May, Valentina Abendnebel

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Abendnebel

Valentina May

 

1.

Das kann doch nicht wahr sein!

Entsetzt schüttelte Imke den Kopf. Sie hatte ausdrücklich eine naturnahe Apfelskulptur geordert. Aber dieses Kunststoffding vor ihr passte so gar nicht zu dem Gut und dem nostalgischen Ambiente. Sie war bitter enttäuscht.

Vor der Kulisse des alten reetgedeckten Fachwerkhauses mit der aufwendig verzierten Fassade wirkte der mannshohe Apfel, der eigentlich Kunden anlocken sollte, lächerlich, wenn nicht gar billig. Das war Stilbruch, nein mehr, Frevel. Es wäre das Gleiche, wenn Finn in seinem altehrwürdigen Kapitänshaus Plastikstühle um den Esstisch stellen würde.

»Nehmen Sie das sofort wieder mit«, wies Imke den Spediteur an.

Der öffnete den Mund zum Protest. »Aber …«

»Egal was Sie sagen wollen, das Ding da bleibt auf keinen Fall hier. Packen Sie es wieder ein und bringen Sie es zurück.«

Widerwillig winkte er seinen Begleiter herbei, einen stämmigen Kerl mit Keulenarmen, der die Apfelskulptur auf die Ladefläche des Lasters zurückwuchtete.

»So was ist mir noch nicht untergekommen«, murmelte er vor sich hin. Imke ignorierte sein Murren und zupfte stattdessen an ihrem Seidentuch, das sie um den Hals trug.

 

Der Lkw hatte längst das Gut verlassen, als Imke noch immer auf derselben Stelle verharrte. Da hatte sie extra diesen Platz gleich hinter der Prunkpforte ausgesucht, um Kunden und Festgäste auf das bevorstehende Apfelblütenfest einzustimmen, und nun das! Diese Rasenfläche schrie nach einer Skulptur. Irgendwas musste doch zu finden sein. Imke ließ ihren Blick schweifen, von der weißen Prunkpforte mit den alten goldenen Lettern hinüber zu der riesigen Backsteinscheune, in der sich ihr kleiner, aber feiner Hofladen befand, und den Lagerhallen. Alles war farbenprächtig gestaltet, besonders das Gutshaus mit dem hellblauen Balkon über dem Eingang und den vielen Spruchbändern auf den Holzbalken. Sie hatte sich dazu einen edelwirkenden Apfel im Großformat vorgestellt. Aus Terrakotta oder Marmor oder einem anderen Material, das die Blicke auf sich zog. Was also könnte auf das bevorstehende Fest neugierig machen?

Die Uhr am Glockenturm des Gutshauses schlug sechs Mal und erinnerte sie daran, dass sie zurückgehen und den Laden abschließen musste. Das Ziffernblatt der Uhr zierte eine verhüllte Aphrodite, die einen goldenen Apfel in der Hand hielt. Plötzlich kreisten Wörter in ihrem Kopf – Frühling, Lebenszyklus, Fruchtbarkeit –, die sie auf die Idee brachten, das Bild zum Symbol der Matthiesen-Feste zu erklären. Skulptur hin oder her, eine Art Festlogo war tausendmal besser. Siegesgewiss ballte sie die Hand zur Faust, bevor sie über den gepflasterten Hof zum Laden lief.

Kurz bevor sie bei ihrem Laden angekommen war, um sich ein letztes Mal für heute zu vergewissern, dass sie alles ordnungsgemäß hinterließ, weckte gedämpftes Gelächter ihre Aufmerksamkeit. Sie schaute hinüber zur Lagerhalle und sah Daniel, der mit Okka, einer der Plantagenarbeiterinnen, zusammenstand und flirtete. Imkes Magen ballte sich zusammen. Sie unterdrückte die aufsteigende Enttäuschung und Eifersucht und legte die Hand auf die Klinke der Ladentür.

 

Seufzend starrte sie auf die Kistenstapel daneben. Die Arbeit lag wie ein Berg vor ihr. Der Vorarbeiter Jens hatte ihn ihr mit dem Hubwagen vor die Hofladentür gestellt, als sie wegen einer Besorgung im Ort gewesen war. Die Verabredung hatte sie glatt verpasst. Bestimmt hätte Jens ihr die Kisten in den Laden getragen. Jetzt musste sie die allein schleppen, denn alle Mitarbeiter waren bereits in den wohlverdienten Feierabend entschwunden. Selbst schuld!

Imke bereute im Stillen, sich so weit aus dem Fenster gelehnt und ihrem Bruder Tom zugesagt zu haben, das Gut während seiner Abwesenheit kommissarisch zu leiten. Zu ihrem Bedauern hatte sie die Aufgabe doch unterschätzt, denn jeder Knochen im Leib schmerzte. Sie fühlte sich ausgelaugt. Ihre Schwägerin Pia hatte sie davor gewarnt, sie könnte sich körperlich übernehmen. Jetzt war es zu spät, und sie musste ihr Bestes geben.

Sie öffnete die Ladentür und trat ein. Kaum hatte sie einen Fuß in den Laden gesetzt, verflüchtigten sich die negativen Empfindungen. Vielleicht lag es auch an dem süßlichen Apfelduft, der in der Luft schwebte, bis in ihre letzte Gehirnwindung drang und ihren Geist nach jedem Betreten auf angenehme Weise umnebelte. Der Laden war quadratisch und nicht größer als ihr Zimmer im Gutshaus. Und er sah wunderbar einladend aus.

Seit drei Uhr morgens war sie auf den Beinen, hatte den Laden von oben bis unten geputzt und die Regale neu eingeräumt, Pappschildchen beschriftet und die Waren mit neuen Preisetiketten versehen. Sie hatte sich keine Pause gegönnt. Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Alles sollte perfekt für das Fest sein, das in gut zwei Wochen stattfinden würde. Weil sie wollte, dass Tom stolz auf sie war.

Seit über fünfzig Jahren wurde das Apfelblütenfest Anfang Mai auf dem Matthiesen-Hof gefeiert. Der Beginn einer neuen Apfelsaison.

Was würde sie in diesem Jahr erwarten? Fast wäre im vergangenen Jahr der erfolgreiche Mariella-Apfel durch ein Unwetter vernichtet worden. Zum Glück hatten ihr Bruder Tom und Schwägerin Pia die Zerstörung der Apfelbäume verhindern können. Tom hatte die Apfelsorte wiederentdeckt, die nach ihrer Tante benannt worden war. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass sich diese Apfelsorte zum Erfolgsschlager entwickeln würde.

Durch Pias Werbung war der Zustrom an Kunden stetig gewachsen. Selbst für Touristen war ihr Gut eine Sehenswürdigkeit im Alten Land. Viele von ihnen wurden zum Fest erwartet. Deshalb musste sie sich besonders viel Mühe bei der Festgestaltung geben.

Wenigstens unterstützten Jens und Daniel sie bei der Arbeit auf der Plantage. Beide waren loyal und verlässlich.

Mit der kommissarischen Leitung willst du dich nur beweisen!

Ja, sie wollte ihren Brüdern zeigen, dass sie es schaffen konnte. Alles hätte wunderbar geklappt, wenn Birthe, ihre Vertretung für den Hofladen, nicht gekündigt hätte. Nun musste Imke sich um den Laden kümmern.

