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Tanisha M. Fazal

[Kein] Recht
im Krieg?

Nicht intendierte Folgen
der völkerrechtlichen Regelung
bewaffneter Konflikte

Aus dem Englischen von
Enrico Heinemann und Ursel Schäfer

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Für meine Eltern Maydene und Abul

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-963-8

© 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-333-9

© der Originalausgabe 2018 by Cornell University

Published by Arrangement with Cornell University Press, Ithaca, NY 14850 USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Titel der Originalausgabe: »Wars of Law. Unintended Consequences in
the Regulation of Armed Conflict«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Krieg und Frieden erklären

1Die Ausweitung und Kodifizierung des Kriegsrechts

2Internationale Anerkennung, Kosten der Erfüllung und die Kriegsformalitäten

3Kriegserklärungen in zwischenstaatlichen Kriegen

4Die Einhaltung des Kriegsrechts in zwischenstaatlichen Kriegen

5Friedensverträge in zwischenstaatlichen Kriegen

6Unabhängigkeitserklärungen in Bürgerkriegen

7Sezessionismus und Angriffe auf Zivilpersonen

8Friedensverträge in Bürgerkriegen

Umgehung, Beachtung und die Gesetze des Krieges

Danksagung

Bibliografie

Zur Autorin

Krieg und Frieden erklären

Die Vereinigten Staaten haben seit 1952, als die Besetzung Japans im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg endete, keinen formellen Friedensvertrag mehr geschlossen. Damit fügen sie sich in einen weltweiten Trend ein. Seit jeher wurden Instrumente wie Kriegserklärungen und Friedensschlüsse verbreitet dafür eingesetzt, Kriege zu beginnen und zu beenden und festzuhalten, dass die kriegführenden Parteien sich in einem Kriegszustand befanden, für den das Kriegsrecht galt. Vom Ende der Napoleonischen Kriege 1815 bis 1948 wurde die Hälfte der zwischenstaatlichen Kriege formell erklärt, und 70 Prozent endeten mit einem formellen Friedensvertrag. Doch seit Abschluss der Genfer Abkommen 1949 wurden nur zwei von 36 zwischenstaatlichen Kriegen mit einer Kriegserklärung eröffnet, und nur sechs von 38 Kriegen, die seit 1949 endeten, wurden mit einem formellen Friedensvertrag abgeschlossen.

Bei den Formalitäten des Krieges gab es ähnlich erstaunliche Tendenzen auch im Kontext von Bürgerkriegen. Unmittelbar nach Gründung der Vereinten Nationen wurden rund 48 Prozent der Unabhängigkeitskriege mit einer formellen Unabhängigkeitserklärung eröffnet, 2007 hatte sich diese Zahl beinahe halbiert. Doch anders als zwischenstaatliche Kriege enden Bürgerkriege heute öfter mit einem formellen Friedensvertrag. 1946 wurde kein einziger Bürgerkrieg mit einer formellen Friedensvereinbarung abgeschlossen. Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges war diese Zahl von null auf über 40 Prozent angestiegen.

Kriegserklärungen und Friedensverträge sind mehr als bloße Formalitäten; sie sagen uns, wann Kriege beginnen und enden. Sie setzen bestimmte rechtliche Regelungen in Kraft – die Gesetze des Krieges –, die für die Kriegszeit gelten sollen. Als widersinnige unbeabsichtigte Folge hat genau die Vermehrung dieser Gesetze des Krieges die Anreize für Staaten und Rebellengruppen verändert, die Formalitäten des Krieges einzuhalten. Als die Gesetze des Krieges Mitte des 20. Jahrhunderts strenger und zahlreicher wurden, haben die Staaten keine formellen zwischenstaatlichen Kriege mehr geführt; sie haben beinahe aufgehört, Kriegserklärungen abzugeben und Friedensverträge zu schließen. Stattdessen versuchen sie, Unklarheit darüber zu erzeugen, ob die neuen Gesetze des Krieges, insbesondere das humanitäre Völkerrecht (HVR), das das Verhalten der Kämpfenden in bewaffneten Konflikten regeln soll1, gilt. Rebellengruppen hingegen, die Bürgerkriege führen, haben sich gegenüber der Ausweitung der Gesetze des Krieges aufgeschlossener gezeigt. Das gilt ganz besonders für solche, die für einen unabhängigen Staat kämpfen; sie fordern die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die die Gesetze des Krieges erlassen hat, um ihre politischen Ziele zu erreichen.

Nehmen wir den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um das nach Autonomie strebende Gebiet Bergkarabach Anfang der 1990er Jahre. Der Krieg begann ohne eine formelle Kriegserklärung der beiden Konfliktparteien. Hätte entweder Armenien oder Aserbaidschan den Krieg erklärt, wäre das betreffende Land ganz klar verpflichtet gewesen, sich an alle Verträge des HVR zu halten, die die Kriegserklärung aktiviert hätte. Tatsächlich unterzeichneten sowohl Armenien wie auch Aserbaidschan 1949 während des Konflikts die Genfer Abkommen aus dem Jahr 1949, was sie zur Einhaltung der Gesetze des Krieges verpflichtete. Aber es gab mehrere nachvollziehbare Vorwürfe, dass sie die Regeln des HVR nicht beachtet hätten. Zum Beispiel soll Aserbaidschan wahllos auch zivile Gebiete in Armenien bombardiert haben.2 Armenische Bodentruppen sollen unterschiedslos Militärangehörige und Zivilpersonen angegriffen und Zivilpersonen vertrieben haben.3 Beide Seiten verstießen offensichtlich durch willkürliche Hinrichtungen von Kriegsgefangenen gegen das Kriegsrecht.4 Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan »endete« 1994, aber ohne einen formellen Friedensvertrag. Ohne Friedensvertrag blieben Hunderttausende aserbaidschanische Flüchtlinge heimatlos.5 Eine wichtige Eisenbahnstrecke kann nicht weitergebaut werden.6 Die schlechten Handelsbeziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan haben beide Länder wirtschaftlich geschwächt, ganz besonders Armenien.7

Der Konflikt um Bergkarabach gehört zu einer wachsenden Zahl »eingefrorener Konflikte«, deren Lösung weiter offen ist. Während die beiden neu zur Staatengemeinschaft gestoßenen Länder versuchten, sich durch die Unterzeichnung verschiedener völkerrechtlicher Verträge als Mitglieder in die internationale Gemeinschaft einzufügen, führten sie gleichzeitig einen Landkrieg, für den diese rechtlichen Verpflichtungen nicht zu gelten schienen. Diese Diskrepanz hängt teilweise damit zusammen, dass der Krieg um Bergkarabach weder ein offizielles Ende noch einen offiziellen Anfang hatte, etwas, das für zwischenstaatliche Kriege heute typisch ist.

