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Heinz G. Konsalik

Das Bernsteinzimmer

Roman

Edition_Konsalik

»Der Verrückte spielt wieder mit seinen Schiffchen«, sagte David Hoven, der Kommandant der Feuerwehr von Whitesands, als er vom Angeln nach Hause kam und seiner Frau Lornie drei Fische auf den Küchentisch klatschte. »Man soll es nicht für möglich halten: Steht bis zum Bauch im Wasser, hat den Gummioverall an, und obenrum trägt er eine Art Uniform mit Schnüren und Schnörkeln, als spiele er in einem dieser historischen Hollywoodschinken mit. ›He!‹, habe ich ihm zugerufen. ›Was gibt das da?‹ Und er hat geantwortet: ›Wenn ich die Schweden diesmal schlage und ihre Flotte vernichte, bin ich der Herr der Ostsee!‹ – Was soll man dazu sagen? Er wird immer verwirrter im Kopf. Und als ich ihm zurief: ›Ron, komm aus dem Wasser. Es ist noch zu kalt. Du verkühlst dir den Arsch!‹, winkte er wie ein Feldherr und sagte stolz: ›Was nimmt Er sich heraus?! Erkennt Er Pjotr Alexejewitsch nicht?‹ – Da bin ich weg. Wer ist Pjotr Alexejewitsch?«

»Kenn ich die Spinnereien des Alten?« Lornie betrachtete die Fische. Sie waren gut für zwei Mahlzeiten … einmal Bratfisch, einmal Fischsuppe. »Du solltest mal den Reverend fragen. Der kennt ihn besser. Auf jeden Fall ist es etwas Russisches.«

»Was hat Ron Calling mit Russland zu tun?«

»Verrückte leben immer in anderen Welten. Das habe ich mal irgendwo gelesen. Solange er ein harmloser Irrer ist, kann er von mir aus auf Tahiti leben und am Strand Hula-Hula tanzen …«

Vor fünfundzwanzig Jahren war Ron in Whitesands aufgetaucht, ein fröhlicher, starker Bursche mit einem flotten Oberlippenbärtchen und gelockten Haaren, genau an dem Tag, an dem der alte, von allen geliebte und verehrte Williams in seinem weißen Schloss am Meer starb. Noch genau konnte man sich an diesen Tag erinnern: Alle Glocken im Ort läuteten, am Rathaus wurde die amerikanische Flagge auf Halbmast gesetzt, in den drei Kirchen wurde gebetet. Es war mehr Trauer unter dem Volk, als wenn der Präsident der USA gestorben wäre. Der Präsident war weit, dahinten in Washington, aber Williams war nahe gewesen, ein Wohltäter, wie es keinen zweiten mehr geben würde, nicht für Whitesands. Einen Kindergarten hatte er gestiftet, zwei neue Feuerwehrlöschwagen, er war Mentor der Baseball- und Football-Mannschaft, er hatte ein Schwimmstadion bauen lassen, und jedes halbe Jahr durften sich alle Einwohner von Whitesands auf seine Kosten in der Klinik der Bezirksstadt auf Krebs untersuchen lassen. Wo gab es so etwas wieder? Der Tod von Williams war ein nationaler Trauertag für Whitesands.

Ron Calling hatte an dem großen Trauerzug teilgenommen. Er hatte auch am Grab gestanden und einen Blumenstrauß hinunter auf den schweren Eichensarg geworfen. Die Einwohner von Whitesands fanden das sehr lobenswert, denn Mr. Calling war ja erst vor vier Tagen angekommen und hatte den alten guten Williams nie gekannt.

Dann wurde das Testament eröffnet, ganz Whitesands staunte und hätte Beifall geklatscht, wenn’s nicht ein so trauriger Anlass gewesen wäre: Williams hatte sein gesamtes Vermögen der Krebsforschung vermacht, weil – so schrieb er – sein Sohn Joe diese Welt verlassen hatte. Man munkelte etwas von fast dreihundert Millionen Dollar, und eine Delegation des bedachten Krebsforschungsinstitutes pilgerte nach der Testamentseröffnung mit einem riesigen Blumengebinde zum Grab des Spenders und legte auch einen schönen Blütenkranz vor dem Ehrenmal nieder, das Williams für seinen gefallenen Sohn Joe hatte errichten lassen.

Auch bei diesen Feierlichkeiten war Ron Calling immer dabei, was ihn bei allen beliebt machte, und als die Forschungsstelle begann, das Erbe, nämlich Schloss, Grundstück und eine große Seehütte, in Dollars umzusetzen, war jedermann damit einverstanden, dass Ron Calling das Seegrundstück kaufen konnte.

Glatte dreihunderttausend Dollar legte er dafür auf den Tisch. Man wunderte sich darüber, denn Calling hatte bisher sehr bescheiden in einer Pension gelebt. Er aß am liebsten Hamburger oder eine heiße Wurst mit scharfer Currysoße, wie die Hauswirtin erzählte, aber dann vergaß man das Staunen und sah mit Wohlgefallen, wie Calling die Seehütte ausbaute.

Er ließ sie mit Steinen ummauern, brach große Fenster in die Fassade zum Meer hin, zog eine hohe Mauer um sein Grundstück, und schließlich kamen ein paar Möbelwagen an, brachten Couches und Schränke und Teppiche und Sessel und zwanzig große Kisten mit, die einen kompletten Haushalt enthalten mussten.

Drei Monate lang arbeiteten dann drei Handwerker aus New Orleans im Hause von Ron Calling. Sie wohnten bei ihm, sie kochten sich selbst das Essen, gingen nie aus, machten keine Jagd auf die hübschen Mädchen im Ort, nur der Supermarkt-Besitzer erzählte im Vertrauen, dass sie immer die besten und teuersten Sachen bestellten und ins Haus liefern ließen: französischen Wein, russischen Kaviar, geräucherten Stör, Champagner, gewaltige Steaks und Schokoladentorten. Was die drei Handwerker im Hause von Calling machten, wusste niemand … sie waren plötzlich aus New Orleans gekommen, so hieß es, und ebenso plötzlich waren sie nach drei Monaten wieder verschwunden. Hinter der hohen Mauer blieb vieles verborgen, auch der Bau der neuen Terrasse. Dass unter der Betondecke in einer Grube drei Leichen lagen … wer konnte das ahnen? Wer traute Ron Calling so etwas zu, ihm, dem netten Kerl, der immer so freundlich grüßte, jeden Monat einen Blumenstrauß vor dem Ehrenmal Joe Williams’ niederlegte und dann sinnend einige Minuten verharrte. Der Plattenleger, der später die Marmorplatten anbrachte, konnte bloß berichten, dass Mr. Calling ihn nur bis in die Gartenhalle gelassen hatte. Weiter nicht, und der ganze linke Flügel des Hauses, schätzungsweise zehn Meter lang, habe drei riesige Fenster, die aber immer verschlossen und mit einer dichten Jalousie von innen versehen seien.

