Are Kalvø

FREI. LUFT. HÖLLE.

Mein Selbstversuch, den Outdoor-Wahnsinn lieben zu lernen

Aus dem Norwegischen von Wolfgang Butt

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© 2018 Kagge Forlag AS

Die norwegische Originalausgabe ist unter dem Titel

»Hyttebok frå helvete« bei Kagge Forlag AS erschienen.

Dieses Buchprojekt wurde vermittelt durch

Stilton Literary Agency, Oslo, und Arrowsmith, Hamburg.

Der Verlag dankt NORLA – Norwegian Literature Abroad – für die Förderung der Übersetzung.

1. Auflage 2019

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Wolfgang Butt

Lektorat: Sylvia Kall

Gestaltung: Birgit Kohlhaas

Zeichnungen Bildteil: Linda Blaasvær

Fotos Umschlag: Elisabeth Reiersen (Buchrückseite), John Andresen (Klappe hinten)

Fotos Innenteil: mauritius/Tetra images/Alamy (>>>>), mauritius images / Photononstop 2190 / Pascal Deloche (>>>>), alle anderen Bilder: Are Kalvø

eISBN 978-3-6164-9110-3

Anmerkung des Übersetzers

Norwegische Hüttennamen sind selten so klar und eindeutig übersetzbar wie im Fall Myggheim = Mückenheim. Ihre Entstehung ist oft nur auf sprachwissenschaftlich verschlungenen Wegen nachvollziehbar. Die hier in Klammern hinter dem norwegischen Namen angegebenen Übersetzungen sind daher teils nur assoziative Annäherungen.

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www.dumontreise.de

Ich habe in den letzten Jahren viele Freunde an die Natur verloren. Lustige Leute, die früher mit in die Kneipe gegangen sind. Jetzt stehen sie früh auf, fotografieren eine Skispur, posten das Bild und schreiben dazu: »Super Tag im Freien.« Das ist das Beste, was sie jetzt hinkriegen.

INHALT

01 Daran liegt es nicht

02 Dinge, die ich nicht verstehe

03 Indoorberge und Popcorn fürs Lagerfeuer

ERSTER VERSUCH: NACH JOTUNHEIMEN, UM BEKEHRT ZU WERDEN

04 Die letzte Nacht in Freiheit

05 Aus der Stadt in den Wald, Stunde um Stunde

06 Abschied von der Logistik

07 Gemeinsames Abendessen in Unterwäsche

08 Dem Gipfel entgegen

09 Kollektive Bewältigung in Unterwäsche

10 Hör auf unerfahrene Bergwanderer, Teil 1

ÜBER DIÄTBIER UND OUTDOORLABSKAUS

11 Die Rückkehr des Frohen Wandersmanns

12 Hör auf unerfahrene Bergwanderer, Teil 2

13 Dem Licht entgegen!

14 Welches Fazit ziehst du?

ERSTER VERSUCH: NACH JOTUNHEIMEN, UM BEKEHRT ZU WERDEN – DAS ERGEBNIS

FÜNF MONATE SPÄTER

15 Ich gehe in mich, und ich gehe in die Stadt

ZWEITER VERSUCH: ZUR HARDANGERVIDDA, UM LEUTE ZU TREFFEN

16 Proppenvoll und lebensgefährlich

17 Die Kunst, einen Japaner zu vergessen

18 Wohin altes Essen geht, um zu sterben

19 Schnaps und Zigarillos

20 Eingebildete Wildnis

21 Mensch oder Maus?

FJELLSPRACHE – DIE WICHTIGSTEN BEGRIFFE

22 Hör auf unerfahrene Bergwanderer, Teil 3

23 Weiße, die über Blasen reden

EIN JAHR SPÄTER

Einer von diesen Tagen

Und wo ist die Studie, die das belegt?

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In einer kürzlich durchgeführten Umfrage erklärten fast achtzig Prozent meiner Landsleute, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine Wanderung im Fjell oder im Wald gemacht zu haben.

Ich habe in den letzten dreißig Jahren keine einzige Wanderung unternommen, weder in den Bergen noch im Wald.

Das bringt mich an den Punkt, an dem ich mich fragen muss: Kann es sein, dass mit mir etwas nicht stimmt?

01

DARAN LIEGT ES NICHT

Meine Jugend ist voll von Natur, Erde, Tieren, Tradition, selbst gepflücktem Obst und Beeren. Und Bergen. Vielen Bergen. Sehr vielen Bergen.

Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es eine Stabburtreppe. Eine schiefe Steintreppe, die aussieht, als hätte es sie dort schon immer gegeben. Die Vorratsspeichertür, zu der sie führt, ist schwer und schief, sie lässt sich nur mit Mühe öffnen und muss mit einem rostigen Schlüssel von der Größe eines wohlgenährten Babys aufgeschlossen werden. Der Vorratsspeicher ist voll von dem, wovon Speicher voll sind: Sachen, die du nicht wegwirfst. Und wenn du auf einem Bauernhof lebst, dann wirfst du nichts weg. Denn da hast du so viel Platz, dass du nie gezwungen bist, etwas wegzuwerfen. In diesem Speicher findest du Küchengeräte und landwirtschaftliche Maschinen, die einmal eine Funktion hatten, jetzt aber nur noch gefährlich aussehen. Du findest altertümliche Dinge mit ebensolchen Namen. Tröge. Spinnräder. Holztruhen. Butterfässer, Tretschlitten. Sitzpolster. Alte Illustrierte. Comics. Ein Puppenhaus, das unheimlich aussieht, wie Puppenhäuser es so an sich haben. Meine alten Maxisingles aus den Achtzigerjahren mit unnötig langen Versionen von mäßig großen Hits englischer Musiker mit toupierten Haaren. Elektronik, die nur Staub ansammelt, bis sie eines Tages auf einmal wieder in Mode kommt. Hier fand ich kürzlich ein vierzig Jahre altes Radio, das ich mit nach Hause nahm und das jetzt im Wohnzimmer als Verstärker dient. Absolut jeder meiner Gäste bewundert dieses Radio.

So ist es auch mit der Stabburtreppe. Sie sieht dermaßen nach einem romantischen Hofklischee aus – alt, von Hand gemauert und schief –, dass Menschen, die zu Besuch kommen, gar nicht anders können, als sie zu bemerken und Fotos zu machen.

Ja, es ist wahr. An so einem Ort bin ich aufgewachsen. Mit Stabbur und Ställen und Trögen und Spinnrädern und anderen Dingen mit altertümlichen Namen. Dingen, die vererbt werden. Eine Scheune. Ein Wald. Viel Wald. Ein Baumhaus. Ein Fluss, der unablässig ziemlichen Lärm macht, den ich erst wahrnahm, als ich weggezogen war und wieder zurückkam. Ein weißes Holzhaus. Ein Schlafzimmer mit Aussicht auf einen Fjord. Und Tiere. Kühe, Hühner, Schweine. Ein Hund, der eines Tages einfach auftauchte und nie mehr wegging. Und immer eine Katze.

Also daran liegt es nicht. Meine Jugend ist voll von Natur, Erde, Tieren, Tradition, selbst gepflücktem Obst und Beeren. Und Bergen. Vielen Bergen.

Sehr vielen Bergen.