Staaten bezeichnen ihre zwischenstaatlichen Kriege nicht mehr als Kriege. Das vielleicht deutlichste Beispiel für diese Art der Vorspiegelung gab Russland bei der Invasion der Krim ab. Am 28. Februar 2014 besetzten Hunderte russische Soldat_innen Flughäfen und Militärstützpunkte in der Autonomen Republik Krim in der Ukraine.8 Russland hatte alles dafür getan, die Aktion später bestreiten zu können, indem es die Truppen ohne Hoheitszeichen losschickte. Gleichzeitig wurde gesagt, die Intervention solle die Ausbreitung radikaler Bestrebungen und einen Bürgerkrieg verhindern.9 Die völkerrechtliche Fiktion verschaffte Russland zumindest ein Feigenblatt, um zu verbergen, dass es sowohl gegen die völkerrechtlichen Regeln über die Anwendung von Gewalt, ius ad bellum, wie gegen die Regeln über das Verhalten im Krieg, ius in bello, verstieß. In ähnlicher Weise sprechen auch die Vereinigten Staaten von »Polizeiaktionen«, »Aufstandsbekämpfung« oder »Kampf gegen Terrorismus« – und nicht von Krieg. Zwischenstaatliche Kriege bleiben heute immer öfter unter dem rechtlichen Radar.

Nehmen wir einen weiteren anhaltenden separatistischen Konflikt und betrachten ihn diesmal aus der Sicht der nach Unabhängigkeit strebenden Gruppe. Die Kurd_innen haben in den letzten 50 Jahren eine Reihe von Bürgerkriegen geführt. Die kurdischen Gruppen im Irak versuchen durch komplexe, wohlüberlegte diplomatische Bemühungen, zu einem eigenen Staat zu kommen. Zwar gehören die Kurd_innen weltweit zu den aussichtsreichsten separatistischen Bewegungen, aber bisher schreckten sie davor zurück, eine formelle Unabhängigkeitserklärung abzugeben, weil sie die erklärte Abneigung der internationalen Gemeinschaft gegen einseitige Unabhängigkeitserklärungen kennen. Im September 2017 wurde in Irakisch-Kurdistan ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten, obwohl die internationale Gemeinschaft das vehement ablehnte. Und auch die Kurd_innen im Irak wissen, dass das Votum für die Unabhängigkeitserklärung ihnen nicht den eigenen Staat bringen kann, den sie sich wünschen. Wie ein Verantwortlicher der Bewegung für das Referendum es ausdrückte: »Ein Staat zu werden braucht seine Zeit.«10 Um das zu erreichen, haben die Verantwortlichen von Irakisch-Kurdistan öffentlich erklärt, dass sie keine Zivilpersonen angreifen werden, anders als die Streitkräfte der irakischen Regierung in der Vergangenheit und die Kämpfer_innen des Islamischen Staats in der jüngeren Vergangenheit. Alles spricht dafür, dass sie sich an ihr Versprechen halten. Obwohl ihnen die internationale Anerkennung als unabhängiger Staat fehlt, haben sie signalisiert, dass sie willens sind, die Bestimmungen der Genfer Abkommen von 1949 zu beachten.11 In Erbil, der Hauptstadt von Irakisch-Kurdistan, gibt es ein Regionalbüro des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, der Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu kontrollieren.12 Die Kurd_innen haben eine öffentliche »Verpflichtungserklärung« unterzeichnet, dass sie keine Landminen einsetzen werden.13 Im offiziellen Programm der Demokratischen Partei Kurdistans heißt es, dass die Kurd_innen ihre regionalen und internationalen Ziele »durch das allgemeine Völkerrecht und mit friedlichen Mitteln« zu erreichen versuchen, und im Einklang mit den Grundsätzen der UN-Charta.14

Das Beispiel der Kurd_innen ist ähnlich wie die Fälle vieler anderer in Bürgerkriege verwickelter Rebellengruppen, die sich zunehmend an die Gesetze des Krieges halten. 1960 versuchte die Provisorische Regierung der algerischen Republik, den Genfer Abkommen von 1949 beizutreten, obwohl sie noch keinen anerkannten Staat repräsentierte.15 Die Frente Polisario in der Westsahara unterhält diplomatische Vertretungen in mehreren afrikanischen Staaten.16 Die Unabhängigkeitsbewegung von Eritrea hat eine Hilfsorganisation ins Leben gerufen, die während des Eritreischen Unabhängigkeitskrieges internationale Legitimität bei Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erlangte.17 Diese Gruppen – unter den Rebellengruppen in Bürgerkriegen ganz besonders die sezessionistischen Rebellengruppen – brauchen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, hier definiert als die Gruppe von Akteur_innen (Staaten und NGOs), die sich auf die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Prinzipien verpflichtet haben, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Das schafft für sie Anreize, starke Signale auszusenden, dass sie bereit und willens sind, gute Mitglieder der internationalen Gemeinschaft zu sein.

Die Argumentation in diesem Buch

Die Argumentation und die Belege in diesem Buch werden in drei Teilen präsentiert. Im ersten Teil, der historisch und theoretisch ist, lasse ich die Entwicklung des Kriegsrechts Revue passieren. Ich zeige, dass die Anzahl der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts dramatisch angestiegen ist und dass ihr Charakter sich verändert hat. 1856 gab es nur eine kodifizierte Bestimmung für bewaffnete Konflikte. 2015 waren es 72. In den Anfängen lag der Schwerpunkt des Kriegsrechts bei den Rechten der kriegführenden Parteien, etwa in der großzügigen Definition von Kontrabande in der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856. Im Lauf des 20. Jahrhunderts und besonders mit Verabschiedung der Genfer Abkommen 1949 konzentrierte sich das HVR stärker auf den Schutz von Zivilpersonen.

Heute liegt die Messlatte beim HVR so hoch, dass manche sagen, nicht einmal die am besten ausgerüsteten Militärapparate könnten es vollständig einhalten. Diese Entwicklung hängt mit einer wachsenden Kluft zwischen »Gesetzgebenden« und »Gesetznehmenden« zusammen: Der Anteil von Militärs, die an wichtigen HVR-Konferenzen teilnehmen, bei denen diese Gesetze diskutiert und formuliert werden, ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts und ganz besonders seit Verabschiedung der Genfer Abkommen 1949 signifikant zurückgegangen. Neue Vorschläge für Regelungen des HVR kommen heute hauptsächlich von wohlmeinenden, humanitär gesinnten Personen bei NGOs und Mitgliedern der akademischen völkerrechtlichen Zunft; insofern ist es vielleicht nicht überraschend, dass die Hürden für die Einhaltung des HVR mittlerweile so hoch sind.

