Wolfgang Rachbauer

Das Artemis Projekt

 

Borderline Killing

 


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Impressum:

KarinaVerlag, Wien

www.karinaverlag.at

Text: Wolfgang Rachbauer

Covergestaltung: Detlef Klever , www.kritzelkunst.de

Coverbild: Shutterstock/Wilqkuku, betibup33

WAYHOME studio, Roberts Vicups

Lektorat und Layout: Bruno Moebius

 

© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria

ISBN: 978-3-96724-307-9


Für alle,

die ihr Leben ohne Kompromiss führen,

die unbequem sind

und die ihre Stimme für die Schwachen erheben.

 

Тем,

кто не приемлет компромисс

и самоуспокоенность,

кто поднимает свой голос за слабых.

Kapitel 1

ANXT

 

»Kennen Sie Winston Smith?«, fragte er mich.1

»Nein«, sagte ich.

»Winston Smith ist eine Figur aus George Orwells2 Roman 1984. Smith wird gefoltert, damit er lernt, dass zwei und zwei nicht vier ergibt, sondern fünf. Er muss es aus seinem Innersten heraus glauben lernen, nicht einfach zugeben, damit die Folter aufhört. Er wird konsequent umgepolt, damit er letztlich davon überzeugt ist, dass zwei und zwei fünf ist. Und das gelingt nur, weil man seine wirklichen Ängste kennt. Wovor fürchtet sich Winston Smith am meisten? Es sind Ratten. Man schnallt ihm also einen großen Käfig über den Kopf, in dem sich zwei ausgehungerte Ratten befinden, die nur durch einige zarte Metallstäbe von seinem Gesicht getrennt sind. Man droht ihm, dieses Gitter wegzunehmen, damit sich die Ratten auf ihn stürzen und seine Augen, seine Nase, seine Zunge auffressen.«

Ich stellte mir die Situation, in der dieser Winston Smith gewesen sein musste, bildhaft vor. Panische Angst vor Ratten und dann diese fast metergroßen Bestien in ausgemergeltem Zustand, bissig, nervös umherspringend, einige Zentimeter vor dem Gesicht, nur ein paar Gitterstäbe zwischen den eigenen Augenlidern und den gierigen Mäulern, aus denen ein warmer, stinkender Atem herausströmte.

Er erzählte weiter.

»Diese Szene spielt in einem Raum, dem ominösen Raum 105. Jeder wusste, dass ihm dort seine ultimativen Ängste begegnen würden. Und im Prinzip macht die Organisation seit Jahren nichts anderes, aber weit entwickelt und medizinisch höchst ausgereift.«

»Sie meinen, dass auch die Organisation eine Folter mit Ratten anwendet?«, fragte ich erstaunt.

»Nein. Die Organisation hat nur das Prinzip von George Orwell kopiert. Alles andere wurde in jahrelanger Forschung weiterentwickelt. Die Organisation ist dabei auf ein Infinit-Halluzinogen – eine Abspaltung von Phobtroniconinsäure – gestoßen, umgangssprachlich ANXT genannt. ANXT ist kein normales Halluzinogen, sondern es funktioniert dynamisch. Wird einem Menschen ANXT injiziert, dann durchforscht es innerhalb von einigen Sekunden dessen Psyche. Nicht nur den momentanen Zustand, sondern die ganze Sozialisation dieser Person, gewissermaßen die ganze Vergangenheit, alles Bewusste und Unbewusste, alles Erlebte, Gedachte und Gefühlte. Anschließend definiert ANXT die sogenannte GIPP, die Größtmögliche Identifizierbare Persönliche Phobie. Diese ist von Person zu Person unterschiedlich. Bei Winston Smith waren es Ratten. Bei einem anderen ist es vielleicht die Angst vor dem Erblinden oder die Angst vor Röntgenstrahlen, bei wieder jemand anderem die Angst vor Pfählung oder Vergewaltigung. Jeder hat seine größte, ganz individuelle Phobie. Nachdem das Halluzinogen ANXT diese persönliche Phobie identifiziert hat, beginnt es, diese kontinuierlich auszulösen bis die Psyche der betroffenen Person diese Angst nicht mehr ertragen kann und der vermeintliche Tod erlebt wird. Sobald das geschehen ist, beginnt die Folter von vorne. Die entsprechende Phobie wird erneut ausgelöst und immer weiter gesteigert bis dem Gehirn wiederum der vermeintliche Tod vorgetäuscht wird. Diese Prozedur wiederholt sich aber nicht in Minutenabständen, sondern in Bruchteilen von Sekunden, die der betroffenen Person jedoch wie Tage vorkommen. Kurz gesagt: Wenn man ANXT injiziert bekommt, löst dies mehrere Tausend einzelne, grausamste Tode aus, die sich alle in der Psyche dieser Person abspielen, basierend auf der größten, individuellen Angst.«

Kapitel 2

Ein ganz normales Leben

 

Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens.3 Ich stand morgens auf, wie jeder andere Mensch. Unausgeschlafen und mit einem Harndrang, der mich auf die Toilette wandern ließ, schlaftrunken und missmutig. Beim Wasserlassen atmete ich nochmals durch und ließ mich kurz wieder in die morgendliche Trance zurückfallen. Langsam änderte sich dann regelmäßig mein Körperempfinden, das mich von der Erinnerung an die wohlige Bettwärme zur ersten Bewegung der Arme – ich streckte sie immer hoch über den Kopf – führte.