Dann wurde es still um den neuen Einwohner von Whitesands. Man sah ihn viel am Meer sitzen, nie ließ er sich in den Restaurants oder in einer Bar blicken. Auch Frauen schienen ihn nicht zu interessieren, denn niemals, in all den späteren Jahren, sah jemand ein weibliches Wesen in seinem Haus, obwohl er doch ein ansehnlicher, starker, netter Mensch war, mit dem so manche Frau, auch in Whitesands, sofort ins Bett gegangen wäre. Außerdem schien er genug Geld zu haben, um schon in seinen besten Jahren im Liegestuhl zu liegen, im Meer zu schwimmen oder am Sandstrand entlangzulaufen, statt sich um den Erwerb von Dollars zu kümmern.

Wo Geld lockt, ist das Versprechen der ewigen Seligkeit nicht weit. Reverend John Killroad von der »Kirche der Kinder Gottes« erschien denn auch bei Ron Calling, als man sah, dass der Bau vollendet war. Das Ganze wirkte letztlich etwas exzentrisch, denn über dem linken Flügel des Hauses ließ Calling einen kleinen Zwiebelturm anbringen, mit vergoldetem Dach und auf der Spitze ein Doppelkreuz wie bei den orthodoxen Kirchen. Reverend Killroad staunte, konnte sich darauf keinen Vers machen und bat um eine Audienz.

Ron Calling empfing ihn nicht im Haus, sondern vor dem Haus, auf der Marmorterrasse. Wenn Killroad geahnt hätte, dass er genau über drei einbetonierten Leichen saß, während er es sich auf einer Gartenliege bequem machte und Orangensaft mit Wodka trank, hätte er das Glas von sich geworfen und wäre geflüchtet. Aber so freute er sich über die Gastfreundschaft des neuen Bürgers Calling, schenkte ihm eine Broschüre, in der die Geschichte seiner Kirche stand, und ließ so nebenbei verlauten, dass der Altar doch ein wenig primitiv sei. Mr. Williams habe versprochen, einen neuen Altar zu stiften, aber der Tod habe das großherzige Werk verhindert.

»Mr. Williams wollte Ihnen einen neuen Altar schenken?«, fragte Calling interessiert.

»So ist es! Nun hat er alles der Krebsforschung gestiftet, und da ist nicht ein Cent zu holen. Im nächsten Jahr hätte der Altar eingeweiht werden können. Einen Entwurf gab es schon.«

»Bringen Sie die Pläne das nächste Mal mit«, sagte Calling leichthin. »Es interessiert mich.«

»Sie haben einen Zwiebelturm auf dem Haus.« Reverend Killroad rülpste verhalten. Er hatte den Wodka mit Orangensaft zu schnell getrunken. »Hat das was zu bedeuten?«

»Ja. Ich liebe Russland.«

»Aha! Sie kennen Russland, Mr. Calling?«

»Sehr gut, Reverend.« Calling lehnte sich auf seiner Liege weit zurück. »Und Russland liebt mich. Die Schlacht von Poltawa war die Geburt eines unbesiegbaren Reiches.«

»So ist es.« Reverend Killroad wischte sich über die Augen und blickte durch die gespreizten Finger Calling an. Was meint er damit, rätselte er. Die Schlacht von Poltawa? Wir Amerikaner haben doch im letzten Krieg nicht in Russland gekämpft? Oder war Calling in Russland bei einem Spezialverband? Man hat nie von einer solchen Truppe gehört. »Russland muss schön sein.«

»Wunderschön. Im Winter … die Schlittenfahrten durch die Wälder … im Sommer das Segeln auf dem Meer mit dem Blick auf mein Petersburg … man kann es einfach nicht erklären. Und aus dem Nichts habe ich es gestampft, aus einem elenden, unbebaubaren, fiebrigen Sumpfgebiet. Es sollte schöner werden als Paris. Ein Juwel unter den Städten der Welt.«

»Wenn nur die Bolschewisten nicht wären …«, sagte Reverend Killroad vorsichtig. Irgendwie kam ihm Calling jetzt unheimlich vor.

Ron hob den Kopf und starrte Killroad an. »Ich kenne keine Bolschewisten«, sagte er erstaunt. »Was ist das?«

»Sie interessieren sich überhaupt nicht für Politik, nicht wahr?«

»Wie können Sie das behaupten?« Calling sprang auf. »Schweden muss besiegt werden, und ich will Polen haben!«

»Ein großer Plan, Mr. Calling …«, stotterte Killroad verwirrt. Auch er sprang von dem Liegestuhl auf. »Wann darf ich wiederkommen mit den Plänen?«

»Jederzeit. Pläne machen mich fröhlich.«

Calling begleitete Killroad bis zum Eingangstor in der hohen Mauer, drückte ihm so fest die Hand, dass der Reverend das Gesicht verzog und die Hand nachher vorsichtig schüttelte, um zu sehen, ob nichts gebrochen war, und winkte ihm nach, bis er in den Hügeln verschwand.

Zu Hause angekommen, griff Killroad sofort nach einem Lexikon, schlug unter Poltawa nach und las: Gebietshauptstadt in der Ukraine. Im Nordischen Krieg siegte hier Peter der Große 1709 entscheidend über den Schwedenkönig Karl XII.

Killroad ließ das Lexikon auf den Teppich fallen, starrte gegen die Wand und hatte dann einen dreifachen Whiskey nötig. Er ist verrückt, dachte er. Lieber Gott, er ist schizophren! Er bildet sich ein, Zar Peter der Große zu sein: Mein Russland, mein Petersburg, ich will Polen haben, meine Stadt aus dem Sumpf gestampft, das Juwel unter allen Städten der Welt … Jesus, er ist verrückt. Jetzt muss man sich beeilen, der Altar muss stehen, bevor er ganz verrückt ist.

Reverend Killroad sprach mit niemandem über seinen Verdacht, auch später nicht, als der Altar längst in der Kirche stand und bewundert wurde. Ab und zu besuchte er Ron Calling, unterhielt sich mit ihm über den verräterischen Zarewitsch und dessen Bauernhure, über die Zarin Katharina und lachte gequält, wenn Calling von seinen Zwergen und Krüppeln erzählte, die während der Festessen Faxen und Possen reißen mussten.

Mit den Jahren gewöhnte sich Whitesands an seinen merkwürdigen Bewohner. Er war ein großzügiger Mäzen, nicht so generös wie Williams, dessen Reichtum alles erlaubte, aber wenn Mr. Calling fünftausend Dollar für den Bau eines Golfplatzes stiftete, war das eine Großzügigkeit, die man loben musste. Da konnte er noch so wunderlich sein und werden – er hatte ein Herz für seine Mitmenschen. Und nur das zählt. Verschrobenheit ist eine persönliche Angelegenheit, solange sie nicht andere einschränkt. Und das war bei Mr. Calling nicht zu erwarten.

Vor zehn Jahren hatte er dann begonnen, mit seinen großen Holzschiffen im Meer zu spielen, wenn die Wellen ruhig waren und er in dem langen Gummioverall bis zum Bauch ins Wasser watete, im Rock eines russischen Admirals, und eine Seeschlacht entfachte, bei der er sogar einige Schiffe brennen ließ und die Hand an die Stirn legte, wenn sie untergingen.

