Ursula, Nuber Lass die Kindheit hinter Dir

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Für meine Mutter (1918–2009)

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
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»Ich denke nicht mit Wehmut an meine Kindheit zurück. In all den Jahren, die vergangen sind, habe ich niemals das Gefühl gehabt, das Paradies verloren zu haben, sondern ein Paradies finden zu müssen, anderswo, das auf mich wartet. Ein Paradies, begraben in meinem Innern.«

-Hélène Grimaud

Vorwort zur aktualisierten Neuauflage

Meine Mutter und ich – das war immer ein schwieriges Kapitel. Viele Jahre meiner Kindheit und auch im Erwachsenenalter bemühte ich mich, ihre Liebe zu gewinnen. Mit wenig Erfolg. Zumindest war ich weitaus erfolgloser als meine ältere Schwester – obwohl ich das brave Kind war. Sie durfte rebellieren, schmollen, Türen knallen. Ich bekam schon beim kleinsten Fehlverhalten oft schmerzhaft Grenzen gesetzt. Einschlägige Erinnerungen an Liebesentzug und andere von mir als extrem ungerecht empfundene Strafen waren für mich lange Zeit Belege dafür, dass meine Mutter mir – beschönigend ausgedrückt – Desinteresse entgegenbrachte. Es gab kaum Zärtlichkeit, kaum Verständnis, kaum unbeschwertes Zusammensein.

Meine Kindheit mit dieser Mutter war alles andere als glücklich. Als ich erkannte, dass ich daran selbst mit größtem Wohlverhalten nichts ändern konnte, ging ich sooft ich konnte auf Abstand. Ich suchte Unterschlupf bei einer Tante, später bei einer Freundin und deren Familie. Sobald es möglich war, zog ich aus, und weil das nicht ausreichte, nahm ich nach Abschluss meines Studiums einen Job in einer weit entfernten Stadt an.

Von da an konnten wir besser miteinander, das heißt: Ich konnte besser mit meiner Mutter. Es war mir möglich, ihre Bedürfnisse ohne Groll zu erfüllen.

Dennoch verschwand das schmerzhafte Gefühl, ein ungeliebtes Kind gewesen zu sein, nie ganz. Vor allem in schwierigen, stressreichen Lebenssituationen machte es sich blockierend bemerkbar. Als ich in einem Interview (Süddeutsche Zeitung Magazin 18/2018) diese Aussage des Regisseurs Oskar Roehler las, verstand ich sofort, was er meinte: »Ich muss ehrlich sagen, dass ich durch meine Kindheit und Jugend unheimlich viele Defizite habe, die ich nie in meinem ganzen verfickten Leben wegkriege … Und dass ich immer an irgendwelche Grenzen stoße, weil ich gar nicht anders kann. Die Lebensangst, die einen ständig plagt und die man nicht abschütteln kann. Diese existenzielle Angst, weil man als Kind öfter mal ins Nichts geworfen wurde und darum jederzeit wieder ins Nichts geworfen werden kann.«

Roehler hatte berühmte Eltern: Sein Vater Klaus Roehler machte sich einen Namen als Lektor von Günter Grass, seine Mutter war die Schriftstellerin Gisela Elsner. Er war drei, als die Eltern sich trennten. Zunächst wurde er zwischen Großeltern und dem Vater hin und her geschoben, später kam er ins Internat. Seine Mutter sah er erst mit 20 wieder. Jahre danach, 1992, nahm sie sich das Leben. In seinem Spielfilm Die Unberührbare (mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle) setzte Roehler seiner Mutter ein Denkmal.

Eine schwierige, belastete Kindheit wirft lange Schatten. Sie ist nie ganz vorbei, sie kann sich auf alles auswirken, was wir als längst erwachsener Mensch tun, fühlen und denken. Denn das Kind, das wir waren, lebt mitsamt seinen Gefühlen und Einstellungen in uns weiter. Unter Umständen kann dieses frühere Kind, so erklärt der Psychiater W. Hugh Missildine, »es Ihnen erschweren oder unmöglich machen, im Erwachsenenleben zu Erfüllung und Zufriedenheit zu gelangen, kann Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen, Sie den letzten Nerv kosten und ganz krank machen.«

Mussten wir als Kinder Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Desinteresse erleiden, blieb uns nichts anderes übrig, als Überlebensstrategien zu entwickeln. Wir lernten, wie wir Strafen vermeiden, wie wir den Schmerz der Nichtbeachtung verdrängen und mit welchen Verhaltensweisen wir der Mutter ein Lächeln und dem Vater ein Lob abtrotzen konnten. Kommen wir heute als Erwachsene in Situationen, die uns an früher erinnern (ohne dass uns das im Einzelfall bewusst wird), kann das die damaligen Überlebensstrategien reaktivieren; wir passen uns an die Wünsche und Bedürfnisse anderer an, um Anerkennung und Zuwendung zu bekommen. Oder wir verschließen uns wie eine Auster, wenn uns jemand zu nahe kommt, aus Angst vor erneuter Verletzung. Diese Überlebensstrategien sind vielfältig und variantenreich – je nachdem, welche Herausforderungen wir in der Kindheit meistern mussten. Doch so hilfreich die Strategien für uns früher waren, so destruktiv ist ihre Wirkung heute. Heute können sie zu Irritationen, seelischen Belastungen und wenig erwachsenen Reaktionen führen. Das Früher lebt dann in der Gegenwart auf ungute Weise weiter. Das ist eine bittere Wahrheit.

Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.

Denn wahr ist auch: Es liegt an uns, ob wir als Erwachsene immer noch von den frühen Erfahrungen gesteuert werden, und im Schatten der Kindheit stehen bleiben oder ob wir aus diesem Schatten heraustreten. Die Anfangsjahre unserer Lebensgeschichte können wir nicht mehr verändern. Der bekannte Satz »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit« ist schön, aber leider falsch. Wenn wir von den Eltern nicht geliebt wurden, können wir keine Wiedergutmachung erhoffen. Was sich jedoch positiv beeinflussen lässt, ist unsere Haltung den Eltern gegenüber, die Art und Weise, wie wir auf die Kindheit blicken, und wie wir uns selbst sehen. Wir können uns entscheiden: Wollen wir unsere Geschichte ausschließlich als Problemgeschichte erzählen, oder wollen wir ihr einen neuen, konstruktiven »Dreh« geben? Ein Perspektivenwechsel lohnt sich. Ohne das Erlittene zu beschönigen, können wir uns fragen: Habe ich etwas übersehen? Ist meinen Erinnerungen zu trauen? Wäre es nicht möglich, dass ich aufgrund meiner negativen frühen Erfahrung vielleicht sogar Eigenschaften entwickelt habe, auf die ich heute stolz bin?

Haben Sie es schon mal so gesehen?

Der Schriftsteller Andreas Altmann hat wütend mit seiner schlimmen Kindheit abgerechnet. Der Titel seines Buches könnte eindeutiger nicht sein: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Altmann schildert darin seine Kindheit in der Provinz, »voller Misshandlungen, Demütigungen, bigotter, tätlicher Pfarrer und verkappter Nazis«. Doch er ist nicht gefangen von diesen belastenden Erinnerungen. Er wollte sein Leben nicht als »greinende Heulsuse« verbringen, er wollte nicht »ewiglich der abwesenden Liebe von Mutter und Vater hinterherlamentieren«, wie er in seiner unnachahmlich direkten Art in seinem Buch schreibt. »Irgendwann musste Schluss sein, irgendwann muss ein Mann ein Mann werden, muss sich zwischen einem Leben als Opfer oder Täter entscheiden.«

Geholfen haben ihm bei diesem Prozess zwei Perspektivenwechsel: Zum einen versuchte er, seinem Vater mit Verständnis zu begegnen. Er sah in ihm nicht mehr nur den Mann, der Frau und Kind seelisch misshandelte, er sah auch den Mann, dessen Träume vom Krieg zerstört worden waren, der seine Intelligenz, seine Kreativität, seine Musikalität nicht ausleben konnte. Natürlich, so sagte er in einem Interview, vergibt kein Kind »einem Vater das, was er ihm angetan hat. Aber du verstehst ihn. Wenn du älter wirst und anfängst, dich für die Vergangenheit zu interessieren, verstehst du, dass er nicht Herr seiner selbst war. Sondern Spielball der Umgebung.«

Der zweite Perspektivenwechsel, den der Schriftsteller vornahm, galt seinem Selbstbild. Er konzentrierte sich nicht mehr länger auf die Schwächen und Defizite, die ihm seine Kindheit beschert hatte, sondern lenkte den Blick auf seine Stärken, die er wohl nur aufgrund seiner frühen Erfahrungen entwickeln konnte: »Das Wissen um die eigene Verwundbarkeit macht empfindsamer, durchlässiger, lotet rigoroser die Wirklichkeit aus. Meine Verletzungen sind, so vermute ich, der Eintrittspreis für mein Davonkommen. Andersherum: Hätte ich eine liebliche Kindheit verbracht, ich hätte wohl nie zu schreiben begonnen.«

Ein Zettel, der die Augen öffnete

Wie befreiend ein Perspektivenwechsel sein kann, habe auch ich erfahren. Ich war noch mitten im Psychologiestudium, als ein simpler Zettel meinen Blick auf meine Kindheit veränderte.

Ich weiß noch, es war ein trüber Samstag im November. Gerade das richtige Wetter, um endlich mein unordentliches, übervolles Bücherregal aufzuräumen und auszumisten. Wer Bücher liebt, weiß, wie schwer die Entscheidung fällt, sich von einem Werk zu trennen. So prüfte auch ich jeden Band, ehe ich ihn auf den »Kann weg«-Stapel legte. Es war eine entspannende, fast kontemplative Aufgabe – bis plötzlich aus einem Buch ein unscheinbarer Zettel herausfiel. Sofort erkannte ich die Handschrift meiner Mutter. Diese wackeligen Druckbuchstaben waren typisch für sie. Als Kind hatte sie Sütterlin gelernt, die lateinische Schrift beherrschte sie nicht.

 Liebe Ursula! Danke für all Deine Liebe und Fürsorge! Ich bin so glücklich, dass ich Dich habe. Liebe Grüße Deine Mama.

Hatte ich richtig gelesen? In meinem Kopf brach ein Gedankengewitter aus: Wann hatte sie mir diesen Zettel gegeben oder geschickt? Was war der Anlass gewesen? Ich wusste es nicht. Noch schlimmer: Ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Notiz jemals gelesen zu haben. So liebevoll und einfühlsam schrieb meine Mutter an mich? Fassungslos starrte ich auf den Zettel. Was da stand, widersprach dem Bild, das ich bislang von ihr hatte, vollkommen. War das die strenge, kühle Mutter, deren Aufmerksamkeit ich mir nicht einmal durch Wohlverhalten verdienen konnte? War das die Mutter, die mich niemals zärtlich in den Arm genommen hatte?

