Tödlicher Strudel

Fünfter Mallorca-Krimi von Rufus Katzer

Widmung

Dieser Krimi ist Juliane Gassert gewidmet. Sie stand mir unermüdlich beim Schreiben mit Kritik und Ermutigung zur Seite. Sie ist hart im Nehmen und hat es geschafft, mich bis zum Schluss im Ring zu halten. Danke.

1.Kapitel

Alles passierte auf einmal. Die Schafe donnerten wie ein Steinschlag herab. Rufus Katzer suchte Deckung beim Landhaus Fartaritx. Seine Hündin wählte den Kampf. Sie wurde von Hütehunden angegriffen. Die Herde erreichte die Halbruine vor Katzer und riss ihn um. Er hörte den Schäfer fluchen. Dann kam der Blackout.

Öhrchen leckte sein Gesicht. Es war kein Erwachen aus einem Albtraum. Eher das Gegenteil. Der Albtraum begann erst nach dem Erwachen.

Er lag vor der Tür der Ruine. Er wusste nicht, wie lange er schon am Boden gelegen hatte. Er wusste gar nichts mehr. Sein Schädel dröhnte.

Er zog die Hündin an sich. Das tat gut. Er fühlte die Bisswunde an ihrer Flanke. Seine Hand war blutig. Er rätselte, ob das Blut von der Hündin oder von ihm stammte. Oder von beiden. Er hatte null Ahnung, was er hier suchte. Der Amo von Fartaritx stand plötzlich über ihm. Sein wettergegerbtes Gesicht war wutverzerrt.

„Was tust Du hier mit einem freilaufenden Köter, verfluchte Pest…“ Katzer verstand nur die Hälfte. Der Mann sprach Mallorquin, er nannte ihn einen Gauner und die Bestie hätte seine Herde angegriffen. Ihm schwindelte. Er wollte nur weg und hoffte, alles wäre gleich vorbei. Er entschuldigte sich kleinlaut.

„Ich komme hier öfter vorbei und habe nie jemand gesehen. Völlig einsam. Kein einziges Tier, nur am anderen Ende der Alm das Skelett einer Kuh. Die Hündin ist immer dicht bei mir.“

So menschenleer, wie Katzer vorgab, war es in den letzten Tagen nicht mehr gewesen. Vier Landarbeiter hatten die Halbruine bevölkert und wieder notdürftig hergerichtet. Sie hatten Schlafdecken ausgelegt, Vorräte in die Küche geschafft und gekocht. Der Kamin war in Schuss. Sie hatten immer freundlich gegrüßt und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Es hatte keinen gestört, dass ein Hund bei ihm war.

Die Landarbeiter hielten sich raus. Sie hatten alle Hände voll zu tun, die abwärts preschende Herde am Haus vorbei zu leiten. Katzer mochte Schafe. Nur nicht, wenn sie ihn bergab niedertrampelten. Der Amo fluchte weiter. Katzer versuchte, ihn zu beruhigen.

„Ist doch nichts passiert. Ich nehme den Hund jetzt an die Leine. Gleich nach dem Abtrieb gehen wir zurück nach Pollença.“

Der Amo lachte hysterisch. „Nichts passiert, sagt der Kerl. Nichts passiert … Und was ist mit der Leiche im Haus, häh? Blutverschmiert. Und diese Wunde stammt bestimmt nicht von deinem Hund. Du bleibst hier, bis die Polizei kommt und rührst dich nicht von der Stelle. Die Guardia ist informiert und im Jeep unterwegs. Wenn du wegläufst, schießen sie.“

Katzer war schwindlig. Sein Kopf zersprang. Er schlang seine Arme um die Hündin und versuchte, aufzustehen. Der Schäfer packte ihn und stieß ihn ins Haus. Etwas war im Weg. Sah aus wie ein Toter. Katzer stolperte und konnte nicht sagen, ob er über diesen Mann am Boden oder über Öhrchen gestürzt war, die ihm zwischen die Beine lief.

Der Schäfer hatte die Tür zugeschlagen und abgeschlossen. Es war ziemlich dunkel. Die kaputten Fenster waren mit Brettern vernagelt und ließen kaum Licht durch. Durch die Löcher im Dach des oberen Stockwerks schien wenig Sonne.