Seit zwei Wochen rackerte sie sich ab, und es war nicht abzusehen, wann Tom und die anderen von der Recherchereise zurückkehren würden. Trotz mehrerer Monate Nachforschung gab es noch immer keine Spur von ihrer Schwester Caroline, keinen Hinweis, dass sie tatsächlich lebte. Zermürbende Monate, die ihre Gefühle Achterbahn fahren ließen. Je länger die Recherchen dauerten, desto mehr geriet Imke ins Grübeln, und ihre Befürchtungen verstärkten sich, dass ihre verschollene Schwester vor fünfundzwanzig Jahren vielleicht doch in der Elbe ertrunken sein könnte.

Sie schaute zum Fenster hinaus. Die Dämmerung legte sich wie ein dunkles Tuch über die endlos erscheinenden Apfelbaumreihen. Auf dem Gut war es still.

Keiner würde sie stören, wenn sie die Apfelbestellungen bearbeitete, obwohl sie heute für eine kleine Ablenkung dankbar gewesen wäre.

Ihr Tag endete erst gegen Mitternacht, wenn sie erschöpft ins Bett fiele.

Hör auf, im Selbstmitleid zu versinken!

Sie war ganz steif, als sie sich erhob und zu den Kisten hinauslief.

Während sie sich darüberbeugte, drang ihr der süße Apfelduft in die Nase. Wie auf Kommando knurrte ihr Magen, denn seit dem Vormittag hatte sie nichts mehr gegessen. Eigentlich waren die Früchte zum Verkauf gedacht und abgezählt, aber ihr Hunger war so groß, dass sie gierig einen der rotbackigen Mariella-Äpfel aus der Kiste griff und hineinbiss. Er war saftig und süß. Genüsslich leckte sie den Saft von den Lippen. Der Geschmack kann süchtig machen.

Der köstliche Apfel ließ sie einen Augenblick die strapaziöse Arbeit vergessen. Nachdem Imke ihn komplett verspeist hatte, schnippte sie den Stiel fort und wischte mit dem Handrücken über ihren Mund.

Danach wandte sie sich erneut den zwei Dutzend Holzkisten zu. Vor ihr standen nicht die normalen Kisten, sondern viel größere. Oft genug hatte sie beobachtet, wie Okka und Gesa diese gewuchtet hatten. Es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht auch schaffe. Sie streifte sich Handschuhe über und griff nach der obersten Kiste. Die war schwerer als gedacht und brachte sie zum Prusten. Ihre lädierten Handgelenke knackten, und Schmerz durchzuckte ihren Arm. Sie schrie auf und ließ die Kiste los. Das brachte den ganzen Kistenturm ins Wanken. Es half nichts, sie musste es schaffen. Allein.

»Mit Schwung wird es schon gehen«, sprach sie sich selbst Mut zu. Imke holte tief Luft, spannte die Muskeln an, hievte die Kiste hoch und drehte sich keuchend um.

Sie spürte, wie ihre Arme nachgaben und die Last sie nach unten zog. Gleich würde die Kiste auf die Erde knallen, weil sie sie nicht mehr halten konnte, und sie daraufstürzen. Sie biss die Zähne zusammen, verdrängte den Schmerz in den Unterarmen und spannte noch einmal alle Muskeln an, um die Kiste abzusetzen.

»Herrgott, Imke! Das ist doch viel zu schwer für dich.«

Daniel packte zu und hielt die Kiste. Sie spürte seine warmen Finger an ihren.

»Daniel …«, keuchte sie.

»Du kannst jetzt loslassen«, forderte er sie auf. Ihre steifen Finger lösten sich. Langsam stellte Daniel die Kiste auf den Boden.

Ein Prickeln lief durch ihre Hände, das durch seine Berührung ausgelöst worden war.

»Danke«, sagte sie leise.

»Dreißig Kilo in der Kiste … das ist viel zu schwer für dich. Sollen die auch alle rein?« Er deutete auf den Kistenturm. Imke nickte und trat einen Schritt vor.

»Ich mach das«, sagte er bestimmt.

»Okay.«

Während Daniel die nächste Kiste in den Laden schleppte und sie ihm folgte, beobachtete Imke ihn.

Irgendetwas war heute anders an ihm, bis ihr auffiel, dass er sich rasiert hatte. Der gewohnte Dreitagebart war weg. Aber auch so sah er unglaublich gut aus. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, weil sie fürchtete, ihre Gefühle zu verraten. Als er an ihr vorüberging, schwebte der Duft seines Aftershaves hinter ihm her. Auch das war anders, es war nicht das frische, das nach Zitrone duftete, sondern hatte eine orientalische Note. Ihr Geruchssinn war durch ihre Experimentierfreude mit Pflanzen sehr sensibel. Ihr entging nicht, dass Amber und Koriander im Duft enthalten waren.

»Wo soll die hin?«, platzte Daniel in ihre Grübeleien und zeigte auf die Kiste zu seinen Füßen.

»Dort drüben. Neben den Tisch.« Sie zeigte auf den uralten, klobigen Küchentisch, der einst ihren Urgroßeltern gehört hatte. Sie hatte ihn eigens für besondere Dekorationen aufgearbeitet und lackiert. Daniel stellte die Holzkiste daneben. Schon drehte er sich um und schnappte sich vom Stapel die Nächste. Sie bewunderte seine Muskeln, die sich unter dem fliederfarbenen Hemd wölbten.

Erst jetzt bemerkte Imke, dass Daniel Jeans und T-Shirt gegen einen schwarze Samtcordhose und Hemd getauscht hatte. Er sah umwerfend gut darin aus.

»Lass ruhig, und schieb sie nur in den Laden. Sorry, ich habe nicht gesehen, dass du gute Sachen trägst.«

»Keine Sorge, ich pass schon auf. Die paar Kisten … das ist doch schnell gemacht«, antwortete er lächelnd und trug bereits die nächste vor den Tisch und darauf eine weitere. Zwischendurch schaute er immer wieder auf die Uhr. Kleine Schweißperlen glänzten im Licht auf seiner Stirn.

»Hast du noch einen Termin?«, fragte sie scheinbar beiläufig. Sie fingerte an der Dekoration auf dem Verkaufstresen herum, während sie gespannt auf seine Antwort wartete.

»Ja, eine Verabredung«, antwortete er freudig und blieb mit der Apfelkiste vor ihr stehen.

Imke zeigte ihm, wo er sie abstellen sollte. Sie brachte keinen Ton über die Lippen, denn ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Dass Daniel ein Date haben könnte, versetzte ihr einen Stich. Bestimmt war seine Begleiterin hübscher als sie. Ohne die hässlichen Narben.

Unbewusst tastete Imke nach dem Schal, der ihre Brandnarben verdeckte. Ein solch attraktiver Mann wie Daniel fand sicher schnell eine Freundin. Er hatte nie ein Wort über eine Verabredung verloren. Auch Tom hatte nie erwähnt, ob er sich mit einer Frau traf. Seitdem ihr Bruder ihn das erste Mal zum Abendessen mitgebracht hatte, war Imke von Daniel fasziniert gewesen. Aus der anfänglichen Schwärmerei für diesen Mann war im Laufe der Zeit Verliebtheit geworden.

