MARTIN HECKT

Die Abenteuer von Freya Warmherz

Nise Boao

Für die originale Freya

Wir sehen uns wieder

Kapitel 1

„Extrablatt! Extrablatt!“

Der junge Thol, der diese Worte rief, stand mit Zeitungen unter dem Arm, vor dem Büro der Hafenmeisterei auf einer alten Holzkiste. Eines der Exemplare hielt er hoch über den Kopf, sodass jeder Interessierte die Schlagzeile sehen konnte.

„Extrablatt! Extrablatt! Erneut wurde ein Handelsschiff ausgeraubt!“

Für sich allein genommen, wäre dieses Geschehen nichts so Besonderes. Es gab Piraten auf den Meeren von Kanthorus, und Handelsschiffe waren natürlich eine bevorzugte Beute. Aber momentan machte etwas anderes die Seeleute nervös.

„Extrablatt! Wieder einmal wurde der Überfall von niemandem bemerkt!“

Schnell scharrten sich die Hafenarbeiter um den Jungen und die Zeitungen wurden rasend schnell verkauft. Die Waren der Handelsschiffe schienen sich einfach aufzulösen. Sie verschwanden einfach. Niemand an Bord der Schiffe bemerkte etwas. Meist wurde sogar erst beim Einlaufen festgestellt, dass der Laderaum leer war.

Dementsprechend frustriert wurden die Seeleute langsam. Keine Ware, keine Bezahlung. So einfach war das. Noch schlimmer waren die freien Handelsschiffe dran, die einem privaten Eigner – meist dem Kapitän – gehörten. Sollte so ein Fall auf einem dieser Schiffe vorkommen, war der finanzielle Ruin fast schon besiegelt. Ein Schiff zu unterhalten war teuer. Dazu kam dann noch die Besatzung, die Nahrung, Instandhaltung und so weiter. Das konnten sich nur wenige leisten.

Diese Gedanken hatte auch der Fischer mit den rotgrauen Haaren, der zufällig im Hafen war. Er trug typische Fischerkleidung und einen Strohhut, bei dem Löcher für die volkstypischen Pardaohren ausgestanzt waren. Sein langer rotgrauer Stert bewegte sich leicht und die Pfeife im Mundwinkel gab ab und an graue Wölkchen von sich.

Es handelte sich um Rohdan Warmherz, dem Vater von Freya. Als er den Jungen rufen hörte, gesellte er sich zur Gruppe der Umherstehenden und las die Schlagzeile.

„Erneuter mysteriöser Überfall auf ein Handelsschiff! Eigner Pleite! Wo soll das enden?“

Die Wölkchen aus der Pfeife wurden mehr, ein Zeichen dafür, dass der Raucher schneller daran zog. Rohdan fand diese Entwicklung bedenklich. Seine Tochter arbeitete auf einem freien Handelsschiff, der Soleil Royal. Es war genau genommen sogar eines der größten freien Handelsschiffe auf Kanthorus und es grenzte an ein Wunder, dass es noch nicht überfallen worden war.

Er machte sich als Vater natürlich Sorgen um seine Tochter, und es berührte ihn sogar noch mehr, da er auch viele Mitglieder der Mannschaft und Feyonor Kardona, den Kapitän kannte. Die Soleil Royal war die zweite Heimat seiner Tochter, und das sollte auch so bleiben, wenn es nach ihm ging. Seine Frau Sarah und er waren damals dagegen, als Freya unbedingt zur See fahren wollte, aber die junge Frau mit dem violettroten Haar setzte sich schließlich durch. Die Götter mussten ein Auge auf sie haben, denn sie gelangte durch pures Glück an Bord der Soleil Royal, ein seriös geführtes Schiff. Feyonor Kardona blickte auf eine militärische Karriere zurück und er führte sein Handelsschiff streng, aber familiär. Es war das einzige Handelsschiff, das Rohdan kannte, auf dem eine quasi militärische Struktur herrschte. Sogar Uniformen trug man dort.