 

Quälende Fragen gingen mir durch den Kopf: »Habe ich meiner Mutter unrecht getan? Habe ich meine Kindheit zu düster gesehen?« Der zufällig gefundene Zettel hatte enorme Auswirkungen. Ich begann, meine Erinnerungen auf den Prüfstand zu stellen, fragte noch lebende Zeitzeugen nach meiner Mutter: Wie war sie früher? Welche Eigenschaften hatte sie nach Meinung der anderen? Wie ist sie aufgewachsen, geboren Ende 1918, am Ende des Ersten Weltkrieges? Konnten sich die Eltern, die in den 1920er- und 1930er-Jahren von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen waren, um das Mädchen kümmern? Wie hat sie als 18-Jährige den frühen Tod ihrer Mutter erlebt? Nach und nach entwickelte ich ein vorher nie da gewesenes Interesse an dieser Frau, die ich bislang nur in ihrer Mutterrolle kannte.

Meine Recherchen veränderten meinen Blick auf meine Mutter und meine Kindheit. Er wurde milder und versöhnlicher. Ich erkannte, dass meine bisherigen Erinnerungen nicht die ganze Wahrheit waren. Natürlich, da gab es diese Strenge mir gegenüber, diese schmerzhaften Strafen, diese schreckliche Ungeduld. Aber nun gab es auch diese Bilder: Die Mutter in ihrer Kittelschürze, wie sie jeden Mittag in der Tür stand, als ich von der Schule nach Hause kam. Die gemeinsamen gemütlichen Nachmittage mit Tee, Rosinenstullen und Erdbeermarmelade. Und wie lustig es war, wenn sie sich sonntags mit mir aus dem katholischen Gottesdienst stahl, mit dem sie, die »Evangelische«, wie sie im Dorf hieß, nichts am Hut hatte.

Diese neuen Bilder lösten einen befreienden Prozess aus. Meine Besuche bei ihr gestalteten sich nun entspannter, ich erzählte ihr bereitwillig mehr von mir und konnte wirkliches Interesse an ihren Sorgen und Erlebnissen aufbringen. Am Ende, als meine Mutter pflegebedürftig wurde, löste ich sogar die räumliche Trennung auf. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Heim in meinem Wohnort.

Meine Mutter verstarb 2009. Im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe des Buches Lass die Kindheit hinter dir. Dass ich es damals in dieser Weise schreiben konnte, verdankte ich ganz sicher auch dem Prozess, den der zufällig gefundene Zettel angestoßen hatte. Dieser Prozess verhalf mir zu einem differenzierten Bild von mir, meiner Mutter und meinen frühen Jahren und zu der Erkenntnis, dass Erinnerungen an die frühe Kindheit nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Unsere ersten Jahre sind nicht zwangsläufig ein Leben lang tonangebend; wir sind ab einem gewissen Zeitpunkt in der Lage, die Melodie selbst zu komponieren.

 

Ladenburg, Frühjahr 2019

Vorwort

Sie gehen eine Straße hinunter. Da ist ein tiefes Loch, Sie sehen es nicht und fallen hinein. Vor Schreck sind Sie zunächst wie gelähmt, fühlen sich verloren und hilflos. Sie haben das Gefühl, dass es Ihre Schuld ist, dass Sie nun in diesem Loch gefangen sind. Hätten Sie nur besser aufgepasst! Es dauert eine Ewigkeit und kostet Sie viel Kraft, ehe Sie wieder herausfinden.

Einige Zeit später gehen Sie erneut diese Straße entlang. Das Loch ist immer noch da, Sie wissen das, aber Sie tun so, als gäbe es das Loch nicht. Wieder fallen Sie hinein. Sie sind fassungslos, können nicht glauben, dass Ihnen dasselbe Unglück schon wieder passiert ist. Sie hadern mit der Straße, aber vor allem hadern Sie mit sich selbst. Wieder brauchen Sie lange, bis Sie sich aus dem Loch herausgekämpft haben.

Nach ein paar Wochen führt Sie Ihr Weg erneut durch diese Straße. Noch immer ist das Loch nicht aufgefüllt worden. Sie sehen das Hindernis durchaus – und fallen dennoch wieder hinein. Sie grämen sich und machen sich Vorwürfe. Sie halten es für eine dumme Angewohnheit, dass Sie diesem Loch nicht ausweichen können. Ihre Verzweiflung ist groß, und Sie fragen sich, ob Sie jemals eine Chance haben, diese Straße ohne Gefahr entlanggehen zu können.