Ein armer, reicher Mensch, sagten die Whitesandser mitleidig und mitfühlend. Mit jedem Jahr wird er verrückter. Aber wer kann ihm helfen? Er lässt ja keinen in sein Haus hinein. Und einen Arzt ruft er auch nicht. Nur der Reverend darf zu ihm, und Killroad schweigt, wie es seine Priesterpflicht ist. Passt auf … eines Tages findet er ihn tot im Sessel, auf der Terrasse oder in irgendeiner Ecke.

Aber noch legt er Blumen am Ehrenmal für Joe Williams nieder …

Jeden Tag, meistens um die Mittagszeit, zog Joe Williams die dicken Läden an den drei hohen Fenstern im linken Flügel seines Hauses hoch, über dem in strahlender Sonne die Zwiebelkuppel glänzte. Er stieß die Fenster auf, ließ Luft und Licht in den Raum, ging dann zu einem mit rotem Samt bezogenen, geschnitzten und vergoldeten Sessel und setzte sich hinein. Er hatte die Generalsuniform der zaristischen Garde angelegt, stützte sich auf einen Stock aus spanischem Rohr mit einer in Elfenbein geschnittenen Krücke und starrte mit stolzem Blick um sich.

Um ihn herum schimmerten, glitzerten und leuchteten die Wände aus Bernstein wie tausende kleine Sonnen. Die Girlanden funkelten, die Simse und Friese warfen vielfach gebrochen das Sonnenlicht zurück, die Köpfe der Engel, Krieger und Blütenmädchen schienen im Wechselspiel von Sonne und Schatten lebendig zu werden. So ungeheuer war der goldene Glanz des »Sonnensteins« im Licht von Mississippi, so leuchtend das Farbenspiel der Bernsteinmosaike, dass Joe Williams ab und zu die Augen schließen musste, um nicht geblendet zu werden.

Fast zwei Stunden saß er in dem Prunksessel mitten im Bernsteinzimmer, jeden Tag, seit über zwanzig Jahren, den spanischen Stock zwischen die Knie geklemmt, die Hände zu Fäusten geballt auf den Lehnen, und blickte durch die Fenster hinaus über das Meer, das in sanften Wellen gegen den feinsandigen Strand lief.

Mein Petersburg. Das Meer mit den stolzen Schiffen, deren Segelmaste hoch in den Himmel stießen, der Atem der Freiheit, der mit dem Wind über das Land strich, die göttliche Ruhe des Bernsteinzimmers, in das man flüchtete, wenn das Herz voll und die Gedanken überladen waren, mein Reich, mein Russland, meine eigene Welt, von mir erschaffen … So überwältigend war es, dass Joe Williams jedes Mal die Augen schloss, die Fäuste gegen die Brust presste und das Gefühl hatte, an seinem Glück zu ersticken.

Nach einer Stunde schweigenden Sitzens begann Joe zu sprechen. Ab und zu stand er auch auf, ging die sonnenglänzenden Bernsteinwände entlang, blieb vor den eingelassenen Spiegeln stehen und betrachtete sich. Dann hob er auch hin und wieder die Hand, um einen Kopf zu streicheln, eine Rosette mit den Fingern nachzuziehen oder eine Girlande zu verfolgen, und dabei sprach er in würdevollem Ton mit sich selbst, mit seinem russischen Volk, mit Gott sogar und hinaus in alle Welt.

»Ich habe die Pflicht« – sagte er einmal und blickte hinauf zu dem Kopf eines sterbenden Kriegers – »für mein Volk zu leben, aber auch für mein Volk zu sterben, wenn es ihm nützt. Solange es eine schwedische Flotte gibt und ich nicht Herr der Ostsee bin, finde ich keinen Schlaf. Ein großes Heer habe ich aufgebaut, das stärkste der Welt, selbst die Preußen sind mir unterlegen … aber ich muss mehr tun für meine Flotte. Ich muss bauen, bauen, bauen … Und an Sibirien muss ich denken. Was weiß man von Sibirien? Wie viel unbekanntes Land gibt es dort noch. Helft mir, ihr guten Geister, das Werk zu vollenden.«

Nach zwei Stunden schloss er die Fenster wieder, ließ die Jalousien herunter, verriegelte die Tür, hängte sich den Schlüssel um den Hals, zog die Generalsuniform und die langen Gummistiefel an und ging hinunter zum Meer, wo in einer kleinen Sandbucht seine »Flotte« ankerte. Es waren Holzschiffe, wie sie zurzeit Peter des Großen gebaut wurden, voll unter Segel, jedes ungefähr einen Meter fünfzig lang und entsprechend hoch im Mast, eine stolze Armada, bereit, den Schweden die Ostsee wegzunehmen. Und dann schob er die Schiffe ins Meer, dirigierte sie mit einem langen Stab hin und her, ließ sie in Kiellinie laufen, in breiter Angriffsfront und in Rammpositionen.

Je älter er wurde, um so wunderlicher wurde er. David Hoven, der Feuerwehrkommandant, der viel Zeit hatte, denn in Whitesands hatte es seit vierzehn Jahren nicht mehr gebrannt und sein Beruf als Schlossermeister strapazierte ihn auch nicht übermäßig, der also viel angeln ging und stundenlang auf einer Holzmole am Meer saß und Ron Calling mit seinen Schiffen beobachtete, erzählte seiner Frau Lornie regelmäßig, was der Alte wieder an neuen Marotten erfunden hatte.

»Gestern ist ein Schiff von ihm verbrannt«, sagte er. »Wirft der Idiot eine Fackel in den Kahn, und als der natürlich sofort in Flammen aufgeht, springt er im Meer herum, rauft sich die Haare, steht dann stramm und grüßt, als das Schiff untergeht. Und dann« – Hoven holte tief Luft – »ging er ans Ufer, breitete die Arme weit aus und schrie die Sonne an. Was, konnte ich nicht verstehen, aber eine Stimme hatte er dabei, eine Stimme sag ich dir. Als wenn du auf Metall schlägst! Es dauert nicht lange, da ist er völlig übergeschnappt. Wäre verdammt schade, wenn wir ihn in eine Anstalt bringen müssten.«

Auch Reverend Killroad war über den Verfall seines Altarspenders bestürzt. Beim letzten Besuch auf der Terrasse hatte Calling gesagt: »Ich komme nicht weiter. Ich komme nicht weiter! Die schwedische Flotte weicht mir aus. Es kommt zu keiner Schlacht. Wie kann ich einen Sieg erringen, wenn ich keinen Gegner finde?!«

»Das ist wirklich ein Problem«, hatte der Reverend geantwortet. »Es hat noch nie was eingebracht, gegen Schatten zu kämpfen.«

»Schatten. Das ist es, John. Schatten. Überall Schatten. Die Welt wird immer dunkler … Schatten! Wer nimmt die Schatten weg?«

Killroad hatte sich daraufhin schnell wieder verabschiedet, war zu Dr. Simson, einem Psychiater, gefahren und hatte ihn gefragt, wann ein Irrer soweit sei, dass man ihn in einem Heim betreuen müsse. Dr. Simson, durch den täglichen Umgang mit geistig Verwirrten zum Zyniker geworden, hatte Killroad angesehen mit dem forschenden Blick eines Seelenkenners und dann gefragt:

