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Veronika Aretz

Nico in Mirathasia





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80331 München

Impressum

 2016

©VA-Verlag • www.va-verlag.de • Germany

Veronika Aretz, Vennstraße 30, 52134 Herzogenrath

Urheberrecht am Text: Veronika Aretz

Cover/Layout/Grafik/Innensatz: Veronika Aretz

Druck und Bindung: Frick Kreativbüro & Onlinedruckerei e.K.

Alle Rechte vorbehalten.

Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk in irgendeiner Form ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin zu reproduzieren oder zu vervielfältigen.

ISBN: 978-3-944824-19-2

 

 

Veronika Aretz

Nico in Mirathasia

Wenn plötzlich alles anders ist

Band 1

 

Nicos Sturz

Nico sah die Mädchen durch das hohe Unkraut kommen. Sein eben noch lachendes Gesicht erstarrte und wurde ganz fahl. Das durfte doch nicht wahr sein! Gerade erst war er den geheimen Weg hierher geschlichen und unmittelbar darauf erschienen die beiden. Folgten sie ihm etwa auf Schritt und Tritt?

Nur mit Mühe konnte er den Kloß in seinem Hals lösen und seine Freunde warnen: „Achtung!“ Er hatte es geahnt! Janine und Isabelle hatten ihm bereits heute nach der Schule aufgelauert und versucht, ihn auszuquetschen. Sie wussten schon lange, dass er sich mit ein paar Jungs traf und tolle Sachen unternahm – obwohl er nie ein Sterbenswörtchen darüber erzählt hatte. Das konnte er schwören! Der Unterschlupf, den er mit seinen Freunden Lucas, Dominik und Felix fast täglich aufsuchte, war nur für ihre Clique gedacht – und für sonst niemanden.

Hektisch sah sich Nico um. Er musste für sich und seine Kameraden ein Versteck finden! Auf dem alten Bahnhofsplatz lag genügend Schrott herum, meist zerrissene Polster aus den Zügen oder verrostete Teile einer Maschine. Sogar ein ausgebrannter Waggon war dabei, den sie häufig als Picknickplatz benutzten. Das Coole war, dass sie dort Würstchen grillen konnten, ohne in Gefahr zu geraten, alles niederzubrennen. Jeder von ihnen hatte natürlich noch seinen geheimen Platz, wo er sich verbergen konnte. Das musste sein, damit sie nicht gesehen wurden, wenn ein Zug vorbeigerauscht kam. Das Gebiet weiter vorne mieden sie, denn da lag auch schon der Bahnhof. Dicke Stromkabel führten quer über das Gelände und außerdem trieben sich dort häufig Arbeiter herum. Erst vor ein paar Tagen hatten sie sieben Waggons abgestellt.

Mittlerweile hatten die Mädchen sie offenbar doch entdeckt, denn sie winkten ihnen zu. Janine zeigte ein breites Lächeln und warf ihre langen braunen Haare über die Schultern. Auch Isabelle lachte die Jungen an und wippte im Gehen mit ihren Hüften, wie Mädchen das halt manchmal taten. Wie sie so vieles taten, was Jungen nicht verstanden. Sich zum Beispiel umziehen. Die beiden hatten andere Sachen an als heute Morgen in der Klasse. Nette Sachen. Aber auf die Idee, sich etwas Neues anzuziehen, wäre Nico trotzdem nie gekommen.

„Woher wissen die hiervon?“, brauste Dominik auf. Stirnrunzelnd blickte er Nico an. „Ich hab dich heute mit Janine und Isabelle zusammen gesehen. Hast du uns verraten?“

Nico ballte die Fäuste. „Nein! Ich hab nichts verraten! Das würde ich niemals tun!“

Aber sie mussten ihm gefolgt sein. Sie mussten gesehen haben, wie er sich durch die Büsche gezwängt hatte und dann durch das Loch im Zaun geschlüpft war. Vielleicht hätte er sich doch besser noch einmal richtig umschauen sollen, dann hätte er die Mädchen wahrscheinlich rechtzeitig bemerkt. Die Jungen hatten sich geschworen, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über diesen Ort zu erzählen. Jetzt aber war ihr Geheimnis für immer verloren …

„Hi!“, rief Janine schon von Weitem und schwenkte dabei einen prall gefüllten Beutel. „Wir wollen bei euch mitmachen!“

„Wie habt ihr uns gefunden? Hat Nico uns etwa verpetzt?“, platzte es aus Felix heraus.