Von der Stabburtreppe blickst du über die Felder und Wiesen des Hofs. Und dahinter: Berge. Fährst du vom Hof vier Minuten in die eine oder andere Richtung, stößt du auf Berge. Dramatische Berge, Berge, die Touristenattraktionen sind. Menschen reisen um den halben Erdball, um sie zu fotografieren. Und Berge mit Skiwanderterrain und Abfahrtspisten. Hier sind norwegische Meisterschaften durchgeführt worden. Hier haben Weltcuprennen stattgefunden. Einer von drei Reklamefilmen, die echt norwegisch aussehen sollen, wird hier gedreht. Zwei von drei Reklamefilmen, die echt norwegisch aussehen sollen, werden in Neuseeland gedreht. Das ist billiger.

Und ich habe meine Touren absolviert. Ich bin in den Bergen gewesen. Ich habe Ski an den Füßen gehabt. Langlaufski und Abfahrtski. Dort, wo ich aufgewachsen bin, war das die Wochenendbeschäftigung, falls man nicht eine total überzeugende Entschuldigung hatte.

Es liegt also nicht daran, dass ich nicht an Freiluftleben und Touren und Skifahren gewöhnt wäre. Wenn in meiner Jugend in der Schule Skitag war, fand er oft bei uns zu Hause statt. Ehrlich. Unser Hof lag nicht weit von der Schule, und wir hatten viel Platz. Also fuhren die Schulklassen bei uns zu Hause Ski. Und veranstalteten bei uns zu Hause Skispringen. Denn es gab einen Hügel dort, einen perfekten Sprunghügel. Du siehst: Ich bin mit Skiloipen und Sprunghügel zu Hause groß geworden.

Daran liegt es nicht.

1983 – und noch heute kann niemand erklären, wie es dazu kam – war die Fußballmannschaft meines Heimatortes die Sensation des Jahres. Der Verein heißt Stranda, wie der Ort. Stranda spielte in der vierten Liga und schaffte es bis in die dritte Runde des norwegischen Pokals, was höchst ungewöhnlich ist. Auf dem Weg dahin schlug Stranda eine Drittligamannschaft, und – weit wichtiger – die Zweitligamannschaft aus Ålesund, der einzigen Stadt des Distrikts, eine Mannschaft, die Ambitionen hatte, in die erste Liga aufzusteigen, und sich natürlich den Bauern vom Lande in so gut wie allen Lebensbereichen überlegen fühlte. Stranda hatte ungefähr dreitausend Einwohner, Ålesund fünfundzwanzigtausend. Stranda schaltete sie aus. In der dritten Runde sollte Stranda auf die damals beste Fußballmannschaft Norwegens treffen, Vålerenga. Und das sage ich nicht einfach so. Vålerenga gewann in jenem und im Jahr danach die norwegische Meisterschaft. Vålerenga kam aus Oslo. Oslo hatte damals weit über eine halbe Millionen Einwohner.

Das Spiel wurde in Norwegens größten Zeitungen vorab kommentiert, und da waren Strandas beste Spieler zusammen mit dem Lehnsmann und dem Pastor abgebildet, um zu zeigen, dass hier in der Gegend alle zusammenhielten, und Stars von Vålerenga wurden interviewt und sagten Sachen wie: »Stranda? Wo ist das überhaupt?«

Es ist also nicht so, dass ich aus der Großstadt käme und daran gewöhnt wäre, dass die ganze Zeit etwas los ist.

Daran liegt es nicht.

Aber wenn einmal etwas los war, dann konnte man auf uns zählen. Beim Spiel zwischen Stranda und Vålerenga sollen viertausend Zuschauer gewesen sein.

Viertausend! In einem Ort mit dreitausend Einwohnern. Das bedeutet hundertdreißig Prozent Anwesenheit. Es entspricht einer Publikumszahl von fast neunhunderttausend in Oslo, fünf Millionen in Berlin oder elfeinhalb Millionen in London.

Es kamen Leute aus der Hauptstadt, um das Spiel zu sehen. Und es kamen Leute aus Ålesund, um dabei zu sein, wenn Stranda von Norwegens bester Mannschaft gedemütigt würde. Einer von ihnen war ein Freund meines Vaters mit über den kahlen Schädel frisiertem Seitenhaar. Er wurde »der King« genannt. Frag mich nicht, warum. Alle in Ålesund werden so genannt. Der King war zu Besuch auf unserem Hof. Die Stabburtreppe ist ihm ganz bestimmt aufgefallen. Und er blieb stehen und blickte über Felder und Wiesen. Als der King in die Stadt zurückkam und die Freunde ihn fragten, wie es in Stranda gewesen sei, soll er geantwortet haben: »Es ist eine enorm weitläufige Landschaft.«

Es ist also nicht so, dass ich es gewöhnt wäre, von massenhaft Menschen und massenhaft Geräuschen und massenhaft Action umgeben zu sein. Ich bin an viel Platz gewöhnt. Enorme Weiten. Stille. Eine Stabburtreppe. An einen Ort, wo so wenig passierte, dass, wenn ausnahmsweise einmal etwas los war, hundertdreißig Prozent der Einwohner zur Stelle waren.

Also das ist es nicht.

Und es liegt auch nicht daran, dass ich etwas gegen sportliche Betätigung hätte. Ich war fast mein gesamtes Leben ein vielversprechender Fußballer. Ich habe tatsächlich mit mehreren der Jungs, die 1983 gegen die beste Mannschaft Norwegens eine ehrenhafte 0:2-Niederlage herausholten, in einer Mannschaft gespielt. Ich war aktiver Langläufer. Nicht besonders aktiv, aber aktiv. Ich habe verschiedene super zweite Plätze errungen und einen Pokal, der das beweist. Einen ziemlich kleinen Pokal allerdings. Du wirst es nicht glauben, wie klein dieser Pokal ist. Schnapsgläser kennst du? Ungefähr halb so groß. Aber ich habe den Pokal irgendwo. Im Stabbur wahrscheinlich.

Und es liegt auch nicht daran, dass ich nicht gern gehe. Im Gegenteil. Gehen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich gehe jeden Tag, und ich gehe weit. Also daran liegt es nicht.

Aber meine Art zu gehen ist nicht die richtige. Am liebsten gehe ich dort, wo Menschen sind. Gern auch Kellner. Ich mag es, in Stadtzentren durch die Straßen zu laufen. Einfach umherzuflanieren, ohne ein bestimmtes Ziel. Da, wo ich herkomme, taten das nicht besonders viele. Da machtest du in der Sekunde, in der du achtzehn wurdest, den Führerschein, und von dem Tag an hast du das Auto nach Möglichkeit nicht mehr verlassen. Wenn man in meinem Heimatort einen Erwachsenen durchs Zentrum gehen sah, fragten sich alle: Jesses, musste er den Führerschein abgeben?

Oder sie dachten: Gibt es an der Schule etwa einen neuen Lehrer?

Man ging im Zentrum nicht zu Fuß.

Sich in ein Auto setzen, vier Minuten zum Fuß eines Berges fahren, auf den Berg steigen und wieder herunterkommen, sich in das Auto setzen und nach Hause fahren? Völlig normal. Ohne bestimmte Absicht im Zentrum umherflanieren? Dorforiginal.

Aber ich habe es ja in mir. Zu gehen, weit zu gehen.

Das ist es also auch nicht.