Und dann stand ich im kalten und steril anmutenden Bad und ich fühlte mich noch immer nicht wohl im neuen Tag, der gerade zum Leben erwachte, wie eigentlich jeder Tag, nicht anders als der vorherige und wahrscheinlich auch nicht anders als der nächste Tag. Ich war kein Morgenmensch, nein, definitiv nicht, ich hasste es, aufzuwachen und die Sorgen des Vortages, die ich für eine zu kurze Nacht wie eine Armbanduhr auf meinen Kasten legte, wieder in mein Gehirn eindringen zu fühlen, ich hasste es aufzustehen, mich zu waschen, ich hasste es, meine Zähne zu putzen und ich hasste es, mich am Morgen unter die Dusche zu stellen. Ich hasste einfach alles am Morgen, nicht nur den schaudernden Blick einer Frau in den morgendlichen Spiegel, der einem die Wahrheit so ungeschminkt und grausam an den Kopf warf, wie es vielleicht sonst nur ein Tierarzt oder ein Zahnarzt konnte, wenn er scheinbar gleichgültig seinem Patienten, sei es nun ein krankes Kalb oder ein ängstlicher Mann mit fürchterlichen Zahnschmerzen, eine Spritze verabreichte, also ohne mit der Wimper zu zucken einen Schmerz zufügte, kühl, gefühllos und direkt. Ich hasste mein ungepflegtes Spiegelbild jeden Morgen aufs Neue und ich wunderte mich immer wieder, warum Männer überhaupt Frauen begehren, wenn diese doch, so wie ich an diesem und eigentlich an jedem Morgen, nicht viel besser aussahen als ein welker Obstbaum im späten Winter, ausgelaugt, unattraktiv und kaum wert betrachtet, geschweige denn begehrt zu werden. Ich verstand vieles nicht, aber am allerwenigs-ten verstand ich die Duraki4, diese dumme Spezies von Männern, bei denen ich nie wusste, warum sie eine Frau attraktiv fanden und warum nicht, jedenfalls spielten ganz offensichtlich so viele Faktoren eine Rolle und ich versuchte immer wieder dahinterzukommen, aber ich scheiterte meist daran. Und vielleicht prägte das auch meine Beziehungen, die ich hatte, nicht nur mit diesem Kabjel, diesem Hund, also dem verdammten Vater meiner Kinder, nein, auch mit all den verfickten Hujs, den schwanzgesteuerten Draufgängern, die mir letztlich nur zeigten, dass Mann und Frau nicht füreinander geschaffen sind, auch wenn es immer anders behauptet wurde, und die mir zeigten, dass es für mich das Bes-te war, keine Partnerschaft zu haben, keinen Ehemann, keinen Freund, keinen Liebhaber, sondern bestenfalls einen Schtschenok, der mich fickte, der meine Lust, die ich an manchen Tagen spürte, auf Abruf, auf Knopfdruck erfüllen konnte, ja, das reichte mir aus, das machte mich zwar nicht glücklich, aber zumindest auch nicht unglücklich und meine sexuelle Begierde war gestillt, was nicht schlecht war.5

Nach den verhassten ersten morgendlichen Gedanken, in denen ich die Realität wahrnahm und nach denen ich langsam, aber sicher alle mentalen Abwehrmechanismen und Rechtfertigungsgedanken gegen meine Sorgen, die ich wie die bereits erwähnte Armbanduhr umschnallte, in Stellung brachte, nach diesen Gedanken begannen die helleren Momente, nein, nicht nur hellere Momente, sondern wirklich helle Momente wie sie nur eine Mutter haben kann. Meine Deti, meine Lieben. Meistens schliefen sie noch, meine zwei kleinen Wunder. Ich nannte sie Wunder, Jelena und Irina, meine kleinen Töchter, die wohl jeder Mensch auf der Welt als »Wunder« bezeichnen würde, dürfte er sie am Morgen sanft aufwecken, dürfte er die langsam aus dem Schlaf erwachenden, kleinen Kindergesichter sehen, dürfte er die Augenlider sehen, die ganz langsam aufgingen und das grelle Licht in ihre Augen vordringen ließen, dürfte er das langsame, unschuldige Lachen erkennen, das von meinen kleinen, kostbaren Schätzen ausging. Eigentlich wurde ich erst mit dem Erwachen meiner Kinder munter und meine Psyche änderte ihren depressiven Stand-by-Modus sehr rasch in einen hellen, vielleicht orange oder gelb wirkenden, stimmungshebenden Aktiv-Modus, ja, ich wollte diesen Modus, dieses Tempo, diese Temperatur erreichen, da fühlte ich mich wohl und meine morgendliche, schlaftrunkene Depression wich einer Freude und einer lieblichen, mütterlichen Verantwortung, die ich für diese beiden kleinen Mädchen empfand. Jelena, der Name meiner Mutter, den ich für meine ältere Tochter wählte, und Irina, der Name meiner Tante, den ich für meine jüngere wählte.

Während Jelena und Irina aufwachten, aufstanden und sich wuschen, machte ich das Frühstück, meistens wieder in tranceartigem Zustand, als ersten Griff den Henkel des Wasserkochers nehmend und das Wasser für den Kaffee und den Tee einfüllend, dann ferngesteuert jeden Tag aufs Neue die gleichen Tassen herausnehmend aus dem kleinen Schrank mit der Klapptür, die jeden Tag mehr klappte, nämlich herunter und auf meine Hand, jene Klapptür, die ich mir zu reparieren jeden Tag morgens vornahm, dann auf das Wochenende verschob, dann auf den Urlaub und dann in das Nichts, also ich lebte mit dieser verdammten Klapptür nun schon einige Jahre gut, weshalb sollte ich das ändern? Die Klapptür war aber nicht das einzige Ärgernis, das mich beinahe in meine Morgendepression zurückfallen ließ, nein, es gab immer irgendetwas, was gerade nicht mehr ausreichend vorhanden war, manchmal der Zucker, manchmal der Honig, den Irina so gerne mochte, und manchmal der Kaffee. Irgendwie schaffte ich es dann doch immer, ein Frühstück für uns drei herbeizuzaubern, manchmal ein gutes Frühstück und manchmal auch nur die alten Blini vom Vortag, aber ich denke dennoch, dass ich meinen beiden Töchtern immer eine gute Mamatschka war, oder ich glaubte jedenfalls eine zu sein, für diesen Moment, aber das reichte mir aus.

Nach einem, meistens aber erst nach drei oder vier Schluck des starken, schwarzen, heißen Kaffees ohne Zucker, den ich schon so gewohnt war, dass mir jeder normale Kaffee in einem Restaurant, war er auch noch so stark, sehr schwach vorkam, so milchig, wässrig, lau und fad wie eine Weinbergschnecke, die gekocht auch nur mit einer starken Knoblauchsauce nach etwas schmeckte, nämlich nach Knoblauch, ansonsten aber ein Hauch von Nichts war, ja nach so einem mir vertrauten, starken Kaffee wachten die Lebensgeister in mir auf, meine Trance verschwand, meine Gedanken an die wohlige und sichere Bettwärme waren plötzlich verschwunden, meine Depressionen, die mir mein Arzt einzureden und manchmal auch auszureden versuchte, die aber letztlich doch nur mit einigen färbigen, harmlos wirkenden Glücklich-Machern, den Mother’s-Little-Helpers6, verschwanden, ja, sie waren weg mit dem Geruch von Kaffee und dem Geschmack dieses heißen braunen Getränkes, das ich oben einkippte und das ich beobachtete, nein, nicht beobachtete, sondern spürte, wie es von oben nach unten vordrang in die Gebiete der Speiseröhre und in den Magen, der sich mit einem wohligen Glücksgefühl bei mir bedankte und gleichzeitig nach mehr verlangte. Nein, ich mochte keinen Tee, keinen russischen Tschaj, und damit war ich eigentlich keine echte Russin, denn echte Russinnen trinken Tschaj und nicht Kaffee.

