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Thomas Hanstein

Von Hirten und Schafen

Thomas Hanstein

Von Hirten und Schafen

Missbrauch in der katholischen Kirche – Ein Seelsorger sagt Stopp

Tectum Verlag

Thomas Hanstein

Von Hirten und Schafen

Missbrauch in der katholischen Kirche – Ein Seelsorger sagt Stopp

 

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

 

 

E-Pub 978-3-8288-7262-2

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4320-2 im Tectum Verlag erschienen.)

 

 

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes
#1227079750 von Alexxndr, www.shutterstock.com, und einer Fotografie von Michel Oeler, www.unsplash.com

 

Abbildungen im Innenteil: Sylvia M. Ebner, M.A.

Autorenportrait: Angie Ehinger, Master in Photography

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:
www.tectum-verlag.de

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

allen betroffenen von sexueller gewalt,

religiösem missbrauch und jeder

form von übergriffigkeit in der

katholischen kirche

gewidmet

Inhalt

Grußwort – Einer für viele

Persönliches Vorwort

„Wahrlich, ich sage euch, insofern ihr es getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, habt ihr es mir getan!“ (Matthäusevangelium 25,40)

Einleitung – Im zehnten Jahr „danach“

„Die Lüge ist wie ein Schneeball. Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“ (Martin Luther)

Missbrauchtes Vertrauen

Hausgemachte Aufklärung

Angeordnete Veränderungsprozesse

Persönliche Sünde oder systemische Schuld?

Arbeitsthesen zum Missbrauch

Kirche als System

„Jesus hat das Reich Gottes verkündet, gekommen ist die Kirche.“ (Alfred Loisy)

System und Systemgrenzen

Kirche und Macht(erhaltung)

Absolutismus – ein geschichtliches Phänomen?

Das katholische Menschenbild

Zwischenertrag

Amt und Macht

„Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ (Lord Acton)

Sakramentales Amtsverständnis

Berufung und Sukzession

Kleriker und Klerikalismus

Blutsbrüder – dicker als Wasser

Demut als Kadavergehorsam

Ein Nährboden der Eitelkeiten

Zwischenertrag

Milieu-Sprache

„Relevanz erzeugt man nicht mit Banalität.“ (Erik Flügge)

Spezielle Sprache eines speziellen Milieus

Liturgiezauber und pastorale Begriffswolken

Zuckerbrot und Peitsche

Zwischenertrag

Moral und Sittenlehre

„Wer jemandem die Liebe verbieten kann, hat ihn vollkommen in seiner Hand.“ (Eugen Drewermann)

Moral und Doppelmoral

Sexualität und Enthaltsamkeit

Kirche als Erzieherin

Aufbauen oder klein halten

Von Tätern und Opfern

Zwischenertrag

Lehramt und Kirchenrecht

„Ich habe durch das Studium der Theologie hinter die Kulissen, ich habe der Kirche und dem Dogma in die Karten geschaut.“ (Friedrich Theodor von Vischer)

Lehramt statt Theologie

Von Hirten und Schafen

Kirchenrecht und Tradition

Kirchenrecht – paralleles Recht?

Konziliarer Aufbruch – aktuelle Restauration

Zwischenertrag

Fazit: Ein Seelsorger sagt Stopp

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Matthäusevangelium 7,16)

Persönliches Schlusswort

„Wenn das System die Menschen von Gott wegbringt, muss man die Menschen vor dem System schützen.“ (Thomas Hanstein)

Schlagwortverzeichnis

Anmerkungen und Literaturhinweise

Grußwort

Einer für viele

Noch ein Buch über die ‚verirrten Hirten‘. Die ehemalige rechte Hand eines Bischofs, von 2010 bis 2013 dessen persönlicher Referent, erzählt uns, was sich hinter den dicken Kirchenmauern alles abspielt.

Es ist aber nicht irgendein Buch wie die vielen anderen der vergangenen zehn Jahre, seitdem die Medien sich mit dem Missbrauchssumpf der katholischen Kirche beschäftigen. Es ist eine sachliche und strukturierte Zusammenfassung verschwiegener Kirchenstrukturen. Thomas Hanstein analysiert die Mentalität von „Hirten und Schafen“, wie er sie in seiner Zeit im Kirchendienst und als systemischer Coach erlebt hat.

Nicht nur durch die vielen tausend leidvollen Geschichten, von denen ich in meiner Amtszeit als Vorsitzender von netzwerkB Kenntnis erhielt, kann ich Hansteins Schilderungen bestätigen. Es ist auch meine persönliche Geschichte, die dies zulässt, meine Geschichte als Opfer von sexualisierter Gewalt durch einen Priester. Mit 25.000 Euro versuchte mich der Bischof von Magdeburg wieder zum Schweigen zu bringen.

Nein, der zehntausendfache Missbrauch in der katholischen Kirche lässt sich nicht monokausal erklären. Und in diese Falle tappt unser Autor auch nicht. Hierzu habe ich mich bereits im Jahr 2010 in der ARD-Sendung „‚hart aber fair‘ – Der Priester und der Sex“ ausgesprochen. Würden alle Priester so im Zölibat leben, wie Mahatma Gandhi es in seiner Biographie beschrieben hat, wäre es möglich, dem ‚Gott der Wahrheit‘, so wie Gandhi ihn verstanden hat, näherzukommen. Die dicken, gewaltvollen Mauern des Vatikans verhindern das jedoch. Dank Hanstein bekommen diese Mauern nun Risse!

Er schildert in seinem Buch sachlich und nachweislich die Hintergründe, die zu dem Versagen der katholischen Kirche geführt haben, die Verbrechen der sexualisierten Gewalt und deren Verschweigen aufzuarbeiten. Dabei hinterlässt er nicht den Eindruck, der katholischen Kirche Schaden zufügen zu wollen. Aber was die Großen der Kirche bis heute nicht leisten, tut ein „kleiner“ Diakon: Hanstein stellt sich konsequent auf die Seite der Missbrauchsopfer. Ihnen hat er sein neues Buch gewidmet.

Nicht nur die unterlassene Hilfeleistung gegenüber den Opfern und das Fehlen einer angemessenen Schadensersatzleistung werden auf den folgenden Seiten angesprochen, vielmehr werden auch die Hintergründe deutlich gemacht, warum die Kirche hier systematisch versagt hat. Auch für Menschen, die nicht unmittelbar mit der Kirche vertraut sind, ist dieses Buch eine wertvolle Hilfe, um die Zusammenhänge von Politik und Kirche in Deutschland besser verstehen zu können.