Das erste Mal, als jemand, der mich sehr gut kennt, auf unserem Hof zu Besuch war, fiel ihr – wie allen anderen – die Treppe auf. Sie betrachtete sie und sagte zu mir: »Da hast du gesessen und dich umgeschaut und gedacht: Hier will ich nicht bleiben.«

Das ist es.

Denn genau das dachte ich, als ich in meiner Jugend auf dieser Treppe saß. Und ich saß ziemlich oft da. Ich war so ein Typ, fürchte ich. Einer, der dasitzt und in die Gegend guckt und versucht, tiefsinnig auszusehen. Aber ich dachte nicht an die Natur. Dachte nie, wie schön alles ist. Wie dankbar man sein sollte, wenn man so leben kann, aktiv und im Einklang mit der Natur.

Nein. Ich dachte: Hier will ich nicht bleiben.

Natürlich dachte ich nicht nur das. Ich war nicht krank. Ich war ein empfindsamer junger Mann. Ich dachte auch großes, pompöses Zeug, das verrate ich jedoch nicht, egal, wie sehr du nachbohrst, also vergiss es einfach, okay?

Aber ich dachte auch das: dass ich dort nicht bleiben wollte. Obwohl es mir dort in jeder erdenklichen Hinsicht gut ging.

Es ist ja auch nicht gerade ein origineller Gedanke. Darüber bin ich mir völlig im Klaren. Alle, die aus kleinen Orten kommen und später aufs Bücherschreiben verfallen, erzählen die gleiche Geschichte, wie sie sich weggesehnt haben. Es ist so was von unoriginell. Und den meisten meiner Jugendfreunde, die weggezogen sind, ist es auch so gegangen.

Wir zogen in Städte. Wir studierten. Wir gingen in die Kneipe. Bis tief in die Nacht diskutierten wir über Dinge, von denen wir wenig verstanden. Wir sogen Kultur in uns auf, die wir eigentlich nicht mochten. Wir gingen durch Straßen im Zentrum. Wir bekamen neue Freunde, neue Geschmäcker und neue Runden Bier. Kurz: Wir lebten drauflos. Ich dachte – und denke es immer noch –, dass das Beste, was das Leben mir zu bieten hat, mit Menschen zu tun hat, gern vielen Menschen, und viel Trubel. Und dass es schlicht und einfach undankbar ist, im Zelt zu wohnen, wenn jemand sich die Mühe gemacht hat, so etwas wie Wände und Decken und Hotelbars zu erfinden. Wir zogen in die Stadt. Wir benutzten die Stadt, liebten die Stadt und blickten nicht zurück. Und wir waren viele.

Aber es gibt da ein Problem: Den meisten geht es ja nicht ein Leben lang so. So was ist nicht von Dauer. Das ist der Punkt. Wenn du das Studium hinter dir hast, oder was nun deine Entschuldigung dafür war, in die Stadt zu ziehen. Wenn du erwachsen wirst, dich niederlässt, das Tempo drosselst. Dann geschieht etwas. Dann ändern sich deine Werte. Plötzlich kommst du darauf, dass du eigentlich die Natur liebst.

Beinahe allen, die ich kenne, ist es so gegangen. Nur mir nicht.

Ich habe in den letzten Jahren so viele Freunde an die Natur verloren. Gute Leute. Patente Leute. Lustige Leute, die früher gern mit in die Kneipe gegangen sind, um Stuss zu reden. Was machen sie jetzt? Sie stehen früh auf, fotografieren eine Skispur, posten das Bild auf Facebook und Instagram und schreiben dazu: »Super Tag im Freien.«

Leute, die ich früher als gute Freunde betrachtet habe. Und als geistreich.

»Super Tag im Freien.« Das ist das Beste, was sie jetzt hinkriegen.

Vielen geht es an einem bestimmten Punkt im Leben so: Du fängst an, den Humor zu verlieren. Und die Haare. Oft passiert es gleichzeitig. Ich befürchte inzwischen, dass der Humor womöglich in den Haaren sitzt.

Du verlierst den Humor und die Haare und entdeckst das Bergwandern für dich. All dies geschieht gleichzeitig, wenn du den Punkt im Leben erreicht hast, wo die Türsteher schon lange aufgehört haben, dich nach deinem Ausweis zu fragen, sondern sich stattdessen erkundigen, ob du ganz sicher bist, dass dies der richtige Ort für dich ist.

In diesem Alter treten verschiedene Veränderungen ein.

Du fängst an, Sport zu treiben. In der Hoffnung, auch ohne Haare und Humor noch so gut wie möglich auszusehen. Und natürlich weiß ich, dass manche Leute sagen, sie trieben nicht Sport, um gut auszusehen, sondern weil der Sport als solcher ihnen eine Befriedigung verschaffe. Okay. Aber wenn der Sport keine Konsequenzen hätte, seien es gesundheitliche oder ästhetische, dann würden wir uns ja gar nicht die Mühe machen. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein Arzt zu einem Patienten gesagt hat: »Du hast noch einen Monat zu leben«, und der Patient geantwortet hätte: »Dann fange ich an, Sport zu treiben! Dafür werde ich meine letzten vier Wochen nutzen. Ich werde meine letzten vier Wochen auf dieser Welt in Lycrazeug verbringen, in einem grell erleuchteten Fitnesscenter, gemeinsam mit anderen Menschen in Lycra, die ich nicht kenne und die nach Schweiß riechen, und wir werden starr vor uns hinschauen und Musik hören, die nicht zu laut sein sollte, während wir auf Fahrrädern strampeln, die sich nicht vom Fleck bewegen.«

Du hörst nicht unbedingt auf, auszugehen, wenn du dieses Alter erreichst, aber du bevorzugst zunehmend Orte, wo es nicht so viel Lärm gibt. Und keine Türsteher. Oder Menschen. Denn neuerdings legst du Wert darauf, deine Freunde zu treffen, um dich mit ihnen zu unterhalten. Über unvorstellbar langweilige Dinge. Denn das gehört dazu. Wenn wir in diesem Alter ausweichend auf die Frage der Liebsten antworten, was wir eigentlich auf der letzten Männertour gemacht haben, dann nicht, weil wir irgendwas Unsägliches gemacht hätten oder uns nicht daran erinnerten, sondern weil wir nicht gern zugeben, dass wir drei Tage in London im Pub gesessen und über das Abfeiern von Überstunden geredet haben.

Oder schlimmer noch, über Sport. Oder die Natur.

Denn es rennen nicht nur plötzlich alle in die Natur. Sie hören auch nicht auf, darüber zu reden. Und sie reden darüber ohne den geringsten Humor. Leute, die früher geistreich und quicklebendig waren, geben jetzt allen Ernstes Sätze von sich wie:

»Die Stille im Gebirge ist mit nichts anderem vergleichbar.«

Doch. Sie ist mit jeder anderen Stille vergleichbar. Abgesehen davon, dass es bestimmt nicht völlig still ist, wenn es im Gebirge still ist. Insofern gleicht die Stille im Gebirge wahrscheinlich dem Wind. Oder dem Regen. Oder dem Gesurre von Mücken.

»Wenn du früh aufbrichst, hast du die ganze Natur für dich allein.«

Na gut. Aber ist das nicht ein bisschen egoistisch?

