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Guillaume Paoli

Soziale Gelbsucht

Mit Fotografien von
»Plein le dos«

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Inhalt

Die Wiederkehr der Grande Peur

Erhöhte Sichtbarkeit

Was bewegt die Bewegung?

Macronskopie

Krise der Repräsentation, Irrlichter der Direktdemokratie

Das ist nur ein Kampf, der Anfang geht weiter

Dem deutschen Leser ein Nachwort

Per definitionem ist ein Ereignis unvorhersehbar. Überraschend hält es Einzug in die Wirklichkeit. Und doch geschieht es nicht durch Zufall. Im Nachhinein lassen sich Kausalketten rekonstruieren, doch das Ereignis sprengt die herkömmlichen Interpretationen. Es lässt sich mithilfe der Kategorien, die vor ihm galten, nicht begreifen und wird daher von allen missverstanden, die auf vorgefertigten Meinungen beharren. Zudem ist das Ereignis unberechenbar. Es verläuft nicht nach Plan. Niemand kann erahnen, wo es hinsteuert. Seine Dynamik besteht aus der Entfaltung von Ambivalenzen und Widersprüchen. Für alle Verfechter des Status quo ist das Ereignis ein Skandal. Zu ihrer Empörung werden Zustände angefochten, mit denen sie sich wohl oder übel abgefunden haben.

Ohne Zweifel ist die Bewegung der Gilets Jaunes, der Gelbwesten, die seit November 2018 Frankreich aufmischt, ein solches Ereignis. Einzigartig ist sie in vielerlei Hinsicht. Einfache Frauen und Männer verbünden sich selbstständig und lehnen Leader prinzipiell ab. Sie erfinden neue Formen des Protests und begeben sich zu den Brennpunkten der Gegenwart. Sie erörtern die ökologische Krise wie die sozialen Missstände, die räumliche Exklusion wie die Antiquiertheit institutioneller Politik. Beispiellos ist auch die Dauerhaftigkeit dieser Bewegung trotz brutaler Repression und massiven Eingriffen in die Bürgerrechte vonseiten der liberal-autoritären Regierung.

Selten wurde ein Geschehnis so systematisch verunglimpft und verleumdet. Auch in deutschen Medien werden die Gilets Jaunes pauschal als rechter, antisemitischer, hasserfüllter Mob diffamiert. Es geht nicht darum, diese Bewegung unkritisch zu loben, sondern ihrem Versuch gerecht zu werden und ihre Entschlossenheit zu zeigen, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Die soziale Frage ist zurück. Für die Regierenden lautet sie: Wie lässt sich eine Politik gegen den Willen der großen Mehrheit durchsetzen? Für die Bürger: Wie kann man sich dem unheilvollen Gang der Dinge effektiv widersetzen? Diese Fragen stellen sich überall.

Ich verzichte im Folgenden auf Quellenangaben, die den Text mit vielen Fußnoten erschwert hätten, zumal die Bücher, Zeitungsartikel, Internetseiten und Fernsehvideos, die ich verwendet habe, allesamt auf Französisch sind. Ich versichere jedoch, dass alle Zitate und Darstellungen belegt sind, und stelle mich Faktencheckern zur Verfügung, falls sie an der Wahrhaftigkeit meiner Informationen zweifeln.