Norbert Denef,

erstes von der katholischen Kirche
Deutschlands anerkanntes Missbrauchsopfer

Persönliches Vorwort

„Wahrlich, ich sage euch, insofern ihr es getan habt einem
dieser meiner geringsten Brüder, habt ihr es mir getan!“

Matthäusevangelium 25,40

Man schrieb das Jahr 2010. Konturen und Umrisse wurden sichtbar. Aus dem farbenfrohen Spiel der kirchlichen Arbeit traten plötzlich ganz andere Schattierungen hervor. Bald schon zeichnete sich ab, dass in der Kirche nichts mehr so sein sollte wie zuvor. Denn in diesem Jahr bestimmte nur ein großes Thema die Kirche: die ersten Missbrauchsfälle, die nach und nach ans Licht kamen. Damit steht die katholische Kirche1 mittlerweile im zehnten Jahr der „Aufarbeitung“ dessen, was sich tausendfach – und, wie sich herausgestellt hat, mit Wissen vieler Kirchenoberen – an sexueller Übergriffigkeit aus und in den Reihen der Kirche ereignet hat.

Auch meine „Kirchenkarriere“ sollte in diesem Jahr beginnen, unter diesen speziellen Vorzeichen. Ich hatte mich in den zurückliegenden drei Jahren zum Seelsorger ausbilden lassen, um – neben meinem Hauptberuf – im Auftrag der Kirche tätig werden zu können. Es war die Einzelbegleitung, die sich wie ein roter Faden durch meine letzten Berufsjahre zog. Ausgerechnet in der Kirche meinte ich den Ort finden zu können, an dem dies gelingen sollte. Dabei waren die letzten Monate bis zur Ordination zum Diakon im Frühjahr 2010 von gemischten Gefühlen geprägt. Die Ausbildung war beendet, die Einladungskarten geschrieben2 – und mehr und mehr Freunde sagten ihre Teilnahme an der Feier ab. Sie konnten nicht verstehen, „wie sich so ein kritischer Geist an eine solche Kirche binden kann“, so die Formulierung eines Kollegen im Hauptberuf. Ich schwankte zwar, hielt den Einwänden und Zweifeln aber stand. Schließlich hatte es bereits in der Ausbildungszeit viele Rückmeldungen gegeben, die mich als „geborenen Seelsorger“ sahen. Bei meiner Amtseinsetzung zum Diakon „im Zivilberuf“ wünschte ich mir das Lied: „Ich träume eine Kirche, in der kein Mensch mehr lügt“3. Denn ich war aufgewühlt von dem, was die Medien da ans Licht gebracht hatten. War das noch „meine“ Kirche, in der so Unfassbares geschehen sein sollte?

Ein halbes Jahr nur in der Seelsorge verging, und ich wurde in die Bistumsleitung berufen, ja befördert. Ich ließ mich – biblisch verstanden und aus dem frischen Selbstverständnis eines Diakons heraus – rufen und sollte im „Auge des Orkans“ viel Ungeahntes zu Gesicht bekommen. Als ich meine inneren Kämpfe als Seelsorger einmal einem hohen geistlichen Würdenträger anvertraute, schaute er mich nur scharf an, bevor er fragte, ob ich nicht Familienvater sei. Ich bejahte, meinte, dass mich das Thema Missbrauch gerade deshalb so sehr erschrecke. Worauf er, in aller Kühle und mit einem zynischen Lächeln, nach der Zahl meiner Kinder fragte und dann erwiderte: Dann wisse ich doch sicher auch, dass „die Zahlen bei euch Vätern“ viel höher lägen. Auch wenn die Missbrauchszahlen in Familien tatsächlich alarmierend sind, war dies hier doch nur eines: Ablenkung.4 Ethisch lässt sich eine solche „Argumentation“ nur unter „ferner liefen“ einordnen. Denn das Argument, „die anderen tun es doch auch“, taugt moralisch nichts. Es würde jede andere Straftat ebenso rechtfertigen oder zumindest relativieren. Was die moralische Entwicklung des Menschen5 betrifft, so ist diese „Logik“ auf der Ebene eines Kleinkindes anzusiedeln. Andere Begebenheiten lassen sich beliebig ergänzen. Als ich beispielsweise einem Geistlichen von einem Gespräch mit einem missbrauchten Mann und – anonym – von dessen Psychosen erzählte, meinte der Priester, dieser Zustand sei zwar bedauerlich, aber er sehe keinen Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung und dem körperlichen Missbrauch – der „im Übrigen auch nicht bewiesen und sicher auch schön längst verheilt“ sei. Schließlich habe „jeder sein Kreuz zu tragen“, und oft würden „Dinge im Rückblick auch übertrieben dargestellt“.

Viele solcher Erfahrungen, hier beispielhaft im O-Ton wiedergegeben, zeigten mir, dass es neben vielen guten Seelsorgern auch etliche Funktionäre und Amtsbürokraten in der Kirche gibt, die unfähig sind zu einem Perspektivwechsel, zum Denken und Fühlen von den Betroffenen her. Immer wieder musste ich dies in der seelsorglichen Begleitung und im Coaching feststellen. Diese Haltung war einer der großen Kritikpunkte in allen Gesprächen mit den missbrauchten Menschen. Die fehlende – echte – Empathie erklärte ich mir anfangs noch als persönliches Defizit, bis ich erkannte, dass es systemisch vor allem um eines ging: die Organisation zu schützen. Noch vor der vereinbarten Zeit kündigte ich meine kirchliche Anstellung. Es waren genau jene Jahre, in denen die Mehrzahl aller Missbrauchsmeldungen in der Kirchenleitung einging und in denen Strukturen zur Behandlung dieses Themas noch im Aufbau waren. Einige Zeit darauf ließ ich mich auch von meinem nebenberuflichen Seelsorgeauftrag freistellen. Ich war im achten Jahr nach dem Aufkommen dieses Themas und hatte vieles – nicht nur das Thema Missbrauch – zu verarbeiten. Aus einem tiefen inneren Bedürfnis heraus musste ich mir einen Stopp verordnen, galt es doch, meine Identifikation mit dieser Kirche neu zu klären. Jetzt, im zweiten Jahr meiner Auszeit als Seelsorger, erscheint dieses Buch.

Über mehrere Jahre war ich mit leitenden kirchlichen Aufgaben betraut. Ich schreibe hier aber nicht aus dem heraus, was ich dabei alles erfahren und erlebt habe. Diese Zeit liegt hinter mir. Das, was ich in dieser Zeit systemisch von der Spezialität katholische Kirche gelernt habe, verstehe ich im Rückblick als gute Fortbildung für die systemische Begleitung von Menschen nicht nur aus dem katholischen Milieu, sondern auch aus anderen hierarchisch aufgebauten Organisationen und für die Frage des Umgangs mit Machtstrukturen. Vielmehr werfe ich hier als Seelsorger, Coach und Theologe einen analytisch-systemischen Blick auf grundlegende Problemfelder in der katholischen Kirche, um die sich das Thema Missbrauch rankt.