Daniel hingegen benahm sich sehr charmant, aber er behandelte sie wie eine Schwester oder einen weiblichen Kumpel, nicht wie eine begehrenswerte Frau. So war es ihr bei den meisten Männern ergangen. »Du bist eine Frau zum Pferdestehlen!« Wie oft hatte sie das gehört.

Es hatte lange gedauert, bis sie gelernt hatte, mit ihrem Makel zu leben. Viel zu oft schämte sie sich für die roten, wulstigen Narben an ihrem Hals, deren Farbe sich bei Erregung noch intensivierte.

Während Daniel Kiste für Kiste zu den von ihr bestimmten Plätzen trug, fragte sie sich die ganze Zeit, mit wem er sich verabredet haben könnte. Im Geist ging sie die Frauen durch, die infrage kämen. Vielleicht eine der Kundinnen oder eine neue Hilfskraft? Welchen Typ Frau mochte er eigentlich? Weder Tom noch Daniel selbst hatten jemals in ihrer Gegenwart ein Wort über eine Frau auf dem Gut verloren. Von der Neugier geplagt, war sie versucht, ihn nach seiner heutigen Verabredung zu fragen. Du bist doch nur eifersüchtig! Schnell verwarf sie das Vorhaben wieder, das ihre Gefühle verraten hätte. Wenn Daniel auch nur ahnen würde, was sie für ihn empfand! Die Erfahrung hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein.

Es hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt, wie sie in der Schule wegen ihrer Narben gehänselt und ausgeschlossen worden war, als wäre sie eine Aussätzige. Sie erinnerte sich noch gut an die Blicke und das Getuschel der anderen. Ganz zu schweigen an das Desaster mit ihrem letzten Freund Sören. Der junge Däne hatte vor ein paar Jahren sein Praktikum auf der Matthiesen-Plantage absolviert. Alle hatten für den gut aussehenden Mann geschwärmt. Auch Imke hatte nicht lange seinem Charme widerstehen können. Sören hatte ihr das Gefühl gegeben, die Einzige zu sein, die er begehrte, dass sie sich fest eingebildet hatte, er würde ihre Empfindungen erwidern. Leider war es Sörens Ziel gewesen, über sie einen festen Job auf der Apfelplantage zu bekommen. Ich bin so blind gewesen!

Zufällig hatte sie ein Gespräch zwischen ihm und einem der Erntehelfer belauscht. Wie abfällig Sören sich über ihre Narben geäußert hatte. Das hatte sie geschockt und tief verletzt. Tagelang hatte sie sich danach vor Liebeskummer und Scham in ihrem Zimmer eingeschlossen, bis ihre Haushälterin Frauke sie davon überzeugt hatte, dass es sich nicht lohnte, um einen Kerl wie Sören zu trauern. Seitdem versteckte sie die Narben unter einem Tuch. Sogar nachts hatte sie immer eins griffbereit liegen.

»So, die Letzte«, verkündete Daniel und riss sie aus ihren trübsinnigen Grübeleien.

»Danke, das war wirklich sehr nett von dir.«

Ihr Gegenüber lächelte so charmant, dass sie ganz weiche Knie bekam. Bild dir bloß nichts ein.

Im Geist verglich sie Daniel mit Sören. Daniel war so ganz anders als der Däne, dessen Blick immer ein wenig verhangen gewesen war. Dass es von Verschlagenheit herrührte, hatte sie in blinder Verliebtheit nicht gleich erkannte. Daniels Blick war offen. Nie hatte sie ihn über jemanden lästern gehört. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. Er war humorvoll und hilfsbereit, das schätzte sie an ihm.

Gern hätte sie noch mit ihm geplaudert, vielleicht auch ein Glas von ihrem selbst gemachten Apfelwein getrunken. Pia hatte ihr erklärt, dass sie Mut fassen und Daniel einladen sollte. Aber sie wollte nicht noch einmal so bitter enttäuscht werden wie von Sören. Sie sehnte sich nach einem Mann, der sich nicht an ihren Narben störte.

»Ich wünsche dir noch einen schönen Abend und viel Spaß bei deiner Verabredung.« Die Worte kamen nur schwer über ihre Lippen.

»Danke, Imke. Also, dann, mach’s gut«, antwortete er fröhlich, bevor er sich umwandte und den Laden verließ. Imke sah ihm traurig nach. In ihrer Fantasie malte sie sich aus, wie er eine bildhübsche Frau zum Essen ausführte und später eng umschlungen mit ihr tanzte. Die Vorstellung war unerträglich.

Verdammte Gefühle!

In diesem Augenblick fühlte sie sich einsam. Wie gern hätte sie sich jetzt Pia anvertraut. Sie dachte an ihre Brüder, die beide ihr Glück gefunden hatten. Nur ihr schien das Schicksal keine Erfüllung in der Liebe zu gönnen.

Traurig und wütend zugleich verließ sie den Hofladen. Es war ohnehin Zeit, bei ihrem Vater nach dem Rechten zu sehen. Bestimmt hatte er wieder üble Laune und würde ihr vorwerfen, dass sie sich nicht genügend um ihn kümmerte. In den letzten Wochen hatte sie sich ihm nur selten widmen können. Die Vorbereitungen für das bevorstehende Apfelblütenfest und die Verantwortung für das Gut raubten ihr alle Zeit und Kraft.

 

Im Vorgarten war es dunkel. Sie hatte vergessen, die Zeitschaltuhr zu stellen, damit die Lichterketten in den Bäumen leuchteten und das Haus angestrahlt wurde. Eigentlich gehörte das zu Pias Aufgaben. Jetzt wirkte das Gutshaus trist und deprimierend.

Einen Moment lang blieb sie stehen und blickte auf die alte Holzbank neben dem Eingang, als die Erinnerungen an ihre Kindheit sie einholten. Deutlich hörte sie das Lachen ihrer Tante Mariella, die mit ihr auf der Bank saß, sie auf dem Schoß hielt, sie herzte und ihre Späße machte. Imke versuchte, sich an deren Gesicht zu erinnern, aber die Konturen verschwammen jedes Mal. Nur dass sie schwarzes Haar wie ihre Mutter besaß, war ihr im Gedächtnis geblieben, und wie gut sie immer gerochen hatte.

Später hatte ihr Vater erzählt, dass Tante Mariella ihre Seife und Crème mit Rosenwasser selbst hergestellt hatte, so wie sie auch ihre Kleider selbst genäht hatte. Auch Imke hatte einst ein Kleid von ihr bekommen. Vaters Erzählungen nach war ihre Tante sehr eitel gewesen. Eitler als ihre Mutter. Den Männern hatte sie reihenweise die Köpfe verdreht. War sie deshalb mit ihrer Mutter in Streit geraten und hatte das Gut verlassen? Ihr Eltern hatten nie mehr ein Wort über Tante Mariella verloren, nachdem sie das Gut verlassen hatte. Nicht einmal, als die Fremde sie aufgesucht und Mariellas Totenschein gezeigt hatte. Ihre Mutter war in Tränen ausgebrochen, während ihr Vater stumm vor sich hingestarrt hatte.

In ihrer Familie wurde immer alles totgeschwiegen.

