedensethischer Vorstellungen und Möglichkeiten einer übergreifenden politischen Ethik aus der Sicht der grossen monotheistischen Religionen heraus. Dies aus der Überzeugung, dass Frieden nur möglich ist, wenn alle grossen Weltanschauungssysteme ihren Beitrag dazu leisten können. Der vorliegende Band befasst sich mit den Vorstellungen und Visionen der jüdischen Tradition zu Fragen der politischen Ordnung und zu einer übergreifenden Friedensvision.

Zur Anwendung kommen dabei Methoden der Judaistik, der Theologie und insbesondere der Exegese, sowie literaturwissenschaftliche und historische Annäherungen.

Dabei stellt sich die Frage, was denn eigentlich „jüdisch“ bedeutet, oder anders gesagt: was Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft gemeinsam ist. Ehrlich (2009:228f.) gibt darauf fünf Antworten:

„1. Ahawat Jisrael: Die Liebe zu dem historischen und dem heutigen jüdischen Volks. …: ‚Alle Juden sind füreinander verantwortlich‘ (wie es im Talmud Schewuot 39a heisst).

2. Ahawat Tora: Liebe zur Tora, und damit zur jüdischen Religion, getreu dem Satz aus der jüdischen Liturgie …: ‚Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten‘.

3. Ahawat Erez Jisrael: Die Liebe zum Lande Israel. Die Zukunft des jüdischen Volkes der ganzen Welt hängt davon ab, in welcher Weise Israel nicht nur ein physisches Sammelbecken der Juden wird, sondern auch eine geistige, moralische und kulturelle Triebkraft.

4. Ahwat Briot: Die Liebe zur Menschheit. Sie folgt aus dem Schöpfungsbericht, nach welchem der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Wer den Mensch schändet, schändet Gott. Mit dieser Vorstellung hat die Bibel im Grunde erst den Mitmenschen entdeckt. Wenn man es unternähme, die Summe dessen zu ziehen, was das Judentum der Welt geschenkt hat, so könnte man sagen, es sei die Entdeckung des Anderen als des Mitmenschen.

5. Ahawat Adonaj: Liebe zu Gott. …: ‚Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig‘, und darauf folgt: ‚Und du sollst lieben den Ewigen deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen‘ (Dtn 6,4.5)“

Die Rabbinerin Elisa Klapheck (2014a:98) hat die Frage gestellt, ob es eine „jüdische Ethik“ gibt und ob diese universalistisch ist. Ihre Antwort: „Sicher – von den Noachidischen Gesetzen im Talmud, die eben nicht nur Juden, sondern alle Menschen als gleich verantwortlich anerkannten, bis hin zu Hermann Cohens (1929) ethischem Monotheismus, der vor allem eine Ethik der sozialen Mitverantwortung ist, durchziehen universalistische Ansätze die gesamte jüdische Geistesgeschichte“. Und Klapheck meint, dass eine jüdische Ethik insbesondere auch auf den rabbinischen Diskussionen und Rückfragen an die Tora aufbauen sollte, mit einem engen Bezug auf die gegenwärtig Lebenssituation (vgl. Klapheck 2014a:98). Dabei sei nicht das „Was“ das Spannende, sondern das „Wie“. Im Zentrum der jüdischen Tradition stehe nicht die Lehre des Guten, sondern die Frage nach der Möglichkeit, sich zum Guten hin zu verhalten: „Nicht auf das Ideal des Guten ist der Fokus gerichtet, sondern auf die Komplexität des Möglichen“ (Klapheck 2014a:98). Dazu brauche es eine religiöse Erstbegründung, welche den Menschen in ein konfliktuöses, aber gerade deshalb auch produktives Verhältnis zu Gott stelle. Das zeigte sich etwa in Gen 32,23 ff., als Jakob mit Gott am Jabbok gerungen hat. Auch der Name Israel – entscheidend für die religiöse Identität des jüdischen Volkes – bedeute „Er ringt mit Gott“ oder „Gott ringt [mit dem Menschen]“ (Klapheck 2014a:101).

Boccaccini (2014:27f.) hat auf das Problem hingewiesen, dass der Begriff „Judentum“ im Grunde eine unzulässige Verallgemeinerung sei, weil es faktisch mehrere „Judentümer“ gebe. Dahinter stehe die Frage, welche Elemente ein Glaubenssystem oder eine Glaubenspraxis als „jüdisch“ charakterisiere. Doch es hilft wenig, den verallgemeinernden Begriff des einen Judentums durch „Judentümer“ zu ersetzen: „Die Ersetzung des Konzepts ‚Judentum‘ durch das Konzept der ‚Judentümer‘ löst ein Problem und erzeugt ein anderes, vielleicht noch fundamentaleres – nämlich die Frage, was es ist, das irgendein beliebiges „Judentum“ zu einem Judentum macht … Der Plural ‚Judentümer‘ erfordert eine Definition von „Judentum“ im Singular, um selbst sinnvoll zu sein“ (Davies 1995:147 und 151, zitiert nach der Übersetzung von Boccaccini 2014:28). Eine mögliche – wenn auch nicht ganz befriedigende – Antwort könnte das Verständnis der Betroffenen sein, sozusagen eine In-Group-Definition: Was jüdische Menschen als „jüdisch“ empfinden, könnte eine Art gemeinsamer Nenner dafür bilden, was als jüdisch gelten kann. Es ist ja gerade ein Kennzeichen des Judentums, dass es – im Unterschied zum Christentum und zum Islam – praktisch nie (mit der einen Ausnahme der Karäer1) zu einer organisatorischen Spaltung kam, und dass in der jüdischen Tradition auch äusserst konträre Positionen ihren Platz hatten und haben, ohne dass sie ein Schisma verursachten. Gerade diese Tatsache macht den grossen Reichtum jüdischen Denkens aus.