Ich untersuche außerdem, ob und warum die Gestalter_innen des HVR sich mit der Frage befasst haben, wie die von ihnen formulierten Gesetze von Rebellengruppen aufgenommen werden, die in Bürgerkriege verstrickt sind. Dazu habe ich herausgefunden, dass die Gestalter_innen des HVR, soweit sie an Rebellengruppen dachten, sich fast ausschließlich darauf konzentrierten, sicherzustellen, dass eine Erwähnung von Rebellengruppen im Kriegsrecht diesen nicht etwa Legitimität verlieh. Dass das Verhalten von Rebellengruppen keine Rolle spielte, reflektiert die ausgeprägt staatszentrierte Natur des HVR und die Tatsache, dass Staaten in der Regel Rivalen nicht legitimieren wollen. Die Beobachtung enthält auch eine Lehre für Rebellengruppen, die sich auf das HVR einlassen wollen: Es lohnt sich, ein Staat zu sein. Schutz durch das HVR genießen überwiegend Soldat_innen, Zivilpersonen und das Eigentum von Staaten, die Vertragsparteien internationaler Verträge sind.

Im zweiten Teil meiner Argumentation untersuche ich die Folgen der Entwicklung des HVR für Beginn, Führung und Beendigung von zwischenstaatlichen Kriegen. Ich argumentiere, dass die Zunahme der Bestimmungen des HVR widersinnige Anreize für Staaten geschaffen hat, die zwischenstaatliche Kriege führen. Die steigenden Kosten der Einhaltung des HVR mit seinen immer höheren Standards hatten zur Folge, dass immer weniger Staaten die roten Linien überschreiten wollen, die sie unwiderruflich zur Einhaltung des Kriegsrechts verpflichtet hätten. Ich konzentriere mich darauf, unter welchen Bedingungen Staaten in zwischenstaatlichen Kriegen formelle Kriegserklärungen abgeben und formelle Friedensverträge schließen, und komme zu dem Ergebnis, dass derartige Formalitäten seltener geworden sind, seit die Bestimmungen des HVR zugenommen haben.

Im dritten und abschließenden Teil konzentriere ich mich auf Bürgerkriege und dabei besonders auf die Frage, wie sezessionistische Rebellengruppen – Gruppen, die einen neuen, unabhängigen Staat wollen – es mit dem Kriegsrecht halten. Ich argumentiere, dass sezessionistische Gruppen in hohem Maß empfänglich für die Signale sind, die die internationale Gemeinschaft aussendet. Verglichen mit anderen Typen von Rebellengruppen haben sezessionistische Gruppen Anreize, auf derartige Signale zu achten, weil sie für die Verwirklichung ihrer politischen Ziele die Zustimmung der internationalen Gemeinschaft brauchen. Wenn die internationale Gemeinschaft einseitige Unabhängigkeitserklärungen ablehnt, geht der Anteil sezessionistischer Gruppen, die Unabhängigkeitserklärungen abgeben, zurück. Sezessionistische Gruppen greifen auch seltener als nichtsezessionistische Gruppe Zivilpersonen an, was zumindest teilweise mit ihrem Wunsch zusammenhängt, einen guten Eindruck bei der internationalen Gemeinschaft zu hinterlassen, indem sie demonstrieren, dass sie sich an das HVR halten. Schließlich und in direktem Gegensatz zur abnehmenden Bedeutung von Friedensverträgen in zwischenstaatlichen Kriegen ist der Anteil von Bürgerkriegen, die mit einem Friedensvertrag endeten, im Lauf der Zeit gestiegen. Ich zeige, dass das eine Reaktion auf die Präferenz der modernen internationalen Gemeinschaft für Verhandlungslösungen darstellt.

Die besondere Geschichte des Kriegsrechts hat seine Einhaltung in zwischenstaatlichen und in Bürgerkriegen beeinflusst. Sie hat auch dazu geführt, dass das Verhältnis der kriegführenden Parteien zu den Gesetzen des Krieges in zwischenstaatlichen Kriegen ein anderes ist als in Bürgerkriegen. Sollten diese Muster weiterhin Bestand haben, werden sie die künftige Entwicklung des Kriegsrechts beeinflussen. Wenn es nicht gelingt, mehr Militärpersonal in die Gestaltung der Gesetze einzubeziehen, könnte es ein, dass neue Regelungen weniger beachtet werden. Bisher haben sich manche Rebellengruppen sehr bemüht, die Gesetze des Krieges einzuhalten. Wenn ihre Bemühungen nicht gewürdigt werden (und bisher ist das nicht der Fall), dann dürfte die Kluft, die die Gestalter_innen des HVR absichtlich zwischen dem Recht und nichtstaatlichen Akteur_innen geschaffen haben, sehr negative Auswirkungen zeitigen.

Warum die Gesetze des Krieges wichtig sind

Skeptische Stimmen sagen, dass das Völkerrecht generell und ganz besonders das Kriegsrecht schlichtweg unwirksam sei.18 Aber Staaten investieren enorme Ressourcen in die Schaffung und den Erhalt des Völkerrechts im Allgemeinen und des humanitären Völkerrechts im Besonderen. Und ganz aktuelle Forschungen zu dem Thema sprechen dafür, dass Krieg tatsächlich oft in einem hochgradig regulierten Rahmen geführt wird.19

Politikwissenschaftler_innen haben versucht zu verstehen, unter welchen Bedingungen kriegführende Parteien das HVR einhalten. Immer mehr Studien zu Angriffen auf Zivilpersonen in zwischenstaatlichen Kriegen fanden einen starken Zusammenhang zwischen bestimmten Arten von Kriegszielen und Militärstrategien auf der einen Seite und Angriffen auf Zivilpersonen auf der anderen Seite.20 Bei Staaten, denen es um Gebietsgewinne geht, ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass sie in zwischenstaatlichen Kriegen Zivilpersonen attackieren, ebenso bei Staaten, deren Gegner Guerillamethoden einsetzen. Andere Forschungen haben diese Erkenntnisse auf die Behandlung von Kriegsgefangenen übertragen und sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.21 Ein aktuelles Buch über die Einhaltung des HVR weist darauf hin, wie wichtig Reziprozität ist, insbesondere in Verbindung mit Demokratie und der gemeinsamen Ratifizierung wichtiger Bestimmungen des HVR, um vorherzusagen, ob im Kontext eines zwischenstaatlichen Krieges das HVR eingehalten wird.22 Das Fundament für diese speziellen Forschungen haben Wissenschaftler_innen gelegt, die sich mit dem Völkerrecht in einem allgemeineren Sinn und da vor allem mit Menschenrechtsnormen beschäftigt und die im Speziellen Zusammenhänge zwischen Ratifizierung, Regimetypus und Einhaltung des HVR untersucht haben.23 Bei diesen Untersuchungen wurden hoch entwickelte Methoden eingesetzt, die es den Autor_innen erlauben, die These zu formulieren, dass nur besonders gesetzestreue Staaten diese internationalen Vereinbarungen unterzeichnen werden. Und dabei haben sie außerdem herausgefunden, dass die Unterzeichnung völkerrechtlicher Verträge einen bedeutenden unabhängigen Effekt auf die Einhaltung hat.

