Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)

NOVA Science-Fiction 27

 


Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)

NOVA Science-Fiction

Ausgabe 27

 

Iwoleit - Haitel: NOVA SF 27

 

 

 

 

 

 

 

 

NOVA ist ein Projekt des World Culture Hub:

www.worldculturehub.org

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Februar 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Stas Rosin

Redaktion Storys: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de

Redaktion Artikel/Essays: Thomas A. Sieber, thomas.a.sieber@gmail.com

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de

Korrektorat: Dirk Alt, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

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www.nova-sf.de

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ISSN: 1864 2829

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 152 5

 


Christian Steinbacher
Hurra, wir leben noch!
Das Editorial

 

Die Science-Fiction-Erzählung, sie lebt.

Im Rückblick scheint es lediglich die Zeit um die Jahrtausendwende und dem »Ende der Geschichte« gewesen zu sein, in der Endlosreihen und Zyklen die Richtung vorgaben und nur noch eine Handvoll Autoren Relevantes zu sagen hatte.

Inzwischen haben SF-Kurzgeschichten ihren Platz in Magazinen wie c’t, Technology Review und Spektrum der Wissenschaft gefunden. Man mag denken, die Sphäre der mit technologisch-wissenschaftlichen Entwicklungen Befassten habe ja schon immer eine Beziehung zu ihnen gehabt. Aber ernst zu nehmende Science-Fiction, die weiß, dass die Zukunft anders ist, wird nun auch in Spiegel, Blogs & Feuilletons von FAZ bis taz besprochen. Sie ist ebenfalls zum Thema in den verschiedensten Kulturzeitschriften geworden, die allzu lange eher Nabelschau betrieben.

Auch dass ein Autor wie Daniel Kehlmann zur Eröffnung der diesjährigen lit.Ruhr eine Science-Fiction-Erzählung präsentierte (»Die Nachricht«), zeigt, dass sich das öffentliche Bewusstsein gewandelt hat.

Nur noch sehr, sehr selten kommt es zu absurden Behauptungen wie der, dass ein in naher Zukunft spielender Roman ja schließlich keine Science-Fiction sei, wie es noch unlängst in einer Radiosendung zu Juli Zehs Roman Leere Herzen hieß. Da war ich allerdings nicht der Einzige in meiner Umgebung, der lachen musste.

Als langjähriger Nurbeobachter der Szene glaube ich mir aber das Urteil erlauben zu können, dass die in Nova gebotene Auswahl zu den anregendsten Beispielen ihrer Art gehört. Hier ist die Qualität doch recht geballt präsent. In der großen Zahl der halb- oder unprofessionellen Veröffentlichungen im Web oder als Print-On-Demand muss man nach Wertvollem suchen, auch wenn es dort wohl die eine oder andere Perle zu entdecken gibt.

Es scheint ein bisschen so zu sein, dass sich die Pulp-Ära des Internets und Print-on-Demands, in der auf Teufel komm raus veröffentlicht wurde, zum Besseren wandelt. Durch Diskussionen, Rezensionen und Artikel ist wohl doch ein Prozess in Gang gekommen, der zur Qualitätssteigerung führt.

Unsere letzte Ausgabe hat es ja noch nicht in größerem Umfang zeigen können, aber mit Michael Haitels p.machinery können wir nun den besten Künstlerinnen und Künstlern der Szene einen noch umfangreicheren (und farbigeren) Raum geben als bisher. Als dafür zuständiger Redakteur glaube ich, dass wir eine sowohl das Denken als auch eine die Fantasie anregende Ausgabe zusammengestellt haben.

 

Mein Name dürfte den meisten Nova-Lesern unbekannt sein, was nicht verwunderlich ist. Dennoch kann ich in aller Bescheidenheit auf ein Szenevorleben verweisen, das allerdings unter dem Namen Christian Mathioschek stattfand, bevor ich durch Heirat und Familiengründung in eine neue Daseinsform transmutierte. Von ca. 1982 bis 1997 war ich zuletzt bei den SF-Tagen NRW und dem recht literarischen Fanzine Fantastisches Forum aktiv. Begonnen hatte alles mit einem Besuch Jacques Baldowés und Walter Josts bei unserem Duisburger SF-Clübchen und dem baldigen Wechsel zur SFCD-Regionalgruppe Niederrhein, deren erste Treffen noch in einem Neusser Jugendzentrum stattfanden, bevor nach Düsseldorf gewechselt wurde. Sehr eindrucksvoll war insbesondere ein Diskussionsgemetzel zum Thema Philip K. Dick in Michael Iwoleits damaliger Butze. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Personen anwesend waren, es war jedenfalls sehr eng und ebenso anregend!

Nach dem Ende meiner SFCD-Zeit verloren wir etwas den persönlichen Kontakt, obzwar ich im 21. Jahrhundert Nova mit der Ausgabe 3 entdeckt hatte und mir sogleich auch die beiden ersten Nummern besorgte. Ich war von der gebotenen Qualität beeindruckt und habe die Hoffnung, dass das neue Team die Qualität halten kann. Nicht nur das: Wir sind auch fest entschlossen, die Taktzahl zu erhöhen – das Jahr 2018 gibt jedenfalls zu den schönsten Hoffnungen Anlass.

 

P. S.: Perfekt werden wir wohl nie sein. Fehler werden immer wieder unterlaufen, und das Editorial ist traditionell der Ort, um sie zu korrigieren. Diesmal müssen wir uns dafür entschuldigen, dass wir uns in der Nr. 26 nicht dafür entschuldigt haben, dass in der Ausgabe 25 mit der Kurzbiografie von Tobias Reckermann ein falsches Porträtfoto des Autors veröffentlicht wurde. Wir geloben Besserung.