Aufgrund meiner kirchlichen Milieu-Erfahrungen sehe ich im Missbrauch das Symptom einer speziellen Übergriffigkeit, die systemisch, amtstheologisch und kirchenrechtlich untermauert wird. Persönlich habe ich – auch trotz bedenklicher Erfahrungen in kirchlichen Kreisen – einige Jahre daran geglaubt, dass sich auch in der katholischen Kirche Grundlegendes ändern könne. Die Mehrzahl aller pastoralen Mitarbeiter leidet unter der Situation der Kirche. Und wenn – biblisch gesprochen – „ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“6. Ich habe es mir eine Weile lang angetan, dann aber entschieden, dass ich – bei allem theologischen Idealismus – nicht zum Leiden angetreten bin, sondern um Menschen in wichtigen und schwierigen Situationen ihres Lebens zu unterstützen. Denn es zeugt nicht gerade von Gesundheit, sich für ein krankes System aufzuopfern. Meiner seelsorglichen Leidenschaft – der Begleitung von Einzelpersonen und Teams – gehe ich nach wie vor nach, nun aber in einer neuen Rolle. Anfangs habe ich mich darum bemüht, ein anderes – humanistisches – Menschenbild in die Seelsorge zu übernehmen.7 Später habe ich mich, mit zunehmender innerer Distanzierung von der Amtskirche, auch aus der Seelsorge zurückgezogen und mich, nach einem berufsbegleitenden Kontaktstudium, auf das Feld Coaching und Beratung8 konzentriert. Ich bin inhaltlich nun ähnlich unterwegs, aber innerlich freier, weil es ganz um die Menschen geht, nicht um einen Apparat und seine System- und Machterhaltung.

Was ich in dieser Zeit meiner Distanz von der Kirche immer wieder gehört habe, hat mich nachdenklich gemacht: ob mir „denn nichts fehle“. Und jedes Mal konnte ich – ehrlich und authentisch – antworten, dass dies nicht der Fall sei. Pastorale Berufschristen irritiert dies noch immer. Doch mir hat es gezeigt, dass ich die Kirche nicht „gebraucht“ habe. „Gebraucht“ haben mich einzelne Menschen, und das war gut und schön. Vielmehr hat der Abstand von der Kirche ein anderes Phänomen mit sich gebracht: Je mehr ich mich innerlich entfernt habe, umso stärker habe ich das wiederentdeckt, was mich in den Kirchendienst geführt hatte: Spiritualität. Und das ist bezeichnenderweise genau jene Ebene, die vielen kirchlichen Mitarbeitern – gerade in geistlichen Leitungspositionen, aber auch der katholischen Kirche selbst in aller Funktionalität und systemischen Nabelschau – mehr und mehr abhandengekommen ist. Auf dieser Basis aber lässt sich erst christliche Empathie für Menschen entwickeln. Von dieser inneren Quelle her erst sind kirchliche Mitarbeiter – und ist die Kirche selbst – nicht nur ansprechend, sondern zugleich weniger anfällig für Tendenzen der Überheblichkeit und Übergriffigkeit. Mit ein wenig Entfernung sehe ich nun so manche Merkwürdigkeit noch etwas klarer.

Von meinen mittlerweile fast 25 Berufsjahren in ganz verschiedenen Bereichen – der freien Wirtschaft, dem Schul- und Hochschulwesen und eben auch der Kirche – waren die relativ wenigen Jahre im Kirchendienst für mich die anstrengendsten. Und dies weiß Gott nicht wegen der Schwere der Arbeit – seelsorgliche Gespräche, Begleitungen und auch Gottesdienste gingen mir ganz frei und locker von der Hand. Nein, mühselig war es, weil dieses Milieu ganz eigene Spielregeln und eine sehr spezielle Organisationskultur mitsamt einer sehr spezifischen Sprache hat. So musste ich, obwohl die basiskirchliche Arbeit in meiner Kindheit und auch noch frühen Jugend ein wichtiger Bereich war, nach wenigen Jahren im Kirchendienst erkennen, dass diese Kirche so, wie sie sich mit dem Skandalon (griech.: „etwas zutiefst Anstößiges“) des Missbrauchsskandals gezeigt hatte, nicht mehr „mein“ Milieu war. Christliche Haltung und christliches Leben hatte ich biographisch anders erlebt – und erlernt. Auch als Seelsorger habe ich etliche gute Geistliche und einige lebendige Gemeinden erlebt. Deshalb will dieses Buch auch nicht als Schwarzmalerei verstanden werden. Nur bringt Schönfärberei welcher Art auch immer die Kirche in ihrer aktuellen Lage nicht weiter. Sie versteht sich als Familie. Wer aufmuckt, gilt als Nestbeschmutzer, weil es das „heimelige“ Gefühl verletzen könnte. Hier findet sich ein jahrhundertealtes Muster, das sich nur punktuell zu lockern scheint. Dabei weiß jeder Personalberater, dass es gerade die Querdenker sind, die in Zeiten der Veränderung neue Impulse zu setzen vermögen. Stattdessen werden sie isoliert, verlacht oder angegriffen. Prominente Beispiele dafür gibt es viele. Dieser Gefahr stellt sich dieses Buch jedoch gern.

Und wie ging es mit dem „Thema Missbrauch“ in den letzten zehn Jahren in der katholischen Kirche weiter? Freilich, man musste sich kümmern, nachdem die Medien sich daran so festgekrallt hatten. Und man kümmerte sich: Betroffenheitserklärungen wurden verlesen, Schutz- und Präventionsprogramme aufgelegt, erweiterte polizeiliche Führungszeugnisse für pastorale Mitarbeiter eingeführt, Studien in Auftrag gegeben – und auch wieder zurückgezogen. Doch ein ganzes Jahrzehnt, Tausende missbrauchte und weit mehr ausgetretene Menschen haben offensichtlich nicht ausgereicht, dass der kulturell-genetische Code dieser Kirche auf Mark und Bein geprüft worden wäre. So sehr der Maßnahmenkatalog auf der sogenannten „Antimissbrauchskonferenz“ in diesem Februar9 – wie das starke Engagement des aktuellen Papstes in diesem Thema – zu begrüßen ist, so wenig geht er nach innen, berührt er den „Zwiebelkern“10 des katholischen Mindsets. Althergebrachte Redewendungen wie „Der Teufel sitzt im Chorgestühl“ oder die mir anvertraute Lebensweisheit eines alten Paters – „Der Weg zur Hölle ist mit Priesterköpfen gepflastert“ – zeugen von dem tiefen kollektiven Wissen um die Anfälligkeit der Kirche für das Böse. Selbst die Bibel warnt mit zum Teil drastischen Worten und Bildern vor dieser Haltung. Nur einzelne Bischöfe trauten sich in den letzten Jahren gelegentlich auch deutlichere Worte. Sie wurden dafür von anderen „Mitbrüdern“ zum Teil scharf angegriffen. Die Mehrzahl aber schwieg, versteckte sich hinter der Bischofskonferenz, machte „Dienst nach Vorschrift“ – auf Kosten des deutschen Steuerzahlers, mit einer B-Dotierung. Der Leser mag selbst prüfen, was dies in Zahlen bedeutet. Und auf Kosten aller, die an der Basis – in den Gemeinden und als Religionslehrer – buchstäblich ihren Kopf hinhalten.