Den amerikanischen Autoren Sidney und Suzanne Simon verdanke ich die Vorstellung, dass bestimmte Erfahrungen, die wir im Leben machen müssen, zu »Schlaglöchern« auf unserem Weg werden können. Schlaglöcher, die wir manchmal gar nicht sehen, und wenn doch, ihnen nicht ausweichen können. Sicher kennen auch Sie diese Situationen: Immer wieder fallen Sie in dasselbe Loch, immer wieder müssen Sie bestimmte Erfahrungen machen, die alles andere als angenehm sind. Und Sie sind nicht in der Lage, Verhaltensweisen zu ändern, die Ihnen nur schaden. Wenn Ihnen solche Erfahrungen nicht unbekannt sind, dann gibt es auf Ihrer Lebensstraße wahrscheinlich auch gefährliche Löcher – wie beispielsweise folgende:

In schöner Regelmäßigkeit tauchen diese Situationen und Stimmungen, diese »Löcher« in Ihrem Leben auf. Und in schöner Regelmäßigkeit tun Sie das, was Sie immer tun: Sie fallen hinein. Das heißt, Sie ziehen sich zurück, Sie betäuben sich, Sie bekämpfen Ihre Ängste und Ihre Niedergeschlagenheit: mit Arbeit, mit Essen, mit Alkohol oder anderen Drogen. Sie hadern mit sich, den Menschen, mit denen Sie es zu tun haben, oder mit Ihrem Leben. Denn was immer Sie versuchen, es gelingt Ihnen nicht, dem jeweiligen »Loch« auszuweichen. Ihnen ergeht es immer wieder wie in der beschriebenen Straßenszene: Entweder sehen Sie das Loch nicht, oder Sie tun so, als wäre es nicht da.

Doch das Loch existiert. Es ist vor langer Zeit gegraben worden, als Sie klein waren. Damals konnten Sie noch nicht erkennen, dass es ein Hindernis gibt, vor dem Sie sich hüten sollten. Sie konnten die Gefahr nicht sehen, und Sie hatten auch gar keine Möglichkeit, ihr auszuweichen. Sie mussten zwangsläufig hineinplumpsen. Sie konnten nichts gegen dieses Loch unternehmen, das von Ihren Eltern und anderen wichtigen Menschen Ihrer Kinderwelt gegraben wurde.

In der Mehrheit der Fälle entstand dieses Loch nicht aus bösem Willen und nicht aus Absicht. Eltern wollen ihren Kindern keine Löcher graben. Fast alle Väter und Mütter wünschen sich für ihr Kind nur das Beste. Welche Eltern möchten schon bewusst und willentlich einem Kind etwas Schlechtes antun oder ihm Steine in den Weg legen? In der Regel bemühen sich Eltern darum, gute Eltern zu sein. Meist setzen sie ihren ganzen Ehrgeiz ein, damit es ihren Töchtern und Söhnen besser geht als ihnen selbst. Doch auch wenn sie nur das Beste für ihr Kind wollen, gelingt ihnen das nicht immer oder nicht im gewünschten Maße. Eltern haben ihre eigenen Probleme und Schwächen – und diese wirken sich auf den Umgang mit ihrem Kind aus. Eltern haben Liebeskummer, finanzielle Sorgen, sie werden arbeitslos, krank, müssen vielleicht ständig den Wohnort wechseln oder sind zu manchen Zeiten ihres Lebens schlichtweg überfordert. Weil das Leben für sie schwer ist, machen sie es oft ungewollt auch ihren Kindern schwer.

Was ist damals geschehen?

Eltern sind fehlbar. Alle. So gibt es wohl niemanden, der optimal von seinen Eltern umsorgt und geliebt worden wäre.

Dabei sind es nicht immer nur traumatische Erlebnisse wie beispielsweise körperliche oder seelische Misshandlungen, die Löcher in die Straße der Kindheit graben. Sie mögen in einer scheinbar ganz intakten Familie aufgewachsen sein – und dennoch ist das keine Garantie, dass Sie ohne seelische Blessuren heranwachsen konnten. In den »besten Familien« kann es zu Entwicklungen kommen, die eben nicht »das Beste« für ein Kind bedeuten. Ebenso zerstörend wie schwere Traumata sind die subtilen seelischen Verletzungen, die tiefe Löcher graben und unter Umständen einen Menschen ein Leben lang blockieren und beschäftigen können.

 

Vielleicht waren Sie den Launen einer lieblosen Mutter ausgeliefert. Vielleicht erwartete man von Ihnen permanent Höchstleistungen und hatte dennoch kaum Lob für Sie übrig. Vielleicht bekamen Sie viel zu wenig Zuwendung und Aufmerksamkeit oder waren die meiste Zeit Ihrer Kindheit einsam und sich selbst überlassen. Vielleicht wurden Sie, als Sie klein waren, ständig gehänselt und fanden keine Freunde. Vielleicht glaubten Ihre Eltern, Sie mit Gewalt zu einem »guten« Menschen erziehen zu müssen. Vielleicht hatten Sie als Kind Angst im Dunkeln, aber niemand hat Ihre Tränen getrocknet. Vielleicht bestimmte der Vater autoritär über Sie … Es sind ganz viele und ganz unterschiedliche Szenarien denkbar, die Sie als Kind tief verunsicherten und die Ihnen auch heute immer mal wieder das Gefühl geben, auf schwankendem Boden zu stehen. Und wie früher greifen Sie dann möglicherweise zu Strategien, um nicht zu fallen …

Ausweichmanöver – früher nützlich, heute schädlich

Auf der Straße Ihres Lebens kann es in dem Streckenabschnitt »Kindheit« viele Schlaglöcher gegeben haben. Sie konnten ihnen meistens nicht ausweichen. Bereits als Kind spürten Sie, dass der Weg nicht sicher war, und deshalb entwickelten Sie Strategien, um nicht ständig in diese Löcher fallen zu müssen. Möglicherweise haben Sie gelernt zu kämpfen, wurden vielleicht zu einem aufsässigen, unangepassten Kind, das ständig »Ärger« machte. Vielleicht haben Sie versucht, der Gefahr aus dem Weg zu gehen, indem Sie es vermieden, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder Sie wählten andere Strategien: wurden zum braven Kind, das alles still erduldete und es nicht wagte, eigene Wünsche anzumelden.