Ja, dann war ich munter. Wach und bereit für den Tag, bereit etwas zu leisten, Großes zu vollbringen, das ich mir immer wieder vornahm, das aber eigentlich nie gelang, aber egal, ich war bereit, auch wenn ich meist zu dieser Zeit des Tages nicht wusste wofür, für meine Kleinen, für meine Karriere, für einen neuen Mann in meinem Leben, keinen Durak, sondern einen großen, gut gebauten, gebildeten, reichen Mann, von dem ich manchmal träumte und mit dem ich in diesen feuchten Träumen Dinge machte, ganz schlimme Dinge, eben Erwachsenen-Märchen, aber wer hat diese Gedanken nicht, wenigstens manchmal, nein, ich brauchte mich dafür nicht zu schämen, in Träumen geht es ganz einfach nur ums Ficken, und nicht um Ljubov, das ist normal, sagten meine Therapeutin und meine Freundinnen, und die müssen es wissen, sagte ich zu mir, lächelnd, weil ich wusste, dass keine von meinen Freundinnen das durchgemacht hatte, was ich durchgemacht habe, glaubte ich zumindest, war aber wohl falsch. Egal.

 

Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens. Dazu gehörten auch meine ganz normalen Schlafstörungen, vielleicht waren sie schuld daran, dass ich manchmal ganz müde war und aggressiv, so oft fluchen musste und ordinäre Ausdrücke verwendete. Aber die Schlafstörungen kamen ja nicht von ungefähr, die hängen mit irgendeiner beschissenen Angst zusammen, die sich in meinen Albträumen niederschlägt. Das hat meine Therapeutin gesagt, aber was weiß sie schon von meinen Albträumen, in denen immer wieder meine beiden Kinder vorkommen, und eine Frau, und der Selbstmord eines jungen Mädchens, das von einem hohen Gebäude in den Tod springt, und dann auch Zahlen, lange Zahlenketten und Baumstämme.7

 

Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens. Ich brachte meine Töchter nach dem Frühstück zur Schule, jeden Tag, sie gingen in die gleiche Schule und waren dort bis zum Abend, an dem sie von meiner Nachbarin Kalina, die eigentlich keine bloße Nachbarin war, sondern meine Freundin, abgeholt und nach Hause gebracht wurden. Und ich verbrachte meine Zeit in meinem Beruf, ich war freie Journalistin bei der DWP Dostowski8 World Press, einer renommierten Zeitung in Norilsk, hatte freie Zeiteinteilung, war auf mich alleine gestellt und verdiente mir damit mein Geld, es war nicht viel Geld und es war schwer verdientes Geld, so kam es mir jedenfalls vor. Es war mir egal, ob es ein Kochrezept war, ein Bericht über einen Verkehrsunfall oder über den Frühling, der zögerlich erwachte, oder den Sommer, der sich nicht anmeldete, oder den Herbst, der viel zu früh kam, oder den Winter, der zu kalt war, manchmal konnte es auch ein Mord sein oder nur ein Mordversuch, egal ob ein Fernsehstar starb oder ein wenig prominenter Sportler, ja, mir fiel immer etwas ein und die Menschen lasen es, sie lasen es meistens gerne, zumindest redete ich mir das ein, in Wirklichkeit lasen es die Menschen wohl nur aus Mangel an Alternativen und ein Buch ist den meisten Menschen ja zu lang zum Lesen, aber manchmal wunderte ich mich dann doch, warum Menschen meine Artikel mit den viel zu langen und komplizierten Sätzen über die zu früh oder zu spät oder gar nicht kommenden Jahreszeiten lasen, das wunderte mich, aber – nun ja – mache die Leute glücklich mit deinen Geschichten, dachte ich mir, mache sie glücklich, das gilt beim Sex genauso wie beim Bücherschreiben, ein Mann kann die Frauen dann begeistern, wenn er sie nicht nur ausdauernd fickt, sondern auch wirklich ihre Lust befriedigt und wenn er weiß, was Frauen lieben, was ihre Gedanken anspornt, was ihre Fantasie anregt, was sie einfach müde macht und gut einschlafen lässt und träumen lässt, ausnahmsweise vielleicht einmal nicht von den dreckigen Erwachsenen-Märchen, sondern von Romantik und Liebe, aber das kommt im Allgemeinen ganz selten vor, meist ist nämlich die REM-Phase, wie mir gesagt wurde, geprägt von der körperlichen Liebe, dreckig und hart, und die Tiefschlafphase sowieso, da geht es nur noch um Lust und Stöhnen, ums Blasen, Ficken und um Orgasmen.9

 

Also, meine Artikel wurden gelesen, ob begeistert oder nicht, das kümmerte mich nicht. Mein Chef war allerdings oft anderer Meinung, er war ein Choleriker, er konnte manchmal ziemlich laut über meine Berichte schreien, schimpfen, um sie dann doch abzudrucken.

Kennengelernt hatte ich meinen Chef, als ich einmal in Moskau war und vor der Christ-Erlöser-Kathedrale, der Храм Христa Спасителя, stand. Diese Kathedrale hat eine lange Geschichte, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Der damalige Zar Alexander I. wollte auf den Sperlingsbergen zum Dank an den Sieg über Napoleon eine monumentale Kathedrale errichten. Allerdings war der Grund auf den Sperlingsbergen ungeeignet, zu weich, und es war ein anderer Zar, nämlich Nikolaus I., der dann die Kathedrale am linken Moskwa-Ufer errichten ließ. Und dann kam Stalin in seinem Größenwahn und plante genau dort seinen »Palast der Sowjets« mit einer unvorstellbaren Höhe von 415 Metern. Dazu sprengte dieser Durak die Kathedrale einfach in die Luft. Seinen Palast baute er dann doch nicht, oder besser gesagt, er kam bis zum Fundament, denn dann kam ihm etwas Wichtigeres in die Quere, nämlich der Zweite Weltkrieg oder – wie die Russen sagen – der Große Vaterländische Krieg, und das Fundament wurde in weiterer Folge als Schwimmbad genutzt. Dort wo einst eine prächtige Kathedrale stand, war nun ein Schwimmbad. Ein wahrlich komischer Gang der Geschichte. Aber letztendlich ging alles einigermaßen gut aus, denn während der Perestroika wurde immer häufiger die Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kathedrale gefordert. Sie wurde dann tatsächlich gebaut und im Jahr 2000 eröffnet.