Imke schloss die Haustür auf. Wenn Tom und Pia zu Hause waren, erfüllten Stimmen und Gelächter das alte Gutshaus.

Jens und Daniel waren seit der Abreise ihrer Geschwister nicht mehr zum Abendessen gekommen. Schuld daran war ihr Vater, der misslaunig alle vergrätzte und die beiden hinter ihrem Rücken während der Abwesenheit Toms ausgeladen hatte.

So musste Imke allein essen. Weil sie sich einsam an der großen Tafel fühlte, deckte Frauke für sie am Tisch in der Gutsküche. Sie vermisste Tom, Pia und die anderen sehr.

 

Auch heute hatte Frauke das traditionell blau-weiße Keramikgeschirr auf den Küchentisch gestellt. Auf dem Ofen stand ein Topf, aus dem es delikat roch. Imke lief hinüber und hob den Deckel an. Frauke hatte heute Himmel und Erde zubereitet. Mit geschlossenen Augen beugte Imke sich weit über den Topf und schnupperte. Wie köstlich das roch. Ihr Hunger war so groß, dass sie beschloss, erst etwas zu essen, bevor sie ihren Vater besuchte.

Hastig holte sie sich den Teller und tat sich großzügig von der gestampften Kartoffel-Apfel-Mischung mit Zwiebeln und Speck auf. Auf die dazugehörige Blutwurst verzichtete sie jedoch. Früher als Kind hatte ihr Vater sie gezwungen, die Wurst zu essen. Mit Tränen vor Ekel hatte sie diese hinuntergewürgt.

Sie setzte sich an den Tisch. Am lebhaftesten ging es zu, wenn ihr Bruder Finn mit seiner Lebensgefährtin Maike und deren Tochter Anna samt Hund das Wochenende hier verbrachten. Leider kam das viel zu selten vor, denn sobald die Ausflugsfahrten begannen, blieben sie in der Schlei. Maike, die Reederin und Kapitänin war, hatte Imke zu einer Ausflugsfahrt auf ihrem Dampfer eingeladen. Aber die Arbeit auf dem Gut nahm sie so in Anspruch, dass ihr kaum Freizeit blieb.

»Du musst einmal etwas anderes sehen als das Gut mit der vielen Arbeit. Hast du denn noch nie Urlaub gemacht?«, hatte Maike sie vor einiger Zeit gefragt.

Urlaub! Der hatte sich nie ergeben. Das letzte Mal war sie mit der Schule im Schullandheim in Malente gewesen. Für ihren Vater und auch Tom war es undenkbar, die Plantage zu verlassen. »Ein Matthiesen lässt sein Gut nicht im Stich«, hatte Vater ihnen immer eingebläut. Erst Pia hatte ihren Bruder zu dieser Recherchereise überreden können. Imke beneidete ihre Geschwister darum.

Manchmal, wenn sie vom Stress auf dem Gut ganz erschöpft war, überlegte sie, alles stehen und liegen zu lassen, um Maike in Stolteby zu besuchen. Doch jedes Mal hatte sie ihr schlechtes Gewissen davon abgehalten. Sie war nicht unzufrieden, im Gegenteil war das Gut ihre Heimat, die Geborgenheit vermittelte.

Heißhungrig aß Imke den Teller leer. Als sie das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler stellte, öffnete sich unerwartet die Küchentür. Ihr Vater stand auf seinen Gehstock gestützt und mit grimmiger Miene auf der Türschwelle.

»Madame geruht endlich nach Hause zu kommen. Anstatt sich um ihren Vater zu kümmern, hantiert sie lieber in der Küche herum«, blaffte er sie an. Imke rollte mit den Augen und stöhnte innerlich auf. Er lebte mal wieder seine schlechte Laune aus, weil keiner ihrer Brüder da war, mit denen er sich normalerweise stritt. Kurz war sie geneigt, etwas Heftiges zu erwidern. Doch dann sagte sie sich, dass das Leben ihres Vaters von schweren Schicksalsschlägen geprägt war und ihn verbittert hatte. Bevor sie sich umdrehte, atmete sie tief ein.

»Hallo Papa«, begrüßte sie ihn freundlich. Sie wusste selbst nicht, woher sie diese Gelassenheit und Ruhe nahm. »Das Apfelblütenfest steht jetzt im Mittelpunkt. Nur noch knapp drei Wochen. Ich möchte nicht, dass etwas schiefläuft.«

»Wieso denn du? Wo sind Tom und dieser nichtsnutzige Finn?«, echauffierte er sich. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr so gut. Imke betrachtete ihren Vater. Im letzten Vierteljahr hatte er rapide abgenommen, und sein Haar war schütter geworden. Auch sein Erinnerungsvermögen ließ nun nach, und er redete manchmal wirr.

»Papa, ich habe dir doch erst heute Morgen erklärt, dass sie verreist sind«, erklärte sie. Er pochte mit dem Stock auf den Boden.

»Gar nichts hast du!«, warf er ihr vor.

»Ganz bestimmt, Papa. Du hast es nur leider wieder vergessen«, antwortete sie und lächelte nachsichtig. Im selben Moment merkte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Ihr Vater lief vor Wut rot an.

»Mein Gedächtnis funktioniert hervorragend. Noch gehört mir das Gut zur Hälfte. Ich lasse mich nicht von euch einfach beiseitedrängen!«

Sie bemerkte, wie seine Hand, die sich auf den Gehstock stützte, zitterte. Es war wirklich nicht leicht mit ihm.

»Niemand möchte dich … beiseitedrängen, Papa. Soll ich dir vielleicht eine Tasse Kräutertee zur Entspannung kochen?« Ablenken war das Beste, was sie in diesem Augenblick tun konnte. Er würde seinen Irrtum sowieso nicht einsehen.

»Ich bin entspannt. Aber meinetwegen«, gab er nach und lief grummelnd zum Tisch, wo er auf einen Stuhl sank. Imke kochte sofort Wasser. Die ewigen Dispute mit ihm war sie leid. Sie fühlte sich heute ausgelaugt und wollte nur noch ins Bett. Aus dem Hängeschrank nahm sie eine Tasse und einen Teebeutel, über den sie das kochende Wasser goss. Sofort zog der Duft nach verschiedenen Kräutern durch die Küche. Sie stellte die Tasse vor ihn hin. Vorsichtig schlürfte er von dem heißen Gebräu und verzog das Gesicht.

»Viel zu bitter«, beschwerte er sich. »Deine Mutter kann es einfach besser«, stichelte er. Imke hatte sich langsam daran gewöhnt.

»Mama ist tot. Du musst wohl oder übel akzeptieren, dass ich mich darum kümmere«, erwiderte sie gelassen.

»Carla hat doch vorhin noch mit mir gesprochen.« Die Traurigkeit in seiner Stimme zerriss Imke das Herz. Er vermisste sie noch immer, und das würde sicher nie aufhören.

Ihre Mutter war nur drei Jahre nach Carolines Verschwinden gestorben. Ihr Tod hatte eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen. Heiraten wollte ihr Vater nicht mehr. Nach dem Tod der Mutter hatte er all deren Sachen an caritative Vereinigungen gespendet. Heute hätte Imke sicher dagegen protestiert, aber damals als Kind hatte sie sich dem Willen des Vaters gebeugt. Nur die Lieblingskette ihrer Mutter, eine Perlenkette, deren Verschluss ein goldener Apfel war, hatte er behalten. Mittlerweile war die Kette ein Vermögen wert und schlummerte im alten Wandtresor.