»Mann oder Frau?«

»Mann.«

»Wie alt?«

»Ich glaube siebenundsechzig …«

»Kein Alter … wird er kindisch?«

»Nein.«

»Läuft er mit einem Beil herum und will jeden erschlagen?«

»Im Gegenteil, er ist der friedlichste Mensch, den ich je kannte. Ein stiller Träumer, der nicht einmal eine Fliege töten könnte …«

»Debil ist er also?« Dr. Simson schüttelte den Kopf. »Wir alle sind mehr oder weniger debil, Reverend. Wir merken es bloß nicht. Solange der Mann noch für sich sorgen kann und nicht über die Wiese kriecht und Gras frisst, sehe ich keinen Grund, ihn in einer Anstalt restlos fertigzumachen. Zufrieden?«

»Nein, Doktor.« Killroad verließ die Praxis mit dem Gedanken, dass sich Nervenärzte mit den Jahren doch immer mehr ihren Patienten anglichen. Ron Calling war ein schwerkranker Mann, das war für ihn sicher, aber keiner konnte ihn zwingen, zu einem Arzt zu gehen. Ein jeder Mensch hat ein Recht auf seinen eigenen Körper und sein Leben.

Es war der 10. Oktober 1987, als über alle Rundfunksender die Sturmmeldung gebracht wurde: Ein Orkan mit 200 km Geschwindigkeit raste auf die Küste zu. Auch in Whitesands rechnete man mit Schäden, schlug Bretter vor die Schaufenster, ließ die Autos in der Garage, brachte alles Bewegliche im Haus in Sicherheit … mehr konnte man nicht tun. Nur noch weglaufen, aber das war nicht die Art der Whitesandser. Sie krempelten die Ärmel hoch.

Um elf Uhr vormittags hatte der Sturm die Küste erreicht. Ein lautes Heulen war in der Luft, der Himmel wurde bleigrau, die Palmen bogen sich, und die ersten Blechdächer von Schuppen wirbelten durch die Luft. Vom Strand wehte der feine, weiße Sand wie eine riesige Wolke über Häuser und Hügel und deckte vor allem das Haus von Ron Calling zu, das jetzt mitten im Sturm lag.

Nur eine halbe Stunde nach Ausbruch des Orkans kam das Meer. Wellen, so hoch wie Häuser, donnerten gegen die Küste und begruben und zerschlugen alles, was sich ihnen in den Weg legte. Ein einziger Wirbel war es, ein Heulen und Kreischen, ein Donnern der niederstürzenden Wogen, und gewaltig zog sich ein Vorhang aus Sand, Erde, weggerissenen Büschen und im Sturm schwebenden Bäumen zwischen Meer und Himmel hoch.

Joe Williams saß zusammengekauert auf seinem Prunksessel im Bernsteinzimmer, hatte die Jalousien hochgezogen, aber die Fenster geschlossen gehalten. Auf den spanischen Stock gestützt, starrte er auf das Inferno vor sich, auf den Flugsand, auf die herandonnernden Wellen, auf die sich biegenden oder mit der Wurzel herausgerissenen Palmen und Bäume, auf die große Platane, die mitten im Stamm wie von einem Riesen abgedreht wurde, und auf die Schindeln, die von der hohen Mauer wie Geschosse durch die Gegend flogen.

Gegen ein Uhr mittags stemmte sich Joe Williams aus dem Sessel hoch, ging, auf den Zarenstock gestützt, zu dem mittleren Fenster und blickte hinüber zu der kleinen Bucht, in der die »russische Flotte« ankerte. Die Riesenwellen hatten die Bucht nicht nur überspült, sondern völlig zerstört. Es gab keine Bucht mehr, sondern nur noch eine wild ausgezackte Küste, die nach jeder Welle ihre Form veränderte und vom Meer gefressen wurde.

»Meine Schiffe …«, stammelte Joe. »Meine Flotte … meine schöne Flotte … Ich habe keine Schiffe mehr …«

Er sprang zurück ins Bernsteinzimmer, raste dann aus dem Raum, riss die Haustür auf, und sofort erwischte ihn der Sturm, hieb wie eine Faust auf ihn ein, schleuderte ihn gegen die Mauer und jagte ihn dort kreiselnd entlang. An einer schon fast umgeknickten Palme klammerte sich Joe fest, zog den Kopf tief zwischen die Schultern und stürzte sich dann wie ein Rammbock gegen den Sturm. Die Mütze wurde ihm weggerissen, der Rock flatterte wie ein Geistervogel davon … barhäuptig, im aufgerissenen Hemd und mit zerfetzten Hosen, erreichte er den Strand, umklammerte eine in den Strand gerammte Eisenstange, an der er vor zehn Jahren noch ein Ruderboot vertäut hatte, das jetzt längst verrottet war, und sah mit flackerndem, irrem Blick auf die weggeschwemmte Bucht. Kein Schiff mehr, kein Segel, keine russische Fahne … nur ein brüllendes Meer, das alles verschlang.

»Meine Schiffe!«, schrie Joe Williams. Er warf den Kopf weit in den Nacken, hob die rechte Faust zum grauschwarzen Himmel empor, eine einzige klaffende Wunde war sein Mund, und aus dieser Wunde schrillte ein Schrei in das Toben des Orkans hinaus, ein heller, schriller Schrei, der das Herz zerreißen musste.

»Meine Flotte! Die Schweden siegen! Mein Russland … ich habe dich vernichtet. Ich, der Zar! Jetzt ist die Zeit gekommen –«

Er ließ den Eisenpfahl los, der Wind trieb ihn wie ein Stück Holz auf sein Haus zu, er prallte gegen die Mauer, krallte sich an ihr fest und erreichte den Eingang. Irgendwo blutete er … er wusste nicht, wo, er spürte nichts, er sah nur, wie er eine Blutspur hinterließ, als er durch sein Haus schwankte. Er stieg in den Keller, schleppte auf den Schultern eine Holzkiste hinauf und stellte sie im Bernsteinzimmer ab.

Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ ihn zusammenzucken. Über ihm kreischte und splitterte es, klang es wie ein Ächzen aus tausend Kehlen. Die Riesenhand, die auch die Platane abgedreht hatte, griff nach der Zwiebelkuppel, riss sie aus ihrer Verankerung, hob sie hoch in den Sturm, als habe sie kein Gewicht, und schleuderte sie hinaus ins Land. Das schwere Doppelkreuz wurde gegen die Mauer geschleudert und schlug ein großes Loch in den Verputz.

»Vernichtung!«, schrie Joe Williams mit greller Stimme. Sein irrer Blick glitt über die Bernsteinwände, die Spiegel und Gemälde. »Vernichtet alles! Nichts sollt ihr von mir finden! Ich ergebe mich nicht den Schweden. Ich ergebe mich nicht –«

Er riss den Kistendeckel auf und warf ihn weg. In der Kiste lagen gelb gestrichene Stangen, eine neben der anderen. In einem gesonderten Fach, in Ölpapier eingewickelt, war eine Kabelrolle eingepackt. Ein kleiner, viereckiger Kasten mit einigen Anschlüssen und einem roten Druckhebel stand daneben.