Meine beiden theologischen Studienschwerpunkte waren Kirchengeschichte und Religionspädagogik. Als Kirchengeschichtler weiß ich natürlich um die „Wirrungen und Irrungen“ der katholischen Kirche im Laufe der Zeit. Jedoch rechtfertigt keine einzelne davon diesen neuen historischen Skandal, der in der systemischen Vertuschung von moralisch höchst verwerflichen Handlungen und rechtlich gesehen von Straftaten besteht. Auch als Religionspädagoge kam ich mit meinen Erklärungen an Grenzen, ebenso mit meiner Identifikation mit einer Kirche, die zu solchen Ungeheuerlichkeiten fähig ist.11 Die Arbeit an der Basis – am meisten außerhalb des geschlossenen Systems Kirche – hat nicht nur das Thema, sondern vor allem das jahrelange Lavieren auf höchster Ebene erheblich erschwert. Gleichzeitig ist das, was die „Hirten“ der Kirche tun, nur ihre Aufgabe: Schaden von der Kirche abzuwenden, so wie sie es bei ihrer Amtseinsetzung versprochen haben. Viele verstehen bis heute – systemisch durchaus nachvollziehbar – den Schutz in der Verteidigung. Die abwehrende Hand auf dem Cover dieses Buches – eine Haltung, die zu verinnerlichen in der kirchlichen Jugendarbeit das Gebot der Stunde ist – ist damit ein doppeldeutiges Symbol, spiegelt es doch auch das Verhalten vieler Verantwortlicher bei diesem Thema. Wir haben es hier mit einem sehr alten und doch immer noch wirksamen Muster dieser Kirche zu tun.Kirchengeschichtlich lässt sich nachweisen, dass in Krisenzeiten – zum Beispiel zur Zeit des Nationalsozialismus – die Deutsche Bischofskonferenz in unterschiedliche Lager gespalten war. Damit waren wichtige Beschlüsse nicht möglich, und die Kirche hat sich so immer wieder selbst die Möglichkeit genommen, an wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen konstruktiv mitzuwirken. Dieses Struktur- und Milieuproblem setzt sich seit einem Jahrzehnt in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Missbrauch fort. Die katholische Kirche steht an einem historischen Wendepunkt, den der Missbrauchsskandal nur ausgelöst hat. Sie befindet sich in einer epochalen Identitätskrise. Nicht nur die Bedingungsfaktoren kirchlichen Missbrauchs wären daher zu untersuchen, sondern all jene Größen, die der Kirche und ihren Vertretern eine zu große Macht einräumen – während die Gesellschaft pluraler und interkultureller wird. Doch obwohl sich hier und da eine Ahnung von dieser bevorstehenden Wendezeit zu zeigen scheint, bäumen sich Kräfte gegen die schmerzliche Wahrheit auf. Und sie beschönigen, vertrösten, tappen in die Rechtfertigungsfalle. All diese Tendenzen sind Ausdruck von Angst. Von einer Angst, die wiederum die Veränderungsbereitschaft, so sie besteht, lähmt.

Da ich meine publizistische Arbeit mittlerweile auf Fachbücher und Ratgeber im Bereich Coaching und Beratung verlagert habe, hätte es eigentlich kein weiteres Buch im Kontext Kirche „gebraucht“. Doch das Thema kam in Gesprächen mit Klienten immer wieder auf. Neben Angeboten für Unternehmen und Privatpersonen coache ich unter anderem auch kirchliche Mitarbeiter12 und Führungskräfte, und nicht zuletzt Gespräche mit „Missbrauchsopfern“13 waren eine starke Motivation für diese Publikation. Wo Fallbeispiele aus Gesprächen in dieses Buch eingeflossen sind, war es immer auf ausdrücklichen Wunsch der jeweiligen Gesprächspartner. Derartige Zitate – als „O-Töne“ kenntlich gemacht – werden immer dann eingebaut, wo das erkennbare Muster keinen Einzelfall darstellt, sondern von ähnlichen Beispielen mehrfach bestätigt wird. Trotzdem erhebt die Nennung von realen Fallbeispielen keinen Anspruch auf Repräsentativität. Dieses Buch ist keine Studie, sondern ein persönlicher Beitrag. Die entsprechenden Zitate sind anonymisiert, womit kein Rückschluss auf den jeweiligen Kontext möglich ist.

Für diese Gesprächspartner – und auch die (mir) bislang nicht Bekannten – habe ich dieses Buch geschrieben. Damit schließt sich der Kreis zu meiner Motivation vor über zehn Jahren, als ich mich für eine weitere, eine seelsorgliche Ausbildung entschieden hatte: Menschen in wichtigen Fragestellungen ihres Lebens zu begleiten. Im Auftrag der katholischen Kirche zu arbeiten, ist mir aus Glaubens- und Gewissensgründen derzeit nicht möglich. Ich befinde mich spirituell in einer Klärungsphase – mit offenem Ergebnis. Auch dieses Buch hat Energie erfordert. Es will milieuspezifische Hintergründe von Missbrauch und Übergriffigkeit in der katholischen Kirche deutlich machen und zur Systemanalyse und Systemkorrektur der Amtskirche anregen. Denn was in den letzten zehn Jahren seitens der Kirche unternommen wurde, war vor allem Reaktion, Symptomarbeit und Systemschutz. Erst, wenn die Kirche von der Reaktion nach außen zur Aktion nach innen kommt, hat sie eine Chance auf Veränderung – so „Mann“ sie in der kirchlichen Obrigkeit überhaupt will. Dass dieses Buch von vielen innerkirchlichen Stimmen als konstruktiver Beitrag verstanden wird, steht nicht zu befürchten. Doch davon lasse ich mich nicht leiten. Denn auch Jesus hätte sich hier zu Wort gemeldet – oder dieser Kirche schon längst den Rücken gekehrt.

Ich danke allen Gesprächspartnern auf dem Weg zu dieser Publikation, besonders meinen Klienten und den Betroffenen des Systems – aufgrund des vertraulichen Charakters ohne Namensnennung, aber nicht weniger – herzlich. Ebenso Sylvia Ebner für die gelungenen Illustrationen zu diesem Buch, Angelika Zink für ihr interessiertes und gründliches Korrekturlesen und Dr. Volker Manz für das zuverlässige Lektorat. Last not least danke ich Eleonore Asmuth, Karin Bawidamann, Sarah Bellersheim und Tamara Kuhn für die umsichtige Begleitung des Buches auf dem Weg in den Druck.

