Ich widme dieses Buch meiner Familie

Dagmar Schaider

Das Leben meiner Eltern

Prolog

Dunkle Schatten lagen über den Straßen. Kalt und einsam wirkte die Stadt, verlassen und trostlos. Die grauen Fassaden der Häuser wirkten noch dunkler und düsterer als sonst. Die Häuser wirkten wie graue Riesen mit Fratzen, die auf die Straße grinsten und die wenigen Besucher, die durch die Nacht irrten, verhöhnten. Eine einsame Person lief durch diese Straßen, schnell bewegte sie sich und unsicher, umsehend, was hinter ihr wartete und nach vorne spähend, was vor ihr lag.

Rastlos lief Rosalie durch die Nacht.

Über die Stadt legte sich tiefe Dunkelheit und eisige Kälte. Es war Februar. Sie lief die Gassen hinunter in Richtung Wienfluss. Der schneidende Wind fuhr ihr wie ein Messer ins Gesicht und die Kälte durchströmte ihren Körper. Ihre Tränen schienen zu gefrieren, doch die Kälte schien sie kaum zu berühren. Sie ließ ihren Mantel offen, wollte nur so schnell wie möglich weg. Doch wohin?

Rosalie weinte. Sie war aufgebracht gewesen. Nun jedoch war sie nur noch traurig und fühlte die Einsamkeit in sich aufsteigen. Sie wurde langsamer, hörte auf zu laufen und ging nun zur Brücke, die vor ihr lag.

Sie dachte an den Streit von vorhin. Peter war so anders als sie. Wie könnten sie je zusammen glücklich sein? Sie dachte an das, was sie beide miteinander verband, an ihr Kind. Jener Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Sie konnte sich schon fast nicht mehr an das Glück und die Liebe erinnern, die sie beide genossen hatten. Nun gab es nur noch den Zorn, das Unglück und seinen Hass, den sie auf sich spürte.

Sie war nun in der Mitte der Brücke angekommen und lehnte sich an die Brüstung. Nun wurde ihr die Kälte erst bewusst. Langsam ließ die Wirkung des Alkohols nach, den sie vorher noch zu sich genommen hatte. Ihre Gedanken wurden klarer und ihre Sinne schärfer. Wie kalt es doch war. Fröstelnd zog sie den Gürtel ihres roten Mantels um ihren schlanken Körper und band ihn zu. Sie fragte sich, was sie hier eigentlich machte, mitten in der Nacht am Wienfluss in der klirrenden Kälte des Februars.

„Rosalie!“ Sie vernahm ihren eigenen Namen und drehte sich um. Verwundert starrte sie auf den Mann, der vor ihr stand.

Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken, als er ihr mit einer Hand den Mund zuhielt und sie mit der anderen Hand um die Hüfte packte. Beinahe lautlos, so schnell geschah es, hatte er Rosalie über die Brüstung gezerrt und stieß sie hinab in das Rinnsal des Wienflusses.

Rosalies Augen waren geöffnet, als sie auf dem harten Beton des Flusses lag. Neben ihr floss das dünne Rinnsal des Flusses und ihr eigenes Blut vermischte sich mit dem kalten Wasser. All ihre Zweifel, ihre Gedanken hatten sich in diesem Moment aufgelöst, als das Leben aus ihr entwichen war. Einsam und kalt lag sie dort in dieser Nacht im Februar 1986. Ihr Mörder warf ihr einen letzten Blick zu und verließ dann mit schnellen Schritten die Brücke.

Hollabrunn, 2003.

Es war der 01. November 2003. Ernst war 18 geworden und der Duft von Kaffee und Kuchen weckte ihn und ließ ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen Gestalt annehmen. Er war durstig, hatte am Vortag gefeiert und dabei waren einige Flaschen Bier geflossen.

Was soll’s, dachte er, ich werde nur einmal in meinem Leben 18 Jahre alt.

Seine Freunde hatten auch gefunden, dass das ordentlich gefeiert werden musste und noch dazu hatte er an einem Feiertag Geburtstag, ein Glückskind also.