In einem der letzten Briefe ihrer Mutter an eine Freundin hatte sie davon geschrieben, dass die Kette eigentlich für Caroline bestimmt sei. Aber weil Caroline vermutlich tot war, hatte ihr Vater verfügt, dass Imke sie zu ihrer eigenen Hochzeit geschenkt bekommen sollte.

Vieles hatte sich mit dem Tod der Mutter verändert. Weil ihr Vater für sie und ihre Geschwister kaum Zeit gehabt und Frauke alle Hände voll zu tun hatte mit dem Haushalt, war er gezwungen gewesen, sich nach einem Kindermädchen umzusehen. Wie hatten sie darum gefleht, Frauke möge sich um sie kümmern. Aber ihr Vater hatte darauf bestanden, dass eine richtige Erzieherin sich um sie kümmern sollte. Keines der Kindermädchen war lange geblieben, weil sie Vaters Launen nicht ertragen wollten.

Als sie und ihre Brüder mehrfach den Unterricht geschwänzt hatten, um am Elbstrand zu spielen, hatte Frauke sich eingemischt. Sie hatte ihrem Vater vorgeworfen, seine Kinder zu vernachlässigen. »Verständnis und Liebe brauchen die Kinder!« Ihre flammenden Worte klangen noch immer in Imkes Ohren.

Ihr Vater hatte zwar nie zugegeben, sie nach dem Tod der Mutter alleingelassen zu haben in ihrem Schmerz, aber wenigstens hatte er Frauke zugestanden, für sie und ihre Brüder da zu sein. Wie sehr hatten sie alle ihre geliebte Mutter vermisst. Hastig verdrängte sie die schmerzvollen Erinnerungen. Manchmal wünschte sie, ihr Gedächtnis wie einen Speicher löschen zu können.

»Ich geh jetzt zu Bett. Gute Nacht, Papa.« Sie beugte sich zu ihrem Vater hinunter, stützte sich auf seine Schulter und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die stoppelige Wange.

»Ist heute Sonntag?«, fragte er und tätschelte ihre Hand.

»Nein, Papa, Samstag.« Als sie ihre Hand zurückziehen wollte, hielt er sie fest.

»Du bist eine gute Tochter«, sagte er leise. Imke glaubte, sich verhört zu haben. In all den Jahren hatte sie nie ein Lob von ihm bekommen.

»Bist immer für mich und die anderen da und rackerst dich auf dem Gut ab. Auch heute bist du bei mir, obwohl du eigentlich mit Freunden den Abend verbringen solltest, statt allein mit deinem kranken Vater.«

Nie hätte sie vermutet, dass er sich über sie so den Kopf zerbrach.

»Papa, ich hatte einen anstrengenden Tag. Morgen muss ich wieder früh raus. Da steht mir nicht der Sinn nach Ausgehen.«

Obwohl sie oft den anderen neidisch zuhörte, wenn sie von ihren erlebnisreichen Wochenenden und Eroberungen erzählten. Die besuchten diese angesagten Clubs, denen sie nichts abgewinnen konnte. Einen Mann fürs Leben würde sie dort nicht finden, sondern nur oberflächliche Bekanntschaften. Darauf konnte sie gut und gerne verzichten. Es war schwer, jemanden zu finden, der ihr Engagement für die Plantage und ihr Interesse an der Natur mit ihr teilte. Daniel schon! Die Stimme in ihrem Kopf wollte nicht verstummen. Daniel war unerreichbar für sie. Rasch verdrängte sie den Gedanken.

Früher hatte sie Tom manchmal auf dessen Geschäftsreisen begleitet. Aber die waren von Jahr zu Jahr seltener geworden, und inzwischen nahm er verständlicherweise lieber seine Frau Pia mit.

»Warum gehst du nicht mit Annika aus?«, hakte der Vater zu ihrem Leidwesen nach, denn sie verspürte keine Lust, das Thema zu vertiefen.

»Das erspare ich mir lieber. Nicht Annikas wegen, aber sobald die anderen diese Narben sehen«, sie hielt kurz inne und zeigte auf ihren Hals, »nehmen sie Reißaus, als hätte ich Lepra oder so.«

»Komm, setz dich einen Moment zu mir«, forderte er sie auf und zog einen Stuhl zurück. Imke zögerte, bevor sie darauf Platz nahm. Sie wusste nicht, was sie von der unerwarteten Redseligkeit ihres Vaters halten sollte. Irgendetwas musste geschehen sein. In Erwartung, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, folgte sie seiner Aufforderung.

Er musterte sie eine Weile eingehend, als wolle er sich jeden Millimeter ihres Gesichts einprägen.

»Du sahst schon immer anders aus als Caroline«, stellte er fest. »Nicht so zart und zerbrechlich. Aber du hast stets gelächelt.«

Ich bin eben kein blond gelockter Engel.

»Das liegt doch schon eine halbe Ewigkeit zurück«, antwortete Imke. Sie spürte, dass ihn etwas bewegte, und nahm seine Hand in ihre. Die fühlte sich kühl und knochig an.

»Was ist denn heute mit dir los, Papa? Du bist so … so anders.«

»Bin ich nicht«, widersprach er barsch. Jetzt war er wieder ganz der Alte, worüber sie irgendwie froh war, weil es ihr vertrauter war.

Er starrte geradeaus, als wäre er in Gedanken weit weg.

»Sonst darf ihr Name nicht in deiner Gegenwart fallen, und jetzt vergleichst du mich sogar mit ihr?« Sein verändertes Verhalten musste doch einen Grund haben. »Ich verstehe das nicht, Papa. Ist es wegen Toms und Finns Recherchereise?«

Sie überlegte, ob heute ein besonderer Tag der Erinnerung für ihn war, aber dieses Datum sagte ihr nichts. Vermutlich hatte die Reise ihrer Brüder damit zu tun. Sie hatten damit wieder alles aufgewühlt, was Jahre tief in seinem Innern geschlummert hatte.

»Ich will nicht darüber reden. Vergiss es«, antwortete er und entzog ihr seine Hand. Da war sie wieder, die altvertraute Distanz zwischen ihnen, die es ihr erschwerte, ihm jemals näherzukommen. Jedes weitere Wort würde nur in einem Streit enden. Aber sie war zu erschöpft dafür.

»Ich gehe jetzt hinauf in mein Zimmer«, sagte sie.

Imke eilte aus der Küche, bevor er ihr antworten konnte. Nur einen kurzen Moment war ihr Vater zugänglich gewesen wie schon lange nicht mehr. Was hatte das ausgelöst?

 

Auf der Treppe nach oben zu ihrem Zimmer hielt sie vor Carolines Porträt inne und betrachtete es. Sie ist viel hübscher als ich. Die Nase ihrer Schwester erschien ihr viel gerader zu sein, und der Mund schmaler als ihrer.

Alle waren ganz vernarrt in Caroline gewesen. Sie selbst konnte sich nicht an sie erinnern, denn sie war noch ein Baby gewesen, als ihre Schwester verschwunden war.