In der rabbinischen Literatur wird Gut und Böse thematisiert. Dabei sei der Mensch ethisch autonom gegenüber Gott, wobei diese Autonomie nach rabbinischer Auffassung gerade nicht zur Loslösung oder Abwendung von Gott führe. Ganz im Gegenteil: „Gott und Mensch bleiben weiterhin in ihrer konfliktuösen und deshalb produktiven Beziehung, um im Ko-Schöpferbund von unterschiedlichen Polen her die Schöpfung zu gestalten. Wendet sich eine der beiden Seiten ab, führt dies in die Katastrophe. Die Menschen haben ein Recht darauf, verärgert auf Gott zu sein, wenn er sie vergisst, wie auch umgekehrt Gott dieses Recht gegenüber den Menschen hat. Gott bleibt in der Beziehung. Gleichwohl bleibt der Preis, den die Menschen für ihre ethische Autonomie zahlen der, dass sie bei Problemen nicht mehr mit Gott rechnen können, sondern mit ihrer Situation selbst zurande kommen müssen. Kein Volk musste dies so eindeutig erfahren wie das jüdische Volk“ (Klapheck 2014a:104). In einem ähnlichen Sinn meint Crüsemann (2003a:53), dass die Paradiesgeschichte im Grunde bedeutet, dass „nicht Gott allein und nicht die Tradition allein bestimmen, was gut und böse, schädlich und förderlich ist. Das tut, und zwar unausweichlich, der Mensch selbst“. Damit könnte man im Grunde die gesamte Hebräische Bibel als Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Heteronomie – Gehorsamkeit gegenüber Gott – und Autonomie des Menschen lesen. Dieser Konflikt setzt sich später in der christlichen Bibel und im Koran fort. Dabei sind die Antworten auf diesen Grundkonflikt natürlich äusserst unterschiedlich und widersprüchlich – sie schwanken zwischen den Extremen der uneingeschränkten Gottesgehorsamkeit und der vollständigen Ichbezogenheit des Menschen.

In diesem Rahmen bewegen sich auch die folgenden Überlegungen.

1 Die Karäer wurden nach langen Kämpfen aus den jüdischen Gemeinschaften ausgeschlossen, weil sie die kanonische Autorität des Talmuds nicht anerkannten (vgl. Drews 2004:130f.).

Ausgangspunkt und Fragestellungen

Die Analyse und Diskussion säkularer Politik- und Friedenskonzepte (vgl. Jäggi 2018:177) hat ergeben, dass eine politische Ethik vor allem in sechs Themenbereichen Antworten entwickeln muss:

1) In Bezug auf die Verletzlichkeit von Menschen oder einzelnen Menschengruppen;

2) hinsichtlich der Anwendung von politisch motivierter oder konnotierter Gewalt;

3) in Anbetracht der Rolle der Nationalstaaten und der Möglichkeit und Notwendigkeit eine politischen Weltordnung oder eines Weltstaates;

4) hinsichtlich Entwicklung und Durchsetzung der politischen Menschenrechte;

5) in Bezug auf die allgemeine politische Partizipation und Demokratie; sowie

6) im Zusammenhang mit einer weiterführenden und doch praktikablen Friedensvision.

Obwohl zweifellos wichtig ist für unsere Fragestellung die Zulässigkeit von militärischen, friedenserhaltenden Interventionen eher kein Thema. Dies, weil auf der einen Seite heute die meisten Länder und Regierungen solche Interventionen unter bestimmten Voraussetzungen befürworten, und weil auf der anderen Seite die meisten Religionen ein Recht auf (bewaffnete) Selbstverteidigung akzeptieren. Allenfalls eine Frage wäre, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen eine militärische Intervention stattfinden darf.

1. Methodisch-hermeneutische Vorüberlegungen

In der Exegese wird heute meist zwischen narrativer und historisch-kritischer Interpretation unterschieden. Während die erste Annäherung an einen Texte „synchron“ erfolgt und den Text in das Zentrum seiner Interpretation stellt, fragte die historisch-kritische oder „diachrone“ Exegese zuerst einmal nach dem Entstehungskontext, der Wirkungs- und Folgegeschichte des Textes. Dabei ist – so Utzschneider und Nitsche 2014:23 – gemäss heutigem Verständnis die synchrone Exegese auf der Ebene des Textes vor allem am „Zusammenspiel seiner sprachlichen und literarischen Elemente interessiert“. Zweifellos unterliegt jeder Text – wie Eco (1992:35) sagte – im Rahmen seines Entstehungs- und Rezeptionsprozesses einer intentio auctoris (= Absicht des Autors), einer intentio operis (= Rolle und Absicht des Werks) und einer intentio lectoris (= Absicht des Lesers). Damit ein Text nicht „toter Text“ bleibt, muss also eine Textinterpretation zwei Ebenen umfassen: Erstens gilt es, Inhalte, Bedeutungen und Aussagen eines Textes auf einer narrativen, also synchronen Ebene und ausschliesslich aus dem Text heraus zu erschliessen. Zweitens müssen die gewonnenen Bedeutungen und Inhalte an den sozio-kulturellen Kontext der Textentstehung zurückgebunden und schliesslich auch in die aktuelle Zeit des Lesers und in sein Lebensumfeld übersetzt werden. Exegese umfasst also streng genommen drei Dimensionen: einmal die Bedeutungserschliessung aus dem Text als Ganzes heraus, zweitens den Rückbezug der Bedeutung auf die Entstehungszeit und drittens die Übersetzung in die Gegenwart. Dabei ist allerdings jeweils zwischen der „Erzählzeit“ – also der Zeit des Erzählers oder Schreibers – und der „erzählten Zeit“ – also der Zeit der Handlung – zu unterscheiden (vgl. Berlejung 2016a:25). Dass viele Texte der Hebräischen Bibel wiederholt überarbeitet und neu redigiert wurden, kompliziert die Sache noch zusätzlich. Es wird damit schwierig, einen Text einer bestimmten Entstehungszeit und damit einem konkreten sozio-kulturellen Kontext zuzuordnen.