Rohdan wusste, dass viele Schiffe im Hafen von Aritholka wesentlich anders geführt wurden. Die meisten hielten sich mit zwielichtigen Geschäften über Wasser, und genau deswegen waren Sarah und Rohdan dagegen, als Freya zur See fahren wollte. Sie hatte unsagbares Glück gehabt, und ihre Eltern waren mächtig stolz auf die zierliche junge Parda.

Er drängelte sich durch die Gruppe nach vorn und sah den jungen Zeitungsverkäufer an.

„Gib mir mal eine, bitte!“

Der Junge nickte und nannte den Preis. Rohdan griff in eine seiner Hosentaschen und holte eine glänzende silberne Münze heraus. Lässig schnippte er sie dem Jungen zu, der sie geschickt auffing und im Gegenzug eine der Zeitungen an den Parda reichte.

„Danke dir!“

Rohdan zwinkerte dem Jungen grinsend zu und zog sich aus der Gruppe zurück. Er suchte sich eine ruhige Ecke und schlug die Zeitung auf, um zu lesen, was dort stand.

Erneuter mysteriöser Überfall auf ein Handelsschiff! Eigner Pleite! Wo soll das enden?

Schon wieder wurde ein Schiff überfallen, ohne dass die Besatzung es mitbekam. Die „Gouverneur Karisthos“ war auf dem Weg nach Aritholka, als sie überfallen wurde. Keiner der Besatzungsmitglieder hat etwas davon bemerkt. Selbst Kapitän Lantharo ist ratlos! „Ich habe keine Ahnung, wann oder wo das stattgefunden haben soll“, sagte er dem Reporter des Aritholka Tagblattes. Die weitere Zukunft der „Gouverneur Karisthos“ ist ungewiss. Es handelt sich um ein freies Handelsschiff und Lantharo verfügt derzeit nicht über die nötigen finanziellen Sicherheiten, diesen Schaden aufzufangen.

Niemand weiß, wie diese Überfälle durchgeführt werden. Fakt ist allerdings, dass sie sich häufen. Wenn das so weitergeht, werden die Meere als unsicher eingestuft und es müssen andere Transportwege erschlossen werden.

Rohdan schüttelte den Kopf.

„Andere Transportwege“, murmelte er.

„Wie soll das gehen? Alleine die Kosten. Und Luftschiffe kann man eh nicht verwenden. Die kämen mit den Lasten gar nicht klar.“

Er seufzte und stieß sich von der Wand ab. Dann rollte er die Zeitung zusammen und stopfte sie in eine Tasche. Er schaute nachdenklich zurück zum Hafen, wo einige große Schiffe lagen und ihre Ladung löschten. Die Soleil Royal lag etwas weiter entfernt, dominierte aber aufgrund ihrer Größe trotzdem das Bild. Rohdan wusste, die Soleil Royal würde bald wieder ablegen und Kurs auf Ninkatu nehmen. Und Freya würde an Bord sein. Bisher wurde bei diesen Überfällen niemand verletzt, aber woher sollte er wissen, dass es dabei bliebe?

Rohdan schüttelte den Kopf und stapfte los. Den ganzen Weg bis zu seinem Haus wirkte er äußerst nachdenklich, aber er wusste auch, dass er keine Chance hatte, Freya davon abzuhalten, weiter zur See zu fahren. Sie hatte mit der Seefahrt ihren Lebenstraum erfüllt und großartige Freunde kennengelernt, die sie ebenso als Familie sah, wie ihre echte. Über das ganze Grübeln merkte der Parda gar nicht, wie schnell er zu seinem Haus gelangt war. Er hob den Kopf erst, als er das Quietschen der Gartentür hörte. Er sah eine junge Frau auf sich zu rennen und musste lachen. Freya sprang einen Meter, bevor sie Rohdan erreichte ab und fiel ihrem Vater um den Hals.

„Nanu?“, brummelte Rohdan überrascht.