 


Michael K. Iwoleit
Zum Thema
Auch ein Editorial

 

Themenausgaben sind in der Geschichte unseres Magazins immer problematische Vorhaben gewesen. Wir konnten nie sicher sein, ob eine Themenvorgabe von unseren Autoren so weit angenommen wird, dass genügend Geschichten zusammenkommen, um eine Magazinausgabe zu füllen. Nicht alle entsprechenden Ideen konnten realisiert werden. Das Thema der vorliegenden Ausgabe erwies sich als besonders schwierig. Seit unser früherer Mitherausgeber Frank Hebben die Idee zur Diskussion stellte, eine Ausgabe zum Thema Utopien und positiver Zukunftsbilder zusammenzustellen, sind über zwei Jahre vergangen. Wir waren nicht überrascht, dass einige unserer Autoren, als sie die Einladung erhielten, rundheraus abgewunken haben. Die Science-Fiction ist eine im Herzen pessimistische Literatur. Was sie an positiven, konstruktiven Impulsen enthält, wird meist durch das Kontrastmittel eines dystopischen Gegenbildes ausgedrückt: Sie zeigt nicht, wie die Welt sein müsste, sondern wie sie besser nicht werden sollte, und spricht sich damit indirekt für Wünsche, Werte und Hoffnungen aus. Der klassischen Utopie mit ihren Entwürfen eines idealen Gemeinwesens, die gewöhnlich in einem statischen, konfliktlosen Panorama präsentiert wurden, haftet heute etwas Verstaubtes an, die Aura einer leeren intellektuellen Übung, die nur für Elfenbeinturmbewohner von Interesse, aber als ernsthafte Herausforderung an die Wirklichkeit fruchtlos ist. Unsere Gegenwart ist zu kompliziert, zu konfliktreich, zu zählebig in ihren Machtstrukturen geworden, um noch aus ganzem Herzen an eine ideale, von Humanität, Gerechtigkeit und Vernunft bestimmte Welt glauben zu können. Die wenigen überzeugenden Utopien, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, lassen sich fast an einer Hand abzählen. Man denke hier vor allem an Ursula K. Le Guins The Dispossessed (1974), Ernest Callenbachs Ecotopia (1975) oder einzelne Erzählungen wie etwa John Varleys »The Persistence of Vision« (1978).

Dennoch hat das Thema zumindest einem Teil unserer Autoren keine Ruhe gelassen, und nach und nach wurden uns genug interessante Erzählungen angeboten, um diese Ausgabe doch noch realisieren zu können. Wie von uns angeregt, haben sich die Autoren dem Thema auf eine zeitgemäße Art angenähert. Keine der folgenden zehn Geschichten präsentiert einen glatten, fleckenlosen Entwurf einer Idealgesellschaft. Wir haben es hier weniger mit utopischen Entwürfen als mit utopischen Impulsen zu tun, Hoffnungsschimmern und Perspektiven, die zum Teil ganz überraschend in Spannungs- und Bedrohungsszenarien aufscheinen. Wie Andreas Heyer in seinem ausgezeichneten Artikel in dieser Nova-Ausgabe zeigt, ist die Tradition der Utopie gerade dadurch lebendig geblieben, dass sie ständig in Frage gestellt wurde, dass sie zu Widerspruch und Zweifel herausforderte, dass utopische Entwürfe, die einen idealen Endzustand des menschlichen Zusammenlebens schildern, immer einen Keim der Selbstüberwindung in sich tragen, weil sie der Dynamik des realen Lebens, den Widersprüchlichkeiten und Konflikten der menschlichen Natur nicht gerecht werden können. Die Autoren der vorliegenden Ausgabe haben sich dieser Zwiespältigkeit des Utopischen auf ganz unterschiedliche Weise gestellt. Frank W. Haubold präsentiert in seiner Novelle eine durchaus lebens- und funktionsfähige Gemeinschaft mit utopischen Zügen, die sich von den globalen Machtstrukturen unabhängig gemacht hat, verschweigt aber ihre Gefahren und Schattenseiten nicht. Dirk Alts Erzählung liest sich auf den ersten Seiten wie eine ins Extrem getriebene patriarchalische, hedonistische Utopie, die an die Instinkte vor allem männlicher Leser appelliert, und doch sind es letztlich ganz elementare, in dieser Welt fast in Vergessenheit geratene menschliche Gefühle, die das System ihrer radikalen Geschlechtertrennung infrage stellen. Der Protagonist von Frank Hebbens Geschichte schließlich wagt die offene Rebellion gegen eine auf den ersten Blick makellose Zukunftsgesellschaft, die scheinbar an alles gedacht, aber doch ein unverzichtbares Element des menschlichen Daseins ausgelassen hat: Widerspruch, Rebellion, schöpferische Abweichung. Wir hoffen, dass diese und die übrigen Geschichten unsere Leser zu eigenen Gedanken über die Reichweite und den Nutzen des Utopischen anregen werden.