„Nein, nicht direkt“, antwortete sie und wiegte den Kopf hin und her. „Wir sind ihm gefolgt. Aber rausbekommen hätten wir es sowieso.“

Also doch! Nico wollte vor Scham im Boden versinken.

„Das wirst du büßen!“, fauchte ihn Felix auch schon an.

„Ich hab doch gar nichts gesagt!“, protestierte Nico. „Ich hab nicht mal …“

„Halt die Klappe! Du machst alles nur noch schlimmer!“ Felix straffte sich, bevor er sich den beiden Mädchen wieder zuwendete.

„Wir haben euch was mitgebracht. Sozusagen als Einstand“, säuselte Isabelle. „Ich hab Kuchen und Limo.“ Sie hielt den Beutel bereitwillig auf, damit die Jungen einen Blick hineinwerfen konnten.

„Und ich hab Nüsse und Schokoriegel“, ergänzte Janine ebenso begeistert und klimperte mit den Wimpern. Sie strahlte, als Dominik anerkennend die Augenbrauen hob. Er war ein Vielfraß, das wusste jeder. Ihn hatten sie also bereits eingewickelt, aber bei den anderen würde ihr Bestechungsversuch ins Leere laufen. Da war sich Nico ziemlich sicher.

„Schokoriegel?“, fragte Lucas auch prompt.

Nico stöhnte auf. Lucas war der Jüngste in ihrer Clique und leicht zu beeinflussen.

Immerhin guckte Felix die Mädchen ziemlich grimmig an. „Verschwindet!“, sagte er, doch längst nicht so böse, wie

Nico es sich gewünscht hätte. „Für euch ist hier kein Platz!“

„Oookaaay …“ Janine zog das Wort in die Länge. Ihr Lächeln hatte sich in ein Grinsen verwandelt, ganz beiläufig, aber Nico erkannte es sofort. „Tja, das ist schade. Isabelle, dann müssen wir doch noch bei Herrn Siebendorf vorbei.

Er ist sicher froh, wenn wir …“

„NEIN!“

Nico hatte es ausgerufen, voller Zorn und Abscheu. Sie wollten tatsächlich beim Bahnhofsvorsteher petzen gehen, wollten sie glatt erpressen! Der Mann würde ihr ganzes Reich zerstören und alles vernichten, was sie sich hier aufgebaut hatten.

„Wartet mal!“ Felix hielt Janine am Ärmel fest. „Darüber können wir doch reden. Vielleicht finden wir ein kleines

Plätzchen für euch.“

Dominik grunzte, aber Nico konnte nicht erkennen, ob es zustimmend oder ablehnend war. Vielleicht hielt er sich auch nur aus der ganzen Sache raus, um es sich mit Felix nicht zu verscherzen, der sich hier eindeutig als Boss aufspielte.

„Kommt mit in unser Versteck!“, wandte sich Felix nun an Isabelle und Janine. „Gleich müsste die Regionalbahn vorbeirattern. Wäre doch blöd, wenn uns einer hier sehen würde.“

Nur widerwillig folgte ihnen Nico. Er war enttäuscht. Sie hätten die Mädchen lieber vom Grundstück verjagen sollen, sie rausekeln oder was auch immer. Ihr Geheimnis würde sich so schnell in der Schule herumsprechen wie Hitzefrei im Sommer – und dann wäre es aus mit ihrer Freiheit.

Sie gingen hinüber zu ihrem größten Schlupfloch, das hauptsächlich aus verbogenen Blechen und angefaulten Balken bestand. Die gaben zwar keinen vollkommenen Schutz, aber den brauchten sie auch nicht, denn aus einem fahrenden Zug heraus konnte man so schnell nichts erkennen.

„DU bleibst hier!“ Felix drückte seinen Zeigefinger auf Nicos Brust. „Verräter werden ausgeschlossen! Du stehst Schmiere, bis wir uns eine Strafe für dich ausgedacht haben!“

„Dazu habt ihr kein Recht!“ Nicos Atem ging heftiger. „Du brauchst dich hier nicht als Anführer aufzuspielen!