Alle diese Bewältigungsmechanismen – kämpfen, fliehen, erdulden – waren in Ihrer Kindheit sicher sinnvoll, sie halfen Ihnen, wenigstens hin und wieder ein Schlagloch zu umgehen. Wirklich geändert an Ihrer Situation hat sich dadurch aber nichts. Die Löcher blieben. Niemand schüttete sie zu. Sie wussten das als Kind. Deshalb waren Sie immer auf der Hut. Ihr Instinkt sagte Ihnen damals: Vorsicht, Vorsicht, die Straße ist nicht sicher!

Auch heute noch fordert Sie dieser Instinkt zu erhöhter Wachsamkeit auf. Und weil Sie auch heute noch nicht genau wissen, an welcher Stelle welche Löcher lauern, sind Sie sicherheitshalber bei Ihren Strategien geblieben: Sie kämpfen immer noch. Sie verstecken sich immer noch. Sie erdulden immer noch.

Wenn Sie zum Beispiel als Kind durch die Verhaltensweisen Ihrer Umgebung die Überzeugung gewonnen haben »Ich kann mich auf niemanden verlassen«, dann werden Sie auch als Erwachsener wahrscheinlich grundsätzlich mit der Existenz eines Loches rechnen, das da lautet: »Auf niemanden ist Verlass!« Das prägt Ihren Umgang mit anderen Menschen. Je nachdem, welche Bewältigungsstrategie Ihnen als Kind sinnvoll erschien, werden Sie sich anderen gegenüber entsprechend verhalten. Haben Sie gelernt zu kämpfen, dann bemühen Sie sich vielleicht mit allen Mitteln um die Zuwendung anderer, indem Sie sich anklammern, den anderen kontrollieren oder ihm eifersüchtig drohen. Wenn Flucht Ihre Antwort auf die bedrohenden Umstände war, werden Sie sich gar nicht erst auf emotional tiefe Beziehungen einlassen. Und wenn Sie als Kind das Erdulden gewählt haben, verlieben Sie sich heute möglicherweise in Menschen, die nicht verlässlich sind, und nehmen die Situation als unveränderlich hin.

All das passiert mit Ihnen, ohne dass Sie sich dessen wirklich bewusst wären. Sie verhalten sich so, weil Sie früher damit gute Erfahrungen gemacht haben. Und weil Ihnen keine Alternativen zur Verfügung stehen. Sie haben Angst vor den Schlaglöchern, möchten Sie meiden – aber Sie wissen nicht, wie. Früher oder später fallen Sie doch wieder hinein. Manchmal sind Sie drauf und dran zu resignieren. Sie fürchten dann, die Existenz dieser bedrohlichen Löcher endgültig akzeptieren und sich in Ihr Schicksal fügen zu müssen.

Doch das entspricht nicht der Realität. Heute als erwachsene Frau und erwachsener Mann können Sie mit den Löchern, die in Ihrer Kindheit gegraben wurden, anders umgehen. Sie sind nicht mehr hilflos, klein und ausgeliefert. Heute können Sie lernen, die Gefahren zu sehen und sie zu meistern. Und Sie können schließlich einen neuen Weg wählen – einen, der Sie gefahrloser an Ihr Ziel bringt.

Wie Sie all das erreichen können – das ist das Thema dieses Buches:

Einleitung – Warum bin ich so, wie ich bin?

»Ich werde immer als sein kleiner Sohn leben, mit dem Gewissen eines kleinen Sohnes, so wie er immer lebendig bleiben wird, nicht nur als mein Vater, sondern als der Vater, der zu Gericht sitzt über alles, was immer ich tue.«

Philip Roth

»Wie war Ihre Kindheit?«

Wenn Sie diese Frage lesen, fällt es Ihnen dann schwer, sie zu beantworten? Müssen Sie erst lange und intensiv darüber nachdenken, wie die ersten Lebensjahre für Sie waren? Bereitet es Ihnen Schwierigkeiten, sich an die Ereignisse und die Atmosphäre Ihrer frühen Kindheit zu erinnern? Wahrscheinlich nicht. Denn wie wohl jeder Mensch haben auch Sie sich vermutlich zu irgendeinem Zeitpunkt Ihres Lebens mit Ihren Anfängen beschäftigt und sich gefragt, was Vater und Mutter für Persönlichkeiten waren und wie Sie von diesen Menschen beeinflusst und geprägt worden sind. Je nachdem, welche Antworten Sie gefunden haben, kann Ihre Reaktion auf die Frage »Wie war Ihre Kindheit?« sehr unterschiedlich ausfallen.

Möglicherweise erzählen Sie, ohne groß nachzudenken, dass Ihre ersten Jahre schon ganz in Ordnung waren. Na klar, Eltern machen Fehler, aber das ist doch normal. Alles in allem war die Kindheit sogar glücklich. Auf jeden Fall war sie »ganz normal«. Aus heutiger Sicht, so sagen Sie – und mit Ihnen viele Erwachsene –, könnte man die Eltern natürlich schon kritisch sehen, aber früher wusste man doch noch gar nicht, was ein Kind eigentlich braucht. Das Wissen über Kindererziehung und Pädagogik war doch allgemein ziemlich dürftig.