Oft genug hatte sie sich aber gefragt, wie es mit einer älteren Schwester gewesen wäre. Wenn Caroline tatsächlich noch lebte, hatten sie viele gemeinsame Jahre verloren.

In ihren Gedanken spielte sie alle Möglichkeiten durch, wie Carolines Leben verlaufen sei. Scheinbar wusste sie nichts von ihrer Familie, sonst hätte sie sich längst bei ihnen gemeldet. Oder war ihr vielleicht damals doch etwas zugestoßen? Doch ein Gefühl tief in ihr drinnen ließ sie nicht daran glauben.

Vielleicht war ihre Schwester sogar in der Nähe aufgewachsen, und sie waren sich bereits ohne es zu wissen schon einmal begegnet. Oder lebte Caroline vielleicht im Ausland? Es gab so viele Möglichkeiten.

Imke fragte sich, wie Caroline wohl heute aussah. Gab es da nicht ein Computerprogramm, das ein Gesicht altern lassen konnte? Vielleicht wäre es möglich, Carolines Gesicht anhand eines Fotos irgendwie zu rekonstruieren.

In der Küche rumorte ihr Vater laut. Sie musste jetzt allein sein und eilte die restlichen Stufen hinauf.

Oben in ihrem Zimmer angekommen, lief sie hinüber ins Badezimmer und ließ Wasser ein. Ein heißes Bad würde, so hoffte sie, beruhigen und ihre verspannten Muskeln lockern.

Während sie im warmen Wasser lag, grübelte sie weiter über Caroline nach. Eine Gesichtsrekonstruktion wäre überflüssig. Bestimmte Merkmale verlor ein Mensch sein ganzes Leben lang nicht. Vererbte, familienspezifische Eigenarten. Alle Matthiesens besaßen ovale Gesichter mit hohen Wangenknochen. Deshalb glaubte Imke, dass sie ihre Schwester immer erkennen würde, selbst wenn sie sich die Haare färbte oder sonst ihr Aussehen veränderte.

2.

Das zarte Grün der Obstbäume und das weiße Blütenmeer, das bis zum Horizont reichte, waren Boten des Frühlings. Ausgehend von den Blüten schwebte ein atemberaubender, süßer Duft durch die Luft. Dann erwachten auch Daniels Bienenvölker aus dem Winterschlaf und unternahmen die ersten Flüge.

Im Frühjahr hatte er genug zu tun. Jeder Bienenstock musste kontrolliert werden, ob alle Bienen den Winter gut überstanden oder sich Krankheiten eingeschlichen hatten. Daniel streifte sich seinen Imkeranzug über, setzte den Schutzhut auf und zog das Netz übers Gesicht, bevor er sich den Bienenstöcken näherte.

Unzählige Honigbienen umschwirrten ihn, als er ankam. Vorsichtig hob er den Deckel des ersten Stockes an, nachdem die Bienen zum Reinigungsflug aufgebrochen waren, und suchte nach der Königin. Als er sie fand, war er erleichtert. Anschließend entfernte er die Altwaben und prüfte die Brut. Mit geschultem Blick erkannte er sofort, dass bei diesem Volk alles in Ordnung war. Zufrieden klappte er den Deckel wieder zu und lief zum nächsten Bienenstock.

Die Arbeit würde ihn den ganzen Vormittag kosten. Eine Handvoll Bienenstöcke bei jedem Apfelfeld galt es zu überprüfen. Auch wenn es anstrengend war, liebte Daniel diese Arbeit. Es war jedes Jahr für ihn ein aufregendes und zugleich beglückendes Erlebnis, wenn nach dem Winter Leben in die Bienenstöcke einkehrte und seine Völker summend auf den Apfelfeldern nach Pollen suchten.

Eine Biene setzte sich auf seinen Arm. Eine Weile betrachtete Daniel das winzige Tier, das seine Vorderbeine aneinander rieb. Obwohl er das schon unzählige Male gesehen hatte, war er immer wieder davon fasziniert. Das gelbe Pollenhöschen verriet, dass die Biene bereits emsig gesammelt hatte. Seine Bienen liebten die Ruhe. Jede heftige Bewegung könnte sie in Aufruhr versetzen und stechen lassen. Nach einem Stich starben die Bienen. Das hatten die eifrigen Sammler wahrlich nicht verdient. Geduldig wartete er, bis das Tier sich in die Luft erhob und zum Bienenstock zurückflog, um sein Gut loszuwerden.

Am Rande der Apfelfelder hatten sich Wildbienen angesiedelt, für die er Nisthilfen selbst gebaut hatte. Da Wildbienen im Erdboden nisteten, hatte er mehrere Kübel mit Blähton und lehmhaltigen Sand gefüllt, die er ständig befeuchtete. Oberhalb der Kübel hingen die Nisthilfen, befestigt an metallenen Rankgittern. Es waren Holzklötze, in die er fingerlange Löcher gebohrt hatte.

Nach dem Unwetter im vergangenen Spätsommer hatten sich die Pflanzen wieder prächtig erholt. Es schien ein gutes Bestäubungsjahr zu werden, das den Obstbäumen viele Früchte bescherte. Er gönnte Tom den Erfolg von Herzen.

Sein bester Freund fehlte ihm sehr, besonders ihre Gespräche und Frotzeleien. Sie besaßen den gleichen Humor und konnten über jedes Thema sprechen. Über fast jedes, korrigierte er sich selbst. Nur über Imke nicht.

Wie Imke die Neuigkeit aufnehmen würde, falls ihre Schwester noch lebte? Daniel hielt sie für hochsensibel und verletzlich. Dennoch ruhte in ihr eine Stärke, die man auf den ersten Blick nicht vermutet hätte. Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie heimgesucht hatten. Nie hatte er sie schlecht gelaunt erlebt. Sie war das Herz der Matthiesen-Familie. Ohne sie hätten sich ihre Brüder einander niemals mehr angenähert. Die Krankheit ihres Vaters hatte schließlich die drei Matthiesen-Geschwister enger zusammengeschweißt.

Tom, der Älteste, fühlte sich als Beschützer der jüngeren Schwester. Manchmal übertrieb er es, wie Daniel fand. Seit Imkes Unfall schirmte der Freund seine Schwester regelrecht ab, insbesondere vor Männern. Dabei war Imke nicht auf den Mund gefallen und clever und könnte sich durchaus allein wehren. Doch Tom hätte Imke wie ein Löwe verteidigt und jeden in die Flucht geschlagen, der sie verletzte. Nicht einmal vor Daniel hätte er Halt gemacht. Diese übertriebene Fürsorge resultierte daraus, dass Tom sich noch heute für Carolines Verschwinden verantwortlich fühlte.

Daniel bedauerte jeden Mann, der sich in Imke verlieben und Tom als Gegner bekommen würde.

Eine Szene war Daniel im Gedächtnis geblieben. Nach dem gemeinsamen Essen im Gutshaus hatte er eine lustige Anekdote aus seiner Schulzeit zum Besten gegeben. Imke hatte gelacht, bis ihr die Tränen gelaufen waren. Nach Atem ringend hatte sie den Kopf gegen seine Schulter gelehnt, während er ihr freundschaftlich den Rücken getätschelt hatte.

Ihm war Toms warnender Blick nicht entgangen, als er sie berührt hatte. Hastig hatte er die Hand zurückgezogen. Er wollte keinen Stress haben, besonders nicht mit seinem besten Freund.