Dabei ist im Sinne der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion davon auszugehen, dass jeder Erzähltext auch ein starkes konstruktives Element aufweist, das sich in der erzählerischen Gestaltung eines ganz spezifischen „Erzählraums“ zeigt. So meint etwa Leibold (2014:47), dass gerade narrative Schlüsseltexte in der Hebräischen Bibel wie die Genesiserzählung „ein besonders Potential kulturwissenschaftlicher Überlegungen zum ‚spatial turn‘“ aufweisen. Wenn man einmal davon absieht, dass ein solches literarisches „Spacing“, also eine erzählerische Schaffung von Raum, durchaus auch Identität generieren oder vielleicht genauer: „konstruieren“ kann – wie etwa die Aufteilung der Erde in Genesis 10 unter die drei Söhne Noahs: Sem, Ham und Jafet und deren Nachfolgevölker –, so kann eine solche räumliche Separierung – oder ihr Gegenteil, der Zusammenschluss von Territorien – auch friedensethische Probleme schaffen. Etwa wenn der Bezug zu einem bestimmten Raum oder einem geografischen Territorium zu neuen Konflikten führt, man denke an all die politischen Folgeprobleme der „Landnahme“ durch die alten Hebräer in Palästina bis hin zur Siedlerbewegung in der heutigen Zeit. Denn ein solches „Spacing“, also die Verbindung von fiktionalen und realen Ortsvorstellungen, kann leicht dazu führen, bereits an Ort ansässige Bevölkerungsgruppen zu ignorieren, indem die Fiktion eines „leeren Landes“ geschaffen wird, wie etwa bei der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer oder auch bei der Einwanderung jüdischer Shoa-Flüchtlinge in das heutige Israel. Dass dabei oft durch die Verwendung von Eigennamen oder Ortsnamen wie Städte- oder Länderbezeichnungen zusätzliche identifikatorische Bezugspunkte geschaffen werden, ist nicht selten politisch gewollt. So nennt etwa Leibold (2014:54) das Beispiel des Namens der Stadt Köln, welcher die Stadt als Kolonie des römischen Kaisers bezeichnete.

Insbesondere die Prophetentexte beziehen sich oft auf einen konkreten, geografischen Raum – oder einen gedachten kommunitären Raum. So wird etwa in Jes 65,16b–66,24 die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde vorausgesagt mit der Vision einer Völkerharmonie und ewigem Frieden. Dazu schreibt Häusl (2018:23): „Diese Zukunft wird von Gott allerdings nicht im ‚utopischen‘ Raum, d.h. nicht ohne Raumbezug geschaffen. Zion/Jerusalem spielt vielmehr eine wichtige Rolle. Die Texte sind nicht auf den Tempel konzentriert, sondern auf die Stadt, die mit Blick auf die Völker als Zentrum der Welt und mit Blick auf ihre Bewohner und auf Gott als Stadtfrau in Beziehung zu ihren Kindern und als Mittlerin zur Gottheit beschrieben wird. Die Stadt kommt als Fürsprecherin und als Lebensraum, also Ort des guten Lebens für alle und letztlich als Symbol(-figur) für Gerechtigkeit in den Blick“. Städte wie Jerusalem, Landschaften oder bestimmte Orte sind nicht nur Koordinaten auf einer Landkarte, sondern – wie Spans (2018:187) meint – „von Menschen gestalteter Sozialraum“. So sind etwa in Jes 60,1ff. laut Spans (2018:187) „Raum und Raumkonstruktionsprozesse ……Begründungsressourcen nachexilischer Identitätssuche“. Dabei können Räume sowohl einen realen Bezugspunkt haben oder nur fiktiv sein – oder gar beides.

Dieses „semantische Spacing“ bleibt bis in die jüngste Zeit aktuell, zumindest wenn man Wagner-Tsukamotos (2009:11) These folgt, dass die Hebräische Bibel wie wenige andere Texte entscheidende Impulse für soziale Probleme und Konfliktlösungen, nation-building und internationale Beziehungen gegeben hat.

Regine Hunziker-Rodewald (2010:92) hat darauf hingewiesen, dass „Geschichtsschreibung als Fiktion nur ‚funktionieren‘ kann, wenn die zum Zweck der narrative vermittelten Botschaft gebildete Erzählung als ganze plausibel ist. Das heisst, das Mass an Akzeptanz, das der Autor solcher Fiktion auf Seiten seiner Zuhörer und Leserinnen erwarten kann, hängt davon ab, ob die dargestellten Geschehnisse so tatsächlich auch hätten passiert sein können“. Dafür müssten Erzählarrangements und Akteure zumindest mit den historischen Begebenheiten kompatibel sein. Das bedeutet, dass nicht die Frage, ob eine erzählte Geschichte so auch tatsächlich passiert ist oder nicht, im Zentrum stehen kann, sondern die Intention des Textes, also welche „Message“ der Text an die Leserin oder an den Leser vermitteln will. Aus diesem Grund können gerade auch biblische Texte sehr wohl ethisch-moralisch gedeutet werden, wobei immer eine Mehrfach(be)deutung möglich ist.

Anthony D. Smith (1999:107f. sowie 2004:127ff.) hat am Beispiel Ägyptens und des Alten Israels die Frage nach der Entstehung von nationaler Identität diskutiert. Dabei sind für unsere Fragestellung vor allem drei Aspekte von Smiths Arbeit relevant: sein ethno-symbolischer Approach (vgl. Smith 2009:13), sein Verständnis von ethnischen Mythen und seine Analyse über die Funktion von Territorialität (vgl. dazu auch Kennedy 2011:22). Alle drei sind für die Frage des Verständnisses und der Übertragbarkeit ethischer Aspekte auf heute wesentlich. Smith (2004:74) argumentiert damit, dass die Geschichte – und zwar Siege wie Niederlagen – ihre Schatten auf das kollektive historische Gedächtnis wirft und auch Grenzen für den Diskurs setzt, wobei er die Kultur als Konstrukt menschlicher Vorstellungskraft sieht (vgl. dazu Kennedy 2011:25). Dabei sind ethnische Gruppen sowohl dynamisch als auch dauerhaft, wobei ihre (imaginierte) Geschichte ihnen Kontinuität gibt. Dies zeigt sich in einem „Sinn für Kontinuität“, in „geteilten Erinnerungen“ und im „Glauben an ein gemeinsames Schicksal“ (Kennedy 2011:27). Dabei kristallisiert die subjektive Geschichte einer ethnischen Gruppe laut Smith als eine Art „symbolischer Matrix“ (Kennedy 2011:28) aus, welche den narrativen Bedeutungs- und Handlungsrahmen darstellt. Sozusagen auf dieser symbolischen Matrix beruhen ethnische Mythen, welche laut Smith eine Art direktive Funktion („directive capacity“) wahrnehmen, und eine „gemeinschaftsschaffende Potenz“ („community-creating potency“) darstellen (Kennedy 2011:30). Dabei verbinden diese ethnische Mythen die Gegenwart mit der Vergangenheit und werden gleichzeitig handlungsleitend. Ethnische Mythen sind nach Smith (vgl. Kennedy 2011:33) das „sine qua non von Ethnizität“. Sie sind Schlüsselkonzepte zur Definition von ethnischen Communities. Das dritte Kriterium von Smith, die Territorialität zeigt sich in der kommunitären Definition eines „homeland“, also etwa so viel wie ein lokal definierter Lebensraum mit einem entsprechenden emotionalen Bezug – der etwas altertümliche Begriff „Heimat“ drückt das recht gut aus.