Es roch im Raum wie es aussah. Neben dem Kamin standen Essensreste. Vermutlich noch vom letzten Überfall maurischer Piraten. Daneben eine halbvolle Cola-Flasche als Triumph der Neuzeit. Auf einem uralten Sessel lag ein Hemd, das auf der gammligen Sitzgelegenheit zum Ausruhen lud. Ein Spaten auf dem Sessel ergänzte das Stillleben. Daneben ein Tisch mit einem Strauß blasser Plastikblumen.

Aus dem Kopf des Mannes neben Katzer floss Blut. Ihn hatte es schlimmer erwischt. Sein grotesk verdrehter Arm schien Hilfe zu winken. Das war sein ganzer Beitrag zu ihrem Treffen. Soweit Katzer im Halbdunkel erkennen konnte, zeigte der Spaten auf dem Sessel ebenfalls Blut. Der leblose Mann trug ein kariertes Hemd und Cargohosen. Sein Gesicht war in eine zerknüllte Decke gefallen und nicht zu erkennen.

Katzer hatte keine Lust, den Mann zu berühren oder seinen Puls zu fühlen. Er sah ziemlich tot aus und würde das auch bleiben, bis die Guardia Civil kam. Die würde den Kadaver an die Mordkommission und diese wiederum an einen Forensiker übergeben, der ihn auf der Suche nach der Wahrheit in seine Einzelteile zerlegte. Für manche Menschen ist der Tod der abwechslungsreichste Teil ihres Lebens.

Katzers Lage war beschissen. In wenigen Minuten würden die schwer bewaffneten Gesetzeshüter aus ihrer Kaserne in Port Pollença auftauchen und ihn neben einer noch wenig benutzten Leiche in der gottverlassenen Schlafstelle der Landarbeiter festnehmen. Er tastete nach seiner Sonnenbrille, die ihm runtergefallen war. Er fand sie gleich neben dem Toten und steckte sie in die Tasche.

Draußen herrschte Grabesstille. Das Stampfen der Schafe und das Hundegebell waren vorbei. Gleich würden die schweren Motoren der Guardia in ihren Jeeps zu hören sein. Er ahnte, dass die Raubeine mit Militärdrill nicht zum Plaudern aufgelegt sein würden. Er band die Hündin an einem Tischbein im Nebenraum fest und befahl ihr, nicht zu bellen, selbst wenn die Welt unterginge. Ihr linkes Ohr war halb abgerissen, ein längst verheilter Schaden aus Zeiten vor ihrer Bekanntschaft. Seit ihrer ersten Begegnung waren sie unzertrennlich. „Aus. Still. Keinen Mucks, Schwester!“ Er hörte Bremsen quietschen, Militärstiefel auf Kies und scharfe Befehle.

„Kommen Sie raus mit erhobenen Händen, sonst schießen wir!“ „Geht nicht, die Tür ist verrammelt.“

Eine Salve halbautomatischer Waffen sprengte das Schloss. Die Tür flog auf und Katzer stolperte mit den Händen über dem Kopf ins Freie. Die Augustsonne blendete ihn, dennoch verzichtete er darauf, seine Sonnenbrille aufzusetzen. Bloß keine falsche Bewegung. Von beiden Seiten wurden ihm Gewehrläufe in die Rippen gedrückt. „Hände auf den Rücken!“

Er war fast erleichtert, als die Handschellen zuschnappten und er in einen Jeep gestoßen wurde, ohne dass weitere Verluste zu beklagen waren. Die Männer hielten keine schützende Hand über seinen blutenden Kopf, um ihn beim Einsteigen vor neuen Verletzungen zu bewahren. Das Fahrzeug war hoch genug, aber er hatte Mühe, mit gefesselten Händen einzusteigen. Sie stießen ihn rein wie einen Sack Kartoffeln.

Die Eingreiftruppe in ihren schusssicheren Westen raste über Stock und Stein zurück in die Kaserne von Port Pollença. Ein Sanitäter befühlte seinen Schädel und machte Fotos von der Wunde. Er nahm eine Probe von der Kopfverletzung, dann wickelte er einen Verband um den Kopf.

„Nicht so schlimm wie es aussieht. Muss aber genäht und sicherheitshalber geröntgt werden.“

Ihm wurde Blut abgenommen, eine Tablette gereicht und die Finger auf ein Stempelkissen gedrückt. Der Ausflug ins Hospital von Inca zeigte einen intakten Schädel, der als Röntgenaufnahme zu seinen Akten kam.