Seitdem ging er bei Imke auf Distanz. Frauen gegenüber war er sehr vorsichtig. Seitdem er seinen Job als erfolgreicher Softwareentwickler an den Nagel gehängt und Imker geworden war, hatte er sich nur selten mit einer getroffen. Sobald die Frauen von seiner Entscheidung erfuhren, dass er die Karriere als erfolgreicher Entwickler für ein einfacheres Leben auf dem Land aufgegeben hatte, suchten sie das Weite. Geld und Karriere wären denen lieber. Wahrscheinlich lag es daran, dass die meisten Frauen einen Mann suchten, der ihnen ein finanziell sorgloses und komfortables Leben bieten konnte, während er ein bescheidenes Dasein führte. In den Wintermonaten lebte er von der Bestäubungsprovision des Frühjahrs und dem Verkauf seines Honigs. Keine bombastischen Einnahmen, aber ihm reichte es.

Während er über das Apfelfeld streifte, dachte er unwillkürlich an die Zeit in seiner Softwarefirma zurück. Um keinen Preis der Welt hätte er sein jetziges gegen das alte Leben tauschen mögen. Ständig war er von einem Termin zum nächsten gehetzt, hatte nächtelang bei literweise schwarzem Kaffee programmiert, nur um die Software an die Kunden rechtzeitig ausliefern zu können. Schlafmangel und fehlende Bewegung hatten ihr Übriges getan. Bei einem Routine-Gesundheitscheck hatte ihm der Arzt geraten, seinen rastlosen Lebenswandel aufzugeben. Doch er hatte dessen Ratschläge nicht beherzigt, weil er von seiner Arbeit besessen gewesen war. Also hatte er weitergeschuftet, seine Schwindelanfälle kleingeredet, bis er im Büro nach irgendeiner der vielen schlaflosen Nächte zusammengebrochen war.

»Herr Seidel, Sie haben einen Burn-out. Keinen Stress mehr. Stellen Sie Ihr Leben um, bevor es zu spät ist.«

Die Diagnose und eindringlichen Worte des Arztes hatten ihn erschreckt und schließlich bekehrt. Während seines anschließenden Aufenthalts in einem Sanatorium hatte er seine Zeit zum Nachdenken genutzt. Er hatte begriffen, dass sein Lebensstil ihn nur in eine Sackgasse manövriert und seine Gesundheit beeinträchtigt hatte. Die verordneten Spaziergänge in der Natur hatten ihm Fauna und Flora nähergebracht. Als er erfahren hatte, wie bedroht die Welt der Bienen war, fühlte er sich dazu berufen, etwas für ihren Schutz zu tun. Die Vorstellung, ihnen zu helfen, setzte in ihm Energien frei und beflügelte ihn zu Weiterem. Durch diese Initiative bekam sein Leben einen anderen Sinn. Gesunde Ernährung und der Verzicht auf Genussmittel, dafür viel Bewegung an der frischen Luft rückten in den Fokus. Von Tag zu Tag war es mit ihm gesundheitlich bergaufgegangen. Er hatte gespürt, dass die digitale Welt ihn nicht glücklich machte, und sich geschworen, ihr zu entsagen.

Einem glücklichen Umstand hatte er es zu verdanken, dann auch tatsächlich Fuß in der Imkerei zu fassen. Auf einem seiner Spaziergänge hatte er den Imker Helmut kennengelernt. Wie begeistert Helmut von seinen Bienenvölkern erzählt hatte, war letztendlich der Anstoß für Daniel gewesen, sein Leben radikal zu verändern.

Er hatte seine Firma verkauft und war Helmuts Einladung gefolgt, sich vier Wochen auf dessen Hof mit der Imkerei vertraut zu machen. Familie, Freunde und auch Freundin Carina hatten ihn wegen dieser Entscheidung für verrückt erklärt und sich von ihm abgewandt. Aber Daniel war davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Seitdem er als Imker arbeitete, hatte er innere Ruhe und Gelassenheit gefunden und war obendrein der Natur nähergekommen. Kein Verstellen mehr, keine schlaflosen Nächte, um profitabel zu sein. Seinen Bienen war es gleichgültig, ob er erfolgreich oder ein armer Schlucker war.

Im Laufe der Jahre seines Imkerdaseins hatte er viel dazugelernt und war mittlerweile wegen seines Honigs im Alten Land bekannt geworden.

Natürlich hatte er das auch Imke zu verdanken, die seinen Honig jedem Kunden anpries. Für das Apfelblütenfest hatte sie eine Großbestellung aufgegeben. Nicht nur, dass sie seinen Honig zum Kauf anbieten wollte, er wurde auch in ihren köstlichen Hörnchen verarbeitet. Damals hatten Tom und er das erste Honiggebäck probieren dürfen. Er war überrascht gewesen, welch delikate Geschmacksnote der Honig dem Teig verlieh. Bei dem Gedanken an Imkes Hörnchen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Doch er wusste auch, welche Arbeit in ihnen steckte.

Er hatte Tom fest versprochen, auf seine Schwester achtzugeben, damit sie sich nicht übernahm. Leichter gesagt als getan, denn Imke ließ sich nicht bremsen. Sie war eine ehrgeizige Perfektionistin, die das Apfelblütenfest zu einem besonderen Event machen wollte. Dahinter steckte ihr Wunsch, ihren Brüdern zu beweisen, dass die Planung bei ihr in guten Händen gelegen hatte und sie ebenso in der Lage war, ein traditionelles Fest dieser Größenordnung allein zu organisieren.

Gestern Abend im Laden waren ihm ihre dunklen Augenringe aufgefallen, und sie war seit Toms Abreise schmaler geworden. Wie gern hätte er ihr etwas abgenommen.

»Danke, aber das schaff ich schon allein«, hatte er oft genug von ihr gehört.

 

Am späten Vormittag beendete er seinen Rundgang über die Apfelfelder und kehrte zufrieden zum Gut zurück.

Vor dem Hofladen hatte Imke den Tisch und die beiden Regale bereits neu dekoriert. Er blieb stehen und bewunderte ihre Arbeit. Sie besaß wirklich ein Händchen fürs Dekorieren. Als er sie loben wollte, stellte er fest, dass sie nicht mehr im Laden war. Dann fiel ihm ein, dass Frauke heute ihren freien Tag hatte und Imke sich sicherlich um ihren Vater kümmern musste.

Zwei Frauen mittleren Alters mit Einkaufskörben näherten sich dem Laden und blieben stehen, als sie Daniel sahen.

»Ist denn heute zu?«, fragte die Grauhaarige der beiden verwundert ihre Begleiterin.

»Aber es hängt doch kein Schild draußen«, bemerkte die andere, Blondgefärbte, deren Haaransatz ebenfalls silbern schimmerte, und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen.

»Da komme ich extra zu Fuß her, um Honig für meine kranke Schwiegertochter zu holen, und jetzt stehe ich vor verschlossener Tür. Und das schon zum zweiten Mal in den letzten Tagen.«

»Wenn Sie nur Honig möchten, kann ich Ihnen den auch geben«, bot Daniel an und zauberte ein Lächeln auf die Lippen der beiden Frauen.