Ich kann mich noch genau erinnern, es war der 21. Februar 2038, als drei Mädchen, eines hieß so wie ich, Nadeschda, in dieser Kirche ein Lied sangen, und die Mächtigen sahen sich darin in ihrer Ehre gekränkt, oder was auch immer, und diese drei Mädchen wurden unter einem großen Polizeiaufgebot aus der Kathedrale geführt. Ich besuchte gerade Moskau, stand damals auf der Brücke vor der Kathedrale und machte gerade ein Foto, als der Tumult begann und sich auf die ganze Gegend um die Kirche übertrug. Und dort war es auch, als ich Gospodin Dostowski, so wie ich aus Norilsk stammend, kennenlernte. Er fragte mich, ob ich wüsste, was da vorging, und ich habe ihm gesagt, dass ich genauso ratlos sei wie er. Und dann kamen wir ins Gespräch und es beeindruckte ihn wohl, dass ich so viel über diese Kathedrale wusste, worauf er mir anbot, bei seiner Zeitung zu arbeiten, als freie Journalistin, in Norilsk. Das traf sich perfekt und ich sagte sofort zu. Nun ja, so war ich zunächst eine Journalistin mit wenigen Beiträgen, was sich aber änderte, ich brauchte ja das Geld. Und so lernte ich auch die dunklen Seiten des Journalismus kennen, einen cholerischen Chef, neidische Kolleginnen und große Lügen, kleinere Lügen, ganz kleine Lügen, berechtigte Notlügen, wichtige Lügen, interessante Lügen und ganz normale Unwahrheiten. Aber die ganz große dunkle Seite in meinem Job kam erst später, als ich mich für eine Geschichte verkaufen musste und all meine journalistische Integrität tief begraben durfte.

Ich führte also ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens.

Kapitel 3

Norilsk, Stadt ohne Zukunft

 

Mein Name ist Nadeschda Andrejewna Talakonikova.10 Mein Vater hieß angeblich Andrej, also erhielt ich, so wie es im Russischen üblich ist, den Vatersnamen Andrejewna. Aber ich kannte meinen Vater nicht und ich weiß auch nicht, ob mein Vater wirklich Andrej geheißen hat. Angeblich ist er mit der Milizia, der russischen Polizei, in Konflikt geraten und hat deshalb meine Mutter und mich verlassen. Ich hätte meinen Vater gerne gekannt und von ihm mehr erfahren. Wenn meine Mutter über ihn sprach, dann immer sehr zwiespältig. Einerseits musste sie als alleinerziehende Mutter vieles mitmachen und ich glaube, dass sie mir das meiste, was sie durchmachen musste, um Geld zu verdienen, gar nicht gesagt hat. Mir nicht zumuten wollte. Manchmal hatte sie ein geheimnisvolles Glänzen in ihren Augen, so als wollte sie sich einreden, dass mein Vater kein schlechter Mensch war und vielleicht gar keine andere Wahl hatte als uns zu verlassen. Ich glaube, dass die Beziehung zwischen meinen Eltern ganz einfach eine sehr schicksalhafte war.

Meine Mutter war erst 19 Jahre alt, als ich geboren wurde. Das ist zwar nicht ungewöhnlich, aber sie erzählte mir oft, dass sie noch gar nicht reif für ein Kind war. Aber dennoch, sie freute sich über mich. Und in den ersten Jahren hatte sie ihre Mutter zur Hilfe, also meine Großmutter. Ich kann mich an meine Großmutter erinnern, aber nur undeutlich und schwach. Sie war immer besonders lieb zu mir und als ich vier Jahre alt wurde, starb sie. Später erzählte mir meine Mutter oft von meiner Großmutter, von meiner Babuschka. Alle nannten sie Babuschka Sofia. Meine Mutter erzählte nur Gutes über sie und vieles mutete so vergangen an, als hätte Babuschka Sofia im Mittelalter gelebt. Zum Beispiel die frische Milch, die man damals ganz bald in der Früh kaufen musste und dann in Milchflaschen abfüllte oder gleich für die Zubereitung von Blini verwendete, jedenfalls durfte man sie kaum stehen lassen, denn sie war am nächsten Tag schon sauer. Oder das damals übliche Parfum Trojnoj, angeblich das Lieblingsparfum des Genossen Stalin. Jeder kannte diesen Duft, ganz Russland roch damals nach Trojnoj, über das heute nur noch gelächelt wird, wenn man eine große, leere Flasche Trojnoj Odekolon mit dem markanten blauen Plastikschraubverschluss in einem Antiquitätenladen entdeckt. Es war in erster Linie ein Parfum, Babuschka Sofia verwendete es aber auch, um Wunden zu reinigen und angeblich reinigte mein Großvater seine Schere damit. Und aufgrund des hohen Alkoholanteils wurde es oftmals auch Getränken beigemischt. Ganz merkwürdig kommt einem heute vor, dass damals die Frauen – so hat es mir Babuschka Sofia erzählt – ihre eigene Waage in die Gemüseabteilung mitnahmen, um das Gewicht selbst zu kontrollieren, weil man sehr oft von den Verkäufern betrogen wurde. Alles war sehr weit weg und dennoch irgendwie nah. Und meine Mutter erzählte mir immer wieder vom Lieblingsspruch meiner Babuschka: »Лучше не окрывай рот, чтобы зубы не испортить!« Es bedeutete soviel wie: »Mach den Mund lieber nicht auf, damit die Zähne nicht kaputt werden.« Der Spruch bezog sich auf die enorme Luftverschmutzung in unserer Gegend.11

Eigentlich nannten mich alle Nadja. Oder auch Naduschka oder Nadi. Ich bin am 7. November 2017 in Norilsk, einer Industriestadt im Krasnojarski Kraj in Sibirien, geboren. Norilsk ist die nördlichste Großstadt der Erde. Sie ist eine sogenannte »градообразующее предприятие«, eine Stadt, in der der Großteil der Bevölkerung in der gleichen Industrie oder dem gleichen Unternehmen arbeitet, in diesem Fall eben bei Norilsk Nickel. Oder anders ausgedrückt: Aufgrund der natürlichen Ressourcen in dieser Region beschloss das Politbüro, in dieser Gegend einen Industriestandort zu gründen. Es sollte ein Nickelkombinat entstehen und 1939 entschied man sich, die Stadt Norilsk zu gründen.

Jeder, der schon einmal dort war, hat eine bleibende Erinnerung von dieser Stadt, nämlich Umweltverschmutzung pur. In der Luft fühlt man den Schwefel, der Schnee ist schwarz. Zur Schwermetallbelastung kommen überdies Feinstaub, Stickstoffoxide und Phenole. Norilsk ist reich an Rohstoffen: Nickel, Kupfer, Kobalt, Eisenerz, Kohle. In Norilsk steht die weltweit größte Schwermetallverhüttung.

Grundsätzlich sollte man meinen, dass sich eine Stadt mit vielen Bodenschätzen glücklich schätzen muss. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung hat nur ein Ziel, nämlich die Bodenschätze abzubauen und zu Geld zu machen. Die Bewohner der Stadt haben nichts davon, außer viele Krankheiten, Depressionen und Hütten, die sie Häuser nennen. Norilsk ist völlig vergiftet und gilt als einer der am schlimmsten verschmutzten Orte der Welt. Es gibt in der ganzen Stadt nur ein Hotel und dieses hat einen miserablen Standard. Es ist typisch sowjetisch, also hässlich. Und es ist mit riesigen Stahlbetonpfeilern, die man in den Permafrost bohrte, verankert. Also, ein Touristenmagnet wird Norilsk nie werden.