»Das Gebirge erfüllt mich mit einer ganz eigenen Ruhe.«

Wie schön für dich. Und warum erzählst du mir das?

»Nur in der Begegnung mit der Natur verstehst du, wie klein du bist.«

Also wenn du nur in der Begegnung mit der Natur verstehst, wie klein du bist, hast du ganz einfach ein übersteigertes Selbstbild. Wenn du dir bewusst machen willst, wie unbedeutend deine Probleme sind, dann denk an Aleppo. Nicht an Jotunheimen.

»Ich habe angefangen, Berggipfel zu sammeln. Dinge habe ich genug.«

Wir wissen beide ganz genau, dass du deshalb nicht aufgehört hast, Dinge zu sammeln. Du hast dir gerade für siebentausend Kronen eine Saftpresse gekauft. Berggipfel sammelst du zusätzlich.

»Dieses Jahr wandern wir in den Ferien von Hütte zu Hütte …«

Das sind keine Ferien. In den Bergen von Hütte zu Hütte zu wandern, ist bestenfalls eine Karikatur von Ferien, die ausschließlich die zwei langweiligsten Ferientätigkeiten beinhaltet: Packen und Schleppen.

Aber das machen die Leute. Von Hütte zu Hütte wandern, tagelang, während mit dem Schweiß der Humor von ihnen abtropft. Sie besuchen Hütten, die Pyttbua (Pfützenbude), Krækkja (Krähenbeereneck), Tjennhuken (Teichwinkel) und Gaukhei (Kuckuckshalde) heißen. Und diese Namen habe ich mir nicht ausgedacht. Es sind tatsächlich Namen von Hütten in der norwegischen Bergwelt. Und dahin fahren Leute in Urlaub. Ganz im Ernst. Fokstugu (Schneegestöberhütte), Styggemannshytta (Teufelshütte), Myggheim (Mückenheim).

Mückenheim!!

Wie weit hat das eigentlich schon um sich gegriffen? Wie viele Freunde bleiben mir überhaupt noch, die nicht die Natur sozialen Kontakten mit Geblödel und Gelächter vorziehen? Kürzlich nahm ich mir vor, systematisch vorzugehen. Ich suchte alle in den sozialen Medien. Alte Klassenkameraden, Studienfreunde, ehemalige Lehrer und Dozenten, Kollegen und Chefs. Sie leben sehr unterschiedlich. Sie wohnen im Norden und im Süden, im Osten und im Westen. Sie sind homosexuell oder heterosexuell. Sie sind Singles, fest liiert, verheiratet oder irgendwas dazwischen. Sie haben keine Kinder, zwei Kinder oder fünf, mit zwei, drei oder vier Frauen. Sie sind Architekten, Ingenieure, Handwerker, Fabrikarbeiter, Schriftsteller oder Lehrer, sie sind Kioskbetreiber oder verkaufen Möbel.

Aber alle, und da meine ich alle, posten Bilder von Bergen.

Vielleicht stehen sie auch auf dem Berg. Womöglich mit nacktem Oberkörper. Einer von ihnen sogar mit nacktem Unterkörper. Darüber will ich lieber nicht sprechen. Vielleicht stehen sie vor dem Berg. Vielleicht haben sie ihn auch nur fotografiert. Aber alle, absolut alle, haben mindestens ein Bild von einem Berg.

Ich kenne niemanden, der keine Bilder von Bergen auf Facebook postet.

Wann ist das passiert? Hat es eine Versammlung gegeben, zu der ich nicht eingeladen war? Wer hat mir meine Freunde genommen und sie in eine Bande selig lächelnder Freiluftjünger verwandelt? Die sich mit hochgestrecktem Daumen und albernen Mützen im Freien ablichten lassen? Und die auch noch so aussehen, als hätten sie Spaß daran?

Ich kenne Singles, die darüber klagen, dass sie den Kontakt zu alten Freunden verlieren, wenn diese sich verlieben. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Aber sie verlieren ihre Freunde zumindest an das Größte auf der Welt: die Liebe. Ich verliere meine Freunde an Steine.

Richtig düster sieht es aber für die Singles unter meinen Freunden aus. Mehrere von ihnen verwenden Apps, um jemanden kennenzulernen. Dabei mag die Auswahl auf den ersten Blick überwältigend wirken, aber wenn du alle abziehst, die offensichtlich völlig abgedreht sind, und dann all jene, die ein Bild von sich selbst auf einem Berg gepostet haben, dann bleiben nur noch drei übrig. Im ganzen Land. Und wahrscheinlich hattest du mit allen dreien schon mal was.

Ich habe mich immer mehr auf die Statistik verlassen als auf mich selbst. Also habe ich es überprüft: Es ist nicht nur mein Gefühl, und es gilt nicht nur für meine Freunde. Es gilt auch nicht nur für Menschen in meinem Alter, dem Todesangstalter zwischen vierzig und fünfzig. Weiter hinten im Buch folgen detailliertere und ziemlich beunruhigende statistische Informationen, aber so viel sei jetzt schon gesagt: Man kann zweifellos feststellen, dass Freiluftaktivitäten zu meinen Lebzeiten explosionsartig zugenommen haben. Und sie breiten sich weiter aus. Jugendliche wandern in die Berge, und das freiwillig. Rentner laufen durch Wald und Feld. Alle zieht es in die Natur. Und während ich dies schreibe, nähern wir uns hierzulande den Herbstferien – denn die haben wir natürlich –, und ich mache eine Pause und schaue mich ein wenig in Online-Zeitungen um. Dort lese ich von einer ganz aktuellen Untersuchung, die zu dem Ergebnis kommt, dass sieben von zehn Befragten in den Herbstferien raus in die Natur wollen. Und das ist der Durchschnitt. In meiner Altersgruppe, bei den Vierzig- bis Neunundfünfzigjährigen, liegt die Zahl noch höher.

Es kommt mir vor, als wäre ich eine Zeit lang verreist gewesen und in ein Land mit kollektiver Midlife-Crisis zurückgekehrt. Aber nicht so eine wilde und gefährliche Midlife-Crisis, über die Filme gedreht werden, mit wüsten Festen, plötzlichem Aufbruch und maßlosem Umgang mit Rauschmitteln. Keine von jenen Krisen, wo du aufwachst und dir fehlen vier Schneidezähne und du befindest dich in einer Stadt, ohne dich erinnern zu können, wie du überhaupt dorthin gekommen bist. Nein, hier reden wir von einer extrem vernünftigen und gesunden Midlife-Crisis, die von den Gesundheitsbehörden engagiert gefördert wird.

Als hätte die Vernunft gesiegt. Und du siehst es überall.

Junge Popstars, bei denen du dich früher darauf verlassen konntest, dass sie, wenn es darauf ankam, in Interviews vorhersehbar unverantwortliche und provozierende Sachen sagten, geben heute ebenso vorhersehbar verantwortliche und unprovozierende Sachen von sich. Vorbilder? Mama und Papa. Freizeitinteressen? Sport.

Selbst das Reality-TV wandelt auf vernünftigen Wegen. Vor zwanzig Jahren galt es als Inbegriff moralischer Auflösung. Anfangs ging es beim Reality-TV darum, in einem Monat so viel zu trinken wie möglich und so viel Sex zu haben wie möglich. Jetzt geht es im Reality-TV und in Dokusoaps mehr und mehr darum, aufs Land zu ziehen, zu leben wie in alten Zeiten und Aufgaben gemeinschaftlich zu lösen. Norwegens ältestes Realityformat, das auch in viele andere Länder verkauft worden ist, ist natürlich ein Wettbewerb in …?