Bevor sie ihn in die Zelle brachten, musste er alle Taschen leeren sowie Schnürsenkel und Gürtel abgeben. Verblüfft stellte er fest, dass es nicht seine eigene Sonnenbrille war, die er eingesteckt hatte. Dennoch kam ihm das Ding bekannt vor. Sie nahmen ihm Geld, Schlüssel, Papiere und Handy ab, fragten nach seinem Wohnort und ob er alleine lebe.

„Ich teile mein Haus in Pollença mit vier Katzen und einer Hündin, sonst erwartet mich niemand.“

Er vermied, zu erwähnen, dass er seine schwarze Rottweiler-Hündin in Fartaritx zurückgelassen hatte. Er hatte Angst, die Uniformierten würden sie erschießen. Mit einem Hund würden sie keine großen Umstände machen. Mit dem Hund eines Verbrechers schon gar nicht.

Für sie war der Fall klar. Er hatte einen Mann umgebracht. Das fiel in die Zuständigkeit der Mordkommission, also der Policia Nacional in Palma. Für die Kampfstiefelträger war das „die Opposition“, wie sie die Bürohengste spöttisch nannten. Kaputte Kommissare, die kaputte Leute jagten. Die Kompetenzen waren nicht immer klar getrennt. Die Guardia unterstand sowohl dem Innen- als auch dem Verteidigungsministerium. Für die Policia war nur das Innenministerium zuständig.

Katzer schöpfte Hoffnung. Die Policia Nacional hatte ihn schon einmal aus den Händen der Guardia Civil gerettet. Er nannte den Comisario Caplonch von der Mordkommission sogar seinen Freund. Der hätte sich lieber im Klo verrammelt, als sich freiwillig solche Beleidigung eines alten Reporters anzuhören. Ohne Zeugen hatte Caplonch ihn allerdings mehrfach bei schwierigen Fällen ins Vertrauen gezogen. Inoffiziell natürlich. „Inoffiziell kann ich gut“, war Katzers Leitspruch.

Er kannte einige Leute der Mordkommission ganz gut. Isabel, die inzwischen zur Stellvertreterin des Hauptkommissars aufgerückt war, durfte er sogar privat anrufen, obwohl sich ihre beiderseitige Leidenschaft nach vielen Jahren zu einer belastbaren Freundschaft verwandelt hatte. Katzer hielt es jedoch für ratsam, mit seinen guten Beziehungen zur Policia Nacional jetzt nicht anzugeben. In seiner augenblicklichen Lage würde ihm sein Draht zur „Opposition“ nur Minuspunkte bringen. Wer von der Guardia mit Handschellen geschmückt worden war, blieb besser bescheiden.

Katzer machte sich größere Sorgen um seine Hündin als um sich selbst. Das Leben eines Tieres war hier nichts wert, während er als in Spanien lebender Resident auch unter Mordverdacht noch alle Vorteile einer langsam arbeitenden Bürokratie genoss, die ihre Mittagspause und den pünktlichen Feierabend zu schätzen wusste.

Die Beschützer von Mallorcas ländlichem Raum und seiner ausufernden Autobahnen verfrachteten ihn in einen kärglichen Verhörraum. Wenige handbeschriftete Ordner deuteten Verachtung für Papierkram an, während ganze Männer in Kampfanzug vom Training zurückkamen. Als einziger Zierrat schmückte in seinem Zimmer ein umrahmter Spruch die Wand „Todo por la patria“, alles für das Vaterland. Der Vaterlandsverteidiger vor ihm am Tisch schaltete ein Mikro ein und machte Katzer darauf aufmerksam, dass alle seine Aussagen gegen ihn verwendet werden könnten und ob er einen Anwalt wolle.