Die Wiederkehr der Grande Peur

Am Morgen des Samstags, 8. Dezember 2018 war der Élysée-Palast, Amtssitz des Staatspräsidenten der französischen Republik, in höchstem Alarmzustand. In den prächtigen Salons verkehrten keine Gäste, stattdessen waren dort zusätzlich zur üblichen Präsidialgarde fünfhundert Wachen des 1. Infanterieregiments stationiert. Die Gattin des Präsidenten sowie die Mitarbeiter im Bereitschaftsdienst wurden zu einem sonst hermetisch abgeriegelten Sektor des Palastes begleitet: in den für den Atomkriegsfall eingerichteten Generalstabsbunker. Dort, wurde ihnen gesagt, sollten sie Zuflucht suchen, falls etwas schiefginge. Um den Präsidenten Emmanuel Macron selbst zu evakuieren, stand im Garten ein Hubschrauber bereit. Später werden Zeugen erzählen, wie blass und ratlos Macron in diesen Stunden aussah. Auch die Ministerien waren menschenleer. Am Tag davor hatten alle Mitarbeiter die Anweisung bekommen, »wegen Lebensgefahr« nach Hause zu gehen, dabei ihre Computer sowie alle vertraulichen Akten mitzunehmen. Draußen auf den Straßen rollten Panzer der Gendarmerie, achttausend Ordnungskräfte waren im Einsatz. Auf Dächern der Champs-Élysées wurden Sniper der Polizei gesichtet. Bereits am frühen Morgen fanden Hunderte Präventivfestnahmen statt. Kurzum: Es herrschten Zustände, die in einem parlamentarisch-demokratisch regierten Land der Europäischen Union kurz zuvor noch als vollkommen unvorstellbar galten. Der Staatsapparat war in regelrechte Panik geraten. Mit Tränengaswolken gemischt, schwebte über Paris ein aufständischer Hauch, wie man ihn sonst nur aus Geschichtsbüchern kennt. Der Grund: Seit einigen Tagen war auf Webseiten der Gilets Jaunes zu einem »Marsch auf das Élysée« aufgerufen worden. Gefragt im Fernsehen, was die Demonstranten tun würden, falls sie zum Palast gelängen, antwortete einer ihrer Wortführer lässig: »Wir gehen rein.« Die Absicht wurde sehr ernst genommen. Schließlich kursierten ebenfalls im Internet Pläne des Kanalisationsnetzes rund um den Präsidialsitz. Doch die angekündigte Erstürmung blieb aus. Obschon an jenem Tag die Hauptstadt ein weiteres Mal Tumult und Straßenkämpfe erlebte, ließ man das amtliche Zentrum der Republik unangetastet. Entscheidend ist aber, dass ein solcher Angriff für möglich gehalten worden war. Nach den Ereignissen der vorangegangenen Tage schien zu diesem Zeitpunkt beinah alles möglich.

Da ihr Protest mit der Besetzung von Kreisverkehrsinseln begonnen hatte, hielten es die Gilets Jaunes für selbstverständlich, am 1. Dezember ihre zentrale Kundgebung auf der berühmtesten Kreisverkehrsinsel des Landes abzuhalten, nämlich dem Place Charles-de-Gaulle, im Schatten des Arc de Triomphe. Bereits eine Woche zuvor hatten sie auf den Champs-Élysées gewütet. Das war ein Novum in der langen Sozialgeschichte der Stadt. Tradierte Stätten des Protests liegen weiter östlich, das Platzdreieck Bastille-Nation-République, das Quartier Latin, allenfalls noch die Nationalversammlung. Der vornehme Nordwesten ist nur Touristen einen Besuch wert. Jetzt waren jedoch kaum Stadtbewohner involviert. Die Provinz war nämlich in die Hauptstadt gezogen, Menschen, die weder mit der historischen Tradition noch der lokalen Geographie vertraut waren. Die Polizei versuchte, das heilige Wahrzeichen der Nation vor den Eindringlingen zu schützen, wurde allerdings von der Heftigkeit der Gegenwehr überrascht. Die Szene war umso bizarrer, als die Wütenden in Gelbwesten, während sie die Ordnungskräfte mit Pflastersteinen bewarfen, die trikolore Fahne schwenkten und die Marseillaise sangen. »Zu den Waffen, Citoyens«, plötzlich erinnerte die Nationalhymne wieder an ihren revolutionären Ursprung. Dann geschah ein unerhörter Skandal. Der Arc de Triomphe, zweifelhafte Ehrerbietung der Restauration an die revolutionären und napoleonischen Kriege, Obdach der ewigen Flamme des Militarismus, wurde geschändet. Ein Bild ging um die Welt: Am Relief der Marianne, kitschigem Gipskonterfei des Delacroix-Gemäldes »Die Freiheit führt das Volk«, klaffte ein großes Loch anstelle des Auges – rein ästhetisch gesehen eine gelungene Nachbesserung. Womöglich wurde die Nationalfigur versehentlich von einer Plastikkugel der Polizei getroffen, in welchem Fall das beschädigte Gesicht als das einer empörten Wahrsagerin zu betrachten wäre. In den nachfolgenden Wochen werden über zwanzig Menschen durch Polizeischüsse ein Auge verlieren, ohne dieselbe Empörung auszulösen wie die ungeklärte Denkmalschändung. Im Laufe des Tages überschwemmte die Menge die umliegenden 16. und 8. Arrondissements, jene vornehmsten Wohngebiete des Landes, wo der Quadratmeterpreis höher ist als das Jahreseinkommen einer Krankenpflegerin. Luxusautos und gar eine Villa wurden in Brand gesteckt, Prachtläden und Banken verwüstet. Zweifellos hatten extremistische Grüppchen ihren Anteil an dem Krawall, am Triumphbogen eher Faschisten und gar Royalisten, später Antifas und Linksautonome. Doch ließ die Identität der zahlreichen Festgenommenen keinen Zweifel an der plebejischen Herkunft der allgemeinen Zusammensetzung. Es waren Kranfahrer und Köchinnen, Kindergärtnerinnen und Klempner. Selbst regierungsnahe Leitartikler machten nicht wie üblich parasitäre Black Blocks für die Exzesse verantwortlich, sie stellten fest: Stattgefunden hatte ein genuiner Volksaufstand. Ein enger Mitarbeiter Macrons gab später zu Protokoll: »Wir hatten wirklich den Eindruck, am Vorabend des 10. August 1792, der Erstürmung der Tuilerien, zu stehen.« Sicher war der Eindruck irrational. In bestimmten Situationen ist jedoch Irrationalität ein objektiver Faktor.