Genau. Wandern. In der Natur.

Sie sind überall. Vernünftige Menschen mit vernünftiger Kleidung. Gesunde Menschen, die Fotos von Bergen machen. Menschen, die ohne eine Spur von Humor sagen: »Gute Schuhe sind das A und O.«

Wenn du kein Psychopath bist, kommst du am Ende ins Grübeln. Liegt das Problem vielleicht doch bei mir? Warum fühle ich nicht diesen Zug zur Natur wie alle anderen? Warum sehne ich mich nicht nach dieser Stille, die mit nichts vergleichbar ist? Ich bin schließlich mit Stabburtreppe und Tieren und Wald, mit Trögen und Spinnrädern aufgewachsen. Und mit Bergen. Sehr vielen Bergen. Und es ging mir, wie gesagt, ausgesprochen gut dabei.

Was stimmt nicht mit mir? Ich bin an einem Ort mit fast unbegrenztem Platz und Zugang zur Natur aufgewachsen, und das, woran ich mich mit der größten Begeisterung erinnere, ist der einzige Tag in der Geschichte der Gegend, an dem mehrere tausend Menschen auf ziemlich engem Raum versammelt waren.

Bin ich vielleicht nur nicht erwachsen genug? Ob es mit dem Alter kommt? Werde ich eines Tages in nächster Zukunft aufwachen und spüren, dass alles verändert ist? Dass es heute nur eins gibt, wozu ich Lust habe – nein, was ich tun muss –, nämlich, an einen hoch gelegenen Ort zu gehen, mich untenherum auszuziehen und ein Foto zu machen? Und zu schreiben: #frei?

Jemand soll einmal gesagt haben, dass man im Leben alles ausprobieren soll, außer Inzest und Volkstanz. Wie bei allem Zitierbaren ist umstritten, wer es eigentlich als Erster gesagt hat. Und wie alles Zitierbare ist auch dieses Zitat weder wahr noch gut. Selbstverständlich gibt es vieles im Leben, was man auf keinen Fall ausprobieren sollte. Selbstmord, um das nächstliegende Beispiel zu nennen. Doch wenn man sich beschränkt und statt »alles« sagt, »alles, was legal ist und was Leute, die ich mag, tun«, dann hat die Aussage etwas für sich. Es ist natürlich kein so imponierendes Zitat mehr, doch die Botschaft wird umso sympathischer. Sie lautet: Sei neugierig und lass dich mitreißen.

Ich betrachte mich, zumindest seit ich erwachsen bin, gern als jemanden, der sich mitreißen lässt, der sich für das interessiert, was andere Menschen interessiert. Ich kenne nichts Öderes als Menschen, die automatisch und ohne triftigen Grund alles ablehnen, was viele andere beschäftigt. Wenn sehr viele Menschen sich mit etwas befassen und darüber reden, dann bekomme ich Lust herauszufinden, warum so viele davon angetan sind, und mich – im Idealfall – davon mitreißen zu lassen. Deshalb höre ich mir Musik an, die sonst niemand in meinem Alter hört. Deshalb verfolge ich zuweilen Wettbewerbe, von denen ich im Grunde nicht besonders viel verstehe. Und deshalb war ich im Sommer 2016 plötzlich auf Island. Ich bin nicht im geringsten isländisch. Kenne niemanden auf Island. Ich habe kein besonderes Verhältnis zu Island. Ich weiß, dass sie dort sonderbar reden und warme Quellen haben, und in meiner Jugend, als ich es noch nicht besser wusste, habe ich eine Zeit lang auch Björk gehört. Doch auf einmal, 2016, war Island die Sensation des Jahres bei der Fußballeuropameisterschaft. Sie kamen weiter. Sie warfen England raus. Und plötzlich stand Island im Viertelfinale. Island, wo im Großen und Ganzen Winter herrscht, und dessen Gesamteinwohnerzahl der eines Viertels eines Stadtteils von London entspricht. Und wir waren eine Clique in einer Fußballkneipe in Norwegen und sahen Bilder aus Reykjavík, wo praktisch die gesamte Bevölkerung Islands mitten in der Stadt versammelt war und auf einer Großleinwand die Spiele verfolgte. Und sie sangen und jubelten. Da gab es nur eins: Wir kauften umgehend Tickets, flogen nach Reykjavík und sahen das Viertelfinale gemeinsam mit so gut wie sämtlichen Isländern. Es war fantastisch.

Ich weiß, das hört sich angeberisch an, und nicht jeder hat die Möglichkeit oder das Geld, so ohne weiteres nach Island abzudüsen. Anderseits: Du hast offenbar jedes Mal, wenn das Wetter beständig ist, die Möglichkeit, zu irgendeinem Berggipfel abzuhauen. Und für das, was deine Skiausrüstung kostet, bekommst du nicht nur eine, sondern mehrere Islandreisen.

Ich sehe ja das Muster in dem Ganzen. Es zieht sich eine Linie von dem Tag, als die Mannschaft meines Heimatortes im Pokal gegen die beste Mannschaft Norwegens antrat, bis zu dem Islandtrip. Aber es geht nicht um Fußball. Es geht um Menschen. Und darum, sich mitreißen zu lassen.

Ich lasse mich gern mitreißen.

Das Leben wird einfach viel spaßiger.

Aber meine Skepsis gegenüber dem Freiluftleben sitzt tief. Freiluftleben ist eindeutig etwas, womit viele sich befassen. Ich sollte mich – wenn ich dem, was ich hier von mir selbst sage, treu bleiben will – auch hiervon mitreißen lassen.

Aber die Skepsis sitzt tief.

Damit du nachvollziehen kannst, wie wenig ich mich selbst als Freiluftmenschen sehe, gesehen habe oder zu sehen wünsche, hier eine kleine Geschichte: Vor einiger Zeit zog ich mir eine Knieverletzung zu. Ich musste einige Wochen lang an Krücken gehen. Es kann durchaus gute Seiten haben, an Krücken auf der Straße herumzuhumpeln. Du erfährst eine gewisse Sympathie. Die Leute lächeln dich an. Sie nicken aufmunternd. Doch nach einiger Zeit begann ich, in den Blicken und im Lächeln der Menschen etwas anderes zu sehen. Etwas Nachsichtiges? Eine Form von Einverständnis? Mehrere von denen, die mir begegneten, nickten und betrachteten mich mit einem Blick, der besagte: »Ich kenne das.«

Da begriff ich. Die Leute sehen Folgendes: Einen Mann in den Vierzigern, an Krücken. Knieverletzung. Sie denken: Er hat bei einer Bergtour seine Kräfte überschätzt. Typischer Kletterunfall, denken sie.

O nein! Sie glauben, ich sei einer von ihnen.