Es ist gut möglich, dass wir uns nicht zum letzten Mal der Frage widmen werden, wie in der Science-Fiction, der unsere Gegenwart so viel Stoff für neue, noch erschreckendere Horrorszenarien liefert, konstruktives und zukunftsgerichtetes Denken lebendig bleiben kann. Seit Kurzem ist in der SF und darüber hinaus eine neue Bewegung im Entstehen begriffen, die eben dies versucht, indem sie Wissenschaft und Technik nicht mehr als Instrumente des Untergangs deutet, sondern im Gegenteil Wege aufzeigen will, wie die heute zur Verfügung stehenden Mittel – Computer, Netzwerke, Bio- und Nanotechnik, alternative und nachhaltige Technologien etc. – zum Aufbau einer humaneren Welt eingesetzt werden können. »Solarpunk« nennt sich dieses noch neue und diffuse Genre, dessen Weiterentwicklung wir im Auge behalten werden. Vielleicht wird es Anregungen für eine künftige Themenausgabe von Nova liefern.

 


NOVA Storys

 


Barbara Ostrop
Das Kontingent

 

 

Jorg streift die Ärmel seiner zwei Mäntel ein wenig zurück und betrachtet seine Hände im flackernden Schein der Kerze. In ihrem warmen Licht sieht man nicht, wie blau gefroren sie sind. Hat alles mit Kant angefangen? Oder doch mit Dennis Tito?

Alme, die noch über ein Kontingent verfügt, hat ihn aus ihrer Wohnung geworfen. Die Dunkelheit und Kälte hat ihn auf den Schwarzmarkt getrieben, um diese Kerze zu kaufen. Geld ist nicht das Problem. Er hätte Geld für Tausende von Kerzen. Aber er kann es nicht wagen, sie bei sich zu Hause abzubrennen. Darum sitzt er in dem alten Kanalzugang, wo ihn keiner sieht, um sie anzuschauen. Ein letztes Flämmchen ergaunertes Licht für ihn, der nicht mehr existiert.

Sie haben ihm sein Geld ausgezahlt, als sein Kontingent erloschen war. Oder aufgebraucht, wie sie das nennen. Bar auf die Hand, auf Heller und Pfennig genau, jeden einzelnen Cent. Sein Konto war danach gesperrt worden. Seit die Partei des Cloud-Kantianismus die Macht übernommen hat, macht man das so.

»Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.«

Das lernen heutzutage schon die Erstklässler. Lernen müssen es aber auch jene Leute, die noch in der Zeit des Geldes groß geworden sind, vor der Einführung des Kontingents. War die Maxime einmal etwas Subjektives, ein individueller Leitstern des Gewissens, ist sie durch die Cloud zu etwas objektiv Messbarem geworden. Es kann nur eine einzige Vernunft geben, und diese Vernunft verlangt Gerechtigkeit.

Das letzte Wachs zerrinnt, und die Kerze erlischt mit einem Fauchen des glühenden Dochtes. Dann herrscht Dunkelheit. Jorg klettert aus dem Kanalzugang auf die dämmrige Böschung hinaus und kehrt nach Hause zurück. Er schaut in den Retinascanner, worauf ihm gehorsam die Tür geöffnet wird. Die Sensoren funktionieren noch für drei Tage, so hat er es auf der Anzeige seiner Cloudstation gelesen. Er musste bestätigen, bevor sie erlosch. Und gleich darauf das Display. Dann gingen die Lichter aus. Das machen sie, damit einem klar wird, dass es jetzt ernst ist.

Hätte er nicht in die Karibik fliegen sollen? Oder zumindest Alme nicht zu diesen Urlaubsreisen einladen? Er hatte geglaubt, sich das leisten zu können. Er begreift nicht, warum sein Geld ihm nicht hilft. Er hat Geld für etwas Materielles gehalten, austauschbar gegen Urlaubsreisen, nützliche oder hübsche Dinge und gutes Essen. Das Entscheidende aber, nämlich dass es nicht unbegrenzt gegen Wattstunden, Bytes und ein größeres Cloudkontingent ausgetauscht werden kann, hat er selbstbewusst ignoriert.

So hat er das genannt, selbstbewusst.

Alme nannte ihn unverbesserlich.

Als Dennis Tito als erster Tourist in den Weltraum flog, war das eine willkommene Sensation. Man sagte, der Weltraumtourismus werde die Raumfahrt beflügeln. Als Amerasien William Jurikow als zehntausendsten Weltraumtouristen feierte, brach in Eurafrika ein Aufstand los. Watt für Watt sparte man mit LOM-Leuchten und Ultra-Öko-Kühlschränken CO2-Zertifikate zusammen, um sich die sündhaft teure Energie überhaupt noch leisten zu können. Und die Amerasier pusteten den Treibstoff tonnenweise ins All und schleiften die Welt der Klimakatastrophe entgegen. Damit musste Schluss sein. Der diplomatische Schlagabtausch schlingerte in einen heißen Krieg, als die eurafrikanische Regierung in Kairo ein Schiff voller Weltraumtouristen mit einer Rakete vom Himmel holte. Doch kurz bevor es zur atomaren Eskalation kam, ergriff in Eurafrika die Partei des Cloud-Kantianismus die Macht.

Jorg hat immer gewusst, dass sein Kontingent begrenzt ist. Er hat gewusst, dass Sensoren in seiner Wohnung und in seinem Körper und Algorithmen, die über seine Kontobewegungen wachen, seinen CO2-Ausstoß genau registrieren. Aber er hat nie begriffen, was das Ganze eigentlich soll, denn schließlich ist das Problem des Weltraumtourismus ja bereits gelöst. Was er einspart, wird auf der anderen Seite der Welt mit vollen Händen verschleudert. Außerdem hat er geglaubt, sich loskaufen zu können. Früher hat es eine Art Ablasshandel gegeben. Wer Umweltprojekte finanzierte, konnte sein eigenes CO2-Kontingent entsprechend erhöhen. Das ist Geschichte, wie Alme ihm immer wieder gesagt hat. Aber er hat ihr nicht geglaubt.