Berlejung (2016b:68) hat darauf hingewiesen, dass in den biblischen Texten die Abgrenzung zwischen Geschichte („history“) und Geschichten oder Erzählungen („story“) oft nicht scharf vollzogen wird. Sogar die „historischen“ Bücher Samuel bis Könige seien nicht als Annalen konzipiert worden, vielmehr handle es sich dabei „um einen Geschichtskommentar im Rahmen eines theologischen Systementwurfs, der sein Material gezielt angeordnet und ausgewählt hat, um die Gründe für den Untergang der Staaten Israel und Juda anzugeben und die Fundamente für den erwarteten/erhofften Neubeginn zu legen“ (Berlejung 2016b:69).

Dafür eignen sich Metaphern ausgezeichnet. Laut Eco (1992:214) machen Metaphern den Diskurs mehrdeutig. Sie sind ein Kunstgriff, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Polysemie, also auf die Mehrdeutigkeit zu richten. Dabei weist Eco (1992:214) darauf hin, dass Metaphern nicht nur ein poetisches oder ästhetisches Phänomen sind, sondern häufig auch im wissenschaftlichen Denken und in der Alltagssprache vorzufinden sind. Sie bringen im Grunde Bedeutungen und Inhalte zusammen, die eigentlich nicht zusammen gehören – und sie ermöglichen dadurch nicht selten auch neue Erkenntnisse. So gesehen haben Metaphern weniger eine substitutive als eine relationale oder „interaktive“ Bedeutung (vgl. Mandolfo 2007:24), in dem sie zwei Bedeutungen in Beziehung setzen, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben. Am weitesten getrieben hat die Metaphorisierung wahrscheinlich Hosea, wenn der Herr – sozusagen als dreifache Metapher – auffordert, „Anklage gegen eure Mutter Israel“ zu erheben: „Klagt sie an! Denn sie hat so gehandelt, als wäre sie nicht meine Frau und ich nicht ihr Mann. Sie soll aus ihrem Gesicht den Schleier und von ihrer Brust die Amulette entfernen, alles was daran erinnert, dass sie mir die Treue gebrochen hat“ (Hosea 2,4)2. Dreifach ist die Metapher insofern, als Israel als Ehefrau und Gott als Ehemann, Israel als Treuebrecherin und Gott (oder in seinem Namen Hosea) als Ankläger gezeichnet werden.

Metaphern funktionieren laut Eco (1992:211) immer nur in bestimmten sozio-kulturellen Kontexten oder intertextuellen Zusammenhängen. Dabei lässt eine Metapher „zwei Systeme von Vorstellungen interagieren“ (Eco 1992:212). Sie leben somit davon, dass zwei Symbolsysteme auf überraschende Weise einander gegenübergestellt oder miteinander konfrontiert werden. Laut Eco (1992:212) stellt eine Metapher einen dichterischen Kunstgriff dar. Eine Metapher muss – wenn sie Erkenntniswert hat – laut Eco (1992:212) auch paraphrasierbar sein, also mit einigen Worten zusammengefasst werden können. Allerdings ist laut Eco (1992:213) die Paraphrasierung besonders origineller und kreativer Metaphern oft sehr schwierig und kompliziert.

Laut Eco (1994:55) ist „aus einem bestimmten Blickwinkel … alles mit jedem analog, ähnlich oder vergleichbar“. Das bedeutet, dass immer auch der semantische Kontext in Betracht zu ziehen ist, in welchem ein Vergleich angesiedelt ist. Tut man das nicht, dann wird eine Metapher aufgrund der Polyvalenz, also der Komplexität der Bedeutungen, so unbestimmt, dass jede Bedeutung in sie hineingelegt werden kann und so die Deutung im Grunde willkürlich wird.

Wichtig ist, mit inhaltlich zusammenhängenden Textstellen zu arbeiten, deren Abschnittsgrenzen aus dem Text heraus begründet werden können – etwa durch einen anderen Vor- und Nachtext (vgl. dazu Langer 2016:129).

Probleme

Wie im Christentum und im Islam stellen die Vielfalt der Texte der jüdischen Tradition und ihr äusserst unterschiedlicher Charakter eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit dar.

Weil der Tanach – also die Tora oder die fünf Bücher Mose, Nevi’im – die Prophetentexte – und Kevuvim – die so genannten „Schriften“, vgl. Zenger 2012d:32 – eine allgemein akzeptierte Ordnungsstruktur der Hebräischen Bibel darstellt, folgen auch meine Ausführungen dieser Struktur3 und nicht der christlichen Unterteilung des Alten Testaments in Pentateuch, Bücher der Geschichte, Bücher der Weisheit und Bücher der Prophetie (vgl. Zenger 2012d:32). Die jüdische Reihenfolge der Schriften ist auch Ausdruck einer Priorisierung der Tora, die Otto (2009:568) als „Schlüssel zum Schriftenverständnis der Hebräischen Bibel“ bezeichnet.

Ernst Ludwig Ehrlich (2009:1) hat darauf hingewiesen, dass es in der Zeit zwischen dem ersten und sechsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, also der Periode der jüdischen rabbinischen Tradition – also im Talmud und in der Mischna – zwei verschiedene Gattungen von Texten gibt: Die Halacha, also die Kommentare zu den Gesetzen der Hebräischen Bibel, und die Haggada oder Aggada, also das Erzählgut, das die biblischen Geschichten und Erzählungen weiterspinnt und auf unterhaltsame Art Lebensweisheiten und Verhaltensregeln weitergibt (vgl. Langer 2016:213). Die Haggada stellt – so Ben-Chorin 1988a:10 – so etwas wie eine „Theologie des Judentums“ dar. Newman (2005:141) hat die Meinung vertreten, dass die Juden durch die biblischen Erzählungen die Welt auf besondere Art zu sehen lernen, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch aufgrund der narrativen Form. Indem sie die Geschichten immer wieder hören, internalisieren sie gleichsam deren Struktur und erleben sich und die Welt sozusagen als Fortsetzung der Geschichte (vgl. Newman 2005:141). Entsprechend erscheint die jüdische Geschichte sozusagen als Fortsetzung der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und als Bewegung hin zum gelobten Land, wobei diese Dynamik noch längst nicht an ihr Ende gelangt ist.