Ich verspürte ein sehr dringendes Bedürfnis, mich zu erklären. In allen Gesprächssituationen war ich blitzschnell bereit zu erzählen, was wirklich passiert war. Allzu laut, allzu detailliert und in der Regel, ohne dass ich gefragt worden war. »ES IST AUF EINER PARTY PASSIERT«, rief ich. »BEIM TANZEN! UM HALB VIER IN DER NACHT. AUF EINER PARTY! ES IST EINE TANZVERLETZUNG. KEINE SPORTVERLETZUNG! ES IST AUF EINER PARTY PASSIERT! AUF EINER PARTY!«

Verstehst du jetzt, was ich meine? Nein?

Okay. Lass mich versuchen, dir zu erklären, wie wenig Freiluftmensch ich wirklich bin. Dies ist die Gesamtmenge von Freiluftleben, auf die ich zurückblicken kann, in sieben Punkten:

1. Ich habe in meiner Jugend einige Hüttentouren gemacht. Ungefähr fünf. Sie hatten so gut wie nichts mit Freiluftleben zu tun. Mehr verrate ich nicht. Dann kannst du dir selbst ausmalen, was für eine wilde Jugend ich hatte.

2. Auch als Erwachsener habe ich einige Hüttentouren unternommen. Ungefähr vier. Bei sämtlichen Gelegenheiten fuhren wir dabei mit dem Auto fast bis zur Hütte. Bei sämtlichen Gelegenheiten waren mehr Plastiktüten als Rucksäcke im Spiel. Und es wurde nicht gewandert.

3. Seit ich vor dreißig Jahren die obligatorische Schullaufbahn hinter mich gebracht habe, habe ich lediglich einmal Ski an den Füßen gehabt. Das war bei einer der unter Punkt 2 geschilderten Hüttentouren, als so wahnwitzig viel Schnee lag, dass wir hundert Meter von der Hütte entfernt parken und das letzte Stück auf Skiern gehen mussten. Auch diesmal waren mehr Plastiktüten als Rucksäcke involviert. Was entschieden komplizierter ist, wenn man Skistöcke in den Händen hat.

4. In den letzten zwei Sommern habe ich jeweils eine Ferienwoche in einer gemieteten Hütte an der Küste verbracht. Ich liebe die Küste. Meine einzige Bedingung bei der Auswahl war, dass mindestens zwei Lokale zu Fuß von der Hütte erreichbar sein sollten. Wir fanden eine mit drei Lokalen. Es war überaus angenehm.

5. Natürlich habe ich in meiner Jugend einige Wanderungen gemacht, weil die Berge direkt vor der Haustür lagen, wie ein dauerhafter Grund für ein schlechtes Gewissen, wie eine ständige Erinnerung daran, dass man seine Zeit zu etwas Vernünftigerem brauchen kann, als Fußball zu spielen und mit Freunden herumzublödeln.

Tatsächlich ist es mir recht häufig gelungen, diesem gewaltigen Druck der Berge zu widerstehen. Aber wenn Schulwandertag war, warst du chancenlos. Du konntest aus religiösen Gründen von gewissen Teilen des Unterrichts befreit werden, oder weil du eine andere Muttersprache oder spezielle Probleme mit der Sprache oder mit Buchstaben hattest. Aber am Wandertag musstest du mit. Heute würde man einen solchen Fall zweifellos vor ein internationales Gericht bringen, aber damals dachten wir ganz einfach nicht an eine solche Möglichkeit. Was mir von diesen Wanderungen bis heute am besten in Erinnerung geblieben ist, ist das ausgeklügelte Ankündigungssystem. Es war nämlich immer bis zum letzten Moment unklar, ob die Wanderung überhaupt stattfinden würde. Das hängt damit zusammen, dass ich in einem Teil der Welt aufgewachsen bin, wo es nicht selten vorkommt, dass im Ort über grünen Wiesen die Sonne scheint, während dreihundert Meter entfernt tiefer Winter herrscht. Das Ankündigungssystem funktionierte so: Sehr früh am Morgen, praktisch noch in der Nacht, rief der Lehrer den Schüler an, der in der Fensterreihe des Klassenzimmers ganz vorn saß, und sagte ihm, ob die Wanderung stattfand oder nicht. Dieser Schüler rief dann den Schüler hinter sich in der Fensterreihe an, der wiederum den Schüler hinter sich anrief, und so ging es weiter, bis theoretisch die ganze Klasse benachrichtigt war. Es war ein ausgesprochen anfälliges System. Es reichte, dass eine Familie das Telefon nicht hörte, immerhin war es mitten in der Nacht. Und immer gab es jemanden, der vergaß, wer der nächste war, oder der schlicht und einfach die, die hinter ihm saß, nicht leiden konnte und keine Lust hatte, sie anzurufen. Oder zwei fingen an, über etwas völlig anderes zu quatschen und vergaßen, worum es eigentlich ging. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt loskamen.

6. Mit achtzehn absolvierte ich einen einjährigen Militärdienst, denn der war in Norwegen damals Pflicht, es sei denn, irgendetwas war mit dir ernsthaft nicht in Ordnung, oder es stritt grundlegend gegen deine persönlichen Überzeugungen, oder du hattest wirklich keine Lust und konntest einigermaßen gut lügen. Ich erfüllte nur eine dieser Bedingungen (ich hatte keine Lust), doch das reichte nicht.

Beim Militär liefen wir natürlich ab und zu mit dem Rucksack draußen im Wald herum, denn das muss man anscheinend tun, wenn man von einem Feind angegriffen wird. Und ich schlief im Zelt. Das habe ich seitdem nie wieder getan.

Meine Erinnerung an diese Militärmärsche gleicht ein wenig der an die Schulwanderungen. Es war in erster Linie ein enormer Aufwand. Packen, Wachsen, Umpacken, Aufbauen, Abbauen, Organisieren. Die Schulwanderungen bestanden in meiner Erinnerung aus neunzig Prozent Aufwand und zehn Prozent Wanderung. Die Militärausflüge bestanden aus neunzig Prozent Aufwand und zehn Prozent Schlafen. In kalten Zelten, die aufzubauen einen Tag in Anspruch nahm.

7. Vor ein paar Jahren war ich auf Svalbard. Ich war beruflich dort, natürlich, um die frierenden armen Schweine auf diesem Außenposten der Gesellschaft zu unterhalten. Wo wir nun schon so weit gereist waren, beschloss unsere Clique, noch ein paar Tage zu bleiben, um das zu tun, was man auf Svalbard so tut. Wir unternahmen zum Beispiel eine Hundeschlittentour. Dabei hatten wir wohl ein übertrieben romantisches Bild von einer Hundeschlittentour. Wir sahen uns unter schweren Felldecken sitzen und Wein trinken, während die Hunde vorwärtsjagten. Doch nichts dergleichen. Nachdem wir von einem schweigsamen Mann mit einem Gewehr im Auto zu einem Gebäude gefahren worden waren, das eher nach Gefangenenlager aussah, wurden wir in Thermoanzüge gesteckt und damit konfrontiert, dass wir nicht nur Hundeführer sein, sondern die Hunde auch selbst vor den Schlitten spannen sollten. Und die Hunde, das sind diese wolfsähnlichen Kreaturen, die dort stehen und geifern und heulen und beinahe die Ketten sprengen, mit denen sie befestigt sind. Eine der Personen, die auf der Tour dabei war, eine, die mich ziemlich gut kennt (du erinnerst dich vielleicht vom Anfang des Kapitels an sie, sie war diejenige, die sich vorgestellt hat, wie ich als kleiner Junge auf der Stabburtreppe gesessen habe), sagt, sie habe an jenem Tag eine völlig neue Seite an mir kennengelernt. Ich ging die Aufgabe, die Hunde einzuspannen, mit robuster Entschlossenheit an. Ich behandelte die Tiere mit ruppiger und entschiedener Liebe, gab den anderen Anweisungen und erledigte den Job in einem Höllentempo. Wie eine Art Urmann.