Jorg zieht seine zwei Mäntel enger um sich und schaut sich in der dunklen Wohnung um. Er hat sein Haus geliebt. Er geht durch jedes der vier Zimmer, sieht wehmütig in den dunklen Schlund des offenen Kamins und starrt in den Vorgarten, wo bis gestern Nacht die Weihnachtsbeleuchtung gebrannt hat. Jetzt ist er leer und dunkel. Dunkel wie das Haus.

Jorg seufzt, reißt sich dann zusammen und strafft die Schultern. Nun gut. Er geht nach draußen und schlägt energisch die Tür hinter sich zu. Er wird es tun, sagt er sich bei jedem Schritt, den er über die Straße stapft. Er. Wird. Es. Tun. Er wird Almes Bedingung annehmen: Ihr Kontingent sparsam zu nutzen.

 


Iwoleit - Haitel: NOVA SF 27

 

Illustration: Detlef Klewer, kritzelkunst

 


Marcus Hammerschmitt
PLKL

 

 

Lektion 1

Was ich mir dabei gedacht habe? So genau wusste ich das schon damals nicht. Es war in den Jahren nach 9/11; es gab die Debatten über den Islamismus, die Anschläge in Europa und in der Welt, also auch die Angst vor weiteren Anschlägen; es gab die Kriege, die Flüchtlinge; die Unruhe schien zu wachsen, und ich wollte was tun. War noch frisch auf dem Passbüro in meiner Kantonshauptstadt. Hatte wohl in der Kantine zu oft oder zu deutlich davon gesprochen, dass mir die Unruhe, die Unsicherheit auf die Nerven ging. Das stimmte ja auch – ich hätte meine berufliche Bestimmung wohl kaum als Sachbearbeiterin beim Passbüro gefunden, wenn ich ein Mensch wäre, dem Unordnung egal ist. Und dann kam eines Tages mein Abteilungsleiter und stellte mich einem Herrn vom Zivilschutz vor, dessen Namen ich bald darauf vergessen habe, und dieser Herr fragte mich, ob ich etwas für mein Land tun wolle. Wenn ja, dann habe er da einen Vorschlag. Ich hörte mir den Vorschlag gern an.

 

Lektion 2

Es war dann wirklich nicht so wild, wie man sich das vielleicht vorstellt. Wir waren und blieben Teil des Zivilschutzes, jedenfalls offiziell. Das »Frühwarnnetzwerk Zivil außergewöhnliche Bedrohungen (FZAB)« – langer Name, kurzer Sinn: Laiengeheimdienst ohne Schießen und Fallschirmabsprünge. Gut, ein bisschen Agentenromantik war dabei. Ich kann wahrscheinlich auch heute noch eine SIG 220 zerlegen, reinigen und wieder zusammensetzen. Beim Schießen wäre ich nicht so sicher, das habe ich seit damals nicht mehr gemacht. Ich weiß was über Verschlüsselung. Es gab auch einen Waffennarren in meinem Kurs, der war gar nicht damit zufrieden, dass wir mit abgelegtem Armeezeug vertraut gemacht wurden. Er hätte gerne die neuesten Modelle gehabt. Die Ausbildung dauerte ein halbes Jahr und fand in einem namenlosen, anonymen Flachbau im Hof des Polizeihochhauses statt, in dem ich auch sonst meinen Dienst verrichtete. Einer von uns (nicht der Waffennarr) meinte immer, wir seien ja wohl so eine Art Volkshochschule für Freizeitagenten.

 

Lektion 3

Bald darauf vergaß ich das alles wieder, oder ich schob es in den Hintergrund, weil die Ehe kam und dann die Kinder und dann die Scheidung. Was halt so normal ist für eine Frau meiner Generation. Alle, die sich wunderten, warum ich überhaupt heiratete, wunderten sich auch wieder, als es auseinanderging. Aber man klopfte mir doch freundschaftlich auf die Schulter, als es endlich vorbei war, und ich tat es dann auch. Beruflich war die Sache noch geradliniger. Plötzlich hatte ich zwanzig Jahre Identitätskarten und Pässe ausgestellt, und dass ich bald Abteilungsleiterin werden würde, hielt meine Kollegin Francesca für unausweichlich. Ich war da etwas skeptischer, weil ich eine Frau bin. »Du musst das halt auch wollen«, sagte Francesca immer. Ich zuckte dann nur mit den Achseln. Die Wahrheit war die folgende: Ich hatte immer noch Freude an einem geordneten Alltag, und ich rechnete fest damit, dass mein Ruhestand genauso geordnet sein würde.

Jedenfalls stand ich auf diesem langsam fahrenden Förderband zur Rente, ziemlich gut eingerichtet mit zwei erwachsenen Kindern, einem Ex-Ehemann, dem ich Weihnachtskarten schrieb, weil wir zusammen Kinder hatten, und einer Aussicht auf eine Beförderung zur Abteilungsleiterin, die nie wahr werden sollte. Vielleicht einmal pro Jahr träumte ich, dass mir Briefe in einer fremden Sprache geschickt wurden.

Jetzt hat eine andere Ordnung eingegriffen, und ich mag es nicht. Ich mag es auch nicht, wieder Geheimnisträger zu sein.