Und wenn doch nur allein Paris betroffen gewesen wäre! Zeitgleich erlebten zwei Dutzend Städte ähnliche Szenen. In der zwanzigtausend Einwohner zählenden Stadt Le Puy-en-Velay brannte die Präfektur. Drei Tage später wollte Macron den traumatisierten Beamten vor Ort einen Besuch abstatten. Damit war er schlecht beraten. Sein Auto fand sich von einer aufgebrachten Menge umzingelt, die auf die Karosserie haute und ihn übel beschimpfte. »Sie wollen Ihren Kopf aufgespießt sehen«, sagte ihm der Bürgermeister. Der Alptraum wirkte nach. Einen ganzen Monat hielt es der Präsident für ratsam, sich in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen. Da er als Student eine Dissertation über Machiavelli geschrieben hatte, mag Macron in diesem Moment über jene Maxime nachgesonnen haben: »Regieren heißt nichts anderes, als die Untertanen so zu halten, dass sie dich weder verletzen können noch dürfen.«

Diese Angst ist erfreulich. Selbst wenn von der Bewegung der Gilets Jaunes nichts bleiben würde, die Tatsache, dass sie den Machthabern Frankreichs und Europas wieder Furcht eingeflößt haben, ist eine nachhaltige Errungenschaft. In seinem Roman Regierung erzählt B. Traven vom Feuerstuhl, dem angeblichen Brauch eines indigenen Stammes in Mexiko. Bei der Zeremonie zur Amtseinführung sitzt der Häuptling würdig und feierlich auf einem ausgehölten Sitz, worunter glühende Holzkohle gelegt werden. Das Ritual wird unternommen, damit den Häuptling sein brennender Hintern an ein paar Dinge erinnert: Wem er seine Funktion verdankt, wozu er sich verpflichtet hat, außerdem dass er es sich nicht bequem machen darf, an seinem Stuhl wird er wohl nicht kleben können. Die Gilets Jaunes sind Macrons Feuerstuhl gewesen. Viel zu lang hatte die privilegierte Kaste verlernt, welchen Missständen sie ihre Privilegien verdankt. Viel zu lang wurde vergessen, dass jene Verschlechterungen der Lebensbedingungen, die immer »Reformen« heißen, einzig durch die Resignation und die Lethargie der Betroffenen durchgesetzt werden können. Viel zu lang handelten die Eliten in der Überzeugung, sie kämen mit Mord davon.