Thomas Hanstein, Pfingsten 2019

Einleitung

Im zehnten Jahr „danach“

„Die Lüge ist wie ein Schneeball.
Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.“

Martin Luther

Missbrauchtes Vertrauen

Sexueller Missbrauch war in jedem Einzelfall nur möglich, weil auf der sozialen Ebene zuvor Vertrauen missbraucht wurde. Unter jedem einzelnen konkreten Missbrauch liegt deshalb der Missbrauch eines Vertrauensverhältnisses. Dies ist verachtenswert, gänzlich unabhängig von der Funktion des Täters. Zusätzlich problematisch ist es, weil kirchliche Sprache und Verkündigung nicht ohne den Begriff des Vertrauens auskommen. Glaube und Vertrauen sind in der Bibel ein und dasselbe. Viele Bibelstellen sprechen von Vertrauen, vor allem auch, wenn es um Jesus und seine Jünger geht. So gesehen wurde durch den vielfachen Missbrauch und den darunterliegenden Vertrauensmissbrauch einer der basalen Pfeiler der Kirche zerstört – und damit nachhaltig ihre Glaubwürdigkeit. Die katholische Kirche ist zu einer sozialen Institution neben vielen anderen geworden. Sie mag nach wie vor mit einer deutlich höheren gesellschaftlichen Macht ausgestattet sein, ein besonderes Ethos und eine besondere Verpflichtung zu biblischem Handeln erwarten viele von ihr nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Die letzten Jahre haben gezeigt, dass man gegenüber der Kirche und ihren Vertretern einen gesunden Skeptizismus an den Tag legen sollte. So wie der Volksmund weiß: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“

Mit dem Hinweis, jemandem etwas anvertrauen zu können, verändert sich Beziehung. Der, der etwas erzählt, liefert sich aus, verlässt sich auf die Loyalität des Gegenübers. Berufe, in denen man viel von Menschen erfährt, benötigen daher Persönlichkeiten, die diese Qualität und ihre speziellen Anforderungen auch leisten können. Nicht jeder, der heutzutage zum Priester ordiniert wird, ist menschlich dazu in der Lage. Fraglich ist manches Mal, ob er in ähnlichen Berufen überhaupt eine Anstellung gefunden hätte. Kirchliche Arbeit an der Basis, also in Gemeinden und auch im Religionsunterricht des Elementarbereichs und der Sekundarstufe 1, nutzt Bibelgeschichten. Diese legitimieren Berührungen. Sie sind ein Zeichen für die Nähe Jesu zu den Menschen. Insofern ist das Verhältnis von Nähe und Distanz im System Kirche ein eigenes. Hier – als Kind und Jugendlicher – zu spüren, was angenehm ist und was sich unangenehm anfühlt, ist eine wichtige soziale Kompetenz, deren Relevanz durch den Missbrauchsskandal noch deutlicher geworden ist.

Hausgemachte Aufklärung

Man stelle sich folgenden Fall vor: Jemand wird angezeigt, in seinem Keller eine Leiche versteckt zu haben. Es bleibt nicht bei der Anzeige, die Polizei steht mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür. Der Mann öffnet. Die Polizei erklärt geduldig den Vorfall. Der Beschuldigte verspricht, seinen Keller nach einer Leiche zu durchsuchen und sich bei nächster Gelegenheit wieder bei der Polizei zu melden, und verabschiedet die Polizisten mit einem freundlichen Grinsen. Als die Deutsche Bischofskonferenz den Kriminologen Christian Pfeiffer mit der Aufarbeitung der ersten aufgekommenen Missbrauchsfälle beauftragte, war sie einen guten ersten Schritt gegangen. Man bekam das Gefühl, dass den Bischöfen ernsthaft an einer Aufklärung gelegen sei. Es dauerte nicht lange, und man verzichtete auf den externen Fachmann. Warum? Aus purer Angst, dass er zu viel ans Licht gebracht hätte? Im letzten Herbst erschien dann eine neue Untersuchung über den Missbrauch, die sogenannte MHG-Studie.14 Mit erschreckenden Zahlen. Wobei für kirchliche Insider das Wenigste davon neu gewesen sein dürfte. Das Erschreckendste daran war, dass die Dunkelziffer um ein beachtliches Maß höher eingeschätzt werden muss. Die Kirche hat einmal mehr von ihrer Autonomie Gebrauch gemacht und nur die Fakten geliefert, die sie liefern wollte. Damit hat sie gezeigt, dass sie sich als Kirche nicht in die Karten schauen lassen muss – von wem auch immer, komme was wolle. Die Forscher hatten weder Originalakten in den Händen noch Zugang zu den Archiven der Kirche. In einer Vielzahl der Fälle liegen gar keine Angaben vor. Daher beziehen sich alle Befunde „ausnahmslos auf das Hellfeld des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen der katholischen Kirche. Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt. Damit unterschätzen alle Häufigkeitsangaben die tatsächlichen Verhältnisse.“15

Kritiker sehen in der MHG-Untersuchung aus diesem Grund ein Gefälligkeitsgutachten, im besten Fall eine gut vorsortierte Auftragsarbeit. An dieser Stelle soll sich aber weder der Kritik an der Studie angeschlossen werden, noch können ihre Zahlen als repräsentativ und innovativ herausgestellt werden. Wichtig ist, dass es sich aktuell um die einzige auch von der Kirche anerkannte Untersuchung handelt, die erste Daten und diverse Hinweise liefert. In diesem Sinne ist sie heranzuziehen, wobei das (Nicht-)Wissen über das Dunkelfeld immer mitzudenken ist. Denn ihr Makel bleibt, ist aber nicht der Forschungsgruppe, sondern der Kirche zuzuschreiben – neben dem Makel, sich an Kindern und Jugendlichen vergangen und viele Fälle einfach unter den Teppich gekehrt zu haben. So muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, die Chance für den Beginn einer Aufarbeitung von Anfang an so beeinflusst zu haben, dass am Ende nur das herauskam, was man schlichtweg nicht mehr leugnen konnte. Und so hält die MHG-Studie selbst fest, „dass für die Untersuchungen relevante Personalakten oder andere Dokumente zu früheren Zeiten vernichtet oder manipuliert worden waren. Die exakte Zahl vernichteter oder veränderter Akten konnte nicht ermittelt werden.“16 Was bereits beim Dieselskandal vonseiten der Industrie – mehr oder weniger – funktioniert hatte, probierte die katholische Kirche bei einem viel brisanteren Thema ebenfalls aus. Die Botschaft lautet: Wer Deutungshoheit hat, dem ist nur schwer beizukommen. Nicht die Wahrheit und die Fakten sind entscheidend, sondern die Wirklichkeit, die jeweils konstruiert wird. Frage am Rande: Wie weit ist da der Schritt zu Donald Trumps alternativen Fakten?