Die umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur über das Verhalten von Rebellengruppen etwa gegenüber Zivilpersonen hat sich auf die Finanzierungsstrukturen und die Disziplin solcher Gruppen, auf ihre Rekrutierungsverfahren, ihren Zusammenhalt, den Grad der Kontrolle über ein bestimmtes Territorium und ihre Verbindungen zu lokalen Netzwerken konzentriert.24 Forschungen in jüngerer Zeit haben die Wirkungen der politischen Ziele von Rebellengruppen und ihrer inneren Führungsstrukturen auf Verhaltensweisen untersucht, die Gegenstand des HVR sind.25 Aber nur wenige Forscher_innen haben sich direkte Zusammenhänge zwischen dem Verhalten von Rebellengruppen und dem HVR angeschaut.26

Völkerrechtsforscher_innen haben auch Beiträge zu der Debatte über die Wirksamkeit des Völkerrechts insgesamt und der für das Verhalten im Krieg geltenden Bestimmungen im Besonderen geleistet. Eric Posner schreibt, das Völkerrecht sei so komplex und einschränkend geworden, dass es sich selbst bedeutungslos gemacht habe. Posner kritisiert das Wuchern von, wie er es sieht, zahnlosen Menschenrechtsverträgen und kommentiert, »die Menschenrechtsnormen haben es nicht geschafft, die Achtung vor den Menschenrechten zu verbessern, [weil] das Recht schwach ist – die Verträge sind vage und inkonsistent, und die Institutionen sind zersplittert, unzureichend finanziert und mit zu wenig rechtlicher Autorität ausgestattet«.27 Jens David Ohlin antwortet mit der Feststellung, dass Staaten sich dennoch daran halten sollten, weil sie den Wert der langfristig wirksamen einschränkenden Kraft des Völkerrechts schätzen.28

Ich baue auf diesen früheren Forschungen auf und bringe die langfristige Perspektive in die Debatten über die Gesetze des Krieges ein, die in der Literatur bisher fehlt. Eine weitere Neuerung dieses Buchs ist, dass es Trends bei den Gesetzen und den Formalitäten des Krieges in zwischenstaatlichen Konflikten und in Bürgerkriegen parallel analysiert. Diese Strategie ist zwar unüblich, aber aus drei Gründen ein wichtiger Ansatzpunkt. Erstens ist unser Verständnis des Verhältnisses von zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen immer in die Gestaltung des Kriegsrechts eingeflossen. Nehmen wir als Beispiel den Lieber Code, der als Feldhandbuch für die Truppen der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg diente; er gilt weithin als das erste Beispiel für kodifiziertes Kriegsrecht, wie wir es heute kennen. Hier gibt es einen eklatanten Unterschied, denn die meisten Bestimmungen des modernen Kriegsrechts wurden mit dem vorrangigen Ziel formuliert, das Verhalten der kriegführenden Parteien in zwischenstaatlichen Kriegen und nicht in Bürgerkriegen zu regulieren. Zweitens ist es in einem Werk, das sich direkt mit der Geschichte des Kriegsrechts befasst, wichtig, der historischen Entwicklung des Krieges selbst zu folgen. In Lauf der Zeit, die ich abdecke, ist Krieg von einem Geschehen, das hauptsächlich zwischen Staaten stattfindet, zu einem Geschehen hauptsächlich innerhalb von Staaten geworden. Nur die Gesetze des Krieges zu betrachten, soweit sie zwischenstaatliche Kriege betreffen, würde die Relevanz dieses Projekts für viele der heutigen Konflikte schmälern. Umgekehrt würde bei der Beschränkung auf Bürgerkriege der wichtige historische Kontext außer Acht bleiben, und generell würde das die historische Perspektive, die das Buch bietet, aushöhlen. Drittens bin ich der Ansicht, dass die zugegeben ungewöhnliche Entscheidung, zwischenstaatliche Kriege und Bürgerkriege gemeinsam in einem Buch zu untersuchen, eine Stärke des Projekts darstellt. In der Regel bewegen sich Wissenschaftler_innen, die zwischenstaatliche Kriege oder Bürgerkriege untersuchen, in unterschiedlichen Kreisen, aber diese Kluft zwischen den Disziplinen hängt oft mehr von praktischen als von inhaltlichen Gründen ab und ist tatsächlich nicht immer begründet aufrechtzuerhalten.29 Einen Schritt zurückzutreten und sich anzusehen, wie unterschiedliche Formen von Krieg und Recht sich im Lauf der Zeit entwickelt haben, zwingt uns, diese Spaltungen zu überbrücken und ermöglicht überdies einen dringend nötigen Ausblick auf künftige Bemühungen, Recht zu formulieren.

Der Plan für das Buch

Das Buch ist entsprechend der skizzierten Argumentation in drei Teile aufgeteilt. Kapitel 1 bietet eine analytische Geschichte des humanitären Völkerrechts anhand von Daten über die großen völkerrechtlichen Konferenzen seit 1899 sowie eine Textanalyse der Kommentare zu den Vereinbarungen.30 In Kapitel 2 entwickle ich eine theoretische Argumentation ausgehend von dem in Kapitel 1 präsentierten Material, indem ich die Kosten und Nutzen analysiere, die im Lauf der Zeit mit der Einhaltung des HVR verbunden waren. Ich stelle einige Hypothesen zum Einsatz von Kriegsformalitäten und zur Einhaltung des HVR in zwischenstaatlichen wie in Bürgerkriegen vor. Die Kapitel 3 bis 5 decken die empirische Seite zwischenstaatlicher Kriege in den letzten 200 Jahren ab. Ich setze eine quantitative Analyse der Originaldaten und eine Reihe von Fallstudien anhand von Primär- und Sekundärquellen ein, um zu erklären, warum die Staaten beinahe aufgehört haben, Kriegserklärungen abzugeben (Kapitel 3), und um den Grad der Einhaltung des HVR (Kapitel 4) sowie den Bedeutungsverlust von Friedensverträgen in zwischenstaatlichen Kriegen (Kapitel 5) zu untersuchen. Als Fallbeispiele zwischenstaatlicher Kriege betrachte ich den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898, den Boxeraufstand von 1900, den Bangladesch-Krieg von 1971 und den Krieg um die Falklandinseln/Malvinas von 1982.