Denkbar ist aber auch, dass Sie auf die Frage »Wie war Ihre Kindheit?« von vornherein mit der klaren, eindeutigen Antwort »schlecht« reagieren. Vielleicht aktiviert diese Frage einen mühsam unterdrückten Groll, und Sie erinnern sich sofort und schmerzlich, was in den ersten Jahren Ihres Lebens alles falsch gelaufen ist, wie ungerecht man Sie behandelt, eventuell sogar misshandelt hat. Die Erinnerungen daran sind so klar und deutlich, als wäre es gestern geschehen. Und Sie sind überzeugt davon, dass Sie heute ein anderer Mensch wären, wenn Sie andere Eltern und damit bessere Startchancen gehabt hätten. Möglicherweise wären Sie dann unabhängiger, selbstständiger, hätten weniger Probleme, kämen mit anderen Menschen besser zurecht, hätten glücklichere Liebesbeziehungen, ein positiveres Selbstbild, wären optimistischer … kurz, Sie wären ein ganz anderer Mensch, wenn Ihre Kindheit besser gewesen wäre.

Aber vielleicht haben Sie gar keine konkrete Erinnerung an früher. Ihre Kinderjahre liegen in einem Nebelfeld, und da sollen sie Ihrer Ansicht nach auch bleiben. Was früher war, wen interessiert das schon? Wozu soll es gut sein, in der Vergangenheit herumzustochern? Sie wissen nicht, ob Sie eine gute oder eine schlechte Kindheit hatten, und Sie glauben, dass es Ihnen nicht viel helfen würde, falls Sie die Antwort wüssten. Was vorbei ist, ist vorbei, winken Sie ab, wenn jemand etwas von früher wissen will. Möglicherweise reagieren Sie auch abwehrend und genervt, wenn andere Menschen ihre aktuellen Probleme mit einer schlechten Kindheit erklären oder gar rechtfertigen wollen. Sie glauben an die Eigenverantwortung und daran, dass jeder seines Glückes Schmied und damit auch selbst verantwortlich dafür ist, ob es ihm gut oder schlecht geht.

Wenn Sie so über Ihre eigene Vergangenheit denken, wenn Sie sich an gar nichts oder wenig aus der frühen Kindheit erinnern, wenn Sie sich nicht als Vierjährige sehen und nicht wissen, was Sie als Sechsjähriger erlebt haben, dann könnte das ein Hinweis darauf sein, dass ein klarer Blick auf das Früher für Sie zu schmerzhaft wäre und Sie deshalb bestimmte Abwehrmechanismen entwickelt haben, um sich nicht erinnern zu müssen. Sie haben dann scheinbar vergessen, was geschehen ist – und das war früher, als Sie klein waren, die beste Lösung. Denn diese Mechanismen schützten Sie davor, die Wahrheit über das Geschehen in vollem Ausmaß zu begreifen. Sie halfen Ihnen, in einer unwirtlichen Umgebung, mit ablehnenden, strafenden, überbehütenden, gleichgültigen Eltern zu überleben. Und sie helfen Ihnen noch heute, weil Sie sich mithilfe dieser Abwehrmechanismen die Illusion erhalten können, dass Vater und Mutter gute Eltern gewesen sind, dass diese Sie geliebt und nichts falsch gemacht haben.

Ein 60-jähriger Mann, der nach dem Scheitern einer dritten Ehe psychologische Beratung aufsucht und sein Leben ordnen will, erinnert sich in der Therapie an seine Mutter. Sie war eine sehr schöne Frau, die sehr wohl wusste, wie sie auf Männer wirkte. Und ganz offensichtlich erprobte sie diese Wirkung auch an ihrem Sohn. Er erinnert sich, dass er sie als Junge oft beim Ankleiden beobachtet hat, dass er ihr beim Baden den Rücken einseifen durfte, dass sie sich des Öfteren auch nackt vor ihm zeigte. Er war unendlich stolz auf diese wunderschöne Mutter, die so ganz anders war als andere Mütter. Als die Therapeutin behutsam thematisiert, dass er möglicherweise gar keine richtige Mutter gehabt hatte, dass er nicht wirklich Sohn sein durfte, sondern nur der Mutter als Spiegel, als Partnerersatz dienen sollte, und dass dies möglicherweise etwas mit seinen Problemen mit Frauen zu tun haben könnte, reagiert er heftig ablehnend. Seine Mutter war die beste Mutter, die er sich nur denken konnte. Sie habe nichts, aber auch gar nichts mit seinen Beziehungsschwierigkeiten zu tun.

Eine junge Frau meint, eine »ganz normale« Kindheit gehabt zu haben, »mit beiden Eltern, würde ich sagen«. Ihre Mutter beschreibt sie als »fürsorglich, liebevoll und unterstützend«. Gefragt, was sie unter »fürsorglich« versteht, meint sie unter anderem: Die Mutter »war immer da und hat auf mich aufgepasst, um sicherzugehen, dass ich mich richtig verhielt und dass ich nichts anstellte.« Auf die Nachfrage, wie die Mutter sich verhielt, wenn es ihr schlecht ging, erinnert sie dann aber Folgendes. Sie habe sich mal beim Spielen den Arm gebrochen. »So was in der Art hat meine Mutter wütend gemacht, sie hasste solche Sachen … Sie mochte keine Heulsusen. Ich habe immer versucht, nicht zu weinen, weil sie so ein starker Mensch war.« Der Widerspruch zu ihrer Beschreibung, dass die Mutter »fürsorglich« war, fällt dieser Frau nicht auf. Im Gegenteil: Sie bleibt bei ihrer Aussage »Ich hatte eine schöne Kindheit.«