Aus dem Krisenmanagement ist bekannt, dass in einer ernsten Krisenlage eine transparente Kommunikation die einzig zielführende Option ist. Wer intransparent berichtet, öffnet nicht nur Fantasien und Verdächtigungen Tor und Tür, sondern hinterlässt den Eindruck, dass es noch viel schlimmer sein muss. In einem Flugzeug, in dem ein Brand bemerkt wird, dürfte der Hinweis, es gebe gerade „kleine technische Störungen“, nur zu Panik führen – davon abgesehen, dass er die Passagiere zu Unmündigen degradieren würde. Auf der Ebene des Menschenbildes würde dies eine notwendige ethische Diskussion in Gang setzen, auf der rechtlichen Ebene den Bruch des – aus dem Grundgesetz abgeleiteten – Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Und so stellen sich, im Blick auf die katholische Kirche, hier zwei Fragen: Wie viel gab es eigentlich noch zu vertuschen? Sind die realen Zahlen drei Mal oder dreißig Mal so hoch? Und: Ist die – mittlerweile inflationär wirkende – Beteuerung, man nehme das „Thema wirklich ernst“, unter diesen Umständen überhaupt noch glaubwürdig? Denn ernst genommen wurde vor allem eines: die Wahrung des eigenen Rufs (so gut das noch möglich ist). Die meiste Arbeit – auch im Kontext der Prävention, so wichtig diese doch ist – war bisher Reaktion, Symptomarbeit. Glaubwürdig nachhaltig kann das Thema Missbrauch, das kein zurückliegendes, „kein abgeschlossenes Phänomen“ ist, aber erst sein und werden, wenn es zugelassen wird, „das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten“17.

Angeordnete Veränderungsprozesse

Nicht zufällig dieselbe Zeitspanne, seit fast einem Jahrzehnt, werden in den Bistümern Deutschlands – wenn auch durchaus auf unterschiedliche Weise – die Kirchengemeinden mit geistlichen, strukturellen und organisatorischen Erneuerungs- bzw. Wandlungsprozessen auf Trapp gehalten. Die Maßnahmen binden viel Energie und sind – was von den Bischöfen so auch gesagt wird und nicht selten zu Frustration führt – ohne klare Ziele. Wenn man sich alle diese Prozesse, die seitdem „durchs Dorf getrieben“ worden sind, auf einer Deutschlandkarte anschauen würde, wäre von Struktur und identifizierbaren Themen nicht mehr viel zu sehen. Doch nicht das ist das Problematischste daran, sondern die Tatsache, dass die seit dem Jahr 2010 ausgerufenen Programme als reaktive Maßnahmen auf die Kirchenkrise und als Öffentlichkeitsmaßnahmen angelegt waren. Anstatt die Themen zu priorisieren, sich unter allen Bischöfen auf die wichtigsten zu einigen und diese dann wirklich mit Tat und Herz anzugehen, hat man auf die Autonomie der einzelnen Ortskirchen – und ihrer Ortsbischöfe – verwiesen und ein bald schon inhaltlich unübersichtliches Potpourri geschaffen. Gläubige und pastorale Mitarbeiter wurden mit abendfüllenden Gemeindeveranstaltungen beschäftigt, das System und seine Verantwortlichen wähnten sich veränderungsbereit, und insgesamt wurde sehr viel Geld ausgegeben. Wenn es dann doch auf die „heißen Eisen“ hinauslief – wen konnte dies wundern? –, wurde auf das Kirchenrecht und den Papst verwiesen. Entsprechende Fragen – Zölibat, Frauenordination etc. – stünden außerhalb dessen, was ein Bischof entscheiden könne. So lauteten die üblichen Bemerkungen an diesen Stellen. Wenn doch wenigstens die Kirchenoberen ihre persönliche Meinung hören ließen, anstatt sich hinter dem „Das war schon immer so“ zu verstecken – diese Kritik war damals von Gläubigen immer wieder zu vernehmen. Hinter der Kritik stand der Wunsch, dass sich der jeweilige Bischof in der Krise auch als wirklicher „Hirte“ erwies. Was als Offensive angelegt war, verpuffte alsbald. Es scheiterte an den Dynamiken, die Menschen – auch Katholiken – in Versammlungen aufbringen können. So mancher Bischof hatte das unterschätzt.

Vielleicht muss man den Verantwortlichen zugutehalten, dass sie wenigstens die Notwendigkeit zur Veränderung spürten. Wussten sie nur nicht angemessen zu reagieren? Menschen und Organisationen – egal, wo und von welcher Prägung – tragen grundsätzliche Widerstände gegenüber Veränderungen in sich. Was neu ist und noch nicht klar vor Augen steht, verunsichert. Da ist es eine vermeintliche Sicherheit, beim Alten zu bleiben. Jeder Organisations- und Krisenberater weiß, dass Veränderungsprozesse sensibel eingeführt sein wollen. Ihm ist bewusst, dass sich die Verantwortlichen mit den grundlegenden Charakteristika von Veränderungsprozessen vertraut machen sollten. Neben deren Beachtung (siehe das Kapitel „Von Hirten und Schafen“) sind es zwei Grundsätze, die für jede Organisation gelten: Jedes System verfügt über Beharrungstendenzen: Je uneinsichtiger das Ziel der Veränderung ist, desto stärker sind die Widerstände. Und: Die Sanierung eines kranken Systems steht vor der Veränderung. Das bedeutet bei diesem Thema: Worum ging es eigentlich in diesen ganzen Programmen? Hätte man das „Kind“ nicht lieber – und rechtzeitig – beim Namen nennen sollen, anstatt kostenintensive Aufhübschungskampagnen aus dem Boden zu stampfen? Und: Was wäre so schlimm daran, sich einzugestehen, dass das System im Inneren marode ist? Denn erst nach dieser Selbsterkenntnis ist – organisationssystemisch betrachtet – eine wirkliche, auch nach innen wirkende und wirksame Veränderung möglich.

Persönliche Sünde oder systemische Schuld?

Wie reagierten nun die Bischöfe in den ersten Jahren auf das Thema Missbrauch? Es handle sich um die persönliche Schuld einzelner fehlgeleiteter Menschen, war da durch die Bank zu hören. Theologen, die sich dazu durchgerungen hatten, dezent einen möglichen Zusammenhang zwischen Missbrauchsfällen und dem System Kirche als Frage einzubringen, wurde ein Maulkorb verpasst. So wichtig es ist, von den konkreten Vergehen her zu denken, die Täter zu sanktionieren und eine Wiederholungstat auszuschließen, bleibt diese Beschäftigung – wie die von Polizisten – „Aufräumarbeit“. Das Problem besteht darin, dass nicht die strukturelle Möglichkeit zu derartigen Handlungen kritisch in den Blick genommen wird, sondern die Verfehlungen vor allem als „Sünde“ einzelner Menschen dargestellt werden. So lange dies geschieht, ist man auf dem vermeintlich sicheren Boden von Theologie und Kirchenlehre unterwegs – denn für den Umgang mit der Sünde gibt es kirchliche Rezepte. Für katholische Gläubige existiert die praktische Möglichkeit zur Beichte, und unter Priestern genügt auch ein kurzes Telefonat mit einem „Mitbruder“, um sich die Absolution zu holen.