Katzer verneinte die Frage nach einem Anwalt. „Brauche keinen. Alles nur ein Missverständnis.“

„Was wollten Sie da oben?“

„Ich war wandern und wollte zurück nach Can Hugo. Ich habe bei meinen Ausflügen oft den Weg über Fartaritx genommen. Diesmal bin ich in eine Schafherde geraten. Ich wollte gar nicht ins Haus. Ich war nur drin, weil mich der Schäfer rein geschubst hat. Ging alles verflucht schnell. Ich war geschockt. Total eklig. Da drin lag ein Toter, mit dem Gesicht am Boden. Ehe ich wieder raus konnte, kamen Sie.“

„Kannten Sie den Toten?“

„Nö.“

„Woher wollen Sie das so genau wissen? Der Tote lag doch mit dem Gesicht am Boden, wie Sie sagten. Kann es nicht doch jemand sein, den Sie kennen?“

Katzer spürte ein unangenehmes Kribbeln im Genick. Wie konnte er einen so blöden Fehler begehen? Jetzt musste er erklären, was nicht zu erklären war. Natürlich konnte der Tote jeder X-beliebige sein. Was er wahrscheinlich auch war. Nur sicher sein konnte er sich dessen nicht. Er hatte ja sein Gesicht nicht sehen können, es sei denn, er war selbst der Täter. Doch die Sonnenbrille, die er bei ihm gefunden hatte, kam ihm bekannt vor. Sehr bekannt sogar. Sie hatte blaue Gläser und trug eine auffällige Verzierung am Rahmen, die unübersehbar war. Ganz anders als die schlichte Ray-ban, die er selber trug und die er am Tatort verloren hatte. Das extravagante Stück, das man bei ihm gefunden hatte, gehörte Paco, dem Skipper.

Paco erzählte jedem, der ihm in die Quere kam, dass er demnächst eine Tauchschule aufmachen wollte. Er war ein guter Scubadiver, ein durchtrainierter Typ, der sein halbes Leben unter Wasser verbracht hatte. Manchmal brachte er Hobbytaucher mit seinem Zodiac zu interessanten Tauchplätzen oder fuhr Touristen zu einsamen Ausflugszielen. Der gelegentliche Transport von Schmuggel- und Diebesgut gehörte zu seinen diskreteren Angelegenheiten.

Spontan fand Katzer es völlig absurd, die Leiche in der Bergalm von Fartaritx mit Paco in Verbindung zu bringen. Paco war in den Strandbars von Mallorca, den Yachthäfen oder nautischen Fachgeschäften zuhause. Schon die Vorstellung von dieser Wasserratte oben in einer vergammelten Bergbehausung hatte was Komisches. Aber selbst die höchsten Berggipfel Mallorcas verbargen ja manchmal Fossilien, die man eher am Grund des Meeres gesucht hätte.

Katzer hielt es für ratsam, nichts über die Besitzverhältnisse der Sonnenbrille zu verlautbaren, die man bei ihm gefunden hatte.

Das hätte nur Missverständnisse geweckt. Bei seiner Vernehmung schloss er kategorisch jede Bekanntschaft mit dem Toten aus. „Ich war höchstens eine Minute mit ihm zusammen. Es war ziemlich dunkel. Erlauben Sie mir einen Blick auf den Toten in der Pathologie, dann haben wir Gewissheit.“

„Das Opfer befindet sich derzeit in der Obhut des Gerichtsarztes, Sie werden dagegen erst einmal in unserer Obhut bleiben. Lesen Sie bitte Ihre Aussage durch und unterschreiben sie, wenn alles richtig protokolliert ist.“

Katzer las den Text und der Gardist griff zu einem Ungetüm von Stempel, dessen eisernes Gestell vor langer Zeit zerbrochen und mit schwarzem Klebeband wieder zusammengefügt worden war. Auch bei genauem Hinsehen herrschte kein Überfluss bei der Guardia. Das Stempelungetüm machte ein Geräusch wie ein Fallbeil.

Katzer war jeder Sinn für die Komik des Augenblicks verlorengegangen. Zwei Männer führten ihn in eine Arrestzelle, die im Gegensatz zum Verhörzimmer eine Pritsche, ein Klo und ein Handwaschbecken enthielt. Alles war sehr aufgeräumt, aber für einen Mittagsschlaf hätte er mindestens ein oder zwei seiner Fellnasen gebraucht, die ihm schnurrend und mit weichen Flanken Gesellschaft geleistet hätten.

Warum hatte sich Paco der Skipper zum Sterben ausgerechnet das baufällige Fartaritx ausgesucht, das Katzer nur vom Vorbeigehen kannte und dessen Schwelle er nur ein oder zweimal für einen freundlichen Plausch mit den Landarbeitern übertreten hatte. Die Frage bohrte sich wie ein rostiger Nagel in sein Hirn.