Die Kapitel 6 bis 8 entsprechen im Aufbau den vorangehenden Kapiteln, legen den Fokus aber auf sezessionistische Rebellengruppen, die in Bürgerkriegen kämpfen. Wie bei der Analyse zwischenstaatlicher Kriege kombiniere ich die quantitative Analyse auf der Grundlage von Originaldaten mit Fallstudien, bei denen Primärquellen verwendet werden, wie Archivmaterial und Interviews, um zu erklären, warum sich die Häufigkeit, mit der sezessionistische Gruppen Unabhängigkeitserklärungen einsetzen (Kapitel 6) und mit der sie Zivilpersonen angreifen (Kapitel 7), geändert hat. Abschließend untersuche ich Veränderungen bei der Häufigkeit von Friedensverträgen zur Beendigung von Bürgerkriegen (Kapitel 8). Die qualitativen Befunde zu Bürgerkriegen liefern das Beispiel Texas im 19. Jahrhundert, der separatistische Krieg der Republik der Südmolukken 1950 und der separatistische Konflikt im Südsudan von den 1970er Jahren bis zur Unabhängigkeit 2011.31

Im Schlusskapitel behandle ich die Implikationen für die Politik und ungelöste Fragen. Ich untersuche zwei laufende Projekte zur Gestaltung des Völkerrechts, um einzuschätzen, ob historische Muster der Rechtsetzung im HVR auch in den heutigen Bemühungen zur Regulierung von Cyberkonflikten und tödlicher autonomer Waffensysteme (»Killerroboter«) zu erkennen sind. Ich betrachte auch das anhaltende Dilemma, vor dem die Verfechter_innen des Völkerrechts stehen, wenn sie mit sezessionistischen Rebellengruppen konfrontiert sind. Sezessionistische Gruppen wollen es der internationalen Gemeinschaft recht machen, aber das wird nicht so bleiben, wenn Wohlverhalten nicht belohnt wird. Schließlich diskutiere ich zwei unterschiedliche Muster beim Einsatz von Friedensverträgen in zwischenstaatlichen Kriegen und in Bürgerkriegen. Friedensverträge werden heute in zwischenstaatlichen Kriegen seltener und in Bürgerkriegen häufiger geschlossen als in der Vergangenheit. Aber die Befunde sprechen dafür, dass Friedensverträge nach zwischenstaatlichen Konflikten besser den Frieden sichern können als nach Bürgerkriegen. Wie lassen sich diese Beobachtungen mit der aktuellen Präferenz der internationalen Gemeinschaft für Verhandlungslösungen bei Bürgerkriegen vereinbaren?

Dem Projekt des modernen humanitären Völkerrechts liegt der Wunsch zugrunde, die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu begrenzen. Aber die Wirkungen dieses Projekts sind gemischt und haben die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sowie zwischen Staaten und sezessionistischen Gruppen verschoben. Wenn wir gleichzeitig nie und immer im Krieg sind, sollten Umfang und Anwendbarkeit von Gesetzen, die dazu gedacht waren, Verhalten im Krieg zu regulieren, überdacht werden. Wenn die ersehnte Staatlichkeit für sezessionistische Gruppen, die sich anständig benehmen, immer unerreichbar bleibt, werden sie irgendwann ihre Schlüsse daraus ziehen und ihr Benehmen zum Schlechten verändern. Und wenn Friedensverträge in Bürgerkriegen als Ziele an sich gelten, besteht die reale Gefahr, dass diese Kriege nie enden. In diesem Buch will ich solche Fragen angehen mit der größeren Zielsetzung, Muster bei der Entwicklung des Völkerrechts in Vergangenheit und Gegenwart aufzudecken, als Beitrag, um die künftige Rechtsetzung durch das humanitäre Völkerrecht auf eine breitere Wissensgrundlage zu stellen und zu verbessern.

1Ich benutze den Begriff »humanitäres Völkerrecht« synonym mit ius in bello und »Recht des bewaffneten Konflikts«. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Organisation, die am engsten mit dem HVR in Verbindung gebracht wird, definiert es so: »Das humanitäre Völkerrecht besteht aus Regelungen, die aus humanitären Gründen die Effekte bewaffneter Konflikte einzudämmen versuchen. Es schützt Menschen, die nicht oder nicht mehr am Kriegsgeschehen teilnehmen, und begrenzt Kriegsmittel und -methoden, die eingesetzt werden dürfen. Das humanitäre Völkerrecht wird auch als Kriegsrecht oder Recht bewaffneter Konflikte bezeichnet.« Siehe International Committee of the Red Cross, What Is International Humanitarian Law? Zu Unterschieden zwischen den Begriffen siehe Evangelista, Law, Ethics, and the War on Terror, S. 6f.

2Panico, Azerbaijan, S. xiii.

3UNHCR, UNHCR CDR Background Paper on Refugees and Asylum Seekers from Armenia.

4Goltz, Severed Ears, Slavery and the Azeri, S. C4.

5Cornwell, Bitter Armenian Dispute Edges towards Accord, S. 16.

6Shermatova, The Silk Way for Oil.

7Goldberg, Armenia Choking as Economic Stranglehold Tightens.

8Booth/DeYoung, Ukraine Calls Russian Troops »Invasion«.

9Myers, Putin, Flashing Disdain, Defends Action in Crimea.

10Zucchino, As Kurds Celebrate Independence Vote, Neighbors Threaten Military Action.

11PKK Statement to the United Nations.

12Kurdistan Regional Government, Department of Foreign Relations, Current Foreign Representation in the Kurdistan Region.

13Deed of Commitment under Geneva Call for Adherence to a Total Ban on Anti-Personnel Mines and for Cooperation in Mine Action.

14Kurdistan Democratic Party, Constitution and Bylaws, 13th Congress, December 11–18, 2010.

15Roberts/Sivakumaran, Lawmaking by Nonstate Actors, S. 148; Sivakumaran, The Law of Non-International Armed Conflict, S. 119.

16Huang, Rebel Diplomacy in Civil Wars, S. 98.

17Poole, The Eritrean People’s Liberation Front, S. 33.

18Mearsheimer, The False Promise of International Institutions.

19Morrow, Order within Anarchy.

20Downes, Targeting Civilians in War; Valentino/Huth/Croco, Covenants without the Sword.

21Wallace, Life and Death in Captivity.

22Morrow, Order within Anarchy

23Siehe beispielsweise Simmons, Mobilizing for Human Rights; Stein, Do Treaties Constrain or Screen?; Hathaway, Do Human Rights Treaties Make a Difference?