 

Für den Psychiater und Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch sind Beispiele wie diese (Letzteres stammt aus seinem Buch Bindung und seelische Entwicklungswege) Belege dafür, dass Menschen mit frühen negativen Erfahrungen nicht an ihrem Kindheitsbild »Alles in Ordnung« rütteln wollen. Die Angst vor dem Verdrängten ist so groß, dass der Schutz vor der Wahrheit unbedingt aufrechterhalten werden muss. Aus eigener Kraft können nur wenige diesen Mechanismus durchschauen. Erst wenn sie zum Nachdenken angeregt werden, wenn ihre positiven Aussagen hinterfragt werden oder sie nach konkreten Beispielen und Erinnerungen gefragt werden, beginnt sich der Nebel, der über ihrer Kindheit liegt, zu lichten. Die Pianistin Hélène Grimaud schreibt in ihrer Biografie: »Es ist merkwürdig: Wenn ich gefragt werde, ob ich ein glückliches Kind gewesen sei, antworte ich ganz spontan ›Ja‹, aber wenn ich wirklich über diese Frage nachdenke, wenn ich mich zurückerinnere, was ich damals gewesen bin, dann lautet die Antwort Nein, entschieden Nein.«

Kindheit hat Folgen

Gute Erinnerungen, schlechte Erinnerungen, keine Erinnerungen – gleichgültig, wie präsent Ihnen Ihre Vergangenheit ist, und gleichgültig, wie sehr Sie sich bislang für Ihr eigenes Aufwachsen interessierten –, eines steht fest: Sie hatten eine Kindheit. Und diese Kindheit hat Folgen. Die Erfahrungen, die wir in unseren frühen Jahren machen, hinterlassen Spuren. Sie sind auf unserer »Lebenslandkarte« eingezeichnet. Ähnlich wie auf einer richtigen Landkarte alle Straßen, Orte und Flüsse zu sehen sind, so sind auf dieser inneren Karte alle unsere Erlebnisse mit unseren frühen Bezugspersonen vermerkt. Ihr Aussehen, ihr Lachen, ihre Art, sich zu kleiden, auch ihre Meinungen, ihre Ermahnungen, ihr Lob und ihre Kritik, ihre Zärtlichkeit und ihre Gleichgültigkeit haben dort zu Eindrücken und Abdrücken geführt. »Jeder Mensch hat einen biologischen Vater und eine biologische Mutter. Man muss sie nicht unbedingt lieben oder anerkennen, man kann ihnen misstrauen. Aber sie existieren – mit ihrem Gesicht, ihrer Haltung, ihren Manieren und Manien, ihren Illusionen, ihren Hoffnungen, der Form ihrer Hände und Zehen, der Farbe ihrer Augen und ihres Haares, ihrer Art zu reden, ihren Gedanken und vermutlich dem Alter, in dem sie sterben, all das haben wir in uns aufgenommen«, schreibt der französische Schriftsteller J. M. G. Le Clézio.

Die frühen Erfahrungen mit unseren Eltern dienen uns als Wegweiser. Wir orientieren uns daran, ganz gleichgültig, ob es sich um positive oder negative Erlebnisse handelt. So belegen diverse Studien, dass wir uns bei der Wahl unseres Liebespartners vom Aussehen der Eltern beeinflussen lassen: Männer verlieben sich eher in Frauen, die beispielsweise dieselbe Augen- und Haarfarbe der Mutter haben, Frauen wählen Männer, die ihrem Vater gleichen.

Oder wir lieben eine bestimmte Farbe, weil wir sie mit einer angenehmen kindlichen Erinnerung verknüpfen. Lavendelblau zum Beispiel. »Sie hatte ein lavendelblaues Kleid aus Viole mit einem fließenden Schal, ich erinnere mich noch so genau an dieses Kleid. Wenn sie abends ausging, kam sie mir Gute Nacht sagen in diesem Kleid. Papa rumorte schon ungeduldig im Flur. Sie roch so … so aufregend. Ich durfte mein Gesicht in den weichen Stoff reiben. Nur nichts verknittern durfte ich.« Diese Kindheitserinnerung erzählt schwärmend der Protagonist in der Erzählung Der Anruf von Keto von Waberer.

Vergangenheitsspuren wie diese sind angenehm und harmlos. Sie bereichern unser Leben. Gravierend und belastend jedoch sind andere Markierungen auf unserer Lebenslandkarte: fehlende liebevolle Zuwendung, keine oder eine unsichere Bindung an wichtige Bezugspersonen, Vernachlässigung und Misshandlung, Verwöhnung und Überbehütung. Wenn solche markanten Punkte auf unserer inneren Karte zu finden sind, stolpern wir möglicherweise orientierungslos durchs Leben und finden nicht den festen Weg, den wir suchen. Die Welt kommt uns dann nicht als sicherer Ort vor, an dem es sich gut leben lässt. Stattdessen ist Unsicherheit das Thema, das viele, wenn nicht alle Bereiche unseres Lebens dominiert: Wir sind unsicher, was uns selbst betrifft, wir kennen nicht unseren Wert und unsere Stärken. Und wir sind unsicher in Bezug auf andere Menschen. Die Erfahrungen in unseren ersten Lebensjahren bestimmen die Art und Weise, wie wir uns mit anderen Menschen fühlen und verhalten: ob wir sicher im Umgang mit ihnen sind oder ob wir ihnen misstrauisch und vorsichtig begegnen und ständig unsere Unabhängigkeit und Selbstständigkeit betonen müssen.