Dabei bemühten sich die Rabbinen gerade auch in der Haggada, exegetische Betrachtungen niederzulegen, um insbesondere auch die Einheit der biblischen Offenbarung darzustellen.

Laut der jüdischen Tradition soll Mose auf dem Berg Sinai nicht nur die schriftliche Lehre von Gott erhalten haben, sondern auch die mündliche Lehre (vgl. Zinvirt 2009:22). Einen Teil der mündlichen Tora stellt die Mischna dar, welche die drei Bereiche der mündlichen Lehre des Judentums umfasst, nämlich der Midrasch – die Auslegung der Bibel –, die Halacha, das Religionsgesetz und die Haggada – also das ganze übrige Material, das nicht der Halacha zugerechnet wird (vgl. Zinvirt 2009:17). Tilly (2015:114) hat darauf hingewiesen, dass die Mischna – von mischnajot, deutsch: Lehrsätze – ein „Produkt des antiken rabbinischen Schulbetriebs“ ist.

Die Tosefta, die laut Tradition von einigen Schülern von Rabbi Jehuda ha-Nassi angefertigt wurde, stellt laut Zinvirt (2009:23) eine Ergänzung zur Mischna dar. Sie enthält thematische Inhalte, die teils völlig unabhängig von der Mischna sind, die teils aber auch auf sie Bezug nehmen. Dabei wird in der Tosefta auf der einen Seite die Mischna zitiert, während auf der anderen Seite ebenfalls in den beiden Talmuden Bezug auf die Tosefta genommen wird (vgl. Tilly 2015:116).

Nach Petuchowski 2008:11 ist der Talmud kein systematisches Gesetzbuch, sondern „ein Speicher voll mit Meinungen aus den Lehrhäusern von Babylonien und Palästina“. Der Talmud besteht aus dem babylonischen Talmud, der gegen 500 n.Chr. abgeschlossen wurde, und aus dem palästinensischen Talmud, der ungefähr um 350 n.Chr. beendet war. Andere Autoren – so Günter Stemberger (2008:9) – datieren die Entstehung des Talmud auf die ersten sieben Jahrhunderte unserer Zeitrechnung.

Der Talmud ist – als „geistiges Werk der Rabbinen“ (Stemberger 2008:171) – für unsere Fragestellungen deshalb von Bedeutung, weil er zu einer Vielzahl menschlicher Lebensbereiche Stellung bezieht, so zu zwischenmenschlichen Regelungen, Nachbarschaftsbeziehungen, Fragen des gesellschaftlichen Lebens und der Ethik (vgl. Zinvirt 2009:43).

Stemberger (2017:44) hat die Meinung vertreten, dass die Endredaktion der fünf Bücher Mose und der Prophetenschriften (Nevi’im) zum grössten Teil bis ungefähr 400 v.Chr. stattfand, während die Entwicklung der Ketuvimtexte noch nicht abgeschlossen war (Stemberger 2017:44). Laut Klapheck (2018:81) erfolgte die endgültige Strukturierung der mündlichen Tora erst im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung durch Rabbi Jehuda ha-Nassi, der ungefähr von 165–217 lebte.

Nach Meinung von Klapheck (2018:86f.) änderte sich die Rezeption der biblischen Texte in der Zeit von Esra und Nehemia, also im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, entscheidend: Statt als Priester verstanden sich die jüdischen Schriftkundigen nun als „Schriftgelehrte“ oder „Schreiber“, womit fortan die beiden Ebenen von „Text“ und „Auslegung“ bestanden.

Schreiner (2018:164ff.) hat darauf hingewiesen, dass sich in der pharisäisch-rabbinischen Tradition das Verständnis einer „doppelten Tora“ entwickelt hat, wobei die mündliche Tora auch als Teil der „Tora vom Sinai“ verstanden wird.

Mit anderen Worten: Die Texte des Tanach und der mündlichen Tora sind auf der einen Seite in einer Zusammenschau zu sehen, und auf der anderen Seite nach Entstehungszeit und Wirkungsgeschichte – zu der auch die rabbinische Auslegung zählt – zu gewichten.

Ein besonderes Problem stellt sich im Zusammenhang mit der historischen Verortung der einzelnen Texte der Tora. Dies darum, weil zwischen der Erst- und der Endredaktion der einzelnen Texte teilweise mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte liegen. Zenger und Frevel (2012a:144) unterscheiden zwischen zwei übergreifenden Erzählkränzen, nämlich der Ur- und Vätergeschichte in Genesis 2–35 und die Exoduserzählung von Exodus 2 bis Jos 12. Zenger und Frevel (2012a:140) vertraten die Ansicht, dass die Priesterschrift4 und das deuteronomistische Schriftgut ungefähr zur gleichen Zeit entstanden, nämlich in der spätexilischen bzw. frühnachexilischen Zeit. Wenn es stimmt, dass die Endredaktion ungefähr bis um 400 v.Chr. erfolgte (Stemberger 2017:44 sowie Zenger und Frevel 2012a:141), dann wird die sozio-kulturelle sowie historische Zuordnung der einzelnen Texte äusserst schwierig, wenn nicht unmöglich.

Heiligenthal (2004:41f) hat folgende Epochen in der Geschichte Israels unterschieden:

Epochen

Ereignisse

Stoffe im Tanach

12001000 v.u.Z.:

Israel als Stammesverband (vorstaatliche Zeit, vgl. Dohmen 2003:17)

Rückgang der kanaanäischen Stadtkultur, Ende der ägypt. Herrschaft5, Entstehung des altisraelitischen Stammesverbandes

1000586 v.u.Z.:

Eigenstaatliche Epoche

1000–931: Königtum Sauls, Davids und Salomos

931–722: Nordreich Israel

931–586: Südreich Juda

Saul-David-Salomo

931: Reichsteilung

850–800: Druck des Aramäerreichs auf Israel

Ab 750 Expansion des assyrischen Weltreichs

722: Eroberung Samarias + Eingliederung des Nordreichs in das assyrische Reich

733–622: Juda als assyrischer Vasallenstaat

622: Joschijanische Reform

605–586: Erste und zweite Eroberung Jerusalems

Erzählkränze über Ursprünge Israels

Privilegienrecht Ex 34 und Bundesbuch Ex 20–23 (um 900)

Amos und Hosea (Mitte 8. Jh.6)

Jesaja und Micha (Ende 8. Jh.)