Und außerdem hätten sie dich genauso bespitzeln können.“ Mit einem jähen Ruck stieß sein Freund ihn von sich. Nico wäre beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen. Felix blitzte ihn an. „Mach es nicht noch schlimmer!

Wir werden uns überlegen, was mit dir passiert!“ Dann verschwand er.

Sie schlossen ihn einfach aus! Nico war sprachlos vor Enttäuschung. Wäre er doch vorhin nur vorsichtiger gewesen. Er hätte einfach besser aufpassen müssen!

Nico suchte etwas, woran er seine Wut auslassen konnte. Am liebsten würde er mit einer Eisenstange gegen die Stahlbleche des Verstecks trommeln. Das würde ein Heidenspektakel geben! Die Mädchen würden sicher wie verrückt kreischen und die Jungs aufspringen und erschrocken heraus rennen. Dann würden sie merken, dass er nicht so mit sich reden ließ. Sie wären gezwungen, ihn an ihrer Sitzung teilnehmen zu lassen!

Aber vielleicht würde er seine Freunde damit bloß noch mehr reizen. Felix war schon ziemlich genervt und Dominik hatte Nico schon von Anfang an die Schuld gegeben. Nur Lucas würde zu ihm halten, das hatte er schon immer. Sie waren zusammen aufgewachsen, waren wie Brüder. Allerdings hatte er in der Gruppe nur wenig zu sagen.

Nico kickte wütend einen Stein zur Seite. Scheppernd schlug er irgendwo im Schrott ein. Er könnte einfach verschwinden. Nach Hause gehen, sich dort verstecken. Aber was sollte er da, während seine Kumpels hier über ihn entschieden und sich vielleicht die schlimmsten Dinge ausdachten. Musste er dann etwas tun, damit er in ihrer Clique bleiben konnte? Und was war mit Janine und Isabelle? Würden sie ab jetzt immer dazugehören?

Er hörte sie tuscheln und manchmal auch kichern. Sie verschworen sich gegen ihn, das war klar. Felix hatte die Situation schamlos ausgenutzt und die Gelegenheit ergriffen, den Boss zu spielen. Wären die Mädchen nicht Nico gefolgt, sondern Felix – er hätte alles schön unter den Teppich gekehrt, da war sich Nico ziemlich sicher.

Als die Regionalbahn kam, duckte sich Nico hinter ein hochstehendes Metallteil. Jetzt war nur noch das Rattern des Zuges zu hören. Aber auch als der vorüber war, blieb es still. Die anderen tuschelten nicht mehr. Waren sie bereits fertig?

Als Erster kam Lucas aus ihrem Versteck, dann folgten die anderen.

„Du musst eine Prüfung bestehen“, lachte sein Freund ihn an.

„Waaas?“

Nico war entsetzt. Scheinbar war Lucas auch noch stolz darauf, dass er bei dieser Entscheidung ein Mitspracherecht hatte. So bekam er seine Bestätigung und dachte nicht eine Sekunde an Nico! Eine Prüfung? Nico würde so etwas Blödes auf gar keinen Fall mitmachen, er gehörte zur Gruppe wie die anderen auch!

„Nicht du wirst geprüft“, erklärte Dominik schließlich selbstgefällig. „Sondern die Mädchen! Du kommst später dran.“

„Kommt hier rüber!“, rief Felix, der schon vorausgegangen war. Er steuerte auf einen der sieben Waggons zu. Bisher hatten sie sich nicht getraut, sie zu betreten, und höchstwahrscheinlich würden sie sowieso bald abgeholt werden, trotz des Graffitis, mit denen sie besprüht waren, einige Stellen rosteten sogar bereits.

„Eine Mutprobe“, lachte Lucas. Aufgeregt zeigte er auf den letzten Waggon. „Isabelle und Janine müssen versuchen, da einzubrechen!“

Nico schnappte nach Luft. Das musste er unbedingt verhindern! Wenn man sie dabei erwischte, gab es gehörigen Ärger.