„Wie komme ich denn zu dieser Ehre?“

Freya ließ von ihrem Vater ab und ging mit ihm gemeinsam durch den Garten zum Haus.

„Ach, manchmal hast du es einfach verdient!“, strahlte die junge Parda.

Rohdan konnte nicht ahnen, warum Freya so aufgekratzt war, seit sie aus ihrem Urlaub zurückgekehrt war. Er wusste nichts von ihrem Abenteuer in der Stadt in den Wolken und so sollte es auch bleiben. Freyas Sicht auf die Dinge hatte sich durch dieses Abenteuer sehr verändert. Sie wusste ihre Freiheit und ihre Familie noch mehr zu schätzen, als es vorher schon war. Darum war sie auch im Moment noch zu Gast in ihrem Elternhaus, obschon die Soleil Royal bereits morgen ablegen würde. Byrt und Elah waren bereits an Bord, nur Leviathan war mit Freya noch bei ihren Eltern.

Gemeinsam betraten die beiden das Haus, in dem Sarah – Freyas Mutter – gerade damit beschäftigt war, Leviathan eine neue Decke für seinen Schlafplatz an Bord zu häkeln. Der Erpel lag neben ihr auf der Couch und schien gespannt zuzuschauen. Rohdan ließ sich schwer in einen der Sessel fallen, während Freya sich auf die Couch neben ihre Mutter setzte. Er warf mit einer lässigen Bewegung die Zeitung auf den Tisch.

„Was hältst du davon?“, fragte Rohdan und deutete auf den Artikel.

Freya verzog das Gesicht.

„Schon wieder ein Überfall? Ich würde zu gerne wissen, wie diese Überfälle stattfinden. Wird die ganze Besatzung narkotisiert? Oder werden die Mannschaften gekauft und lügen dann? Ich habe keine Ahnung.“

Sie ergriff die Zeitung und las den Artikel sehr genau durch. Dabei schlang sich ihr Stert um ihre Taille und die beiden Eltern grinsten sich an. Es war eine Eigenschaft, die nur Freya zu haben schien. Parda nutzten ihren Stert so gut wie nie, bestenfalls um die Balance zu halten. Aber sie wickelten ihn üblicherweise nicht um die Taille.

„Lantharo“, nuschelte Freya.

„Kein sehr seriöser Kapitän. Trotzdem tut er mir leid. Und vor allem die Mannschaft hat dieses Schicksal nicht verdient. Ich wette, in den nächsten Tagen suchen wieder etliche Seeleute nach einem neuen Schiff.“

Sarah blickte ihre Tochter neugierig an.

„Und? Sucht die Soleil Royal noch neue Leute?“

Freya kaute kurz auf der Unterlippe und schüttelte dann energisch den Kopf.

„Ich denke nicht. Kardona sucht seine Mannschaft stets sehr sorgfältig aus. Wie gesagt, Lantharo und sein Schiff galten nicht als seriös. Dasselbe wird dann wohl für die Mannschaft gelten. Auch wenn ich da nichts Genaues weiß.“ Rohdan klopfte die Pfeife aus, um sie dann erneut zu stopfen. Dabei nickte er verständnisvoll.

„Ja, Feyonor ist ein guter Kapitän. Hat er denn bereits Maßnahmen ergriffen, um gegen diese Überfälle gewappnet zu sein?“

Freya rückte die Brille zurecht und zuckte mit den Schultern.

„Was sollte er denn schon groß machen? Keiner weiß, wie diese Überfälle begangen werden. Das Einzige was bis jetzt angeordnet wurde, sind doppelte Belegungen bei den Schichten der Soldaten. Wobei ich nicht weiß, wie effektiv das wirklich sein wird. Das wird man dann wohl abwarten müssen.“

Sarah legte die halb fertige Decke weg und sah ihre Tochter an.