Wer theologisch noch tiefer in die „Trickkiste“ greifen mag, der führe sich die Bedeutung der Tradition in der katholischen Kirche vor Augen. Anders als in der evangelischen und den reformierten Kirchen ist nicht die Bibel die erste Quelle der Kirchenlehre, sondern das zweitausend Jahre alte Erbe der sogenannten Kirchenväter. Zu diesem gehört die Lehre vom „thesaurus ecclesiae“ (griech.-lat.: Gnadenschatz der Kirche). Dieser Gedanke kam geschichtlich bereits sehr früh auf und gelangte dann im Hochmittelalter zur vollen Blüte. Damit ist das Erlösungswerk Jesu Christi gemeint, das sich in die katholische Kirche hinein ergossen habe und durch die Nachfolger der Apostel den Gläubigen zur Verfügung gestellt werde. Es mag Gläubige geben, für die die Vorstellung eines solchen „Gnadenschatzes“ im Angesicht eigener Schuldkomplexe tröstlich ist. Auch wird sich mancher Bischof damit trösten, dass die Schuld des Priesters durch diese geistlichen Meriten getilgt werde. Der theologische Ursprung indes ist bedenklich, denn ohne die Lehre vom „thesaurus ecclesiae“ hätten weder der Ablasshandel noch die Vorstellung vom Fegefeuer geschichtlich eine so große Karriere gemacht. Für den Kontext Missbrauch und Vertuschung von Missbrauchsfällen ist dieser Denkansatz nun deshalb hochbedenklich, weil seine Logik heißt: Der Einzelne wird schuldig, das Kollektiv aber fängt dies auf. Bereits dieser eine Aspekt lässt erahnen, weshalb in der katholischen Kirche erst spät die Bereitschaft zu erkennen war, die Vergehen als Straftaten auf der rechtlichen Ebene (des Staates) zu betrachten.

Für die aktuelle Debatte bedeutender erscheint eine andere, wenn auch jüngere Traditionslinie: Die Befreiungstheologie Lateinamerikas hat vor Jahrzehnten bereits den Begriff der „strukturellen Sünde“ geprägt.18 Er wurde gesellschaftlich verstanden und angewendet, kann aber durchaus auf das System Kirche übertragen werden. Damit sind systemische Verstrickungszusammenhänge gemeint, die unehrlich und moralisch verwerflich sind und sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinschaft zerstören. In einem System mit autoritärer Führung liegt die größere Macht bei den Entscheidungsträgern. Unheilsame Strukturen zu durchschauen und letztlich auch zu durchbrechen, ist ihre Aufgabe. Verdunkelung und Vertuschung indes führen zur Vermehrung struktureller Sünde. Deshalb haben, neben vielen einzelnen Tätern im Dienst der Kirche, vor allem auch etliche Bischöfe an diesem Punkt versagt und so, ganz abgesehen von dem Decken und Vertuschen des Missbrauchs, auch ihr eigenes Amt (in aller Regel ohne Konsequenzen) missbraucht.

Arbeitsthesen zum Missbrauch

1) Missbrauch als Außenhaut der Zwiebel

Die niederländischen Kulturwissenschaftler Geert und (sein Sohn) Gert Jan Hofstede bieten eine anschauliche Theorie, wie sich Kultur manifestiert. Veranschaulicht werden die grundlegenden Zusammenhänge im sogenannten „Zwiebelmodell“ (Abb. 1). In ihrem Modell befinden sich im „Zwiebelkern“ die Werte der jeweiligen Kultur. Als erste, auf den Werten aufbauende Schicht, sehen sie Rituale, darauf Helden und schließlich, als oberste Schicht, Symbole. Die drei Schichten werden als Praktiken zusammengefasst.19 Entsprechend dieser Visualisierung sind „Symbole die oberflächlichsten und Werte die am tiefsten gehenden Manifestationen von Kultur“20. Unabhängig von der kirchlichen Problematik persiflierter Symbolik und inkongruenter Sprache (siehe Kapitel „Milieu-Sprache“) besitzt der Hofstede’sche Denkansatz für die Thematik Missbrauch eine hohe Bedeutung. Denn Praktiken – als äußere, erkennbare Schalen der „Zwiebel“ – entstehen nicht aus sich selbst heraus. Sie legitimieren sich vielmehr durch den Wertekern im Inneren und besitzen ohne diesen auch keine Kraft. In der Natur mag es Zwiebeln geben, die – aufgrund falscher Lagerung oder Behandlung – im Äußeren faulen, im Inneren aber noch heil sind, und auch solche, bei denen dies umgekehrt der Fall ist. Doch bei gehäuftem Vorkommen von Fäulnis wird man letztlich die Zwiebel in ihrer Art untersuchen, ihr buchstäblich „auf den Kern gehen“ müssen. Somit wird man, neben noch so vielen (durchaus wichtigen) Maßnahmen auf der formalen Ebene, nicht umhinkommen, den „Zwiebelkern“ der katholischen Kirche auf Prägungen hin zu analysieren, die die ganze Zwiebel letztlich zum Faulen bringen.

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Abb. 1

Es geht nicht nur um einen Mentalitätswandel – wie während der „Antimissbrauchskonferenz“21 gefordert –, sondern um einen buchstäblich radikalen Kulturwandel.

2) Missbrauch als Symptom von Übergriffigkeit

In den Missbrauchsfällen zeigt sich eine spezielle Anfälligkeit der katholischen Kirche für Übergriffe, eine Anfälligkeit, die viele Gesichter hat. Fehlende professionelle Distanz in der Katechese, das Indoktrinieren der Lehrmeinung, fehlendes echtes Interesse an den Meinungen von Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht, verbale Gewalt gegenüber einem kirchlichen Mitarbeiter oder intransparente Entscheidungen von oben herab und vieles mehr – in den folgenden Kapiteln werden einige Beispiele dazu angesprochen – machen deutlich: Missbrauch ist nicht einfach, wie oft zu hören war, „passiert“, noch kommt Missbrauch „leider auch“ in der Kirche vor. Sondern im System Kirche existieren spezielle Bedingungsfaktoren für Übergriffigkeit jedweder Art. Zu nennen ist hier beispielsweise das Modell einer absolutistischen Amtskirche (siehe Kapitel „Absolutismus – ein geschichtliches Phänomen?“) und einer von ihr automatisch erwarteten Kontrollmacht. Diese Mentalität der Übergriffigkeit beginnt bereits bei der Sprache in der Kirche, ob sie nun inhaltsleer ist, aufgeblasen erscheint oder normativ und fordernd auftritt (siehe Kapitel „Zuckerbrot und Peitsche“). Diese Übergriffigkeiten werden vom Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche gestützt; sie sind geschichtlich gewachsen, soziologisch eingespurt und werden als theologisch legitimiert begriffen. Unter Umständen geht dies so weit, dass der übergriffige kirchliche Vertreter aus seinem Amtsselbstverständnis heraus sogar glauben kann, das Richtige zu tun (siehe Kapitel „Sakramentales Amtsverständnis“).

Das heißt, es finden sich Systemfehler in der katholischen Kirche, die Übergriffigkeit begünstigen. Diese zu erkennen und tatkräftig anzugehen, wäre die nachhaltigste Präventionsarbeit.