„Vielleicht steht ja irgendwo ein Fenster offen“, schlug Felix vor. „Oder ihr sucht auf dem Dach nach einer Lüftungsluke. Manchmal gibt es da welche.“

Nico zitterte vor Wut. Er war nicht fähig, sich von der Stelle zu rühren. Felix wusste genau, dass das Besteigen des Daches so riskant wie überflüssig war. Wenn es Lüftungsluken gab, dann waren sie zu klein, um dort hindurchzuklettern. Und für jemanden, der noch nie auf einem Zug herumgekraxelt war, konnte es auch ziemlich gefährlich sein. Er würde unbedingt mit Felix sprechen müssen, denn ganz abgesehen von der Gefahr war es keine gute Idee, sich von den Mädchen erpressen zu lassen.

Janine war blass um die Nase geworden. „Meint ihr das wirklich ernst?“, fragte sie zögerlich.

Felix grinste überheblich. „Hast du Schiss? Dann kannst du ja auch gehen.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung des Lochs im Zaun.

Janine zog ihre Augenbrauen zusammen und betrachtete kritisch den Zug. An sehr alten Waggons gab es Leitern, mit deren Hilfe man bequem hinaufsteigen konnte, aber bei diesen hier schienen ein paar mickrige Steigeisen auszureichen. Allerdings wusste Janine nicht, dass es zwischen den Waggons viel einfacher war, hinaufzuklettern.

„Das kannst du doch nicht machen! Du …“, begann Nico, doch Felix schnitt ihm das Wort ab.

„Das ist genau der richtige Einstieg in unsere Clique!“, behauptete er.

„Aber …“

Nun war es Isabelle, die Nico unterbrach: „Natürlich werden wir eure dumme Prüfung bestehen! Gar kein Problem, nicht wahr, Janine?“

„Ach was … null Problemo …“, antwortete diese und kletterte auch schon an den Steigeisen hoch.

Nico sah ihr mit offenem Mund hinterher und musste zugeben, dass sie sich doch recht geschickt dabei anstellte. Das hätte er dem Mädchen gar nicht zugetraut.

„Du stehst Schmiere!“, befahl Felix. Er blickte Nico dro hend an, als hätte er alle Macht der Welt, ihn dazu zu zwingen.

„Ich hab doch überhaupt nicht …“, begann Nico zornig, doch er wurde jäh unterbrochen.

Ein heftiger Stoß durchfuhr die Waggons. Die Bahnarbeiter hatten eine Lok angedockt! Nico hatte es nicht bemerkt und seine Freunde ebenso wenig. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Mutprobe durchzuziehen, und jetzt saß Janine auf dem Dach fest! Sobald der Zug einmal in Bewegung wäre, würde sie nicht mehr so leicht herunterkommen und müsste so lange dort verharren, bis sie in den Bahnhof einfuhren. Wie würden die Leute nur gucken, wenn dann ein Mädchen vom Dach des Zuges herunterkraxeln würde?

Der Ruf eines Arbeiters drang zu ihnen, ein zweiter antwortete – schon ziemlich nah. Sofort warfen sich die Jungen hinter ein paar Sträucher, die hier überall wuchsen. Den optimalen Schutz boten diese zwar nicht, aber wie es schien, hatte der Bahnarbeiter nur Augen für seine Arbeit. Ein paar Schritte von ihnen entfernt ging er vorbei, hantierte eine Weile an der Kupplung zwischen den beiden Waggons und marschierte zur nächsten.

Janine musste sofort von diesem Zug herunter! Nico versuchte zu erkennen, ob sie noch oben auf dem Dach lag. Bestimmt hatte sie gemerkt, dass sie sich verstecken musste, vielleicht war sie aber auch zur anderen Seite hinabgerutscht. Nico verrenkte sich den Kopf, um unter den Waggons hindurchzuspähen, doch dort war niemand. Der Spalt zwischen Waggon und Erdboden war groß genug, er hätte ihre Füße sehen müssen.

Der Arbeiter auf ihrer Seite schlenderte zurück, rief seinem Kameraden etwas zu und hob die Hand als Freizeichen zur Abfahrt. Nico fluchte. Jetzt hatte er keine Zeit mehr nachzudenken, jetzt musste er handeln! Er musste zu Janine aufs Dach gelangen und ihr zeigen, dass es noch einen anderen Abstieg gab, der viel einfacher zu nehmen war, nicht so gefährlich. Wenn Felix und die anderen nichts taten – er schon! Er würde nicht einfach zusehen, er würde ihr helfen!