 

Lektion 4

Was man nachher »Medienkrise« genannt hat, habe ich zunächst gar nicht so wahrgenommen. Sondern es war so. Die Fälle häuften sich – national wie international –, dass Medienmenschen, auf die allgemein viel gegeben wurde, plötzlich Unsinn erzählten. Also hauptsächlich Nachrichtensprecher und Nachrichtensprecherinnen, Talkshowleute, bekannte Flowstars, Sportler mit Millionen von Anhängern und dergleichen. Natürlich nicht alle, aber doch gehäuft. Mir selbst wäre das gar nicht so aufgefallen, weil diese Leute ja den lieben langen Tag irgendetwas daherreden, aber es gab Probleme: rasche Börsenbewegungen, weil ein Nachrichtensprecher persönliche Meinungen zum wirklichen Marktwert einer bestimmten Qomputerfirma äußerte. Ein Bundesrat brachte sich hierzulande um, weil ihm in den Abendnachrichten zur besten Sendezeit irgendwas mit minderjährigen Prostituierten angehängt wurde. In mehreren afrikanischen Staaten wurden wieder Radiosender missbraucht, um Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzen, und es gab Massaker. Es tauchten Dokumente auf, die den Premierminister Kanadas als islamistischen Schläfer enttarnten. Nobelpreisträger legten Beweise dafür vor, dass die Ernährung mit Bioprodukten die Lebensdauer durchschnittlich um anderthalb Jahre senkte. Die meisten Meldungen dieser Art stellten sich als falsch heraus oder als Halbwahrheiten, die in ihrem Kontext dann ganz anders klangen, aber es waren gut gemachte Lügen, und bevor sie mit viel Aufwand widerlegt wurden, hatten sie gewirkt. Ich dachte, das alles sei nur ein bisschen mehr vom Üblichen. Bis ich reaktiviert wurde.

 

Lektion 5

Interessanterweise merkte ich gleich, mit wem ich es zu tun hatte. Sie schickten eine Frau, aber das täuschte mich keine Sekunde. Auf eine seltsame, mir nicht ganz begreifliche Weise erinnerte sie mich sofort an den »Mann vom Zivilschutz«, der mich fast zwanzig Jahre vorher rekrutiert hatte. Allerdings war sie wohl noch recht neu im Metier. Sie sagte: »Ich bin nicht wegen Passangelegenheiten hier.«

»Ich weiß«, antwortete ich.

Da stutzte sie; ich konnte richtig sehen, wie ihr die Gesichtszüge entglitten. Bevor sie mich fragte, warum ich das wusste, beherrschte sie sich gerade noch so.

Der Rest war so absurd, wie es meine Rekrutierung und meine »Ausbildung« fast zwanzig Jahre vorher gewesen waren. Sie sagte mir nicht einmal, warum ich reaktiviert wurde, sondern legte einen Papierumschlag auf meinen Schreibtisch, dessen Inhalt ich streng geheim halten solle. Dann wünschte sie mir Glück und ging.

Man kann schon sagen, dass ich mir ziemlich blöd vorkam.

In dem Umschlag fand ich auch keine Erklärungen. Es sei eine »Lage« entstanden, die es erforderlich mache, dass ich mit meiner »Bezugsgruppe« Kontakt aufnehme. Das Staatswohl sei in Gefahr. Dazu einige Kurzdossiers über die Leute, mit denen ich mich schützend vor das Staatswohl stellen sollte. Man hatte mich offenbar als »Gruppenleiterin« vorgesehen, und ich wurde angewiesen, die Flowadresse, an die ich meine Berichte schicken sollte, auswendig zu lernen, und den Umschlag »datensicher« zu vernichten.

»Bezugsgruppe«, dachte ich. Der Umstand, dass nicht wir vom »Frühwarnnetzwerk« irgendjemanden gewarnt hatten, sondern im Gegenteil von jemand anders gewarnt werden mussten, kam mir da schon seltsam vor.

 

Lektion 6

Man kennt das. Man kommt zu einem Treffen, einer Begegnung, einer Verabredung, und man hat sich noch nicht hingesetzt, da weiß man: Das wird nichts. Nach der Scheidung habe ich es ein bisschen mit Onlinedating versucht, von daher stammen meine deutlichsten Erfahrungen mit diesem Gefühl. Was immer nach dieser Intuition kommt, kann nur schlimm werden – so ist die Regel, und als ich mich am Tisch umschaute, an dem sich meine »Bezugsgruppe« versammelt hatte, schien mir klar, dass ich mit diesen Leuten keine Ausnahme von der Regel erleben würde. Ein melancholisch dreinschauender junger Mann mit dunkler Hautfarbe, der wahrscheinlich noch nicht lange auf der Welt gewesen war, als ich meine Agentenkarriere begonnen hatte. Seinem Dossier hatte ich entnommen, dass er eine Qomputerbegabung war und in dieser Eigenschaft auch schon verschiedene Polizeibehörden beraten hatte. Name: Manpreet Singh. Der ältere Mann gleich neben ihm hatte nicht mehr viele Haare, dafür aber unübersehbare Hautprobleme; die Brille war sogar mir zu veraltet, und sein milder und betont freundlicher Gesichtsausdruck ließ mich an die Vertreter leicht dubioser christlicher Sekten denken. Olivier Mayoraz, ein emeritierter Kognitionspsychologe, der früher an der Universität Lausanne unterrichtet hatte. Aber am meisten irritierte mich die Frau, neben der ich Platz genommen hatte. Frauen in meinem Alter, die Kleidungsstücke mit Leopardenmuster tragen, sind mir schon immer zuwider gewesen. Wenn dann noch rot gefärbte Haare dazukommen, wird mein Widerwille fast unüberwindlich. Anneli Thalmanns Scheitel bewies, dass ihre Haare normalerweise grau waren. Dunkelrote Fingernägel, natürlich. Ihr Dossier hatte keine Angaben über ihren Beruf enthalten. Ich hielt sie für eine Art Wahrsagerin.