»Aber nur den Seidel-Honig. Einen anderen mag meine Schwiegertochter nicht.« Die Blondgefärbte tippte mit dem lackierten Finger gegen die Ladenscheibe, hinter der sich die Pyramide aus seinen Honiggläsern befand, die Imke gestern kunstvoll aufgebaut hatte.

»Selbstverständlich. Einen anderen bieten die Matthiesens auf dem Gut gar nicht an«, bestätigte Daniel freundlich. »Wenn Sie vielleicht kurz hier warten mögen, ich bin gleich wieder zurück.«

Die beiden Frauen schienen zu überlegen, nickten dann aber. Daniel eilte zum Gutshaus, wo er Imke vermutete.

Er klingelte an der Haustür. Als niemand aufmachte, umrundete er das Haus und lief in den Garten.

Die Terrassentür stand offen. Daniel klopfte gegen die Scheibe und streckte den Kopf ins Haus. »Imke?«, rief er.

Als er keine Antwort erhielt, trat er ins Esszimmer. In der Küche hantierte jemand mit Geschirr. Daniel folgte dem Geräusch und stand nur wenige Atemzüge später auf der Schwelle zur Küche. Imke schien ihn nicht gehört zu haben und war eifrig dabei, Geschirr aus dem Geschirrspüler in den Hängeschrank einzuräumen. Um sie nicht zu erschrecken, wartete er, bis sie die letzten Teller verstaut hatte, bevor er sich räusperte. Sie fuhr erschrocken herum.

»Daniel! Herrgott, was machst du denn in meiner Küche?«, rief sie überrascht aus.

»Vor deinem Laden warten zwei Kundinnen, die meinen Honig kaufen möchten, aber die Tür ist abgeschlossen«, erklärte er und zuckte verlegen mit den Schultern.

Imke nickte seufzend. »Habe vorhin gerade erst zugemacht. Kann mich eben nicht zweiteilen«, erklärte sie.

Daniel fiel auf, dass ihre Augen und Nase gerötet waren, als hätte sie geweint.

»Ich kann die beiden nicht so wegschicken. Könntest du denen nicht schnell Honig verkaufen und das Geschlossen-Schild raushängen?«, fragte er.

Imkes schaute auf ihre Armbanduhr. »Nee, beim besten Willen nicht. Heute bleibt der Laden leider zu«, antwortete sie hastig. »Sorry, ich muss Papa nämlich gleich noch zum Arzt fahren«, schob sie zur Erklärung nach.

Daniel dachte an die beiden Kundinnen, die sie damit sehr verärgern könnte. Wenn das so weiterginge, würden bald alle Kunden abspringen. Er hatte doch am Nachmittag frei. Da kam ihm eine kühne Idee.

»Vielleicht magst du mir den Ladenschlüssel geben, dann übernehme ich das«, bot er ihr an.

Imke hielt in der Bewegung inne und schaute ihn nachdenklich an.

»Ja, klar. Aber schließ danach gleich wieder ab. Ich werde erst in gut zwei Stunden zurück sein.« Wieder seufzte sie.

»Ach, Daniel, tausend Dank. Am liebsten möchte ich den Laden bis zum Fest ganz schließen, aber wir brauchen unbedingt die Einnahmen.«

Der Laden lag Imke sehr am Herzen, das spürte er. Sie hatte ihn aufgebaut, aber jetzt während der Festvorbereitungen war er wie ein Klotz am Bein.

»Ich könnte bis zu deiner Rückkehr im Laden bleiben. Mein Kontrollgang ist eh zu Ende. Ich wollte zwar noch Brennholz hacken, aber das kann ich auch auf morgen verschieben.« In den Nächten war es noch immer recht kühl, dass er den Ofen befeuern musste. Unter dem Schauer lag noch Holz, das Tom ihm aus dem gutseigenen Wald überlassen hatte und nicht für den Eigenbedarf brauchte. Auch das war ein feiner Zug seines Freundes, das Holz nicht an Fremde zu verkaufen.

Imkes Augen weiteten sich vor Erstaunen.

»Das würdest du wirklich tun?«, fragte sie erstaunt und zog bereits das schmale Schlüsselbund mit der gelben Ente als Anhänger aus ihrer Jeanstasche.

»Kein Problem«, bestätigte er.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« Sie lächelte.

»Ich schon. Wenn du meine neue Honigsorte probierst und in dein Sortiment aufnimmst, sind wir quitt.«

Ihr Lächeln glich einem Sonnenstrahl.

»Abgemacht«, antwortete sie und hielt ihm das Schlüsselbund hin. Daniel nahm es entgegen, verabschiedete sich und eilte zum Hofladen zurück.

3.

So konnte es nicht weitergehen. Sie brauchte dringend jemanden, der im Laden aushalf. Daniels Angebot war wirklich sehr nett gewesen und hatte sie fürs Erste gerettet, aber es war keine Dauerlösung. Schließlich musste er sich um seine Bienen kümmern.

Imke lief zum Kühlschrank und nahm aus dem Tiefkühlfach zwei Portionen Essen heraus, die Frauke für ihren Vater und sie gekocht hatte. Sie steckte eine davon in die Mikrowelle und brachte sie anschließend zu ihrem Vater.

»Na endlich. Ich dachte schon, du hättest mich mal wieder vergessen«, nörgelte er, als sie mit dem beladenen Tablett sein Wohnzimmer betrat.

»Einen solchen Nörgler wie dich kann man gar nicht vergessen«, konterte sie grinsend. Seiner chronisch schlechten Laune, die er wie ein Schild vor sich hertrug, war nur mit Humor zu begegnen, fand sie. Sie kannte es nicht anders, aber ihre Brüder behaupteten, vor Carolines Verschwinden und dem Tod seiner Frau sei er ein ganz anderer Mensch gewesen. Und wenn er sich unbeobachtet fühlte, glaubte sie tatsächlich, Wärme in seinen Blicken zu erkennen.

Sie stellte das Tablett auf den Esstisch und öffnete die Flasche Apfelsaft, die ihr Vater stets zum Essen trank.

»So, Papa, lass es dir schmecken. Ich hole dich in einer halben Stunde ab.«

Er sah sie fragend an.

»Wohin denn in Gottes Namen?«, polterte er los.

»Zur Physio natürlich. Du weißt schon«, erklärte Imke und klopfte ihm im Vorbeigehen liebevoll auf die Schulter. Mit einer Bewegung, als würde er ein Insekt abschütteln, wehrte er die Berührung ab.

»Ich will da nicht hin! Bringt doch nichts. Kaputte Knochen kann man nicht heilen«, sagte er.

»Wer rastet, der rostet. Das hast du immer gesagt. Wenn du nicht jede Woche zur Therapie gehen würdest, säßest du vermutlich schon längst im Rollstuhl.«

Manchmal war sie seine ständigen Nörgeleien und seinen Widerstand leid. Kein »Danke, Imke, dass du die Zeit opferst und mich dorthin bringst«, sondern immer nur Gemecker. Lass dich nicht davon runterziehen!

Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen.

»Keine Widerrede.« Streng sah Imke ihren Vater an. Einmal hatte sie seiner Laune nachgegeben und wusste, wie sehr ihn eine fehlende Bewegungsstunde in der Mobilität zurückwerfen würde.