Janine rief nach ihnen. Nicht laut, aber trotzdem vernehmbar. Immerhin schien der Arbeiter sie nicht gehört zu haben. Nico sprang hoch und stürzte auf den Zwischenraum der letzten beiden Waggons zu. Doch der Zug war bereits in Bewegung und ruckelte an ihm vorbei. Dann mussten es eben die Steigeisen am Ende sein! Er würde Janine da runterholen, so schwer konnte das doch nicht sein. Und bis zum Bahnhof würde es auch noch eine Weile dauern, bis dahin wären sie beide längst in Sicherheit.

Mit einem gewagten Sprung griff er nach dem ersten Steigbügel des letzten Waggons. Dieser war wirklich nur ein Notbehelf und ziemlich schmal. Mit der anderen Hand fasste er nach dem zweiten Bügel, versuchte hastig, mit dem rechten Fuß das untere Eisen zu erwischen, und rutschte ab. Für einen Augenblick hing er in der Luft, nur die Fingerspitzen um den Bügel gekrallt.

Das kann doch nicht sein, dachte Nico fassungslos. Janine war wie eine Katze hinaufgeklettert und er hatte Mühe, es überhaupt zu schaffen? Er gab sich einen Ruck, zog die Beine an und trat mehrmals gegen die Waggonwand. Endlich fand er Halt. Heftig stieß er die Luft aus, dabei hatte er nicht einmal bemerkt, dass er sie angehalten hatte. Sein Blut pochte in den Ohren, aber er kraxelte weiter. Auf Händen und Füßen kroch er den ersten Meter auf dem Dach entlang.

Die Oberfläche war schmierig, mit Moos überdeckt. Stehen konnte er hier nicht, trotzdem spürte er, wie seine Beine zitterten. Von Janine war nichts zu sehen. War sie etwa be reits abgestürzt? Oder hing sie irgendwo an der Seite des Wagens und klammerte sich verzweifelt fest?

Angst schnürte ihm die Kehle zu. Da drangen die Rufe seiner Freunde zu ihm. Er wandte den Kopf – und sah Felix und Dominik auf der rechten Seite der Schienen stehen, Lucas mit Isabelle auf der anderen. Und gar nicht so weit von ihnen entfernt – Janine. Wie war sie bloß unbemerkt hier runtergekommen? Ihr Blick war starr vor Entsetzen, sie hob ihre Hand und zeigte auf ihn – oder auf etwas hinter ihm. Nico fuhr herum und rang wieder nach Luft. Vor sich entdeckte er eines der Stromkabel, die quer über den Platz gespannt waren. Starkstrom war tödlich, das wusste er. Wenn er dem Kabel zu nahe kam, war alles vorbei!

Sofort sprang Nico auf. Er musste zurück, wieder hinabklettern! Zwei Schritte waren es nur, das konnte er schaffen.

Wieder ruckelte der Waggon. Der glitschige Boden unter seinen Füßen gab nach. Nico schwankte. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, versuchte sich an irgendetwas festzuhalten. Aber da war nichts. Nur das schreckliche Gefühl zu fallen, rücklings in eine ungewisse Tiefe.

Der Sturz dauerte nicht lang. Nico spürte zuerst einen harten Schlag im Rücken, dann knallte sein Kopf irgendwo gegen. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor er einer tiefschwarzen Finsternis in die Fänge geriet, war Janines Schrei. Es war ein Laut, der ihm noch lange im Gedächtnis bleiben sollte und ihn zutiefst erschütterte.

Das Teufelsgesicht

Nico spürte den Schmerz. Irgendetwas war anders.

Er träumte unruhig, wollte am liebsten aufwachen – und doch auch wieder nicht. Da war ein Gedanke, der ihn festhielt, ihn zwang, weiter in diesem schrecklichen Albtraum zu bleiben. Er hörte immer wieder diesen Schrei, sah das Kabel auf sich zufliegen …

Nein, er musste endlich weg davon! Aber auch das wollte er nicht wirklich. Die Realität war ebenso grausam wie dieser Traum, vielleicht sogar noch schlimmer. Sie bewies ihm, dass es endgültig war, dass er nicht die geringste Chance hatte. Warum also sollte er wach werden?