24Weinstein, Inside Rebellion; Cunningham, Inside the Politics of Self-Determination; Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War; Parkinson, Organizing Rebellion; Daly, Organized Violence After Civil War.

25Fortna, Do Terrorists Win?; Stanton, Terrorism in the Context of Civil War.

26Eine aktuelle Ausnahme ist Jo, Compliant Rebels.

27Posner, The Twilight of Human Rights Law, S. 104. Aktuelle Veröffentlichungen von Hopgood und Martti Koskenniemi gehen in die gleiche Richtung, obwohl ihre Aussagen nicht so eindeutig sind wie die von Posner. Hopgood, The Endtimes of Human Rights; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations.

28Ohlin, The Assault on International Law.

29Cunningham/Lemke, Combining Civil and Interstate Wars.

30Die Kommentare sind detaillierte Erläuterungen und Interpretationen der Verträge durch Rechtsexpert_innen (oft aus dem Umkreis des IKRK) und diskutieren Debatten und Positionen während der Verhandlungen.

31Die Daten und zusätzliche Informationen zu den Datensätzen finden sich im statistischen Anhang, der online verfügbar ist unter http://www.tanishafazal.com/publications/.

1

Die Ausweitung und Kodifizierung des Kriegsrechts

In diesem Kapitel umreiße ich die Entwicklung des humanitären Völkerrechts (HVR) seit der ersten schriftlichen Fixierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dieses Regelwerk hat sich quantitativ und qualitativ dramatisch verändert. Am Ende der Napoleonischen Kriege zu Anfang des 19. Jahrhunderts lagen zum Kriegsvölkerrecht keine multilateralen Abkommen vor. Das damalige Völkergewohnheitsrecht sah so aus, dass Kriegsgefangene regelmäßig erschossen wurden und brutale Übergriffe gegen die Zivilbevölkerungen in und außerhalb Westeuropas an der Tagesordnung waren.1 Dass das Kriegsrecht ohne schriftliche Fixierung nur auf Brauchtum beruhte, leuchtet ein für eine Welt, in der Staatsgrenzen und staatliche Souveränität noch selten festgelegt waren. Tatsächlich diente das Recht teilweise dazu, Banditen und Kriegsfürsten gegen legitime Herrscher abzugrenzen.2 Dagegen listet heutzutage das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in seiner Datenbank über siebzig Verträge und Übereinkünfte zum Kriegsrecht auf.3 Die meisten unterstützen seine Mission, Kriegsopfer zu schützen. Alle enthaltenen Bestimmungen zielen insofern auf Staaten ab, als das Augenmerk hauptsächlich der Regulierung zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikten anstatt von Bürgerkriegen gilt: Vertragsparteien sind ausschließlich Staaten.

In diesem historischen Überblick zum Kriegsvölkerrecht stelle ich den Entstehungsprozess des humanitären Völkerrechts in den Mittelpunkt. Nach einer Darstellung der Geschichte des Kriegsrechts in den Grundzügen analysiere ich, wie sich die Zusammensetzung der Parteien verändert hat, die an der Ausarbeitung des humanitären Völkerrechts beteiligt waren. Ich zeige auf, dass Militärs bei diesen Bemühungen eine immer geringere Rolle spielten. Danach behandle ich die Geschichte des humanitären Völkerrechts aus dem Blickwinkel bewaffneter nichtstaatlicher Akteure. Anhand einer Inhaltsanalyse zu bedeutenden Dokumenten des humanitären Völkerrechts zeige ich auf, dass dessen Urheber_innen mehr Sorge hatten, zu vermeiden, Rebellengruppen Legitimation zu verschaffen, als deren Verhalten in bello zu zügeln. Die veränderte Zusammensetzung der Parteien, die dieses Recht ausgearbeitet haben, erklärt in Kombination damit, dass das Verhalten von Rebellengruppen beständig unbeachtet blieb, warum – und welche – Akteure das sich verändernde HVR entweder zu umgehen versuchen oder sich um Einhaltung bemühen.

Eine kurze Geschichte des Kriegsrechts

Während des Großteils der Menschheitsgeschichte existierte das Kriegsrecht nur informell oder beruhte auf Übereinkünften von Fall zu Fall. So herrschte unter den alten Griechen zum Bespiel eine informelle Übereinkunft, nach der »Feindseligkeiten zuweilen unstatthaft sind: heilige Waffenruhen, insbesondere solche zur Feier der Olympischen Spiele ausgerufene, müssen eingehalten werden«. Zudem sollen Kriegsgefangene, anstatt sie hinzurichten, zum Freikauf angeboten werden.4 Cicero zeigte sich bekanntermaßen skeptisch, was die Gesetzeskraft in Zeiten des Krieges anging, erkannte aber dennoch die Notwendigkeit an, den Krieg gewissen Regularien zu unterwerfen. Er ermahnte die Römer dazu, Kriegsgefangene anständig zu behandeln und gegenüber Zivilbevölkerungen eine gewisse Gnade walten zu lassen.5 Entsprechend setzte sich Sunzi für einen humanen Umgang mit gefangenen Soldaten ein und vertrat den Standpunkt, dass ein geschickter Führer »Städte erobert, ohne sie zu belagern«, um der Zivilbevölkerung unnötiges Leid zu ersparen.6 Die Griechen und Römer der Antike ließen diese Beschränkungen allerdings nur für Personen gelten, die ihnen nahestanden. Andersgläubige und Barbaren genossen nicht die gleichen Rücksichten.7

Die ersten abendländischen Bemühungen, das Kriegsrecht schriftlich niederzulegen, erfolgten im Mittelalter durch Schriftsteller wie Thomas von Aquin und Vertreter der Kirche. Letztgenannte hatten ein vielfältiges und zuweilen widersprüchliches Interesse daran, den Krieg zu regulieren. Ein Anliegen bestand darin, christliche Werte der Gerechtigkeit und Menschlichkeit auch im Krieg zu praktizieren. Als ein weiteres sollte der Geltungsbereich dieser Werte begrenzt werden. Die Regeln des Kriegsrechts hatten klar für Konflikte zwischen und unter Christen zu gelten. Ebenso eindeutig blieben dagegen nichtchristliche Völker ausgenommen, deren »Barbarei« Gräueltaten rechtfertigten, oft unter dem Vorwand, dass Völker und Gebiete zivilisiert werden müssten.8 Ein dritter, höchst pragmatischer Grund für die Kirche, eine Rechtsordnung für den Krieg zu unterstützen, bestand darin, sich selbst einen Schutz zu sichern.9 Ihre Priester gehörten zu den ersten Gruppen, die diesen genossen. Auch war die Kirche als größte Grundbesitzerin in Europa ganz besonders daran interessiert, ein Regelwerk zu propagieren und zu verbreiten, das ihren Boden, ihre Kunstwerke und ihre Sakralgebäude schützte.