Mit zitternden Fingern verteilte Joe die Dynamitstangen rund an den Wänden des Bernsteinzimmers entlang, zog die Zündkabel hinter sich her in die anderen Räume, verteilte auch dort die gelben Stangen an die Wände, und als er in allen Zimmern Dynamit gelegt hatte, verband er die Kabel miteinander, steckte sie in die Anschlüsse des elektrischen Zündkastens und schlug den roten Hebel hoch.

Draußen riss der Orkan an den Fenstern und Türen, hämmerte mit Eisenfäusten gegen die Außenwände des Bernsteinzimmers, das Meer fraß sich weiter ins Land und klatschte bereits gegen die Mauer. Ganz ruhig, mit einem Lächeln, das überirdisches Glück widerspiegelte, setzte sich Joe auf den vergoldeten, geschnitzten Sessel mitten im Bernsteinzimmer, nahm den Zündkasten auf seinen Schoß, und mit dem gleichen seligen Lächeln, den Blick auf den Bernsteinkopf des sterbenden Kriegers gerichtet, drückte er kraftvoll auf den roten Hebel herunter.

Die Explosion, die Druckwelle war sogar noch stärker als der Orkan. In Whitesands zerbarsten einige Fensterscheiben, Reverend Killroad sah von seiner Kirche den emporschießenden Feuerball, die Explosionswolke, die schnell vom Sturm auseinandergerissen wurde, und dann die Feuerwand, aus der im Wind die Funken hoch in den Himmel stoben.

Er rannte zum Telefon, rief David Hoven an, zum Glück konnte man noch innerhalb Whitesands telefonieren, da alle Leitungen unter der Erde verkabelt waren – auch ein Werk des alten guten Williams –, und brüllte:

»Bei Ron ist etwas passiert! Es brennt bei ihm! Sieht aus wie eine Explosion! Tatsächlich, es brennt bei ihm …«

»Ich kann nicht raus!«, schrie Hoven zurück.

»Du musst, David. Du musst helfen! Du bist doch die Feuerwehr …«

»Der Sturm fegt mir die Löschwagen durch die Luft. Wie Spielzeugautos. Keine zehn Meter komme ich! John … mein Gott … ich bin hilflos bei diesem Sturm … Der arme Ron …«

»Arm! Arm! Arm! Davon hat er nichts. Wir müssen ihm helfen, David …«

Es war unmöglich, wie Hoven es gesagt hatte. Der erste Löschwagen wurde vom Orkan gepackt und noch in der Garage gegen die Mauer geschleudert. Den zweiten ließ Hoven gar nicht erst ausfahren, sondern ging in den Bereitschaftsraum zurück, sah die Männer in ihren Feuerwehruniformen mit einem starren Blick an und sagte:

»Ron Calling gibt es nicht mehr. Freunde, lasst uns für ihn beten. Das ist alles, was wir für ihn tun können.«

Den ganzen Tag und die ganze Nacht heulte der Sturm und brannte das Haus am Meer. Am zweiten Tag gelang es endlich, die Löschwagen bis an die Mauer zu bringen. Die Kraft des Windes hatte etwas nachgelassen, aber er war noch stark genug, das Feuer immer wieder anzufachen. Ringsum herrschte noch eine solche Gluthitze, dass Hovens Männer nicht in die Nähe des Hauses kamen. Die Mauern zerbarsten und fielen unter sprühendem Funkenregen in sich zusammen. Es war kein Haus mehr, nicht einmal die Form oder die Ahnung eines Hauses ließen die Flammen zurück, geschwärzte Steintrümmer waren alles, was übrigblieb.

Am vierten Tag endlich gelang es Hoven und seinen Männern, die letzten Flammen zu löschen und die Trümmer zu betreten. Nach Ron Calling brauchte man nicht mehr zu suchen, auch nicht nach Überresten von ihm. »Der ist zu Pulver verbrannt!«, sagte Hoven heiser. Neben ihm stand Reverend Killroad und segnete die Trümmer, in denen Rons Asche liegen musste. »So was von Feuer hab ich noch nicht gesehen. Was hatte der Alte hier bloß gelagert? So gründlich fliegt keine Dynamitfabrik in die Luft …«

Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch und stieg aus den Trümmern. »So ‘n Ende hat ihm keiner gewünscht. Er war ein lieber, guter Mensch … und dass er am Ende ein wenig verrückt war, dafür konnte er nicht. Reverend, wir werden ihm auf dem Friedhof ein Kreuz errichten. Zum Gedenken an Ron Calling, unseren Freund. Das hat er verdient.«

»Ja –«, sagte Killroad feierlich. »Das hat er bei Gott verdient.«

Ein paar Tage später fuhr ein Bagger ans Meer, schaufelte die Trümmer in große Trucks, und die Wagen brachten die geschwärzten Steine in ein Loch, das das Meer gerissen hatte, und füllten es damit auf.

Noch heute und vielleicht noch in hundert Jahren werden Kunsthistoriker, Sonderkommissionen, Geheimdienste und private Kunstliebhaber das Bernsteinzimmer suchen. In Gruben, Bergwerken, unterirdischen Gängen und Gewölben.

Es gibt es nicht mehr, das Bernsteinzimmer. Die Wände aus dem »Sonnenstein« leuchten nicht mehr, und nur die Sonne, die es erstrahlen ließ, weiß, wo es geblieben ist.

Aber die Sonne schweigt.

Das Leben ist ihre Aufgabe … nicht die Erzählung vom Tod.

Der Autor

Heinz G. Konsalik

Heinz. G. Konsalik wurde 1921 in Köln geboren; Studium der Theater- und Zeitungswissenschaften und der Literaturgeschichte in Köln und München mit dem Ziel, Dramaturg zu werden. Wurde bei Ausbruch des 2. Weltkrieges eingezogen; nach der Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft war er zunächst Mitarbeiter im Feuilleton der Kölner Zeitung. Bald gehörte er zu jenen Autoren, die sich nach Kriegsende zum Ziel setzten, für die nachkommende Generation die Schrecken jedes Krieges eindringlich und realistisch zu schildern. 1956 wurde Konsalik mit dem Roman Der Arzt von Stalingrad, der heute als einer der Klassiker der Weltkrieg-II-Literatur gilt, nahezu über Nacht berühmt. Seitdem schrieb er einen Bestseller nach dem anderen – insgesamt 155. Am 2. Oktober 1999 erlag er in seinem Salzburger Domizil einem Schlaganfall. Er ist aber noch heute unbestritten der national und international meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller der Nachkriegszeit; seine Werke erreichten bisher eine Gesamtauflage von rund 88 Millionen Exemplaren; sie wurden in 46 Sprachen übersetzt.

Ein kalter Winter war’s gewesen, dieser Anfang des Jahres 1717. In Russland lagen Eis und Schnee noch über Wäldern, Feldern, Hütten und Straßen, die Karren blieben noch in den Schuppen, und die Schlitten, die großen für den Transport, die kleinen für die Menschen, knirschten und kreischten über den festgestampften Schnee, gezogen von den kleinen struppigen Panjepferdchen mit den Glöckchen am Geschirr.