Er fühlte sich zwar noch müde, hatte aber dennoch Lust auf Kaffee und Kuchen und stand auf. Er zog die Vorhänge seines Zimmers weg und öffnete das Fenster, damit die frische Luft ins Zimmer kam. Mit nur leicht geöffneten Augen stand er am Fenster und atmete die frische, kalte Novemberluft ein. Früher war es ihm immer unheimlich vorgekommen, dass sein Geburtstag mit Allerheiligen zusammenfiel. Der Tag, an dem an die Toten gedacht wurde, war sein Geburtstag. Mit der Zeit jedoch hatte er es genossen, dass sein Geburtstag ein Feiertag war und es war besser als zu Weihnachten oder Silvester geboren zu sein. Außerdem war es unnötig, einen Tag zu benennen, an dem der Verstorbenen gedacht werden sollte, denn es sollte an jedem Tag des Jahres geschehen, dass Gedanken an jene Menschen gerichtet werden sollten, die nicht mehr im Diesseits weilten.

Ernst blickte übers Feld. Um diese Jahreszeit erschien ihm die Gegend besonders trostlos.

Seine Eltern erwarteten ihn in der Küche. Seine Mutter hatte Kuchen gebacken, keine Torte, denn er hasste die zuckersüßen Cremen, die sie so sehr liebte. Ihr Hang zu Süßem hatte sie rundlich gemacht und da sie von nicht besonders großer Statur war, hatte sie schon einige hämische Bemerkungen über sich ergehen lassen müssen. Selbst Herrmann, ihr Ehemann, machte sich manchmal lustig über ihre Figur, was sie sehr kränkte. Den Schmerz über diese Kränkungen verbarg sie geschickt und im Übrigen ließ sie viele Dinge unausgesprochen, wie es Ernst schien. In seiner Familie wurde generell wenig über Gedanken und Gefühle gesprochen. Ernst störte das. Wirklich tiefgehende Gespräche führte er mit seinem Freund Thomas, der ein paar Häuser weiter wohnte.

Ernst setzte sich zu ihnen und sie tranken Kaffee und aßen Kuchen, die Eltern blieben jedoch ernst und nachdenklich. Er fragte sich nach dem Grund für ihr Verhalten, denn sonst hatten sie seinen Geburtstag immer fröhlich gefeiert.

Seine Mutter wirkte nervös. Plötzlich räusperte sich sein Vater.

„Ernst, wir müssen Dir etwas erzählen.“ Die Mutter wurde bleich.

„Ernst, wir haben gedacht, wir warten auf den Tag, an dem du 18 Jahre alt bist, um es Dir zu sagen.“ sprach sein Vater mit ernster Stimme.

„Was, was wollt ihr mir sagen?“ Ernst blickte die beiden ungläubig an.

Sein Vater sah ihn geradeaus an. „Ernst, wir haben Dich vor 17 Jahren adoptiert, als du erst ein Jahr alt warst. Wir sind nicht deine leiblichen Eltern.“

Sie sahen ihn an, als würden sie irgendetwas von ihm erwarten. Er jedoch stand nur auf und ging vor die Tür. Er hörte noch seine Mutter im Hintergrund und merkte, wie ein eisiger Wind durch seinen Pullover fuhr.

Der Tag war schleppend vergangen und neigte sich dem Ende zu. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er hatte das Gefühl, in ein tiefes, großes Loch hineinzufallen, das kein Ende hatte. So viele Fragen taten sich auf, gleichzeitig aber auch so viele Ängste, die mit den Antworten auf seine Fragen verbunden waren.

Wer waren sie, seine richtigen Eltern? Wie waren sie? Wie sahen sie aus? Aber die wichtigste und grundlegendste aller Fragen war wohl: Warum hatten sie ihn weggegeben?

Schließlich ging er doch zu seinen Eltern, um mit ihnen zu reden. Seine Mutter hatte verquollene Augen, sie hatte den ganzen Tag über geweint. Er konnte nicht anders, impulsiv nahm er sie in die Arme.

Er stellte seinen Eltern, seinen Adoptiveltern, die Fragen, die er sich gestellt hatte. Er wollte mehr von seinen leiblichen Eltern wissen und wie es dazu gekommen war, dass sie ihn adoptiert hatten.