Jehovist. Geschichtsbuch (um 700)

Deuteronomium (622)

Zephania, Nahum u. Habakuk (Ende 7. Jh.)

Ezechiel u. Jeremia (Anfang 6. Jh.)

586 v.u.Z324 n.u.Z.:

Unter fremder Herrschaft

586–538 v.u.Z.: Babylonische Herrschaft

538–332: Persische Herrschaft7

332–201: Griech. Herrschaft

301–198: Ptolemäische Herrschaft

198–129: Seleukid. Herrschaft

12963 v.u.Z.: Königtum der Hasmonäer

63 v.u.Z.324 n.u.Z: Römische Herrschaft

586–538: Juda babylonische Provinz

538: Eroberung Babylons durch Kyros von Persien

520–515: Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels

445: Nehemia (Wiederaufbau der Mauern Jerusalems)

398: Esra (Promulgation der Tora in Jerusalem)

332: Alexander d. Grosse in Israel und Ägypten

167–164: Befreiungskampf der Makkabäaer (Hasmonäer)

164: Wiedereinweihung des Tempels

7/6 v.u.Z.: Geburt Jesu

66–70 n.u.Z.: Jüdischer Krieg gegen die Römer

70 n.u.Z.: Zerstörung Jerusalems

132–135 n.u.Z.: Aufstand gegen die Römer unter Bar Kochba

Deuteronom. Geschichtswerk (Mitte 6. Jh.)

Deutero-Jesaja (Mitte 6. Jh.)

Priesterschrift, Haggai u.
Sacharia (520–518)

Rut (5. Jh.)

Abschluss der Tora (um 400)

Hiob (4. Jh.)

Chronik, Esra, Nehemia, Tobit, Esther, Sprüche, Kohelet8, Hohelied (3./2. Jh.)

Zwölfprophetenbuch (um 240)

Psalter (um 200)

Jesus Sirach (um 175)

Daniel (um 150), Judith (150–100 v.u.Z.)

1.2. Makkabäer (um 100),
Weisheit Salomos (um 30)

Schliessung des jüd. Kanons9 (um 100 n.u.Z.)

Quelle: Heiligenthal 2004:41f., redigiert durch CJ.

Dabei spielten auch historisch-politische Gegebenheiten eine wichtige Rolle. Das gilt besonders für die Zeit des babylonischen Exils, aber auch für das 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als es zu fünf syrischen Kriegen kam, in denen die Ptolemäer ihren Herrschaftsanspruch noch verteidigen konnten (vgl. Berlejung 2016b:181). In den letzten Jahrzehnten der Ptolemäerherrschaft scheint in Jerusalem Onias II. Hohepriester gewesen zu sein, der faktisch über die höchste politische Autorität verfügte und der offenbar die Wirren des 4. Syrischen Kriegs und den Herrschaftswechsel 221 v.Chr. von Ptolemäus III. Euergetes zu Ptolemäus IV. Philopator nutzte, um die Steuerzahlungen für die Alexandriner einzustellen. Damit hatte er eine anti-ptolemäische und pro-seleukidische Politik betrieben, was in Jerusalem zu politischen Wirren führte und zur Absetzung von Onias II. zugunsten seines Neffen Josef führte, der einen pro-ptolomäischen Kurs fuhr. Mit der Schlacht bei Paneas zwischen Antiochus III. Megas und Ptolemäus V. Epiphanes im Jahr 200 oder 198 v.Chr. wechselte Juda vom ptolomäischen in den seleukidischen Herrschaftsbereich, was zu einer verstärkten Hellenisierung und zu verstärkten Konflikten in Jerusalem und Judäa führte. Wenn sich auch später die pro-seleukidische Politik des Onias II. unter Simon II. auszuzahlen schien – die Zerstrittenheit der Jerusalemer Oberschicht zwischen Pro-Seleukiden und Pro-Ptolemäern blieb bestehen (vgl. Berlejung 2016b:183). Diese und spätere Konflikte in Jerusalem (vgl. 2 Makk 4,8ff. sowie 1 Makk 1,14f.) zeigen, dass friedensethische und auch politikethische Aussagen ohne ihre Rückbindung an den historischen Entstehungskontext nicht nur schwer verständlich, sondern auch wenig aussagekräftig sind.