Verzweifelt kniff er die Augenlider zusammen. Und wieder erinnerte er sich an sein erstes Erwachen im Krankenhaus. Der Schock nach seinem Sturz hatte zu tief gesessen und all seine Gedanken blockiert. Unzählige Untersuchungen hatte er über sich ergehen lassen, hatte begriffen, dass etwas in ihm zerbrochen, für immer gestorben war. Auch hatte er es in den Gesichtern der Ärzte gesehen – die Hoffnungslosigkeit, das verzweifelte Kopfschütteln. Und jetzt lag er hier in seinem Krankenhausbett und fühlte sich dem Schicksal machtlos ausgeliefert.

Nico hörte ein leises Lachen. Natürlich wusste er genau, was er sehen würde, schlüge er die Augen auf. Aber in seinem Traum wollte er auch nicht gefangen bleiben. Unruhig wandte er seinen Kopf von einer Seite zur anderen und blinzelte. Im Zimmer schien es sehr hell zu sein. Und das fürchterliche Gesicht, das ihn von oben herab anglotzte, war wieder einmal da. Er konnte es nicht fortwischen, denn seine Konturen verliefen wie Wasser in der grell leuchtenden De cke über ihm. Unverwandt starrte es ihn an, aus Augen, die undurchdringlich schienen.

Es war ein Teufelsgesicht, die schrecklichste Fratze, die Nico jemals gesehen hatte. Ihr breiter Mund war zu einem Grinsen verzogen und die Zähne blitzten, als wollten sie ihn beißen. Natürlich taten sie das nicht, das wusste Nico genau. Diese Gestalt wollte ihn verhöhnen, ihm zeigen, wie erbärmlich es ihm ging. Ja, er glaubte sogar, dass sie sich von seinem Hass und seiner Wut ernährte, dass sie umso besser lebte, je schlechter er sich fühlte.

Nico wollte sich abwenden, wollte nichts mehr von alldem wissen, was um ihn herum geschah. Aber sie befand sich überall. Glotzte wie jemand, der sich freute, dass er unfähig war, nur einen Schritt alleine zu tun. Manchmal lungerte sie auch in dem Kreuz herum, das direkt über der grünen Tür zur grausamen Außenwelt angebracht war, oder steckte in dem Lämpchen, das wild leuchtete, wenn der Knopf für die Nachtschwester gedrückt worden war. Und sie folgte ihm, egal, wo er sich befand. Wenn Nico nicht aufpasste, sprang sie ihm aus den langweiligen Bildern an den Wänden direkt ins Gesicht, nahm ihm die Luft zum Atmen, drang in ihn ein und vergiftete sein Blut.

Das Bett nebenan war leer. Zum Glück war es das. Nico glaubte, nicht ertragen zu können, dass fremde Besucher ihn immer wieder anstarrten. Und das würden sie ganz gewiss, er war ja jetzt kein Mensch mehr, er war ein hilfloses Bündel, ein Krüppel, nur noch eine Last.

Entmutigt drehte er sich zum Fenster um. Es ging, aber es war nicht leicht. Ungewohnt. Früher hatte er sich nie mit einer solch banalen Bewegung auseinandergesetzt. Jetzt war er dazu gezwungen. Langsam, Muskel für Muskel schmerzte und sein Rücken brannte wie Feuer – bis hinab zu dem Punkt, wo die eisige Kälte lag. Und darunter – war nichts.

Eine Orchidee stand auf der Fensterbank. Seine Mutter hatte sie dorthin gestellt. Als würde die sternförmige lila Blüte ihm das zurückgeben, was er brauchte. Als könnte sie sein Gefängnis öffnen, in dem er nun für immer feststeckte. Sein Körper war unbrauchbar und somit überflüssig. So mussten das auch seine Freunde sehen, jedenfalls hatten sie ihn bisher nicht besucht. Vielleicht trauten sie sich nicht oder hatte er auch gar keine mehr? Aber das war ihm egal. Er war allein in diesem elenden Zimmer mit der todbringenden Fratze und dem großen Kreuz an der hässlichen Wand.