Anders in Preußen. Hier begann – in diesem Jahr zwar langsam – schon der Frühling. Der aufgeweichte Boden hing schwer an den Rädern, und auf der Fahrt von Berlin nach Kolberg, wo ein Schiff nach Memel liegen sollte, rief man oft die Bauern aus den Häusern oder von den Feldern, um die Räder aus dem Lehm zu ziehen.

Das besorgte mit scharfen Befehlen und oft auch mit den Schlägen eines langen Haselstockes, ganz im Sinne des Königs, der Leutnant Johann von Stapenhorst, der mit einer Abteilung Kürassiere vor, hinter und neben dem wertvollen Transport ritt. Friedrich Wilhelm hatte die schwere Reitergruppe in ihrem blinkenden eisernen Kürass, eine Art Brustpanzer, zum Schutz beigegeben, obwohl Wachter meinte, es sei nicht nötig.

»Er hat eine zu gute Meinung von den Menschen!«, hatte der König zu ihm gesagt. »Merke Er sich eins: Es gibt mehr Halunken als Beter, und selbst die Beter werden zu Halunken, wenn es sich lohnt, zu stehlen und zu betrügen. Sei Er immer auf der Hut, Wachter! Das Gesindel ist überall.«

Und so wartete außerhalb des Schlosses die Abteilung Kürassiere auf das Bernsteinzimmer und nahm den Transport in ihre Mitte. Und so waren es nun zusammen mit den 108 Zugpferden und Wachters Apfelschimmel, den sechs Kutschpferden und den dreißig Kavalleriegäulen 145 Pferde, die nach Osten zogen. Leutnant von Stapenhorst schien keine Ahnung zu haben, was er da bewachen sollte, denn gleich nach der Begrüßung fragte er Wachter:

»Was bringen wir denn da nach Kolberg? Ist es wertvoll?«

Und Wachter antwortete knapp: »Fragen Sie den König, Leutnant. Ich kann Ihnen nichts sagen.«

Die Fahrt bis Kolberg vollzog sich ohne Ereignisse bis auf den Schrecken, den jede als Übernachtung ausersehene Garnison bekam, wenn die Kolonne einrückte. 145 Pferde, 66 Männer, eine Frau, ein Kind und einen Hund zu versorgen, und das aus dem Magazinbestand der Garnison, rief bei allen Kommandeuren tiefe Seufzer hervor, aber sobald Wachter den schriftlichen Befehl – die Order – des Königs vorzeigte, brachte man heran, was der Transport brauchte. Ganz ohne Schwierigkeiten ging das plötzlich, bis auf Moritz, das Hundemonstrum mit dem braun-weiß gefleckten Fell und den blauen Augen. Als der Koch einer Garnison ihm einen schon faulig riechenden Knochen hinwarf, beschnupperte Moritz das stinkende Etwas, hob dann den Kopf, starrte den Koch an und flog plötzlich mit einem gewaltigen Satz auf ihn zu, verbiss sich in seinen linken Oberschenkel und ließ nicht mehr los. Es half kein Schreien und Schlagen, kein Abschütteln.

»Ich bring sie um, die Bestie!«, schrie der Gebissene. »Wartet nur ein wenig, ich hole mein Messer. Abstechen werd ich das Vieh!«

»Einen faulen Knochen habt Ihr ihm gegeben!«, sagte Wachter streng. »Das beleidigt ihn.«

»Will er etwa ein gebratenes Hühnchen haben?«, brüllte der Koch.

»Das wär schon was. Da hätte er Euch die Hand geleckt. Mein Moritz hat eine menschliche Seele.«

Dieser Ausspruch verbreitete sich schnell in der Garnison. Am Abend, als die Offiziere unter sich waren, fragte der Kommandeur, ein Obrist, den Leutnant von Stapenhorst: »Wer ist dieser Wachter?«

»Ein Vertrauter des Königs … so nimmt man an. Er hat alle Vollmachten in der Tasche. Sein Pferd ist aus dem königlichen Stall. Eine undurchsichtige Person.«

»Hält’s der König neuerdings mit Narren?«

»Oberst, wir haben gelernt, nicht zu fragen, sondern zu gehorchen.«

»Das ist es, Leutnant. Da sagt Er ein wahres Wort. Ich frage mich oft: Wo führt das hin, ein Einziger denkt, und ein ganzes Volk muss denken wie er.«

Der Oberst winkte ab, als er die betretenen Gesichter der Offiziere sah. »Wir werden sehen, was daraus wird. Gott ist so gnädig, uns nicht in die Zukunft blicken zu lassen.«

In ihrem Quartier, meistens einem Zimmer in der Kaserne, das für eine Nacht der Futtermeister räumen musste, legte sich Adele Wachter sofort auf das Bett, erschöpft, müde, blass und mit schwerem Atem. Von Station zu Station wurde es ärger, manchmal lag sie da, presste die Hände auf den gewölbten Leib und sagte, mit geschlossenen Augen, lange kein Wort. Wachter saß dann neben ihr, streichelte ihr Gesicht, legte auch seine Hände auf ihren Leib und konnte nichts für sie tun, als Trost zu geben.

»Bald ist es vorbei, Delchen«, sagte er zärtlich zu ihr. »In Kolberg, auf dem Schiff, kannst du dich ausruhen. Diese holprigen Wege, das Rütteln und Schütteln und die Stöße … ich weiß, wie es dir zusetzt. Beiß die Zähne zusammen, Delchen.«

»Das Kind tritt in mir, als wolle es den Leib sprengen. So war es nie bei Julius.« Sie umschlang seinen Nacken und zog seinen Kopf hinunter auf ihren Bauch. »Hörst du es, Fritz? Es wehrt sich … es will nicht in mir sterben …«

»Es wird nicht sterben, Delchen. Bestimmt wird es nicht sterben. Es wird in Petersburg zur Welt kommen … nur daran sollst du denken.«

Etwa auf der Mitte der Strecke nach Kolberg änderte Wachter seinen Zeitplan. Er legte öfter eine Ruhestunde ein, ließ Adele sich auf einem Strohsack in einem der Kistenwagen ausstrecken, und Julius, nun bald elf Jahre alt, lief über die Felder, suchte in Wiesen und an Bachrändern und brachte frische Kräuter mit, die Wachter, in Wasser getaucht, Adele auf den Leib legte. Das beruhigte und erfrischte sie, kühlte die ziehenden Schmerzen und gab ihr neue Kraft.

Dann endlich, endlich hatten sie Kolberg erreicht, die kleine, schmucke, saubere Küstenstadt an der Ostsee, machten zum letzten Mal Station in einer Kaserne, und Leutnant von Stapenhorst schickte einen Kurier los nach Berlin, die glückliche Ankunft in Kolberg zu melden.

Zusammen mit Adele und Julius fuhr Wachter schon am nächsten Tag zum Hafen, um das Schiff nach Memel zu besichtigen.

Es war kein großes Schiff, eher eine kleine Korvette mit nur einem Mast, ohne Geschütze, dafür mit Laderäumen in dem breitbauchigen Rumpf und einem Aufbau, in dem die Kajüten für Kapitän, Fahrgäste und die Mannschaft lagen. Die preußische Fahne flatterte am Bug.