3) Missbrauch systemisch untermauert

Doch wie entsteht Übergriffigkeit? Ihre Ursache hat sie in einer Mentalität der Überlegenheit, denn die Tat an sich ist „nur“ die Auswirkung eines Überlegenheitsgefühls, der letzte, praktische Kulminationspunkt. Diese kirchliche Überlegenheit qua Amt ist vielschichtig und zusätzlich noch durch externe Strukturen untermauert. Das soll eine Visualisierung (Abb. 2) darstellen: Die Säulen Amt, Struktur und Kirchenrecht tragen gemeinsam die potenzielle Amts-Überlegenheit. Darauf baut sie sich als stabil sitzendes Dach auf: Auf einer statisch derart sicheren Säulenkonstruktion kann sich die Mentalität der Übergriffigkeit in Ruhe entwickeln – nichts und niemand stört sie dabei. Durch ausbleibende Kontrolle und Sanktionierung wächst sie weiter an und pervertiert schließlich. Die drei kräftigen Säulen werden vom Fundament der göttlichen Beauftragung (vgl. Kapitel „Berufung und Sukzession“) getragen. Das pervertierte Dach wird zwar nicht direkt durch sie gestützt, aber indirekt – und ggf. auch unbewusst – mitgetragen. Aus geschichtlichen Gründen kommt in Deutschland noch eine besondere rechtliche Stellung der beiden Großkirchen hinzu, die dieses Haus der Macht zusätzlich immens stärkt.

Hieraus ergibt sich ein systemisches Selbstbewusstsein, das für Korrekturen von außen nur schwer empfänglich ist. Denn das Haus ist – von außen betrachtet – stark und fest, wenn es auch im Inneren „fault und stinkt“.

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Abb. 2

4) Missbrauch als Bestätigung des Menschenbildes

Auf ideologischer Ebene bestätigt sich – so makaber es ist – das Menschenbild der katholischen Kirche durch den Missbrauchsskandal (siehe Kapitel „Das katholische Menschenbild“). So sehr die katholische Kirche in ethischen Fragen auch als humane Größe auftreten will, ein humanistisches Menschenbild besitzt sie nicht. Vielmehr ist ihr Mindset davon weit entfernt.22 Das Menschenbild der Humanisten – wenngleich hier nicht von einer homogenen philosophischen Vorstellung gesprochen werden kann – sieht den Menschen im Mittelpunkt. Er ist von sich aus gut, ungute Handlungen werden als Resultat entsprechender Umwelteinflüsse verstanden. Insofern ist nicht der Mensch an sich zu kritisieren, sondern die Bedingungsfaktoren seiner Verhaltensweisen sind zu optimieren. Das katholische Menschenbild geht hingegen im Sinne der sogenannten „Erbsündenlehre“ davon aus, dass der Mensch im Grunde verdorben ist.23 Erst durch die Sakramente – Taufe, Eucharistie und Buße – wird er von dieser Disposition zur Sünde (in der Sprache der Theologie: Konkupiszenz) „gereinigt“. Allerdings nie für immer. Insofern kämpft er sein Leben lang gegen diese Neigung zum Bösen an.

Dieses Menschenbild hat Konsequenzen für beide Seiten, die übergriffigen Täter wie die vom Missbrauch Betroffenen.

5) Missbrauch mehrdimensional angehen

Noch vor Beginn der sogenannten „Antimissbrauchskonferenz“ im Februar hat der aktuelle Papst ein eindrückliches Zeichen gesetzt, indem er einen ehemaligen Kardinal – eine Ikone des Katholizismus in den USA – aus dem Priesterstand entlassen hat.24 Auch die Auftaktgeste des Gipfels in Rom – die Begegnung mit einem Mann, der Missbrauch in der katholischen Kirche erfahren hatte25 – zeigte, dass Franziskus das Thema wichtig nehmen will, mehr noch: dass es ihn emotional tief berührt. So eindrücklich solche Zeichen sind, sind sie letztlich nur die persönliche, spirituelle Stärke dieses Papstes.

Nachhaltig effizient wird eine Aufarbeitung aber erst, wenn parallel an allen Säulen und Ebenen des „katholischen Gebäudes“ angesetzt wird.

Die entscheidende Frage wird sein, ob dies auch so gesehen wird – und gesehen werden will. Das Haus heller zu streichen, Risse zu kitten, die Fensterläden zu öffnen, um dann mit dem Finger nach außen zu zeigen, wird im zehnten Jahr „danach“ für die Wiedererlangung von Glaubwürdigkeit nicht mehr ausreichen. Auch die „Null Toleranz“-Kampagne des Papstes ist eine reaktive Maßnahme. Sie wirkt vielleicht abschreckend auf die Täter, allerdings betreibt sie Reaktion nach außen statt Aktion nach innen.

Bleibt es bei der reinen Symptomarbeit, dürfte dies letztlich eine wirkliche Konfrontation mit den spezifischen kirchlichen Bedingungsfaktoren von Missbrauch und Übergriffigkeit sogar verhindern – und damit den tatsächlichen und den möglichen Tätern sowie der Aufrechterhaltung des bisherigen Systems nützen.

Die Strategiefrage sollte nicht lauten: Wie reagieren wir auf den Missbrauch? Sie sollte heißen: Weshalb gibt es Missbrauch auch und so gehäuft in der Kirche? Indem man mittlerweile verkündet, alle Verdachtsmomente strafrechtlich verfolgen zu wollen, wird Sicherheit suggeriert. Doch dieses Gefühl ist ein äußerliches. Denn gleichzeitig wird die Anfälligkeit für Missbrauch zugegeben – doch nur indirekt. Sich hingegen unmittelbar mit den Ursachen kirchlicher Übergriffigkeit auseinanderzusetzen, wäre ein aufrichtiger und auf die Menschen positiv wirkender Ansatz. Freilich würde er auch bedeuten, sein System kritisch zu analysieren – oder analysieren zu lassen.

Der Anspruch dieses Beitrags besteht darin, grundlegende Bedingungsfaktoren von Missbrauch und Übergriffigkeit in der katholischen Kirche sowohl nebeneinander als auch in ihrer Verschränkung darzustellen. So soll eine leicht verständliche Systematik entstehen. Die folgenden Kapitel werden die oben skizzierten Thesen untermauern.

Zur flüssigeren Lesbarkeit wurde in diesem Buch auf Fußnoten verzichtet, alle zitierten Stellen finden sich am Ende des Buches als Endnoten. Damit der Inhalt allgemeinverständlich bleibt, wurde Literatur verwendet, auf die der Leser leicht selbst zugreifen kann. Zudem handelt es sich um Quellen, die auch Ehrenamtlichen in den Gemeinden bekannt – und zugänglich – sind.

Kirche als System

„Jesus hat das Reich Gottes verkündet,
gekommen ist die Kirche.“

Alfred Loisy

System und Systemgrenzen

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