Die christliche Lehre zum ius in bello – Bestimmungen, die die im Krieg eingesetzten Mittel regelten – war in den mittelalterlichen Kodex der Ritterlichkeit eingebettet. Auch wenn der Ehrenkodex der Ritter ein Vorläufer des modernen humanitären Völkerrechts war und das Wort »Ritterlichkeit« heute positiv konnotiert ist, reichte er an gegenwärtige Standards von Humanität keineswegs heran.10 Wie Forscher_innen wie Helen Kinsella vertreten, zementierte der Ritterkodex bestehende Ungleichheiten wie die zwischen Rassen, Ständen und Geschlechtern und weitete sie sogar aus. Er zielte darauf ab, eine ganz bestimmte Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und regelte dabei hauptsächlich den Umgang mit Personen aus dem Ritterstand. Dabei galten die Regeln für einen menschlichen Umgang mit Kriegsgefangenen beispielsweise nicht für die Fußsoldaten, die häufig die Hauptlast der Kämpfe trugen.

Rechtsgelehrte wie Francisco de Vitoria (um 1483–1546), Hugo Grotius (1583–1645) und Emmer(ich) de Vattel (1714–1767) befassten sich mit dem Kriegsrecht, das sich auf Ad-hoc-Basis auf dem Schlachtfeld in Form einer Reihe von Regeln herausgebildet hatte, auf einer eher theoretischen und systematischen Ebene. Vitoria, ein spanischer Philosoph, vertrat im 16. Jahrhundert die Auffassung, dass Soldaten Zivilisten nur dann ins Visier nehmen dürften, wenn es militärischen Zielen diente, zum Beispiel um den Widerstand von Städten zu brechen oder die Moral der Soldaten zu stärken. Eine noch gemäßigtere Position vertraten der holländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius im 17. Jahrhundert und der Schweizer Rechtsgelehrte Emmer de Vattel im 18. Jahrhundert, die beide dafür eintraten, dem Militär im Umgang mit Zivilbevölkerungen weitere Beschränkungen aufzuerlegen.

Während die Schriften dieser Rechtsgelehrten in gewissem Sinn die erstmalige Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts darstellten, blieb die Anwendung der entsprechenden Regeln auf dem Schlachtfeld im Allgemeinen informell, mit der gelegentlichen Ausnahme bilateraler Übereinkünfte zwischen kriegführenden Parteien.11 Das Kriegsvölkerrecht beruhte weitgehend auf Gebräuchen, gekennzeichnet eher durch staatliche Praxis und damalige Regeln als durch positives Recht, das in internationale Abkommen eingebettet war.12 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Landschaft des Völkerrechts allerdings dramatisch verändert. Wie Martti Koskenniemi vertritt, sei es der Aufstieg der Völkerrechtler als anerkannter Berufsstand gewesen, der zur Ausweitung des internationalen Rechts geführt habe. Entsprechende Regeln seien in zunehmendem Maße in multilateralen Abkommen festgeschrieben worden.13

Das erste Kriegsrecht, das in einem solchen Vertrag kodifiziert wurde, war die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856. Diese umfasst, kurz gesagt, lediglich vier Hauptteile:

1.Die Kaperei ist und bleibt abgeschafft.

2.Die neutrale Flagge schützt feindliche Ladungen, ausgenommen für die Kriegszeit verbotene Ware.

3.Neutrale Ladungen, ausgenommen für die Kriegszeit verbotene Ware (Kontrabande), dürfen auch unter feindlicher Flagge nicht beschlagnahmt werden.

4.Damit Blockaden rechtlich wirksam sind, müssen sie effizient durchgeführt, also von einer ausreichenden Streitmacht aufrechterhalten werden, um dem Feind den Zugang zur Küste zu versperren.14

Mit ihrem Minimalismus betonte die Deklaration insofern die Rechte der Kriegführenden, als diese neutrale Schiffe betreten und sie auf Kontrabande hin inspizieren durften. Die Rechte neutraler Staaten blieben nur so lange geschützt, als auf ihren Schiffen keine verbotenen Waren gefunden wurden. Auffallenderweise fehlt in dieser Erklärung eine Definition für derlei Schmuggelgut. Diese blieb den kriegführenden Parteien überlassen, die in der Frage – nicht überraschend – sehr großzügige Auffassungen vertraten.15 Stephen Neff, der führende moderne Gelehrte der Neutralitätsrechte, stellt es so dar:

[E]in Recht der Kriegführenden [zur Blockade], einst eng begrenzt, war in den Augen mancher jetzt atemberaubend weit ausgedehnt worden. Hatte das Blockaderecht Kriegführende einst zu nicht mehr – oder weniger – ermächtigt, als neutrale Schiffe aufzubringen, welche die von einem Blockadegeschwader gezogene Linie durchsegelt hatten, so hielt es nun dazu her, Kriegführende zu ermächtigen, Ladungen neutraler Schiffe zu beschlagnahmen, die zwischen neutralen Häfen in beliebig weiter Entfernung von der Blockadelinie verkehrten – auch wenn das Schiff mit dieser Ladung mit dem Blockadegeschwader zu keiner Zeit in Berührung kam.16

Der nächste multilaterale Vertrag im Kriegsvölkerrecht begünstigte Kriegführende auf ähnliche Weise. Die erste Genfer Konvention betreffend die »Übereinkunft zur Verbesserung des Looses der im Kriege verwundeten Militärs« von 1864 war das Geistesprodukt Henri Dunants, des Gründers des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Dunant hatte 1859, während des Sardinischen Krieges zwischen Österreich und Sardinien, eine Landkonzession zu erwerben versucht und war dabei Napoleon III. auf das Schlachtfeld bei Solferino gefolgt. Angesichts des Elends, das er dort erlebte, wurde sein Gewinnstreben offenbar rasch von einem Bedürfnis überdeckt, für Linderung zu sorgen. Am meisten schockierte ihn nicht das brutale Kampfgeschehen an sich, sondern die fehlende medizinische Evakuierung und der Umgang mit den Gefallenen:

Hätte man genügend Hilfskräfte gehabt, um die Verwundeten auf der Ebene von Medole bergen zu können oder auch aus den tiefen Gräben von San Martino, den Schanzen der Höhe Fontana, den Hügeln von Solferino, dann hätte man diesen oder jenen armen Bersagliere, jenen Ulanen oder Zuaven nicht während langer Stunden des 24. Juni in banger Todesangst unter der grauenhaften Furcht, vergessen zu sein, hilflos liegen lassen müssen. Dann wären am nächsten Tage nicht, wie es entsetzlicherweise wahrscheinlich geschehen ist, so viele Lebende zusammen mit den Toten beerdigt worden.17

Von Solferino aus reiste Dunant in seine heimatliche Schweiz zurück, um Spenden für eine Organisation zu sammeln, die den »Schutz und Hilfe für Betroffene bewaffneter Konflikte« gewährleisten sollte.18 Damit war das Internationale Komitee vom Roten Kreuz geboren, das seither an vorderster Front für die Entwicklung des modernen humanitären Völkerrechts kämpfte.