„Es war eine schwierige Zeit.“ fing sein Vater an zu erzählen. „Wir wohnten damals noch in Wien im 12. Bezirk. Wir hatten diese doch recht große Wohnung mit 3 Zimmern, in der wir günstig wohnen konnten. Deine Mutter…“ er blickte auf Ernsts Mutter, die mit versteinertem Blick und Tränen in den Augen abwesend wirkte. „Deine Mutter arbeitete im Feinkostgeschäft um die Ecke als Wurstverkäuferin.“ Er seufzte kurz. „Heute gibt es dieses Geschäft nicht mehr. Ich hatte gerade meine Meisterprüfung als Schlosser abgeschlossen und hoffte auf die Beförderung in der Firma. Es war eine recht unruhige Zeit.“

Ernst unterbrach ihn. „Das hast du mir alles erzählt, Papa. Du hattest Probleme mit deinem Chef, bis dann sein Bruder für dich ein gutes Wort einlegte und du Chef der Abteilung wurdest und dann habt ihr jeden Cent weggelegt, um auf das Haus zu sparen…“

„Ja, aber ich habe Dir verschwiegen, dass deine Mutter damals ein Kind haben wollte.“

Ernst sah ihn misstrauisch an. „Du nicht?“

„Natürlich wollte ich auch ein Kind, was für eine Frage. Aber Frauen sind da anders. Der Wunsch nach einem Kind war bei Irmgard so groß, dass es sie fast verrückt machte, keines bekommen zu können.“ Er blickte auf seine Ehefrau, die immer angespannter wurde, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen.

„Irmgard „setzte er leiser fort „hat jedes Kind und jedes Baby in unserer Umgebung angelächelt, die Mütter angesprochen und bald saß sie nur noch zuhause und weinte. Sie ging häufig in den Krankenstand und drohte die Arbeit im Geschäft zu verlieren.

Ich wollte nicht länger zusehen, also sprach ich sie darauf an, ein Kind zu adoptieren.

Wir hatten ja alles versucht, seit Jahren schon versuchte Irmgard schwanger zu werden und es funktionierte einfach nicht. Die Idee mit der Adoption hingegen stimmte sie wieder heiter und Irmgard ging wieder arbeiten, war wieder fröhlicher und wir sahen beide mit Optimismus in die Zukunft.“

Sein Vater hielt kurz inne, blickte seine Mutter an, die inzwischen still weinend zu Boden sah und fuhr dann fort.

„Du warst ein Jahr alt, als wir dich bekamen. Deine richtige Mutter lebt nicht mehr, wurde uns gesagt. Mehr haben wir auch nie in Erfahrung gebracht, wir zogen es vor, so wenig als möglich von deinen richtigen Eltern zu wissen.“

Ernst blickte zu Boden. Er begriff noch nicht richtig, was das alles hieß, erst langsam sickerten all die Worte in sein Gehirn und er bemerkte, wie er Kopfschmerzen bekam.

Nie würde er jenen Tag vergessen. Die Erfahrung, was es heißt, eine Lebenslüge präsentiert zu bekommen, brannte sich noch lange in seinen Gedanken ein.

Die Eltern blieben an diesem Abend noch lange wach. Irmgard spülte das Geschirr, begann dann, als keine Hausarbeit mehr zu erledigen war, Staub zu wischen, nur um irgendetwas Nützliches zu tun. Sie dachte daran, wie sehr sie sich damals ein Kind gewünscht hatte. Hermann konnte das damals nicht verstehen, er war oft wütend gewesen, hatte kein Verständnis für ihren Kummer gehabt. Wie oft war er fort gewesen, hatte sich nächtelang herumgetrieben und sie hatte keine Ahnung gehabt, wie es mit ihrer Ehe weitergehen sollte.

Es hatte sie gekränkt, wenn er frühmorgens nach Hause gekommen war und nach Damenparfum gerochen hatte. Sie wusste längst, dass er zu anderen Frauen ging, obwohl er es vehement abstritt.

Als sie dann Ernst adoptieren durften, hatte dies alles ein Ende. Sie sparten auf das Haus und sie versorgte den Jungen und ihren Mann mit Hingabe. Hermann ging auch nicht mehr in die Kneipen, er war mit dem Hausbau in Hollabrunn beschäftigt. Sie sprachen wieder miteinander wie früher und Irmgard war endlich wieder glücklich.