Wieder einmal wurde die Tür aufgerissen. Das Teufelsgesicht hüpfte kichernd in den Blumentopf und zeigte ihm eine lange Nase, bevor es verschwand. Kleidung raschelte. Es mussten die Ärzte sein, die Visite war längst fällig. Wie Richter in weißen Kitteln bauten sie sich um Nico herum auf, beäugten ihn und urteilten über sein Schicksal. Nico drehte sich nicht um. Er brauchte sie nicht, sie konnten nichts mehr für ihn tun. Das hatte der dicke Arzt gleich nach der ersten Untersuchung zu ihm gesagt. Wozu also der Aufwand? Sie sollten ihn in Ruhe lassen! Sein ganzes Leben hatte sich in einer einzigen Sekunde geändert. Es war vorbei, nichts hatte mehr Sinn.

„Nico, mein Schatz“, flüsterte eine Stimme. Es war seine Mutter. Sie versuchte zu lächeln, ihn aufzumuntern. Ihre Augen wollten etwas sagen. Vielleicht: „Komm, gib dir einen Ruck! Das Leben geht weiter, du kannst nicht die ganze Zeit nur so daliegen!“

Doch es ging nicht weiter, das wusste sie genauso gut wie er. Vielleicht meinte sie das auch, um nicht selbst zu verzweifeln. Schnell schloss er die Augen wieder. Bei ihrem Anblick fühlte er nichts, nur diese endlose Leere. Sie hätte auch eine Fremde sein können.

„Dreh dich bitte um“, sagte seine Mutter leise. „Die Ärzte sind da, sie müssen mit dir reden.“

Natürlich mussten sie das, das war ihr Beruf. Sie mussten ihm Mut zusprechen, ihm erklären, dass noch nicht alles verloren sei. Aber egal, was sie sagten, wie viel Mühe sie sich auch gaben, seine Beine konnten sie nicht mehr zum Leben erwecken. Auch wenn sie sie ins Feuer halten würden oder mit Elektroschocks behandeln, sie vereisen, egal, was – er würde nichts spüren. Sie waren tot, sie gehörten nicht mehr zu ihm, sie baumelten herab wie Gummiwürste. Niemand wollte etwas mit einer Marionette zu tun haben, und genau so fühlte er sich, so leblos, so tot.

Nur widerwillig drehte er sich zu ihr.

„Nico, du musst an dich glauben!“, sagte eine dunkle Männerstimme. Ein Arzt setzte sich auf die Bettkante und blickte ihn eindringlich an. Seine Kollegen waren bereits davongerauscht, hatten vermutlich schon aufgegeben.

Nicos Mutter machte dem Arzt bereitwillig Platz. Ihre Augen waren wieder mit Tränen gefüllt, doch sie drängte sie zurück, versuchte so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, als wäre nichts geschehen.

„Du musst kämpfen, Nico!“

Der Arzt ließ nicht locker. Dr. Carlock stand auf dem Schild an seiner Brust. Ein Name, nichtssagend und unbedeutend.

„Das Leben geht weiter, auch wenn du glaubst, es hätte keinen Sinn mehr. Du kannst noch sehr viele schöne Dinge erleben, auch ohne deine Beine zu benutzen. Aber dazu musst du an dir arbeiten. Hörst du, Nico? Nichts ist verloren.“

Nico nickte mechanisch, auch wenn er anders darüber dachte. Doch, das war es, alles war verloren. Er fühlte seine Beine nicht mehr, er hatte versagt, nur weil er einem Mädchen helfen wollte. Deshalb lag er nun hier. Es wäre anders gelaufen, hätte er sich nur früher umge dreht, dann wäre er jetzt kein Krüppel, keine Handpuppe ohne Beine.

„Wenn du aufgibst, gibst du dein Leben auf. Dann wirst du nicht mehr lachen können und deine Freunde wenden sich von dir ab. Es geht auch anders, Nico, doch das hast du allein in der Hand. Am Montag beginnt die Krankengymnastik. Versprich mir, dass du dich bemühst! Deine Ma bringt dich hin, nicht wahr, Frau Sommer?“

Dr. Carlock sah Nicos Mutter und dann ihn auffordernd an, er hatte sogar ein Lächeln auf den Lippen, das ihm Mut machen sollte. Nico wollte sich abwenden, doch etwas war in dem Blick des Arztes, was ihn stutzen ließ. Er erwartete etwas von ihm. Er wusste genau, dass Nico ja sagen würde, es nur nicht so meinte.