Und hier erweist sich eine besondere Problematik zwischen literarischen Aussagen und der historischen Faktizität. Jan Assmann (2000:138, vgl. auch Neis 2011:20f.) hat in seiner These über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt die Frage zur Diskussion gestellt, ob monotheistische Religionen eher zu Gewalt tendieren als polytheistische oder andere Religionen. Obwohl längst empirisch widerlegt ist – vgl. dazu Jäggi 1991b:75ff. –, dass nur oder vor allem monotheistische Religionen zu Gewalt tendieren, und auch trotz der Tatsache, dass religiöse Gewalt oft nicht von politischer Gewalt zu trennen ist (vgl. Janowski 2013:114 sowie Lohfink 2005:151ff.), hält sich die monotheistische Gewaltthese hartnäckig. Befürworter verweisen dabei oft auf die vielen Gewaltgeschichten im Tanach und die „[Durchsetzung] des Monotheismus in Form von Massakern“ (Assmann 2000:138, vgl. auch Neis 2011:21). Gegner dieser These weisen darauf hin, dass nicht der Monotheismus für die Gewalt verantwortlich zu machen sei, vielmehr handle es sich um eine sprachlich-dramaturgische Inszenierung (vgl. Neis 2011:21). Dem halten die Befürworter der monotheistischen Gewaltthese entgegen, dass der Kampf gegen andere Götter im Namen des einen Gottes zu einer „Theologie der Gewalt und Unterdrückung“ (Assmann 2000:138) geführt habe, insbesondere im Christentum und Islam, lediglich dem Judentum sei es gelungen, die entsprechenden Texte „in der Auslegungsgeschichte so zu humanisieren, dass sie keinen Schaden anrichteten“ (Assmann 2000:138). Dagegen hätten sich christliche und islamische Theologen eine „politische Theologie der Gewalt zur Unterdrückung der Heiden ringsum auf ihre Fahnen geschrieben. Die Gewalt ihres Gottes gegen die anderen Götter … [gab] ihnen das Recht, Gewalt gegen Menschen zu üben, die in ihren Augen anderen Göttern anhängen“ (Assmann 2000:138). Allerdings muss man dieser Sicht entgegenhalten, dass auch in der christlichen Theologie in den letzten 55 Jahren in Bezug auf das Missionsverständnis ein enormer Lernprozess stattgefunden hat, und auch in der islamischen theologischen Diskussion sind diesbezüglich grosse Fortschritte gemacht worden – auch wenn die aktuelle Weltsituation dies oft vergessen lässt. Dabei sind zwei Dinge zu bedenken. Erstens gibt es – wie ich andernorts gezeigt habe (vgl. dazu Jäggi 1991a:43ff.) – einen Religionisierungseffekt, der nicht vernachlässigt werden sollte: Viele politische, ökonomische oder soziale Konflikte sind erst nachträglich „religionisiert“, also zu religiösen Konflikten umgedeutet worden – unter anderem, um sie „irrational“ zu machen und so eine rationale oder verhandlungsbezogene Lösung oder zumindest ein vernünftiges Konfliktmanagement zu verhindern. Wenn Gott den Krieg gegen die – wie auch immer definierten – Gottlosen oder Ungläubigen selbst befohlen hat, wird jeder Versuch eines Friedensschluss zum gottlosen oder gar blasphemischen Akt und damit zum Vorneherein nichtig. Zweitens ist die Frage, ob Gewalt angewendet wird, wenn überhaupt, nur sekundär eine Frage der religiösen Inhalte. Vielmehr entscheiden die politische Ordnung, die geltenden demokratischen Spielregeln und nicht zuletzt die Menschenrechtssituation darüber, ob es zur Erreichung weltanschaulicher und damit in der Regel politischer Ziele zu Gewaltanwendung kommt oder nicht: So gibt es christliche Abtreibungsgegner, die mit friedlichen Mitteln gegen das Recht auf Abtreibung kämpfen, während in den USA gewalttätige Abtreibungsgegner Abtreibungskliniken mit Bomben hochgejagt haben. Ebenso treten viele Muslime mit friedlichen Mitteln für ihren Glauben ein, während andere zur Erreichung religiöser oder politischer Ziele Terrorattentate verüben.

Es ist heute zu einer Art Meta-Topos geworden, die langjährige Sicht christlicher Exegeten zu kritisieren, dass der Gott des Alten Testaments ein Gott der Gewalt sei, während der Gott des Neuen Testaments ein Gott der Liebe und des Friedens sei. So schreibt etwa Kumpmann (2016:17): „Dass das Alte Testament voll von Gewalt sei, dagegen im Neuen Testament nicht nur die Nächsten-, sondern sogar die Feindesliebe gepredigt werde, ist ein (Vor-)Urteil von überraschender Verbreitung, Dauer und Hartnäckigkeit. Der gleiche Eindruck besteht auch für das Gottesbild: ‚Der Gott des Alten Testaments‘ gilt als strafend, richtend, schlagend, Krieg treibend, rächend, ‚der Gott des Neuen Testaments‘ … dagegen als liebend, vergebend, barmherzig usw.“. Zenger (2004:48) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „‚ewigen‘ Klischee“. So richtig es ist, diese einseitige Sicht zu differenzieren – denn die Hebräische Bibel beschreibt auch einen gütigen, barmherzigen Gott, genauso wie es im Neuen Testament nicht nur einen „milden Opa-Gott“ (Kumpmann 2016:16) gibt – es bleibt ein Faktum und auch ein friedensethisches Ärgernis, dass die Hebräische Bibel sehr viel Gewalt kennt, die oftmals direkt auf das Wirken und den Willen Gottes zurückgeführt wird – egal ob zu Recht oder zu Unrecht.

Doch reicht es, die Frage nach religiöser Gewalt mit dem Hinweis darauf zu beantworten, dass Gewalt eine Frage des menschlichen Verhaltens und weniger der jeweiligen Religion sei, wie René Girard (2010:5) das tut: „Fragen wir: ‚Ist diese oder jene Religion gewalttätig oder friedvoll?‘, dann weichen wir der Tatsache aus, dass Gewalt von uns Menschen ausgeübt wird. … Die Frage der religiösen Gewalt ist deshalb zuallererst eine Frage des Menschen, eine gesellschaftliche und anthropologische Frage und nicht unmittelbar eine religiöse“. Aber immerhin gibt es eine Reihe von Stellen in den Schriften, wo Gott direkt und unmittelbar zu Gewalt aufruft, Gewaltausübung befiehlt oder gar die Nicht-Ausübung von Gewalt bestraft (z.B. Dtn 13,10; Ex 21,12; Ri 3,8; Jes 34,2 oder 1 Sam 15,3).

Zuweilen wird argumentiert – so von Neis 2011:21 –, dass die literarische Gewalt in der realen Geschichte Israels höchst selten zu wirklicher Gewaltausübung geführt habe, wenn man einmal von den Makkabäer-Kriegen absehe. Wenn das auch historisch zutreffen mag ist eine solche Argumentation äusserst problematisch: Relevant ist nicht, ob literarisch dargestellte Gewalt politisch oder historisch umgesetzt wird, vielmehr ist entscheidend, ob semantische Figuren wie die gewaltsame Durchsetzung von politischen Zielen, Weltanschauungen oder Vorherrschaft, die physische Vernichtung von Gegnern oder die Todesstrafe für bestimmte Verbrechen im literarischen Kontext als legitim bzw. gerechtfertigt erscheinen und dargestellt werden, und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Natürlich können Texte heiliger Schriften immer politisch instrumentalisiert werden – und sie wurden es auch bis in die heutige Zeit –, aber hier interessiert die Frage, welche friedensethischen Folgerungen sich aus diesen Gewaltschilderungen ziehen lassen. Vielleicht hat Assmann (2000:139) recht, wenn er schreibt: „Wenn man die monotheistische Idee retten will, muss man sie ihrer inhärenten Gewalttätigkeit entkleiden“. Nur: Das gilt auch für monolatrische oder polytheistische Gottesverständnisse, wie die Geschichte zeigt, ja für jedes Gottesverständnis. Das Problem in Bezug auf die Gewaltfrage ist weniger, ob es einen Gott oder mehrere Götter gibt, sondern ob Gott oder die Götter liebevoll, friedensfördernd und gewaltlos gesehen und gedacht werden oder nicht.