Als die Dame vom Jugendamt ihr erklärt hatte, dass die Mutter des Jungen verstorben war, war sie erleichtert gewesen. Ihre größte Angst bestand nämlich darin, dass ihr jemand das Glück wieder wegnehmen konnte. So konnten selbst die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr werden und Ernst würde eines Tages erfahren, wer er ist, ohne dass es eine Frau gäbe, die er ihr vorziehen könnte.

Nun war es soweit. Hermann hatte darauf bestanden, Ernst von der Adoption an seinem 18. Geburtstag zu erzählen. Sie war dagegen gewesen. Sie wollte ihrem Kind nicht den Geburtstag verderben. Außerdem wollte sie es ihm schon viel früher sagen, Hermann war aber dagegen gewesen und wie immer, wurde das getan, was Hermann wollte.

Jetzt war es zu spät.

Ein paar Wochen vergingen. Ernst fiel es schwer, sich auf die Schule zu konzentrieren. Er hatte auch seinen Freunden nichts von der Neuigkeit erzählt, mit der ihn seine Eltern konfrontiert hatten.

Ständig kreisten die Gedanken in seinem Kopf. Immer wieder stellte er sich dieselben Fragen. Wer waren sie? Wie waren sie? Warum war seine Mutter gestorben? Was war damals passiert? Diese Fragen ließen ihn nicht mehr los, er konnte nicht schlafen, aß wenig. Es war ihm egal, was um ihn herum passierte.

Nachts träumte er.

Er ging über ein Feld, Nebel erschwerte ihm die Sicht. Die Welt um ihn herum war feucht und grau, er konnte kaum die Hand vor seinen Augen erkennen.

Plötzlich lichtete sich der Nebel, es wurde heller und die Sicht wurde klarer. Eine Gestalt tauchte im Nebel auf. Eine Frauengestalt. Er war sich sicher, dass sie eine Frau war, sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Dann plötzlich, drehte sie sich um.

Schweißgebadet wachte Ernst auf. Bevor die Frau zu erkennen war, war er aufgewacht.

Ernst lag keuchend in seinem Bett, er spürte, wie sein Herz klopfte und sein Puls raste.

Ernst und seine Eltern saßen am Tisch und frühstückten. Sein Vater sah dauernd auf die Uhr. Es war zwar Sonntag, aber er hatte eine Verabredung mit einem Freund, dem er beim Hausbau helfen wollte. Seine Mutter lächelte ihm ständig zu, beobachtete ihn.

„Nun iss‘ doch endlich etwas!“ sagte sie, ihn ängstlich musternd. „Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag“.

Ernst blickte sie genervt an. „Mama, bitte.“

Als sein Vater weggefahren war, ging er zu seiner Mutter.

„Mama, ich möchte wissen, wer meine Mutter war und wie sie gestorben ist. Ich möchte zu ihrem Grab gehen und ihr Blumen bringen.“

Irmgard sah ihren Sohn entsetzt an. Sie bemerkte die Tränen in seinen Augen, die er verzweifelt unterdrücken wollte. Sie nahm ihn in die Arme und spürte wie er weinte, spürte die heißen Tränen, die über sein Gesicht liefen. Es war das erste Mal, seitdem er von der Adoption erfahren hatte, dass sie ihn weinen sah. Sie wusste, es war ein gutes Zeichen.

„Wenn du das möchtest, werden wir herausfinden wer sie war und dann gehen wir zu ihrem Grab und legen Blumen nieder und zünden eine Kerze für sie an.“ sagte sie leise.

Dazu war es nicht gekommen. Hermann war dagegen gewesen und Ernst fühlte sich zu schwach, um sich gegen seinen Vater zu wehren. Häufig träumte er von einer fremden Frau, deren Gesicht sich ihm nicht offenbarte. Nachts erwachte er schweißgebadet und lag dann oft noch stundenlang wach. Er hatte jedoch nicht den Mut, den ersten Schritt zu wagen, herauszufinden, wer seine Mutter war.