Gleichgültig, wie viel Einfluss Sie selbst Ihrer Kindheit auf Ihr aktuelles Leben einräumen – in Ihren frühen Jahren liegen die Antworten auf viele Fragen. Auf Fragen, die Sie sich wahrscheinlich selbst immer mal wieder stellen und die sich unter eine Hauptfrage subsummieren lassen: »Warum bin ich so, wie ich bin?« Vor allem in Stresssituationen und Krisenzeiten zerbrechen Sie sich wahrscheinlich immer wieder den Kopf über sich selbst:

Es gibt diese alltäglichen Verhaltensweisen und Gefühle, die Ihnen mal mehr, mal weniger störend auffallen. Und dann gibt es auch noch jene kritischen Lebenssituationen, in denen Sie sich überhaupt nicht erwachsen fühlen, sondern völlig allein gelassen, hilflos, verzweifelt, ohnmächtig und wertlos. Eben wie ein kleines Kind. Dann überwältigen Sie plötzlich Gedanken und Gefühle, auf die Sie alles andere als stolz sind. Meist haben Sie keine Erklärung dafür, sprechen vielleicht von Überlastung, Burn-out, Stress oder Ähnlichem. Den wahren Ursprung Ihrer Befindlichkeit erkennen Sie nicht. Ihnen ist nicht bewusst, dass diese für einen erwachsenen Menschen seltsamen und unangemessenen Verhaltensweisen in den meisten Fällen aus der Vergangenheit stammen, und Sie wissen nicht, dass diese in der Gegenwart nichts zu suchen haben. Doch weil Sie das nicht erkennen, sind Sie unfähig, dagegen etwas zu unternehmen. Im Gegenteil: Weil Sie keinen Zusammenhang zwischen dem Heute und dem Gestern sehen, machen Sie aktuelle Geschehnisse für Ihre Gefühle und Reaktionen verantwortlich – und wundern sich, warum Sie aus bestimmten Situationen nichts lernen, warum Ihnen manches immer wieder passiert. Sie erkennen nicht, dass Ihre Art, mit Stress und Konflikten umzugehen, genau der Art entspricht, wie Sie als Kind gelernt haben, mit Stress und Konflikten umzugehen. Das, was Sie in der Kindheit erlebt und unter Umständen erlitten haben, bringen Sie nicht in Zusammenhang mit Ihren aktuellen Schwierigkeiten und Empfindungen.

Marionetten der Vergangenheit?

Der Geburtstagstisch war festlich gedeckt. Sonnenblumen, wohin das Auge blickte. Dazwischen eine große Torte, geschmückt mit Marzipanrosen und einer großen Zahl: 90. Kaffeeduft lag in der Luft. Die Gäste waren alle schon versammelt. Es war eine kleine Schar, die Familie war nicht mehr sehr groß, dazu ein paar Freunde. Sie warteten auf die Jubilarin. Als die Tür aufging und die alte Frau im Rollstuhl hereingefahren wurde, klatschten alle und sangen, was an solchen Tagen immer gesungen wird: Happy Birthday und Hoch soll sie leben. Reglos nahm die alte Frau, die zwar pflegebedürftig, aber nicht dement war, die Gratulationen entgegen. Ihr Gesichtsausdruck war mürrisch. Die Tochter, die all das arrangiert hatte, wurde leicht nervös. »Stimmt irgendetwas nicht?« Keine Antwort. »Schau, die schöne Torte.« »Ja.« »Und die wunderbaren Sonnenblumen.« Keine Reaktion. Doch nach einiger Zeit meinte die Mutter: »Nur so wenig Sträuße?« Die Tochter wusste sofort, was die Mutter meinte. An ihren früheren Geburtstagen hatte die Mutter Blumensträuße wie Trophäen gesammelt. An der Anzahl der Sträuße las sie ihre Beliebtheit ab. Und heute? Nur drei Blumengebinde standen auf der Geburtstagstafel. Ein Schuldgefühl durchflutete die Tochter. Hatte sie doch den Gästen gesagt: Bitte keine Blumen, das Zimmer im Pflegeheim ist zu klein. Wie dumm von ihr! Aber da war ja noch ihre Überraschung, die würde diesen Fauxpas schon wiedergutmachen.

Bemüht, der alten Mutter einen unvergesslichen Tag zu bereiten, hatte die Tochter einen Sänger und eine Klavierspielerin engagiert. Sorgfältig waren die Lieder ausgewählt worden, Lieblingslieder ihrer Mutter. Als die Musiker sich vorstellten, blickte die alte Frau im Rollstuhl skeptisch. »Wer ist das?« »Mein Geschenk für dich«, sagte, schon etwas verunsichert, die Tochter. »Die beiden werden für dich singen und spielen. Pass gut auf, du wirst die Lieder alle kennen.« Hoch auf dem gelben Wagen – der Sänger hatte eine gute Stimme. Laut genug, dachte die Tochter und beugte sich zur Mutter. »Erkennst du das Lied?« Kopfschütteln. »Nein? Aber den Text, der ist dir doch bekannt.« Die Tochter sang das Lied mit. Diesmal kam gar keine Reaktion. Auch nicht beim nächsten. Im Frühtau zu Berge