Die Rotkreuzkonvention von 1864 stellte die erste Bemühung des IKRK dar, die Nationen der Welt dazu zu bewegen, sich auf ein grundlegendes Kriegsvölkerrecht zu verständigen.19 Im Zentrum des Abkommens stand eine Frage, die für kriegführende Parteien vor allem ein Koordinierungsproblem darstellte: Raum und Zeit zu schaffen, um Kriegsverwundete vom Schlachtfeld abtransportieren zu können. Die Gründerväter des IKRK wussten, dass sie mit ihrem Vorschlag einen steinigen Weg vor sich hatten, dass von ihm aber sämtliche Beteiligte nur profitieren konnten. Auch wenn schon zuvor staatliche Militärs Anstrengungen unternommen hatten, um ihre Praktiken bei der medizinischen Evakuierung zu verbessern,20 waren die entsprechenden Dienste mit der Zeit vielfacht so zusammengeschrumpft, dass sie nicht mehr funktionierten.21 Sämtliche Parteien würden klar gewinnen, wenn ihre Verwundeten vom Schlachtfeld abtransportiert und zeitnah medizinisch behandelt würden. Sie konnten zum Schlachtgeschehen nichts mehr beitragen, sodass es für die Taktik einen neutralen Vorgang darstellte, sie ihren Einheiten zu überstellen und ärztlich versorgen zu lassen. Daran hatten alle Konfliktparteien besonderes Interesse, stärkte es doch die Kampfmoral der Soldaten und die Unterstützung an der Heimatfront für den Krieg, wenn dafür gesorgt würde, Verwundete auf dem Schlachtfeld nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen.22

Dass den Staaten dazu die organisatorischen Fähigkeiten fehlten, stellte ein Problem dar, dem das IKRK mit dem Vorschlag begegnete, die Arbeiten der Evakuierung und medizinischen Versorgung selbst zu übernehmen. Die Vorstellung, es auf dem Schlachtfeld mit einer dritten Partei zu tun zu bekommen, stieß bei den Staaten zunächst auf Widerstand.23 Gelöst wurde das Problem dadurch, dass Ambulanzen, Militärhospitäler, medizinisches Personal und Zivilisten vor Ort dazu bestimmt wurden, sich als neutrale Parteien im Konflikt um die Verwundeten zu kümmern. Die angesehene Bezeichnung »Rotes Kreuz« war geboren.24

Die ersten beiden Verträge zum Kriegsvölkerrecht waren folglich so formuliert, dass die Rechte der Konfliktparteien gestärkt wurden. Aber der Tenor sollte sich ändern. Hatten die Vorläufer noch den Krieg begünstigt, so erlegten die Haager Abkommen von 1899 den Kriegführenden bei Kampfeinsätzen erstmals Beschränkungen auf, ein historischer Wendepunkt bei der Kodifizierung des Kriegsrechts.

Während die damalige Zusammenkunft der Mächte in Den Haag ursprünglich vom russischen Zaren Nikolaus II. als eine Abrüstungskonferenz konzipiert worden war, die vor allem Russland hätte begünstigen sollen, so nahm sie stattdessen eine kuriose Wende.25 Drei der daraus hervorgehenden Haager Abkommen von 1899 – die ersten kodifizierten Regeln für die Landkriegführung – betrafen (1) die Konfliktlösung, (2) die Landkriegführung im Allgemeinen und (3) die Seekriegführung. Eine vierte – mit drei Erklärungen – schränkte den Gebrauch bestimmter Waffen wie Teilmantelgeschosse ein.

Abkommen II, »betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs«, setzte den Kriegführenden im Umfang mit der Zivilbevölkerung Grenzen und legte fest: »Die Kriegführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes« (Artikel 22). Demnach ist »[a]bgesehen von den durch Sonderverträge aufgestellten Verboten [namentlich] untersagt: […] der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötigerweise Leiden zu verursachen« (Artikel 23). Weiterhin »ist verboten, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnungen oder Gebäude anzugreifen oder zu bombardieren« (Artikel 25). Ebenso verbietet das Abkommen förmlich Plünderungen (Abschnitt 2, Artikel 47) und erlegt allgemeiner eine Reihe von Beschränkungen der Rechte militärischer Besatzer auf (Abschnitt 3).

Auch wenn das Völkergewohnheitsrecht, wie von Gelehrten wie Grotius und Vattel umrissen, zwischen Kombattanten und Zivilpersonen bereits bedeutende Unterscheidungen getroffen hatte, was eine statthafte Behandlung anging, so erfolgte dies mit dem Haager Abkommen II von 1899 nun erstmals im geschriebenen Recht. Auffallenderweise enthält das Abkommen keine Definition für »Zivilpersonen«, die über das Verbot der Bombardierung unbefestigter Städte hinausgeht. Die Urheber der Haager Abkommen von 1899 sahen sich selbst wohl nicht als Revolutionäre. Aber diese schrittweisen Veränderungen wurden 1907 und dramatischer noch 1949 mit dem Genfer Abkommen IV stärker ausgeweitet. Letzteres erlegte dem Militär klar umrissene Verpflichtungen auf, um Angriffe auf die Zivilbevölkerung abzuwenden. Der Begriff der »geschützten Personen«, der sämtliche Zivilpersonen, aber insbesondere Kranke, Verwundete, Frauen und Kinder einschloss, sollte vorherrschend die Regeln bestimmen, die als humanitäres Völkerrecht bekannt waren. Das Genfer Abkommen IV von 1949 verbot Vergewaltigung (Artikel 27), Folter (Artikel 31) und den Einsatz menschlicher Schutzschilde (Artikel 28). Angesichts ihrer noch frischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg setzten die Urheber der Regeln den Kriegsmächten bei einer Besatzung deutliche Grenzen (Abschnitt 3). Solche sind insofern heute noch bedeutsam, als Unterzeichnende der Genfer Abkommen wie Palästina sich darauf berufen, dass sie Verletzungen des Besatzungsrechts erlitten hätten.26

Auch wenn »Zivilperson« im humanitären Völkerrecht nach wie vor ex negativo – als »Nichtkombattant«27 Der Begriff der »zivilen Objekte« wurde so erweitert, dass er Kulturerbe ebenso wie kritische Infrastruktur miteinschließt.