Das halbe Jahr über scheint so gut wie keine Sonne, man nennt die Stadt deshalb auch oft »die Stadt ohne Sonne«. Die Kinder im Kindergarten werden deshalb zeitweise mit UV-Licht bestrahlt. Neun Monate im Jahr liegt eine Schneedecke und fast das ganze Jahr über herrschen dort Minustemperaturen bis zu vierzig Grad unter null. Blumen und Wiesen haben in einem Umkreis von fast hundert Kilometern keine Chance zu gedeihen. Wenn man in Norilsk zur Welt kam, hatte man die schlechtesten Voraussetzungen für ein gesundes, erfülltes Leben.

Während der Stalinzeit gab es in Norilsk auch das berüchtigte Norillag, das Norilsker Besserungsarbeitslager. In den 1950er Jahren arbeiteten mehr als 70.000 Gefangene in diesem Lager, einer davon war mein Urgroßvater mütterlicherseits. Norilsk ist eine geschlossene Stadt, das heißt, dass keine Fremden ohne spezielle Erlaubnis in die Stadt dürfen. Man darf also nicht überrascht sein, wenn Norilsk solche Menschen wie mich hervorbringt, ständig auf der Suche nach einem besseren Leben, unzufrieden und letztlich eine Gefangene in der Trostlosigkeit des weiten Sibiriens.

Ich lebte also in einer rückständigen Stadt, einer Stadt, die den Sprung in das 21. Jahrhundert nicht geschafft hat und stecken blieb in einer Zeit, in der man noch die alten Fernseher hatte, die man an die Wand hängen oder gar auf einem Schrank platzieren musste, anstatt die Bilder virtuell in den Raum zu stellen, wie es heute üblich ist. In einer Zeit, in der man noch eigene Brillen aufsetzen musste, um dreidimensionale Bilder zu betrachten. Apropos Brillen, damals hatte man noch sogenannte Augengläser, die die Sehschärfe korrigierten und später dann Lasermethoden zur Schärfenkorrektur, beides heute nicht mehr notwendig, dafür gibt es längst einfache LED-Stabilisatoren, die man sich im Supermarkt besorgt und mit denen man die Sehschärfe korrigiert bis einige Jahre später das Ganze nochmals gemacht wird. So ähnlich wie eine Zahnaufhellung eben.

Ich hatte als freie Journalistin den Vorteil, dass ich öfters aus der Stadt Norilsk hinaus kam und auch andere Gegenden, andere Städte sah.

Es war interessant in dieser Zeit zu leben, mit all dem Fortschritt, den wir auch für Norilsk erwarteten, aber diese Stadt war eine alte Nickel-Stadt und da gehen die Uhren etwas langsamer als im übrigen Russland.

Heute, in einem Alter, in dem ich mich als Erwachsene bezeichnen sollte, obwohl ich mich meistens noch nicht reif genug, noch nicht ausreichend sicher genug für das Dasein als Mutter zweier Kinder fühle, heute habe ich keine Illusionen mehr. Ich habe keine Sehnsüchte, keine Erwartungen, fast möchte ich meinen, dass ich keine Emotionen mehr in mir trage. Vielleicht könnte man mich als Zombie bezeichnen, aber nicht im Sinne einer blutrünstigen Untoten, die nach Menschenfleisch giert, so wie es immer in diesen Horrorfilmen gezeigt wird. Auch nicht im Sinne eines Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, die bei ihrer Amtsübernahme zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei schon so alt waren, dass man sie verächtlich als Parteizombies bezeichnet hat. Nein, ich bin ein moderner Zombie, der ständig auf der Suche nach irgendetwas ist, dessen Energie bereits weitgehend aufgebraucht ist, der seine Kinder liebt und seine Freundschaften pflegt. Ich habe heute eigentlich keine Visionen mehr und will nur leben, einfach nur leben, vielleicht auch lieben und geliebt werden.

 

Die Organisation kannte ich damals noch nicht. Auch nicht das Projekt. Die Welt, die ich heute kenne, ist nicht die Welt, in der ich meine Kindheit, meine Jugend und einen Teil meines Erwachsenseins verbrachte. Die russische Sprache kennt für das Wort »Welt« und für das Wort »Frieden« das gleiche Wort, nämlich »Mir«. Das ist schön, aber Gültigkeit hat diese Doppelbedeutung längst keine mehr. Natürlich, unsere Welt war niemals eine friedliche, aber das, was ich kennenlernen sollte, ist schlimmer als jeder Krieg, als jede Seuche und jede Atombombe.

Kapitel 4

Sex, Liebe und Scheidung

 

An meine Kindheit kann ich mich nicht genau erinnern. Meine Mutter versuchte, mir eine Kindheit zu schenken, eine schöne Kindheit, so gut es eben ging. Aber ich spürte, nein, eigentlich wusste ich es, dass sie Sorgen hatte, Geldsorgen, Sorgen mit mir, mit ihrer Umwelt. Ich sah sie oft mit anderen Männern und das machte mich traurig, denn ich wünschte, sie würde nur einen Mann an ihrer Seite haben, und zwar meinen Vater. Aber das blieb ein Traum.

In meiner Jugend in Norilsk fehlte es mir eigentlich an nichts. Ich hatte alles, obwohl ich eigentlich nichts hatte. Ich lebte in einer Zeit, in der die Welt für mich wenigstens zeitweise in Ordnung schien, es aber nicht war. Vielleicht ist das der zeitliche Abstand, die rosarote Brille oder einfach nur das Vergessen oder Verdrängen von Zuständen. Ich lebte in den Tag hinein, ging zur Schule, machte das Nötigste, hatte meine Freundinnen. Ich liebte meine Mutter und hasste die verdammten Männer, die immer wieder bei meiner Mutter auftauchten und für ein paar Stunden bei ihr blieben.

Unser Umfeld in Norilsk war verheerend, obwohl wir es damals nicht so schlimm empfanden. Heute habe ich eine Meinung dazu und verstehe auch die Dinge besser, aus einem kritischeren Blickwinkel. Es interessiert mich, wie die Dinge heute zu funktionieren scheinen in meinem geliebten, verhassten Russland. Ich würde gerne noch mehr verstehen, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen, aber da gibt es so vieles, das die einfache russische Bevölkerung nicht versteht, ja gar nicht verstehen kann, weil sie zu weit weg ist von den Entscheidungen und Erklärungen. Der Kalte Krieg, auf den sich die Oberindianer aus Ost und West, also Reagan und die sowjetischen Politzombies, einschworen, war längst vergessen und begraben. Der Säufer Boris Jelzin war nicht immer so schlecht, wie man ihn in Erinnerung hat, immerhin hatte er die kommunistische Partei verboten und er war das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Russlands, aber viele Russen verzeihen ihm bis heute nicht, dass er maßgeblich am Zerfall der Sowjetunion beteiligt war, aber es war wahrscheinlich ohnehin Zeit, dass dieses Ungetüm, das irgendwie noch immer nach Stalin roch, nach Breschnew aussah und nach Gorbatschow schmeckte, dass diese Missgeburt zwischen dem alten Europa und dem Pazifik, dieses verdammte Gebilde bestehend aus ganz unterschiedlichen Staaten und Kulturen, zugrunde ging. Dass Wladimir Putin am ersten Tag seiner Amtszeit dem scheidenden Präsidenten Jelzin völlige Straffreiheit zusicherte, war nur die unrühmliche Krönung der Jelzin-Ära und die Bestätigung dafür, dass Jelzin sehr viel Dreck am Stecken hatte.