2 Zitate aus der Bibel stammen in der Regel aus der Übersetzung der Deutschen Bibelgesellschaft Stuttgart: Die Bibel in heutigem Deutsch (1984). Längere Zitate aus anderen Bibelübersetzungen – v.a. Einheitsübersetzung und Revidierte Lutherübersetzung – werden in der Regel besonders gekennzeichnet. Bibelzitate in Zitaten von Drittautoren werden in der Regel aus der von ihnen benutzten Übersetzung übernommen.

3 Gemäss dem gewählten Vorgehen entlang der erzählhistorisch gewachsenen Textstruktur des Tanach, des Talmuds und neuerer Schriften geschieht in dieser Arbeit eine Reflexion sozusagen kreisförmig um die zentralen Themen wie Gerechtigkeit, Frieden, Krieg, Gewalt, Unterdrückung, Interkulturalität – immer bezogen auf den entsprechenden Texte im jüdischen Kanon, im Talmud und in späteren Schriften jüdischer Autorinnen und Autoren.

4 Also der Erzählstrang beginnend bei Gen 1,1, dann wieder ab Ex 6 bis zu Dtn 34,7, der ursprünglich Grundschrift und später Priesterschrift genannt wurde (vgl. Achenbach 2017:115).

5 Demgegenüber datiert Frevel (2012:761) die ägyptische Dominanz in Palästina auf das 10. und 9. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

6 Demgegenüber hält Bos (2013:164) die Datierung des Hoseabuchs auf das achte Jahrhundert v.u.Z. als sehr problematisch. Er meint, dass es später – so Ende des 6. oder Anfang des 5. Jahrhunderts v.u.Z. entstanden sein müsse.

7 Dohmen (2003:17) nennt die Zeit nach 539 v.u.Z. „Zeit der Substaatlichkeit“.

8 Auch Schwienhorst-Schönberger (2012a:471) datiert die Entstehung von Kohelet auf die Zeit von 250–190 vor unserer Zeitrechnung.

9 Texte, die nicht in den jüdischen Kanon aufgenommen wurden – wie etwa die Bücher der Makkabäer (vgl. Engel 2012:388) oder das Judith-Buch (vgl. Crawford 2003:70) – werden im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

2. Vorstellungen einer gerechten
Gesellschaftsordnung im Judentum

In seiner Einführung zum Thema Gerechtigkeit hat Markus Witte (2012a:2) auf eine dreifache „Brechung als Suche nach der eigenen menschlichen Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit der Gemeinschaft und nach der Gerechtigkeit Gottes oder der Götter“ hingewiesen: „Zwischen den Polen ‚Alles ist gut‘, was sich in der Fluchtlinie des biblisch-hebräischen Wortes für ‚gut‘ (ṭôb, vgl. Gen 1,31) auch als ‚Alles hat seinen Sinn‘ verstehen liesse, und ‚Nichts ist gut‘ respektive ‚Nichts hat Sinn‘ verläuft die Suche nach persönlicher, sozialer und religiöser Gerechtigkeit“. Dabei ist laut Witte (2012a:12) „die Frage nach der Gerechtigkeit in allen ihren Bezügen die Frage nach Gott und dem Menschen“. Entsprechend ist die Gerechtigkeitsfrage sowohl eine theologische als auch anthropologische Thematik.

Diese beiden Ebenen der Gerechtigkeit zeigen sich exemplarisch in folgenden drei Tora-Stellen:

4 Er [= Gott, Anm. CJ] heißt: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade“ (Dtn 32,4; Einheitsübersetzung).

8 Nur an Noach hatte der Herr Freude. 9 Noach war ein rechtschaffener Mann und lebte in enger Verbindung mit Gott. Unter seinen Zeitgenossen fiel er durch seine vorbildliche Lebensführung auf“ (Gen 6,9f.).

20 Für euch aber, die ihr meinen [d.h. Gottes; Anm. CJ] Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen, und ihre Flügel bringen Heilung. Ihr werdet hinausgehen und Freudensprünge machen, wie Kälber, die aus dem Stall kommen“ (Maleachi 3,20; Einheitsübersetzung).

Witte hat den Zusammenhang von Gerechtigkeit und (konkretem) Recht auf der Begriffsebene wie folgt umschrieben: „Grundlegend für das Verständnis von Gerechtigkeit im Alten Testament ist, dass die hebräischen Begriffe für Gerechtigkeit (ṣaedaeq und ṣedāqāh, am Rande auch mîšôr) und für Recht (mišpāṭ) wie in Mesopotamien das akkadische Wortpaar kittum und mīšarum und in Ägypten das Wort ma’at Relationsbegriffe sind … Die hebräischen Begriffe lassen sich weitgehend so differenzieren, dass ṣaedaeq im Sinne eines collectivum ‚Gerechtigkeit‘ bezeichnet, während edāqāh als nomen unitatis bzw. nomen actionis für den einzelnen Gerechtigkeitserweis steht und dementsprechend im Plural die Bedeutung von ‚Heilstaten‘, sei es von Gott (vgl. Ps 103,6; Dan 9,16), sei es von Menschen (vgl. Ps 11,7; Dan 9,18) annehmen kann … Der Begriff mišpā, abgeleitet von dem Verb šāpaṭ (‚richten/herrschen‘, vgl. šopeṭ ‚Herrscher/Richter‘), bezeichnet ursprünglich den Schiedsspruch, der auf einen heilvollen Zustand (šālôm/‚Frieden‘) zwischen zwei Parteien zielt, dann den Rechtsentscheid, die Rechtssache und das Recht bzw. das Anrecht oder den Anspruch auf etwas sowie in einem umfassenden Sinn das Gericht“ (Witte 2012b:38f.).

Wenn man Klaus Koch (1991b:92 und 69) glauben kann, herrscht in der Hebräischen Bibel ein grundlegender und durchgehender Zusammenhang zwischen dem Tun-Ergehen-Konzept der Menschen und dem Handeln Gottes vor. Dabei – so Freuling 2004:12 – erschöpft sich Kochs Sicht nicht in einem „Widerspruch gegen die Ansicht, das Alte Testament sei durch ein Vergeltungsdenken geprägt“, sondern versuche darzulegen, „dass das hebräische Denken die Relation von Tun und Ergehen in einer ihm eigentümlichen Weise“ verstehe: „Besteht zwischen Tun und Ergehen ein notwendigerbegründetunweigerlich