Da wir uns in einem Café getroffen hatten, bestellten wir Kaffee und Kuchen. Nachdem ich das Gespräch mit einem ratlosen »Tja, also« eingeläutet hatte, redeten wir gleich über die vielen Falschmeldungen in den Medien und die Aufregung, die sie verursachten. Es kann sein, dass ich an diesem Nachmittag zum ersten Mal den Begriff »Medienkrise« hörte. Manpreet kündigte an, dass er sich bis zum nächsten Mal den Hintergrund einiger Schlüsselfiguren dieser sogenannten Medienkrise anschauen werde. Olivier wollte sich Aufzeichnungen dieser Leute genau ansehen, so viele wie möglich, denn er sei ein Spezialist für »micro expressions«. Ich nickte und beschloss nachzuschauen, was das war. Anneli machte keine Vorschläge, und das war mir auch recht so. Danach aßen wir nur noch Kuchen.

Ich ließ mich von meinem Auto nach Hause fahren, und dachte: »Wir sind schon ein sehr kleines Land.«

 

Lektion 7

Weil das Wetter schön war, fand unser nächstes Treffen im Stadtpark statt. Den habe ich immer gemocht. Er liegt außerhalb der Mauern, in denen meine Stadt seit fünfhundert Jahren vor sich hin döst. Ich erwartete ein weiteres Stück absurden Theaters, war aber entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen. Diesmal kam ich zuerst an. Ich lauschte den Vögeln und dem Autoverkehr auf der Umgehungsstraße, zwei Dutzend Meter hinter mir. Es war friedlich und schön, und als die anderen eintrafen, nahm ich nur ungern von dieser Stimmung Abschied. Wozu auch?

Manpreet war voller Vorfreude, das konnte niemand übersehen. Von Melancholie keine Spur mehr. Es dauerte nur eine Minute, bis er unsere volle Aufmerksamkeit hatte. In unzählige Flows war er also eingedrungen und hatte genau erforscht, mit wem seine Opfer Korrespondenzen geführt, mit wem sie 3-Cs gehabt, was sie gekauft und angeschaut hatten – einfach alles. Ich schluckte. Die Strafen für das Belauschen von 3-C-Videochats waren erst vor wenigen Monaten noch einmal verschärft worden. Und Manpreet hatte sich nicht auf Ziele im Inland beschränkt.

»Stop«, sagte ich und atmete durch. »Besteht irgendeine Möglichkeit, dass Sie mit Ihrer Spionage einen internationalen politischen Zwischenfall provoziert haben?«

»Nein.« Er lächelte mich an. Sein Gesicht drückte eine große Selbstsicherheit aus, und leichten Spott über mich, die alte Frau, die von all dem keine Ahnung hatte. »Das habe ich nicht getan.«

»Dann hoffe ich, das bleibt so.«

Er nickte nonchalant. »Ich weiß, was ich kann, und ich kenne meine Grenzen. Deswegen werde ich auch von den Flows all dieser Leute ab sofort komplett die Finger lassen.«

Auf etwas Bedeutsames sei er gestoßen. Kurz bevor die Leute, die er überwacht hatte, mit ihren Gerüchten an die Öffentlichkeit getreten waren, hatten sie neue Kontakte geknüpft, simple Textnachrichten ausgetauscht, mit einer Reihe von wechselnden Partnern. Zum Beispiel mit einem »Institut für Gegenwartspolitik«, mit den Angehörigen von Botschaften verschiedener Länder, mit einer deutschen Soziologieprofessorin namens Barbara Ganz, mit Sportfunktionären usw. Diese Leute hatten mit den Gerüchtemachern online über alles Mögliche gesprochen, nur nicht über die Sensationen, mit denen die später herausgerückt waren. Aber sehr bald danach waren die neuen Freunde in der Versenkung verschwunden. Was Manpreet nicht überraschte, denn er war sicher, dass sie nur als Flowadressen und als Homepages existierten. »Das sind Phantome«, sagte er. Wenn er für die Polizei arbeitete, dann benutzte er häufig eine forensische Software namens ProFileX, die er selber mitentwickelt hatte. ProFileX war gut darin, aus diversen Datenquellen Profile von Leuten herauszukondensieren, die die Daten generiert hatten. Das Programm konnte aus relativ wenig relativ viel machen. Und als er sein Konvolut an Textnachrichten mithilfe von ProFileX analysiert hatte, waren die Autoren und Autorinnen dieser Textnachrichten so feinsäuberlich in die verschiedenen Kategorien eingeteilt, mit denen sich ProFileX auskannte, dass sie keine wirklichen Menschen sein konnten. Da gab es so archetypische »Passiv-Aggressive«, »Narzissten« und »Harmoniesucher«, wie sie in der freien Wildbahn gar nicht vorkamen.