Hierzu lässt sich Verschiedenes sagen. Zum Beispiel: Es ist nicht so, dass ich Natur oder schwierige Aufgaben bei hohen Minusgraden nicht bewältige. Im Gegenteil. Ich bewältige solche Dinge ganz prima.

Sie machen mir nur keinen Spaß.

Denn der Grund dafür, dass ich diese Aufgabe mit solch maskulinem Draufgängertum anging, war nicht, dass ich davon berauscht gewesen wäre, mit dem Naturmann in mir in Kontakt zu kommen, dass ich mich so richtig lebendig fühlte, als ich meinen Körper anstrengte und die Kälte biss und die Hunde kläfften. Nein. Mir war schlicht und einfach klar, dass wir umso eher in die Kneipe gehen konnten, je schneller wir diese Arbeit hinter uns brachten.

Und um jeden Zweifel auszuräumen: Es war entschieden lustiger, die Hundeschlittentour in der Kneipe nachzuerzählen, als die Tour selbst es gewesen war. Schnee hatte ich schon vorher gesehen. Hunde auch. Ebenso unkoordinierte Menschen in großen Watteanzügen. Ich wohne gleich neben einem Kindergarten.

So bin ich nun mal. Und immer weniger meiner Freunde sind so. Sie haben sich für die Natur entschieden.

Und das muss ich auch tun. Ich muss meinem ganzen Widerstand trotzen, aller Furcht vor dem Aufwand, aller Furcht davor, den Humor zu verlieren. Ich muss hinaus in die Natur und herausfinden, was sie da eigentlich alle treiben. Denn ich bin ja einer von denen, die sich mitreißen lassen.

Und vielleicht treiben sie da draußen Dinge, von denen sie uns anderen nichts erzählen? Vielleicht geht es da hoch her? Vielleicht entgeht mir ganz einfach etwas?

Ich muss mich aufmachen in die Berge. Und in den Wald. Vielleicht werde ich bekehrt. Vielleicht fühle ich, wie alles sich zum Besseren wendet. Vielleicht verstehe ich endlich, wie klein ich bin.

Und falls dies alles schiefgehen sollte, hoffe ich zumindest, meine alten Freunde wiederzufinden, sie mit nach Hause zu nehmen, sie zu duschen, ihnen ordentliche Kleidung anzuziehen und mit ihnen in die Kneipe zu gehen.

Doch zuerst muss ich versuchen, ein wenig mehr davon zu begreifen, worum es hier eigentlich geht.

Und dann muss ich bei der, die hinter mir in der Fensterreihe sitzt, anrufen und ihr sagen, dass es auf Tour geht.

02

DINGE, DIE ICH NICHT VERSTEHE

Kann es sein, dass die Natur in unserer Zeit den Platz ausfüllt, den zuvor die Religion einnahm?

Ich glaube, ich verstehe ziemlich viel. Es gibt vieles, was ich nicht mag. Aber in der Regel gelingt es mir, es zu verstehen, wenn ich guten Willen an den Tag lege. Und allein bin. Aber es gibt drei Dinge im Leben, die zu verstehen mir wirklich schwer zu schaffen macht.

Religion. Drogen. Und Freiluftleben.

Diese drei haben ja vieles gemeinsam. Sie sind etwas zu stark geprägt von einer Jagd nach der Befriedigung des eigenen Selbst, etwas zu wenig geprägt von Humor, etwas zu stark geprägt von Leuten, die mit Vorliebe über ihre Interessen reden, und wenn du die Grenzen nicht kennst und nicht rechtzeitig aufhörst: lebensgefährlich.

Lassen wir hier die Drogen mal beiseite. Das ist ganz allgemein ein guter Rat. Aber ich habe einen ziemlich seriösen Versuch unternommen, etwas mehr über das Freiluftleben und den Hang zur Natur zu verstehen. Ich habe gelesen, mit Menschen gesprochen, gegoogelt, Filme angesehen, und ich habe versucht, mit einigen der vielen Freunde, die ich an die Natur verloren habe, zu reden. Sie waren gar nicht so leicht zu erreichen, denn die meisten waren emsig damit beschäftigt, Socken zu trocknen und sich zu entscheiden, ob sie #draußenambesten oder #lebenistambestendraußen auf Instagram schreiben sollten, oder ob sie einfach so verrückt sein und beides nehmen sollten. Doch ich bekam sie zu fassen. Und ein bisschen habe ich verstanden. Und es ist im Grunde nicht zu übersehen, wie viel Freiluftleben und Religion gemeinsam haben.

Mache einmal folgenden Versuch: Blättere in einigen der tausend Prachtbände, die jedes Jahr über das gute Leben in der Natur erscheinen. Geh danach das letzte Jahr eines bekehrten Fjellwanderers unter deinen Freunden auf Facebook und/oder Instagram durch. Anschließend kannst du »charismatisches Christentum« googeln. An allen drei Stellen findest du genau das Gleiche: Massenhaft Bilder von verdächtig fröhlichen Leuten, die die Arme zum Himmel strecken.

Möglicherweise ist das etwas zutiefst Menschliches. Vielleicht ist es ein Reflex. Aber es scheint vollkommen unmöglich zu sein, sich auf dem Gipfel eines Berges ablichten zu lassen, ohne die Arme zum Himmel zu strecken.

Selbstverständlich finden sich in all den Prachtbänden und in den sozialen Medien nicht nur gen Himmel gestreckte Arme. So gut wie sämtliche Bilder, in den Büchern wie im Netz, haben jedoch etwas unverkennbar Frischbekehrtes an sich. Die Fröhlichkeit der Menschen kennt keine Grenzen. Sie ist kurz davor, sich zu überschlagen. In die Luft gereckte Daumen. Menschen in nasser Kleidung, die sich umarmen. Die Kinder sind fröhlich, obwohl es kalt ist, denn sie haben sich gut angezogen, und sie sind glücklich, denn sie haben Bewältigung erlebt und gelernt, aus Tannennadeln und Regen Essen und Hütten und Spielzeugautos zu basteln.

Und auch diejenigen unter meinen verlorenen Freunden, mit denen ich hierüber geredet habe, hatten etwas Frischbekehrtes an sich. Unter anderem legten sie den gleichen Missionierungseifer an den Tag wie mancher Frischbekehrte.

Okay, seien wir ein bisschen nett. Nennen wir es Missionierungslust.

Nein, nennen wir es lieber Missionierungsdrang.