Die Ära von Putin, eigentlich Zar Putin, war ja eine verfickt dominante, aber eines schaffte dieser Diktator sehr gut, nämlich dass er viele Russen auf seiner Seite hatte, vor allem in der ländlichen Bevölkerung, nicht in den beiden Vorzeigestädten Russlands, nämlich Moskau und Petersburg, diese beiden Städte waren immer regierungskritisch und Putin hatte dort nicht sehr viele Freunde, interessanterweise auch nicht in Petersburg, seiner Geburtsstadt. Aber am Land, in den entlegenen Gebieten Sibiriens, dort wo man in Putin einen harten, strammen Mann sah, mit stählernem Oberkörper, der auch einigen Wodka verträgt – obwohl Putin keinen Wodka trank, ja, damals in Dresden schon, da trank er sogar viel Alkohol, aber dann wurde er ein Asket – ja, dort war Putin beliebt, von diesen Leuten wurde er gewählt. Putin wusste aber auch, dass er das ihm zur Verfügung stehende Geld, seine Macht und seinen Einfluss besser in den ländlichen Gebieten östlich des Urals investieren musste und dort die Wähler gewinnen musste, denn dort konnte er mit vergleichsweise wenig Geld viele Wähler gewinnen, was in Moskau und Petersburg nicht möglich war.

Schlimm wurde es erst nach Putin, in der Zeit, als Anton Wolff, ein Zuwanderer mit österreichischen Wurzeln, die Nachfolge von Putin antrat. Es wäre schön gewesen, hätten Europa und Amerika dem Russland nach Putin helfen können, aber das war nur ein Wunschdenken, denn in Wirklichkeit hassten Amerika und Europa das erstarkende Russland und taten alles, um es zu schwächen.

Das alte Europa mit seiner lächerlichen Europäischen Union zerbrach aber selbst langsam und sicher, von dort brauchte sich die Welt nichts zu erwarten, weder irgendwelche Impulse noch Ideen noch Innovationen. Dieser beschissene Haufen von Politikern stritt nur noch und war dem aufstrebenden russischen Bären, so wie Russland immer personifiziert wird, nicht gewachsen, Europa war ein alter Greis in einem alten klapprigen Mercedes, der auf einer fünfspurigen Autobahn ganz rechts dahin dümpelte, und auf der linken Spur überholten ihn die neuen Wilden, die Chinesen und die Inder, in ihren Tata-Indicars – so nannte die Tata Group ihre Superautos, nachdem sie die Sportwagensparte von Fiat übernommen hatte.

Das verfickte Amerika war aber noch schlimmer, denn es meinte immer, die Weltpolizei spielen zu müssen, also da ist mir Russland mit seinen Diktatoren hundertmal lieber als diese verdammten Duraki, angefangen von George W. Bush über Bill Clinton bis hin zu Barack Obama und Daniel B. Spears. Allein die Tatsache, dass Obama den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist eine Ironie der Geschichte, und man wollte ihm diesen Preis ja später wieder aberkennen, als bekannt wurde, dass er mit Guantanamo nur vom eigentlichen Skandal, nämlich dem unterirdischen Gefängnis in Huntsville, dem Ort, in dem Texas seine Todeskandidaten hinrichtete, ablenkte. Viele wurden an das unterirdische Gefängnis im Herzen Moskaus, der Lubjanka12, erinnert, bekannt und gefürchtet wegen der unzähligen Folterräume des russischen Geheimdienstes.

Obama durfte den Friedensnobelpreis behalten, eine Schande, aber mit dem Friedensnobelpreis ist es ohnehin so eine Sache, immerhin war auch Adolf Hitler einmal dafür nominiert worden.

Von Amerika brauchte sich die Welt also nichts erwarten.

Und China und Indien hatten das Kleid der ewigen Aufsteiger, der Musterschüler, irgendwann abgelegt und wurden zu den reifen Elder Statesmen, die die Welt regierten, und weder China noch Indien interessierten sich für Russland, sondern konzentrierten sich auf die neuen Märkte in Afrika und Südamerika, die nach den großen Epidemien mit hunderten Millionen Toten sozusagen von Null angefangen hatten und die es mit relativ vernünftigen Staatsmännern geschafft hatten, stabile und menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen, Länder, die somit wirtschaftlich sehr interessant wurden, jedenfalls interessanter als Europa oder die USA.

Also war Russland auf sich alleine gestellt und Anton Wolff schaffte es, noch verblödeter als Breschnew, noch verwirrter als Jelzin, noch unentschlossener als Gorbatschow und noch machthungriger als Putin zu agieren, er wurde zum Diktator schlechthin und manche meinten, er müsse in seinem früheren Leben der größenwahnsinnige nordkoreanische Führer Kim Jong Un mit seiner lustigen Stehfrisur und seinem Hang für möglichst grausame Hinrichtungen gewesen sein.

Mit Wolff wurde Russland noch zerrissener, noch korrupter und noch beschissener, als es ohnehin schon war, aber was sollte, was konnte man da ändern, gar nichts. Und ich konnte nicht nur nichts ändern, nein, ich wollte auch nichts ändern, denn ich war wie die allermeisten Russen ohnehin nicht in der Lage, das alles zu verstehen, was sich die Herren im Kreml ausdachten, nachdem sie mit ihren untergewichtigen Sukas gevögelt und bevor sie zu ihren depressiven, mit Wodka abgefüllten Ehefrauen nach Hause kamen, also was sich die da so ausdachten, das berührte uns meist sowieso nicht, denn das betraf immer nur die Beziehungen zum Ausland, es ging nur um den Verkauf von diesem verdammten Öl und Gas, wir waren denen so ziemlich egal, nur wenn es Wahlen gab, kam ein kotziger Huj, gab uns ein paar billige Sportschuhe oder eine italienische Gesichtscreme und erkaufte sich dadurch unser Kreuzchen auf dem richtigen Platz auf seinem Stimmzettel.