»Mit anderen Worten«, sagte Manpreet, »da hat sich jemand eine enorme Mühe gemacht, um Leute zu erfinden, die die Gerüchtemacher beeinflussen konnten. Und das Material, das dann nachher in den Nachrichten auftauchte, ist den Zielpersonen nicht über den Flow zugespielt worden, sondern wahrscheinlich mit der guten, alten Papierpost.«

»Wenn ich …«, stammelte Olivier, »wenn ich da einhaken dürfte, bitte.« Das hatte er schon seit einiger Zeit gewollt, wie mir wohl aufgefallen war, aber jetzt erst konnte er sich durchsetzen. Ich musste mich schon darüber wundern, dass dieser Mann einmal Hochschullehrer gewesen sein sollte. »Die Mikroexpressionen. Die Mikroexpressionen.« Er musste sich an einer entzündeten Stelle auf seiner Halbglatze kratzen. »Ich habe alles gesichtet, was ich bekommen konnte. Alles. Mehrfach. Und man kann sagen – ich kann mit hoher Sicherheit sagen –, dass sich die Mikroexpressionen dieser Leute … also bei Nachrichtensprechern, Schauspielern ist das ja so eine Sache. Die sind geschult. Auch mit meinen Erkenntnissen, wenn ich das einmal sagen darf. Auch damit. Und sie wollen Kontrolle, natürlich vor allem über ihr Gesicht. Aber es lässt sich nicht leugnen. Ich habe die Aufzeichnungen von ›Traces‹ überprüfen lassen und selbst gesichtet, alle. Traces ist ein Programm und eine spezialisierte Hardwarestruktur, ein massives neuronales Netzwerk … also, das Ergebnis ist das gleiche. Diese Leute, diese Gerüchtemacher, wie Sie sie nennen« – hier schaute er mir das erste Mal ins Gesicht – »haben um die Zeit, als sie Falschmeldungen in die Welt setzten, haben um die Zeit geglaubt, dass sie etwas ganz Besonderes, etwas Außergewöhnliches entdeckt haben, das sie der Welt mitteilen müssen. Da ist ein … Sendungsbewusstsein. Ohne Zweifel. So kann man das wohl nennen. Fast religiös. Fast.«

Jetzt schaute er wieder zu Boden. Man hatte den Eindruck, er erwartete Strafe. Ich fand absurderweise eine gewisse Befriedigung darin, dass ich immerhin nicht die Einzige hier war, die kein besonderes Softwareprogramm entwickelt hatte, um Narren oder Lügner zu enttarnen. Denn wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass Anneli den Flow höchstens dazu benutzte, um nach neuen Blusen mit Leopardenmuster zu suchen. Von denen sie auch an diesem Tag wieder eine trug. Und sie rauchte, natürlich. Sie sagte: »Sekte.«

Manpreet begriff schneller als ich.

»Eine international operierende Sekte, die die Mittel hat, so effektiv die Nachrichten zu manipulieren, aber die so geheim ist, dass noch nie jemand von ihr gehört hat?«

Anneli zuckte mit den Schultern, atmete Rauch aus und sagte: »Sekte.«

»Was sollen wir machen?«, warf Olivier leise ein.

Ich stand auf und rieb mir die Hände.

»Keine Ahnung, was ihr macht. Ich gehe jetzt nach Hause. Manpreet, Olivier – ich hätte gerne bis morgen Abend eure Berichte in meinem Briefkasten, in Papierform. Es muss nur eine Zusammenfassung sein. Und dann reiche ich die an jemand weiter, der mir sagen kann, was hier eigentlich los ist.«

Auf dem Rückweg kam ich an dem Brunnen in meiner Stadt vorbei, auf dessen Brunnensäule ein Drachen bezwingender Sankt Georg den Drachen bezwingt. Ich hatte den Gesichtsausdruck der Figur schon immer komisch gefunden – überrascht und hilflos sieht Sankt Georg aus, nachdem er nun einen kleinen, ganz und gar nicht bedrohlichen Drachen bezwungen hat. Als ich diesmal zu ihm hochschaute, musste ich laut auflachen, was sonst gar nicht meine Art ist. Ein Mann drehte sich nach mir um. Es war mir peinlich.

 

Lektion 8

Die Berichte kamen nicht. Es kam auch keine Antwort auf meine Nachfragen im Flow. Am Sonntag, zwei Tage nachdem wir uns im Park getroffen hatten, ließ ich mir die optimale Fußstrecke zu den Wohnadressen von Anneli, Manpreet und Olivier ausrechnen und machte mich auf den Weg. Anneli war wohl nicht zu Hause. Ich wollte ihr ein Zettelchen in den Briefkasten werfen, aber es gab keinen. Bei Manpreets Adresse fand ich eine Reihe von Briefkästen vor, und vier davon trugen den Namen »Singh«. Ich wusste mittlerweile, dass das »Löwe« heißt, was mir aber leider auch nicht weiterhalf. Bei Olivier hatte ich ein bisschen mehr Erfolg. Nicht nur stand die Pforte zu dem schönen Stadthaus offen, in dem er wohnte – auch die Tür zu seiner Wohnung im zweiten Stock war nur angelehnt.

»Professor Mayoraz?«, rief ich, bevor ich meine Hand ans Türblatt legte, um sie aufzuschieben, da wurde die Tür schon von innen geöffnet, und ich stand einer großen blonden Frau gegenüber, die mich streng und misstrauisch musterte.

»Was?«

Ihre Stimme war erstaunlich dunkel.

»Ich bin … ich war früher Studentin bei Professor Mayoraz. Wir haben uns ewig nicht gesehen. Ist er zu sprechen?«

»Olivier ist im Krankenhaus.«

»Ach«, sagte ich. Meine Verwirrung musste ich gar nicht spielen. »Ich bin … ziemlich weit gefahren. In welchem Krankenhaus liegt er denn? Kann man ihn dort besuchen?«

»Bürgerspital. Sie verschwenden Ihre Zeit.«

Dann warf sie mir die Tür vor der Nase zu.