Über einen Steg gingen Wachter, Adele und Julius an Bord, während Moritz angebunden in der Kutsche bleiben musste und jämmerlich heulte und wütend, mit hochgezogenen Lefzen, die ein spitzes, starkes Gebiss bloßlegten, bellte.

Als sie an Deck standen, spürten sie trotz der Windstille das Schwanken des Schiffes.

Zum ersten Mal hatten sie einen Boden unter den Füßen, der sich bewegte, ein unangenehmes Gefühl, das Unsicherheit in ihnen hochkommen ließ. Wachter begriff, warum Seeleute an Land, auf festem Boden, breitbeinig und schaukelnd dahergingen, wie auch der Zar es tat, der verliebt war in Schiffe, Meer und Wellenschlag.

Der Kapitän der Wilhelmine II. – so hieß das Schiff – kam ihnen mit wiegendem Schritt entgegen, warf einen Blick auf Adeles hohen Leib und reichte dann Wachter die Hand.

»Ihr kommt von dem königlichen Transport?«, fragte er.

»Ich bin der Leiter, Kapitän.«

»Willkommen an Bord.« Er drückte Wachters Hand. »Wann laden wir?«

»Schon morgen. Achtzehn große Kisten und Reisegepäck. Zeigt mir, wohin sie gestellt werden … sie dürfen nicht im Geringsten beschädigt werden. Ich habe dem König darüber Meldung zu machen. Hütet Euch davor, nach Berlin zum Rapport befohlen zu werden. Der Stock des Königs tanzt gern auf anderen Rücken, und die Gefängnisse sind dunkel, feucht und voll Ungeziefer.«

»Es wird alles so sein, wie Ihr befehlt. Mit dicken Tauen werden wir die Kisten vertäuen.« Der Kapitän machte eine weite Handbewegung. »Aber dem Meer können wir nichts befehlen. Im April kann es stürmisch werden … da müssen wir uns dem Stärkeren beugen.«

Sie gingen in die Kapitänsräume, tranken heißen Tee und Rum und knabberten an Zwieback und trockenen Wecken. Der Kapitän erzählte von wilden Stürmen und Begegnungen mit Geisterschiffen, wobei Adele ganz übel wurde, während Julius dagegen glühende Backen bekam, bis Wachter lachend ausrief: »Genug des Seemannsgarns. Kapitän … sehen wir uns das Schiff näher an.«

Es war ein altes, aber gutes Schiff. Dick im Holz, guter Teer in den Fugen, dicht vor allem, kein Durchsickern von Wasser, und die Laderäume, in denen man die Kisten vertäuen wollte, waren besonders trocken. Sie lagen in der Mitte des Rumpfes und hatten genug Eisenhaken an den Wänden, um das Bernsteinzimmer rüttelfrei festzuhalten.

»Sind wir allein auf dem Schiff?«, fragte Wachter. »Keine anderen Waren?«

»Keine. Der Befehl des Königs …« Der Kapitän verzog das Gesicht, als habe er innere Schmerzen. »Kennt Ihr einen Grafen von Bülow?«

»Ja. Er berät den König bei den Finanzen.«

»Ein Halsabschneider, unter uns gesagt. Schickt mir ein Schreiben: ›Was nehmt Ihr für eine Fracht von Kolberg bis Memel im Aufträge des Königs?‹ Ich denke, o Himmel, der König selbst, und nenne einen anständigen, niedrigeren Preis als sonst. Und was schreibt mir der Graf von Bülow zurück: ›Ist er verrückt? Seine Majestät hat angeordnet …‹ Und er nennt mir eine Talersumme, die fast nur die Hälfte meiner Kosten deckt. Was ist besser, habe ich gedacht? Das Schiff versenken oder des Königs Order annehmen? Ich habe angenommen … und deshalb erwartet nicht, dass Ihr zum Essen große Braten oder fette Kapaune bekommt. Kohl und Grütze wird es geben, gesalzenen Fisch und Fladen. Und die Mannschaft, wundert Euch nicht, wenn sie Euch scheel ansieht … nur zwei Drittel des Lohnes bekommen die Kerle für diese Fahrt. Meinen Verlust kann ich allein nicht tragen. So ist es hier –«

Am nächsten Morgen fuhr die Kolonne von achtzehn Wagen und drei Kutschen an den Kai vor der Wilhelmine II. Leutnant von Stapenhorst hatte nur noch zehn Kürassiere mitgegeben, seine Mission war beendet, die ihm nie behagt hatte. Er war Soldat und nicht Begleiter eines Kistentransportes.

Das Verladen der riesigen, schweren Kisten wurde ein Problem. Aus den Wagen konnte man sie ganz gut auf den Kai zerren und schieben, aber sie auf das Schiff bringen, schien fast unmöglich. So große Fracht hatte man noch nie geladen, nicht Kisten von diesem Gewicht und diesen Ausmaßen. Selbst wenn man sie mit Ketten umgurtete und über Rollen an von Deck kragenden Balken hochzog, war es zweifelhaft, ob man sie heil an Bord bekam.

Aber es gelang. An dicken Seilen und über eisernen Rollen wurden die Kisten Zentimeter um Zentimeter ins Schiff gehoben und in den Laderäumen festgebunden. Einen ganzen Tag dauerte es, bis alle achtzehn Kisten im Schiff standen, und als Wachter zufrieden nickte, rief der Kapitän erleichtert:

»Jetzt darf unsereiner einen guten Schluck nehmen. Ihr auch, Wachter?«

»Warum nicht?!«

Sie tranken kräftig, lagen dann trunken in ihren Kojen und fielen in einen kurzen Schlaf. Morgens um sechs Uhr setzte man die Segel, holte den Laufsteg ein und löste die Taue aus den in den Kaiboden eingelassenen eisernen Ringen. Von Leutnant von Stapenhorst sah Wachter nichts mehr … Abschied nahm er nur von den Fuhrleuten und den Kutschenfahrern, die ebenfalls aufatmeten, die kostbare Ladung endlich los zu sein.

»Viel Glück in Petersburg!«, sagte der Vormann der Fuhrleute zu Wachter, als sie sich die Hand drückten. »Ich spreche es ehrlich aus: Ich beneide Euch nicht um das neue Leben …«

Von Deck, an der Reling stehend, sah Wachter den Wagen und Kutschen nach, als sie den Hafen verließen. Noch einmal winkte er ihnen zu und wusste, dass es gleich, mit dem Ablegen des Schiffes, ein Abschied für immer war. Er würde Preußen nie wiedersehen –

Adele, Julius und Moritz standen neben ihm, als sich über ihnen die Segel blähten, die Kommandos des Kapitäns über Deck hallten und das Schiff langsam aus dem Hafen glitt, hinaus aufs Meer. Das Schwanken wurde stärker, die Wellen hoben und senkten das Schiff, ließen es von Seite zu Seite rollen, festklammern musste man sich am Relingseil und die Beine spreizen, um einen guten Stand zu haben. Julius fand es herrlich, jauchzte und winkte hinüber zu der verschwindenden Stadt, Moritz bellte und wedelte mit dem buschigen Schwanz, fletschte die Zähne und biss in das Relingseil, und man wusste nicht, war es Übermut, Freude oder Gegenwehr gegen das Schaukeln. Nur Adele war es übel, das Heben und Senken des Bootes war ihr fürchterlich, ihr Magen drängte hinauf zur Kehle, sie lehnte sich an Wachter, umklammerte seine Taille und würgte schon, als sie gerade den ruhigen Hafen verlassen hatten. Das Meer nahm sie freundlich auf, es war kaum Wellengang, aber Adele genügte es vollauf. Wachter brachte sie zurück zur Kajüte, legte sie aufs Bett, stellte einen Eimer neben sie, legte ein feuchtes Tuch auf ihre Stirn und stieg wieder an Deck. Der Kapitän stand neben dem Steuermann am riesigen Ruderrad und kam auf ihn zu.