Dr. Carlock seufzte und griff in seine Kitteltasche. „Ich schreibe dir jetzt eine Internet-Adresse auf, über die ich – das muss ich zu meiner Schande gestehen – nicht das Geringste weiß. Und trotzdem werde ich sie dir geben. Ich habe sie von einer Patientin bekommen. Sie kam zu mir und erzählte mir eine unglaubliche Geschichte.“ Er zog aus der Brusttasche einen Stift und kritzelte etwas auf ein Kärtchen.

„Ist sie … ist sie auch so ein … so wie ich?“, fragte Nico mit rauer Stimme. Ihm war, als hätte er monatelang kein einziges Wort gesprochen. Ist sie auch so ein Krüppel wie ich?, hatte er fragen wollen, aber er brachte es nicht über die Lippen.

Dr. Carlock sah kurz auf, sein Blick wurde schlagartig ernst. „Noch viel schlimmer. Sie ist querschnittsgelähmt und wird nie wieder laufen können. Doch als sie mit mir sprach, war sie der glücklichste Mensch auf der Welt. Hier!“

Er reichte Nico seine Visitenkarte. Auf der Rückseite stand: www.mirathasia.eu. Mehr nicht.

Enttäuscht schaute Nico ihn an. „Noch heute braucht sie ihren Rollstuhl und die Hilfe anderer, aber sie hat ihren Lebenswillen wiedergefunden. Dank dieser Internetseite wahrscheinlich … Versuchen Sie erst gar nicht, hinter das Geheimnis dieser Seite zu kommen!, hat sie zu mir gesagt. Sie schaffen es nicht. Auch ich bin inzwischen zu alt und kann sie nicht mehr besuchen. Trotzdem möchte ich, dass Sie sie an Kinder weitergeben, die in Not geraten sind. Tja …“ Dr. Carlock zuckte mit den Schultern. „Sie meinte, sie wäre zu alt, dabei war sie erst achtzehn.“

Nico drehte den Kopf zur Seite und starrte hinaus in den grauen Himmel. Kinder! Der Arzt wollte ihm etwas andrehen, was für Kinder gedacht war! Wahrscheinlich eine Spieleseite, bei der man drei Äpfel und fünf Nüsse zusammenzählen oder eine Maus auf dämliche Weise über den Bildschirm hüpfen lassen musste. Nein, aus dem Alter war er raus, er ging schließlich schon in die siebte Klasse. Das heißt, jetzt würde er nie wieder dort hingehen. Was hatte die Schule noch für einen Sinn, wenn alles vorbei war? Er hatte einmal gedacht, sein Leben hätte erst begonnen. Aber es war bereits zu Ende, mit einem einzigen Fehltritt war alles vorbei gewesen.

„Und?“, fragte Nicos Mutter interessiert. „Haben Sie sich die Seite mal angesehen?“

Dr. Carlock nickte. „Ja, hab ich. Es ist nichts zu sehen außer einem blauen Bildschirm. Jedenfalls für mich …“ Er zwinkerte Nico zu und erhob sich vom Bett.

„Frau Sommer, bitte sorgen Sie dafür, dass Nico den Kontakt zu seinen Freunden behält. Nichts ist jetzt wichtiger als Gleichaltrige, die ihn unterstützen und ihm Mut machen. Er sollte auch weiter zur Schule gehen, falls es dort behindertengerecht ist. Falls nicht, setzen Sie sich mit dem Schulleiter in Verbindung und …“

Dr. Carlocks Worte flossen wie Quecksilber durch den Raum, wurden vom Teufelsgesicht aufgesaugt, das sich dreist aus der feuchten Erde des Blumentopfes zwängte und alles in leeres Geschwafel verwandelte. Das Wichtigste hatte Nico gehört: „behindertengerecht“. Er sollte sich in seiner alten Schule zeigen, sollte sich zum Gespött aller machen und auf seine Freunde vertrauen, die ihn im Stich gelassen hatten. Freunde, die er nie gehabt hatte. Freunde, die ihn hinter seinem Rücken als Krüppel bezeichnen würden.

Er drehte sich um und starrte die armselige Pflanze auf dem Fenstersims an. Wieder diese Bewegung, eine von vielen, die früher so selbstverständlich schienen. Jetzt aber war alles anders …