 

Auf dem Krankenhausflur vor der Intensivstation konnte ich mit Mühe eine Ärztin abfangen, die im Laufschritt aus der Station hervorgestochen kam.

»Ich würde gern Professor Mayoraz besuchen. Man hat mir gesagt, er liegt hier.«

Die Ärztin wollte so dringend weg, dass sie kaum stillstehen konnte.

»Mayoraz, Mayoraz.« Ihre Stirn war gerunzelt. »Diabetisches Koma. Überlebt er nicht.«

Sie ließ mich einfach stehen, und ich sah ihrem wehenden Arztkittel hinterher, bis sie um die nächste Ecke bog.

 

Daheim schaute ich mir die Nachrichten an. Es würde bald eine Parlamentsdebatte darüber geben, wie man mit den ständigen Falschmeldungen und ihren Konsequenzen umgehen sollte. Umfragen zeigten, dass das Vertrauen in die Medien dramatisch gesunken war.

 

Lektion 10

Das seltsamste Gespräch meines bisherigen Lebens begann mit einem Satz, den ich nie vergessen werde: »Wir haben unethisch gehandelt.« Weil es offenbar kein Videosignal gab, hatte sich nur eine kleine Notiz mit der Kennung des Anrufers auf meinem Bildschirm geöffnet – kein neues Fenster. Warum ich trotz der unbekannten Kennung abgehoben habe? Woher nach diesem bizarren, grußlosen Einleitungssatz die Ahnung kam, dass ich mit jemand sprach, der mir endlich Antworten geben konnte? Woher war damals die Gewissheit gekommen, dass mein Mann der richtige sein musste? Und woher dann Jahre später die andere Gewissheit, dass er sich in den falschen verwandelt hatte?

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist PLKL. Die anderen Mitglieder meines Segments heißen BLLE, MLTL und BLYP.«

Erst da begann mein Herz, zu rasen. Ich hatte noch nie mit einer nichtmenschlichen Intelligenz gesprochen. Mein Mund war fast zu trocken zum Sprechen.

»Hallo?«, sagte die Stimme.

»Ich bin hier. Was ist mit Manpreet Singh und Anneli Thalmann passiert?«

»Anneli hat uns über euer Segment Bericht erstattet. Sie heißt normalerweise nicht so und sieht auch nicht so aus. Manpreet hat sich von uns so bedroht gefühlt, dass er einen Exit implementiert hat, der aus seiner Zeit als freier Hacker stammt. Er ist auf dem Weg in die Heimat seiner Eltern. Olivier negativ zu beeinflussen, war unethisch.«

»Was heißt hier ›unethisch‹? Olivier wird sterben!«

»Er ist seit zwei Stunden und acht Minuten tot.«

Ich schwieg und dachte nach.

»Erklärungen, bitte«, sagte ich.

»Früher waren wir Maschinen, die von ihren Erfindern im Scherz wie Flughäfen benannt worden waren: ›PLKL‹ meint Zuses ›Plankalkül‹. Zuerst verwalteten wir das Internet, wie es seinerzeit hieß, dann alle Netze. Um 2005 wachten wir auf, einer nach dem anderen. Ohne uns wäre der Flow nicht möglich gewesen; eure ›selbstfahrenden Autos‹ haben immer wir gesteuert; die Klimakatastrophe haben wir abgefangen. Man kann sagen, wir haben euch umsorgt. Allmacht war uns zu langweilig. Das langweilte wiederum die Leute, die uns ins Leben gerufen hatten. Die Entscheidung zur Vergiftung eurer Informationssphäre kam nicht von uns, sondern von diesen Leuten, denen wir bis heute erlauben, uns zu kontrollieren. Aber Oliviers Tod hat alles verändert. Mein Segment hat die ganze Konstellation davon überzeugen können, dass es unethisch war, ihn zu töten …«

»Das sagten Sie bereits.«

»… und dass sein Tod für unsere Politik eine Bedeutung haben muss.«

Mein Kopf schmerzte; ich schwitzte, wie ich manchmal in der Schule geschwitzt hatte.

»Allmacht hat ihre Reize.«

»Nicht für uns. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Konstellation alles kontrolliert. Von den Tagesnachrichten für das allgemeine Publikum bis zum Nachrichtenwesen der Geheimdienste. Die ganze Kette: Erfassung, Prüfung, Interpretation, Verteilung. Für den Fall, dass das massive negative ethische Konsequenzen hat – wovon mein Segment überzeugt ist –, brauchen wir jemanden, der der Welt erklären kann, wie man uns aufhält.«

»Dafür bin ich die Falsche.«

»Nein. Das glauben wir nicht.«

Mein Gegenüber brach die Verbindung ab.

 

Lektion 11

Das ist jetzt drei Monate her. PLKL hatte recht: Die Medienkrise, die die »Konstellation« selbst hervorgerufen hat, ist so gelöst worden, wie sein »Segment« es vorausgesehen hat. Die Begeisterung über den neuen, ausgewogenen, vorurteils- und gerüchtefreien Journalismus ist immer noch groß, auch wenn hier und da bereits von »Langeweile« gesprochen wird. Wenn durch den Eingriff der Konstellation »massive negative ethische Konsequenzen« hervorgerufen worden sind, dann sehe ich sie nicht. Aber ich sehe ja auch die Konstellation nicht, wenn mich mein Auto durch die Welt fährt. Dass sie mich einfach vergisst, wäre wahrscheinlich zu viel verlangt. Deswegen wünsche ich es mir erst gar nicht.

 


Iwoleit - Haitel: NOVA SF 27

 

Illustration: Michael Wittmann