Sie möchten uns andere überzeugen, und sie versuchen es auf zweierlei Art. Entweder, indem sie uns erzählen, dass man in der Natur Dinge erlebt, die man nirgendwo sonst erleben kann. Oder – und das ist weitaus bizarrer – indem sie uns erzählen, dass man in der Natur genau das Gleiche erleben kann wie überall sonst auch. Und hier können die Bergwanderer ihre Ähnlichkeit mit jenen Altersgenossen aus unserer Jugend nicht mehr verleugnen, die im christlichen Sommerlager waren und alle davon zu überzeugen versuchten, dass es dort mindestens ebenso hoch herging wie auf Ibiza. Die frisch bekehrten Bergwanderer erzählen dir, wie Teenager, die etwas Geheimes entdeckt haben, von allem, was auf diesen Hütten passiert. Du erinnerst dich an die Hütten? Fokstugu und Myggheim und Styggemanshytta und Kråkebu und Dæven und Rasskatten? Die Hütten. Du darfst nicht glauben, dass es auf diesen Hütten langweilig ist, sagen die frisch Bekehrten mit einem Augenzwinkern. Von wegen. Hütten? Die größeren sind eigentlich mehr wie Hotels. Und da geht es ab. Da gibt es Wein und Essen und – hier machen sie gern eine kleine Pause und blicken um sich, bevor sie fortfahren – ja, Anmache. Es gibt massenhaft Anmache auf diesen Hütten. Das Gebirge? Die größte Anmachszene weltweit. Oh yes, siree.

Sie sagen dir also, dass du, wenn du sechs, sieben Stunden im Regen bergauf gegangen bist, an einen Ort kommst, wo du, wenn du Glück hast, genau das Gleiche erleben kannst wie jeden Abend überall in allen Städten. Nur, dass dir in der Stadt ein etwas finster dreinblickender deutscher Lehrer in Thermounterwäsche erspart bleibt, der dich anstarrt. Und wenn du dich in einer Stadt langweilst oder kein Glück hast, kannst du einfach das Lokal wechseln oder nach Hause gehen. Das kannst du in den Bergen nicht. Denn das nächste Lokal ist eine Hütte fünfzig Kilometer entfernt. Und heißt Bauchspeicheldrüse.

Im Internet tritt der Missionierungsdrang selbstverständlich am deutlichsten zutage. Missionierung ist natürlich nur ein altmodisches Wort für das, was heute Angeberei genannt wird. Niemand geht in die Natur, ohne dass andere davon erfahren. So viele wie möglich. Mit so vielen Hashtags wie möglich. Viele stellen so viele Bilder mit so vielen Hashtags ein, dass das Netz bald überquillt. Und hier zeigt sich der religiöse Zug. Denn so wie Menschen, die auf andere Weise eine Erleuchtung gehabt haben, zeichnen auch sie sich nicht durch Zurückhaltung oder einen Sinn für Nuancen aus. Es heißt nicht: Ich habe mit etwas Neuem angefangen, aber ich weiß nicht, wie interessant es für andere ist. Nein. Hier wird angegeben, völlig ohne Scham: Seht euch das an! Seht euch an, was ich entdeckt habe! Das ist das Beste, was es gibt! Das ist die Wahrheit und der Weg! #losjunge #runtervomsofa #draußenambesten #meinspielplatz #daslebendraußenambesten #bergesindspitze #ilovenorge #sitznichtdrinnenundkaufwieeinidiot #aufeinem​gipfelstehendiearmegenhimmelundnackterunterkörperistder​wegzumglück

Und die Menschen haben dort draußen Offenbarungen. Sie gehen in die Natur, um Antworten zu finden. Als Jonas Gahr Støre die Wahl zum Vorsitzenden der größten norwegischen Partei annahm und sich damit praktisch auch bereit erklärte, den Kampf um das Amt des norwegischen Ministerpräsidenten aufzunehmen, erzählte er auf einer Pressekonferenz, er habe die Entscheidung auf einer Bergwanderung getroffen. Ganz allein.

Und viele nicken anerkennend, wenn sie so etwas lesen. Ich aber denke: Wirklich? Du hast ganz allein in den Bergen beschlossen, Ministerpräsident zu werden? Hättest du nicht lieber mit jemandem reden sollen? Einem Erwachsenen beispielsweise? Oder deiner Familie?

Aber Politiker, die zeigen wollen, dass sie stark und erdverbunden sind, und das wollen sie ja, wenden sich der Natur zu. Selbst Angela Merkel wird im Sommer routinemäßig mit einem Wanderstock auf dem Weg in die Bergwelt abgebildet. Auch wenn sie anscheinend wenig Lust darauf hat. Vladimir Putin sendet regelmäßig Bilder in die Welt hinaus, die ihn in der Natur zeigen, mit Angelrute oder zu Pferde, mit nacktem Oberkörper. Und so hoffen sie darauf, dass wir sie für echte Menschen halten, die mit der Natur in Kontakt sind.

Wenn ich einen meiner führenden Politiker mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd sähe, würde ich nicht denken: Was für ein starker Führer. Den wähle ich. Ich würde denken: Was zum Teufel machst du da? Zieh dir was an und regier das Land, du Idiot.

Die letzten drei, vier Wahlkämpfe in den USA haben uns gezeigt, dass das Klischee vom amerikanischen Traum tatsächlich stimmt, wenn auch nicht immer auf genau die Art und Weise, wie wir es gelernt haben: In den USA kann tatsächlich jeder Präsident werden. Sowohl Milliardäre aus dem Reality-TV als auch Menschen mit familiären Wurzeln in Afrika und Hussein als Zwischennamen können in den USA an die Spitze gelangen. Sogar Frauen können es fast ganz nach oben schaffen. Doch wer du auch bist: Du musst vor allem an Gott glauben. Du wirst wahrscheinlich ein Problem bekommen, wenn du dich weigerst zu sagen »God bless America«, weil du nicht glaubst, dass es Gott gibt, und Religion im Grunde ziemlich dumm findest. Bei uns im Norden ist es anders. Hier haben wir atheistische Ministerpräsidenten gehabt, und die Tendenz geht eher dahin, dass du Gefahr läufst, lächerlich gemacht zu werden, wenn du religiös bist. Und unter den potenziellen zukünftigen Ministerpräsidenten und Ministern in Norwegen finden wir alles von gläubigen Christen, religiös Gleichgültigen, über Atheisten bis zu ein paar gemäßigten Muslimen. Du würdest dagegen in Skandinavien Probleme mit der Anhängerschaft bekommen, wenn du öffentlich sagst, dass du nicht begreifst, wozu Wandern gut sein soll, oder dass das Hüttenleben etwas für Verlierer ist.

Kann es sein, dass die Natur in unserer Zeit den Platz ausfüllt, den zuvor die Religion einnahm? Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Menschen in den skandinavischen Ländern zu den am wenigsten religiösen auf der Welt zählen. Brauchen wir in unserem Leben wirklich, wie einige religiöse Menschen behaupten, etwas, das größer ist als wir selbst, das in wechselhaften Zeiten konstant bleibt, etwas, das die Vernunft nicht erklären kann? Falls es so ist, ließe sich festhalten, dass alles, was ich im vorigen Satz geschrieben habe, ebenso die Schilderung eines Gottes wie die eines Berges sein kann. Ziemlich pfiffig.

Und wenn wir uns wieder den zum Berg Bekehrten in den sozialen Medien zuwenden, fällt auf, wie lose bei ihnen Formulierungen sitzen, die mit Gott beginnen. Und wie weit sie ins Absurde getrieben werden. Berggipfel können als »Gottes eigene Speerspitze«, »Gottes Kartoffelschäler« oder »Gottes persönliches Waffeleisen« bezeichnet werden.