»Eure Frau legt sich hin? Sie ist schon seekrank?«

»Das Kind macht ihr zu schaffen.«

»Und Ihr spürt nichts?«

»Nein, es ist doch eine ruhige Fahrt.«

»Warten wir’s ab, bis wir weiter nach Norden kommen. Da gibt es einige Stellen, wo man vom Wind das Pfeifen lernen kann.«

Es sollte viel schlimmer werden. Am dritten Seetag fiel ein Unwetter über sie herein, das Schiffchen tanzte auf den Wellenkämmen, wurde hin und her geworfen wie ein Ball, gewaltige Wellen brachen über Deck, schäumende und brüllende Wassermassen fegten alles weg, was nicht festgezurrt war. Die Segel waren gerefft, nur ein Sturmsegel knatterte im Sturm, und dort hingen ein paar Matrosen an umgebundenen Seilen, die in starken Eisenösen verknotet waren. Wurden sie abgelöst, schwankten sie in ihre Kajüte, als seien ihnen die Knochen zerschlagen worden. Sie griffen nach der Rumflasche und tranken, als käme aus ihr das neue Leben. Und kalt wurde es, immer kälter, als sie die Kurische Nehrung entlangsegelten … der Wind aus dem Osten, aus Russland herüber, stieß wie mit Fäusten nach ihnen.

»Ein unwirtliches Land ist es, in das ihr kommt«, sagte der Kapitän am letzten Tag der Fahrt. An seinem Tisch saßen sie, aßen eine Suppe aus eingesalzenen Bohnen, dunkles Brot, geräucherte Leberwurst und in Essig eingelegte Gurken. Adele, tapfer wie sie immer war, saß bei ihnen, mit leerem, ausgebrochenem Magen und ekelte sich vor jeder Speise.

»Kein Land kann so schlimm sein wie ein Schiff«, sagte sie stockend, und es würgte sie wieder beim Anblick des gedeckten Tisches. »Nie wieder werde ich ein Schiff betreten. Das sei geschworen.«

Und dann tauchte an der Küste Memel auf, das schöne stolze Memel mit seinen Türmen und Kirchen. Im Hafen drängten sich die Schiffe, an den Kais standen die Fuhrwerke mit Waren, die aus den Schiffen gebracht oder auf ihnen verladen wurden, und stolz, wie es sich für ein vom preußischen König gemietetes Schiff gebührte, fuhr die Wilhelmine II. zu ihrem Landeplatz.

Man hatte sie erwartet. Ein Kommando von sechs Reitern, befehligt von einem Wachtmeister, stand am Kai, und als das Schiff anlegte, ertönte ein Trompetensignal zur Begrüßung. Was und wer auch immer da anlegte – es kam aus Berlin, vom König.

Schon eine Stunde später stand Wachter vor dem preußischen Festungskommandanten von Memel, dem General Charles de Brion, und wurde etwas steif empfangen.

»Nun ist Er endlich da!«, sagte der General wenig höflich. »Die Sondermission des Zaren ist längst nach Petersburg zurückgekehrt. Ein Kurier wird sofort an die Grenze abgeschickt. Was hat Er für eine Order?«

Wachter überreichte das Schriftstück, General de Brion las es aufmerksam durch und sah dann Wachter erstaunt an.

»Er hat Generalvollmacht?«, sagte er, ein wenig freundlicher. »Was soll ich Ihm zur Verfügung stellen? Was braucht Er?«

»In schnellster Zeit Wagen und Leute.«

»Er wird alles bekommen.«

Zwei Tage dauerte es, bis man die Kisten vom Schiff geholt und wieder auf schwere Wagen umgeladen hatte. Bei ihrer Ankunft in Memel, das die Litauer Klaipeda nannten, war es der 30. April 1717 gewesen, nun, am 2. Mai, saß Wachter wieder auf einem Pferd, hatten Adele, Julius und Moritz wieder eine Kutsche, und die Kolonne wartete auf das Zeichen zum Aufbruch. Die Kisten waren äußerlich unversehrt, wie es drinnen aussah, wusste man nicht. Was hatte der Sturm auf dem Meer zerstört? In Petersburg würde man es sehen und dann den Kopf senken.

»Also, begeben wir uns nach Russland!«, sagte Wachter zu dem Führer des Begleitkommandos. »Die kurländische Grenze ist nicht mehr weit. Wie sind die Straßen?«

»Wie sollen sie sein?« Der Wachtmeister der Reiter hob die Schultern. »Je weiter nach Osten, desto unpassierbarer wird es. Und dann, so sagt man, das weite russische Land ist wie bei der Erschaffung der Welt.«

»Wir werden es schaffen.« Wachter richtete sich im Sattel auf. »Wenn der Zar bei seinen Reisen das Land verlässt, werden wir auch ankommen können.«

Er ritt wieder an die Spitze der Kolonne, hob die Hand und gab den Weg frei. Nach Osten, nach Russland, in das riesige Unbekannte.

In die neue Heimat.

Gott steh uns bei!

Am 2. Mai schrieb General Charles de Brion seinen Bericht an den König von Preußen. Er lautete:

»Euer Königlichen Majestät habe hiermit alleruntertänigst berichten sollen, dass das Bernstein-Cabinet vorgestern in gutem Stande, so viel als ich bemerken und von dabei gestellten Leuten die Nachricht einziehen können, hier angelanget, und bald darauf weiter bis an die Grenze geschicket worden, und sein aus diesem Amte drei Relais, auf jede Relais 108 Vorspann Pferde zu deren Fortbringung gegeben …«

Das hieß, dass wieder mit achtzehn schweren Wagen, beladen mit je einer Kiste und von sechs Pferden gezogen, das Bernsteinzimmer auf den Weg nach Russland gebracht worden war.

Drei Stationen waren es bis zur russischen Grenze, über Straßen, deren Löcher und Querwellen die Fuhrwerke schütteln und springen ließ und Hunderte von Stößen in den Rücken schickten. Adele litt fürchterlich, aber tapfer, nur nach der zweiten Station sagte sie schwach zu Wachter: »Das Kind wird es nicht ertragen, Fritz. Tot wird es zur Welt kommen. Ich fühle es. Zu früh und tot wird es kommen …«