„Du wirkst so ruhig. Hast du denn gar keine Angst vor dem, was passieren könnte?“

Freya verzog das Gesicht, während sie sich kurz an Horkon und das Drama in der Stadt in den Wolken erinnerte.

„Wenn ich immer Angst hätte, vor dem, was passieren könnte, dann wäre die Seefahrt wohl nichts für mich“, entgegnete die junge Parda diplomatisch.

Freyas Eltern nickten synchron.

„Da hast du natürlich recht“, entgegnete Rohdan brummelnd.

„Außerdem“, grinste Freya und hob den Zeigefinger, während sie Sarah und Rohdan ansah.

„Außerdem habe ich ja noch Byrt und Elah und Leviathan an meiner Seite!“

Alle drei lachten daraufhin herzlich.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Freya von ihren Eltern und schulterte den schweren Seesack. Sie gab sich bewusst zuversichtlich, als sie ihre Mutter auf die Wange küsste und ihren Vater fest in die Arme nahm.

„Ihr werdet schon sehen, bald sind wir von Ninkatu zurück, und uns wird nichts passiert sein. Wer greift schon so ein großes Handelsschiff wie die Soleil Royal an? Und unter meinem prüfenden Blick im Ausguck kommt eh niemand vorbei!“

Sie lachte bewusst laut und zuversichtlich und ging durch den Garten, Leviathan watschelte pflichtschuldig hinter ihr her. Als sie die Gartentür hinter sich schloss, sah sie das fast schon zur Tradition gewordene Bild: Rohdan lächelte Freya hinterher und hielt seine Frau im Arm, die etwas weniger glücklich und zuversichtlich aussah. Freya winkte den beiden noch einmal zum Abschied zu und ging dann die Straße entlang, die sie nach Aritholka führen sollte. Auf dem Weg führte sie ein lebhaftes Gespräch mit dem weißen Erpel, der fast wie ein Hund neben ihr her ging.

„Weißt du, wer wäre schon so dumm, ein so großes Schiff anzugreifen? Noch dazu, wo wir die ganzen Soldaten an Bord haben? Nein, nein, das wird nicht passieren.“

Levi schnatterte seine Antwort und Freya musste grinsen.

„Ha, na klar, und der tapferste Erpel von ganz Kanthorus ist natürlich auch noch da!“

Insgeheim hatte die zierliche Parda genau so viel Angst wie ihre Eltern und auch etliche ihrer Kameraden. Aber an Bord galt der Satz: „Bange machen gilt nicht!“.

Freya zuckte mit den Schultern. Andererseits, was sollte ihr schon passieren? Wenn man bedachte, welche Abenteuer sie an Bord der Royal und mit ihren Freunden schon erlebt hatte, war sie ziemlich sicher, dass ihr gar nichts passieren konnte. Nicht mit diesen Freunden an ihrer Seite. Sie liebte Byrt und Elah wie Geschwister. Der große, etwas tollpatschige Granitianer, der immer für sie da war, und die Parda mit der schokoladenbraunen Haut und der Angewohnheit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre widerspenstigen Haare aus der Stirn zu pusten. Unwillkürlich musste sie lächeln.

Freya war so versunken in ihren Gedanken und in ihrem Gespräch mit Leviathan, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie schnell ihre Schritte die Entfernung zum Hafen hinter sich gebracht hatten.

Freya sah verwundert auf und ihr Kopf legte sich in den Nacken.

Da lag sie direkt vor ihr im Hafen: die Soleil Royal. Ihr Schiff. Also, das Schiff auf dem sie arbeitete. Majestätisch wie eh und je überragten die drei Masten die der anderen Schiffe um Längen. Die Soleil Royal schien den Hafen zu dominieren. Ganz oben, auf dem mittleren Mast, sah Freya ihren Arbeitsplatz, den Ausguck. Oder „Krähennest“, wie die erfahrenen Seeleute es nannten.

Die Segel waren gerefft und die blau-goldene Flagge am Heck knatterte im Wind.

Freya grinste. Sie war Zuhause.