Also, Politik war in Russland zum Kotzen, aber vielleicht ging es uns da wie allen Menschen auf der Welt, vielleicht sogar noch ein bisschen besser, denn woanders ist es möglicherweise noch mehr zum Kotzen. Manchmal dachte ich mir, dass diese verdammte wodka-getränkte Gleichgültigkeit uns Russen ausmacht, dass man mit ihr groß wird, meist mit anderen Sorgen und Glücksmomenten und weit weg von der Politik, vom echten Wohlstand, beschäftigt mit sich selbst, mit seinem Umfeld, mit den Eltern, der Schule, den Problemen, den verfickten ersten Freunden, die allzu früh lernten, wie man Frauen schlägt und Wodka säuft, aber auch den schönen Momenten, die ich manchmal mit meinen Freundinnen hatte und die mich kurz von unserer Trostlosigkeit ablenkten.

Ich hatte zwar keinen Vater, aber eine Mutter, bei der ich aufwuchs und von der ich behütet wurde. Das war schön, im Gegensatz zu manchen anderen Kindern, die ohne Eltern auf der Straße aufwuchsen und in ihrem Elend von einem Tag auf den anderen lebten und meist nicht einmal wussten, wo sie die nächste Nacht verbringen werden. Meine Mutter war bemüht, mir eine gute Kindheit zu geben. Ich darf mich nicht beschweren, ich hatte einige schöne und zufriedene Jahre als Kind, aber ich vermute, dass ich meiner Mutter oft Probleme machte, vor allem in der Zeit meiner Pubertät, denn ich war in dieser Zeit drauf und dran, meinen Drang in die Freiheit mit meinen ebenso naiven Freundinnen auszukosten, den Drang zu den ersten Zigaretten und zu den wundersamen Wesen vom anderen Stern, also den Jungs aus der Clique, den Drang zu leben, zu feiern, also da schien die Welt sogar manchmal in Ordnung zu sein, und die Gewohnheit an das trostlose Dasein in dieser noch trostloseren Stadt tat ihre Pflicht und ließ uns so manches vergessen und verdrängen. Nach irgendwelchen Tiefs, nach Streitigkeiten mit der Mutter oder mit Freundinnen, oder auch nach Problemen in der Schule pendelte ich mich meist wieder rasch ein, oder eigentlich glaubte ich, mich wieder einzupendeln, denn rückblickend betrachtet pendelte sich überhaupt nichts mehr ein und es wurde alles anders, das ist aber die normale Entwicklung, und mein Freiheitsdrang verschaffte mir nur noch mehr Probleme, ein Drang hinaus in die Welt, der pubertäre Drang eines jungen Mädchens, etwas zu erleben, eines Mädchens, das sich nicht sicher war, was es zu erleben gab, ich wusste einfach nur, da ist etwas und da kommt etwas, irgendetwas Großartiges, aber ich tappte noch im Dunkeln und auch meine unerfahrenen Freundinnen dachten so wie ich und auch sie tappten im Dunkeln, wir trafen uns also im Dunkeln und warteten, warteten etwas erleben zu dürfen und den Lichtschalter zu finden, ihn aufzudrehen und die Geheimnisse des Lebens, also die drei wichtigsten Dinge im Leben, nämlich erstens Sex, zweitens Sex und drittens Sex, ja diese elementaren Geheimnisse endlich zu entschleiern, das Universum explodieren zu sehen und die Grenzen zu überschreiten, wie es meine Freundin Vilana immer wieder so schön beschrieb.

 

Mit zwölf hatte ich dann meinen ersten Freund, also die große Liebe meines Lebens, die mich und ihn, er hieß Rodion – was für ein altmodischer Name, aber wenn es um die große Liebe geht, ist das egal – die mich und ihn unzertrennbar machen sollte, eine Liebe, die uns bis zu unserem gemeinsamen Tod, in hundert Jahren oder in fünfzig Jahren, verbinden sollte und die dann immerhin fünf Wochen andauerte und mir einen Vorgeschmack dessen lieferte, was sich zu einem zentralen Punkt meines Lebens entwickeln sollte, nämlich das Verlassen-Werden, das ohnmächtige Gefühl zu sterben, wie es beim ersten und auch beim zweiten Mal war, aber auch an das gewöhnte ich mich rasch und mit fünfzehn war mir klar, dass eine Ljubov niemals lebenslang war, sondern in der Liebe ein Leben eben nur ein paar Wochen oder bestenfalls ein paar Monate dauerte, der Ausdruck »wsju zhizn«, also »lebenslang« eben relativ war, so oft in den Mund genommen, so oft gehört und so oft gelogen und geheuchelt, weil es nur selten echte Liebe war und noch viel seltener länger als ein Jahr dauerte. Ich lernte rasch, dass die Liebe eine seltene Pflanze ist, ich lernte vielleicht sogar zu rasch, dass im Leben die Liebe meistens mit Sex verwechselt wird und die Männer, nein die pubertierenden Jugendlichen, die damals ihre erotischen Prüfungen bei den Mädchen bestanden, ohnehin nur an Sex interessiert waren und sicher keine Liebe im Sinn hatten, schon gar nicht jene Liebe, die ich und meine Freundinnen meinten, jene Liebe, die in den Liebesromanen erzählt wurde. Und später, ich war sicher schon siebzehn oder achtzehn, da waren es dann schon reifere Männer, Kabjels eben, meistens verheiratet, oftmals Draufgänger und manchmal auch nur verklemmte Spießer, aber alle wollten sie mit mir ins Bett, möglichst rasch, mich ficken, vielleicht weil ich sehr attraktiv war und ich noch immer auf der Suche nach der echten Ljubov war, die Männer mich aber nur nehmen wollten, um mich als Trophäe in ihrem geistigen Sammelalbum abzulegen und mit mir im besten Fall zu prahlen, im Normalfall mich aber einfach sitzen ließen und mich schneller vergaßen, als sie ihre Hosen angezogen hatten.

 

Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, da hatte ich von den Männern die Nase voll und ich schwor mir, dass ich niemals heiraten werde. Eine Freundin sagte mir einmal scherzhaft, eine Ehe ist der Versuch, zu zweit mit Problemen fertig zu werden, die man alleine nie gehabt hätte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ich beschloss, dass ich mich auch nicht mehr verlieben werde, schon gar nicht Hals über Kopf, vielleicht auch lesbisch werde, und falls mir doch ein Mann unterkommt, der mir gefällt, dann wollte ich es ganz kühl angehen, möglichst keine Gefühle zeigen, ich wollte ein Mann sein und keine Frau, nur ficken und gefickt werden, die Lust spüren und dann diese Männer, die meisten waren ohnehin Arschlöcher, wieder schnell vergessen und vielleicht den nächsten nehmen, ficken und wieder vergessen, so wie es die Männer jahrelang mit mir gemacht haben. Wissend, dass es mir dabei nicht gut geht. Vielleicht hatte ich einige Rachegefühle in mir, das kann schon sein.

Anfang zwanzig lernte ich dann Iwan kennen, einen Mann, der ganz anders war als die anderen, und ich denke, dass ich in diesem Moment froh gewesen bin, dass ich keine Lesbe war, jedenfalls keine echte, sondern nur einmal oder zweimal mit meiner Freundin Vilana herumgemacht habe – vielleicht war es auch dreimal oder so – aber damit ist man ja keine Lesbe, also ich lernte Iwan kennen und änderte wieder einmal meine Einstellung zur Ljubov des Lebens, ich erlag ganz einfach dieser verdammten Versuchung, mich aufzugeben, hinzugeben einem starken Mann, und aus Sex wurde Liebe und dann geschah es. Ich wurde mir untreu, brach meinen Schwur und heiratete, ohne schlechtes Gewissen, sondern mit der vollen Überzeugung, jemanden gefunden zu haben, der anders war als die anderen, der mich nicht als dreckiges Lustobjekt sah und der mich auch nicht als Aufputz seinen Freunden zeigte, nein, Iwan war einfach Iwan, ein netter Mann, hatte Benehmen, was nicht selbstverständlich in unserer Gegend war, nahm Rücksicht, war elegant und hatte einen tollen Beruf als Ecotrader bei Norilsk Nickel, also Iwan war wirklich eine Ausnahme. Wenn wir Lust hatten, dann liebten wir uns, und wenn wir Lust hatten, dann machten wir unsere Erwachsenen-Märchen wahr und Iwan verstand es Frauen so zu nehmen, damit sie sich in Tausend und eine Nacht versetzt fühlten und nicht mehr unterscheiden konnten, ob es sich um einen Traum oder Wirklichkeit handelte, ja, Iwan zeigte mir, wie das Universum entstand, wie also der Urknall einschlug, und mit ihm betrat ich Räume, erschaffen von Gefühlen, Sehnsüchten und Wünschen, und wir kamen dort an, wo die Götter wohnten.

Ich war also richtig verliebt in diesen Mann und wir bekamen zwei Töchter, die wir Jelena und Irina nannten, die süßesten Kinder auf der Welt, aber so denkt jede Mamatschka über ihre Kinder und ich nahm mir das Recht heraus, ebenfalls so zu denken, nur war ich auch fest davon überzeugt. Jelena war die Ältere. Ruhig, gelassen, ausgeglichen. Irina hingegen war ein unruhiges Kind, ständig auf der Suche nach Neuem, wissbegierig und niemals müde. Wir liebten unsere Kinder abgöttisch und wollten ihnen unser ganzes Leben lang die perfekten Eltern sein, also etwas geben, das sowohl Iwan als auch ich nicht wirklich bekamen, das wir in unserer Kindheit nicht erfahren durften.

Allerdings wollte es Gott nicht, oder eigentlich war es Iwan, der es nicht wollte, und so trennten sich unsere Wege. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als er von einer Dienstreise zurückkam und gar nicht lange herumredete. Sie muss wohl ziemlich attraktiv sein, dachte ich mir damals, nachdem er mir erzählt hatte, dass er eine andere Frau kennengelernt hat und sich von mir trennen wollte. Damals glaubte ich noch, ich könnte unsere Ehe retten. Retten vor einer kurzen Bekanntschaft mit einer – vielleicht etwas jüngeren – Frau, das würde vergehen, ein Seitensprung, den ich vergessen würde und den mein Mann rasch bereuen würde. Bis ich dahinter kam, dass er bereits ein längeres Verhältnis mit ihr hatte, sie hieß Mercedes, ein verfickter Name für eine Frau, ein Name, der nach Model roch, der nach Lust schmeckte und der nach Luxus klang, also Mercedes war eine gebürtige Argentinierin, lebte in Moskau und war aus gutem Hause. Und sie war eine verdammte Suka, eine Hündin im schlechtesten Sinn des Wortes. Nein, ich konnte bei Gott nichts mehr retten, dafür war es längst zu spät, der Zug unserer Liebe war längst abgefahren, wie ich später bemerken musste, und es kam zu einer unschönen Trennung, in der mir jedenfalls ein Trost blieb, nämlich das Sorgerecht für meine Kinder, das mir zur Gänze zugesprochen wurde. Am liebsten hätte ich dieser dreckigen Hure mit dem verfickt schönen Namen einen Drehschlag mit meiner Rechten gegeben, der sie für immer ins Jenseits befördert hätte, und wenn sie ein Mann gewesen wäre, dann hätte ich ihr die Eier ausgerissen, solchen Hass hatte ich damals auf diese Suka, die mein Eheglück zerstörte.

Iwan und ich trennten uns und obwohl er ein Besuchsrecht hatte und die Kinder einmal im Monat sehen hätte können, kümmerte er sich nicht mehr um sie, wanderte mit diesem fleischgewordenen Autonamen nach Italien aus und schaffte es auch irgendwie so weit unterzutauchen, dass er bald seine Zahlungen für die Kinder einstellte und ich keine Möglichkeit mehr hatte, seinen vereinbarten Beitrag für die Kinder einzufordern.

 

Ich war eine Frau, so glaubte ich, die mit 26 Jahren schon mehr durchgemacht hatte als viele anderen, aber eigentlich war das nur meine subjektive Wahrnehmung, denn meine Lebensgeschichte, die ich bis zu diesem Zeitpunkt hatte, war keine außergewöhnliche, sondern eine für diese Zeit normale, nämlich Sex, mehr Sex, Liebe, weniger Sex, Kinder, Ehe, weniger Liebe, keinen Sex, keine Liebe, und am Ende die verfickte Scheidung. Ich hatte zu dieser Zeit schon so viel erlebt und es war trotzdem nichts dabei, was nicht meine Freundinnen ebenso erlebt hatten, es unterschied sich nicht sehr viel.

 

Ich führte ein ganz normales Leben. Eigentlich. Meistens. Jedenfalls normal für jemanden zu dieser Zeit, an diesem Ort, in dieser Welt. Und diese Welt drehte sich weiter, meine Töchter wuchsen heran und begannen bald in den Norilchonok, den örtlichen Kindergarten in Norilsk, zu gehen. Ich war so stolz auf sie, aber es wäre schön gewesen, meinen Stolz mit einem Ehemann zu teilen. Das war aber nicht möglich und ich konnte meinen Stolz nur manchmal zeigen, zum Beispiel meiner Freundin, Sonya Karnikova, einer lieben, gleichaltrigen Frau eines Polizisten, den ich aber nur selten sah, weil er so viel arbeitete, aber Sonya sah ich oft und wir gingen gemeinsam spazieren und ich erzählte ihr immer wieder die gleichen Geschichten über meine Töchter, über Kinder, die sie so gerne gehabt hätte, die ihr aber bisher verwehrt geblieben waren. Es klappte einfach nicht mit ihrem Nachwuchs, aber sie nahm das sehr gelassen und freute sich mit mir, mit meinen Geschichten, mit meinem Stolz. Sonya war wohl eine meiner besten Freundinnen, ich hatte viel Vertrauen zu ihr, auch wenn sie eine sehr bewegte Vergangenheit hatte.

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