Angst ist die Mutter der Vorsicht. Ohne die Panik, die der Börsencrash von 1929 und dessen Folgen auslöste, hätte es die relativ umsichtige Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit nicht gegeben. Als dann eine Generation ans Ruder kam, die das Trauma nicht am eigenen Leib erlebt hatte, emanzipierte sie sich von den zaghaften Regeln ihrer Vorgänger, um sich und die Welt in die nächste Finanzkatastrophe zu stürzen. Auch der Wohlfahrtstaat entstand aus Angst vor einer kommunistischen Ansteckung der Arbeiterschaft und wurde demontiert, sobald die Gefahr gebannt war. Was Frankreich angeht: Wie oft wurden nicht den aufeinanderfolgenden Regierungen vorgeworfen, sich dem Druck der Straße zu beugen? Insbesondere der ehemalige Präsident Chirac ließ lieber drei, vier große Reformpläne platzen und seine Premierminister zurücktreten, als den Beschäftigten und, gefährlicher noch, der Jugend den Anlass zum Rebellieren zu geben. Der Grund dafür ist bekannt. Chiracs Karriere wurde von der aus seiner Sicht unheilvollen Erinnerung an den Mai 1968 geprägt, als das ganze Land stillstand und der Staat sich aufzulösen schien. Er war es ja, der damals die Verhandlungen mit den Gewerkschaften geleitet hatte, um den Brand zu löschen. Das wollte er kein zweites Mal erleben. Diese Erfahrung haben seine Nachfolger dagegen nicht gemacht. Wie das kleine Kind, das, seine Eltern anschauend, eine Dummheit wiederholt, um zu testen, wie weit es ungestraft weitermachen kann, setzten Sarkozy, dann Hollande, dann Macron, Stück für Stück Strukturreformen durch, in der Hoffnung, Proteste von sich abperlen lassen zu können. Das schien aufzugehen. Alle Streikbewegungen der letzten zehn Jahre endeten mit einer Niederlage. Nicht das Geschick der Regierenden machte das möglich, auch nicht die immer vorhandene Bereitschaft der Gewerkschaftsvorstände, die Vertretung ihrer Mitgliedschaft gegen eine gut dotierte Position zu tauschen. Nur noch ein Zehntel der französischen Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert. Globale Konkurrenz, Prekarisierung, Geldknappheit und Fragmentierung haben die Streiklust der »widerspenstigen Gallier«, wie Macron seine Landsleute despektierlich nennt, maßgeblich untergraben. Für die Entscheidungsträger war die Arbeiterklasse keine bedrohliche Kraft mehr, sie blieb also unberücksichtigt.

Die linke Tradition (so missverständlich dieser Begriff auch immer gewesen war) wurde für mausetot gehalten. Parteipolitisch sowieso, aber auch kulturell. Nach Jahrzehnten der marktkonformen Gehirnwäsche, nach Aussterben des Linksintellektuellen, nach der Zerstörung der Milieus, in denen soziales Gedächtnis und anarchistische Populärkultur gepflegt worden waren, schien man den Endpunkt jener Geschichte überschritten zu haben, die 1848 begonnen hatte. Freilich war der revolutionäre Gestus nicht ganz verschwunden, doch seit Langem kam er nur noch als sehnsüchtiges, nicht ganz ernst gemeintes Zitat vor, bestenfalls als anachronistisches Reenactment. Mit Gewalt wurden zwar die zur Verhinderung von Großbauprojekten besetzten Zonen geräumt, »ZAD« genannt, doch nicht als ernst zu nehmende Ansteckungsgefahr. Gerade weil die neuen Regierenden sich von der Sorge befreit wähnten, mit einer Opposition rechnen zu müssen, kam die fürchterliche Überraschung eines unberechenbaren Gegners.

Hier liegt das sonderliche Element dieser Situation: Mit dem Entschwinden der links-rechts-Koordinaten glaubte man, in der posthistorischen Modernität angekommen zu sein, und fand sich stattdessen ins Ancien Régime zurückkatapultiert. Bemerkenswert ist, wie Analogien mit der vorrevolutionären Zeit plötzlich wieder auftauchten. In ihrer Anfangsphase wurde die gelbe Revolte als »Jacquerie« charakterisiert. So hießen die gewalttätigen Bauernaufstände, die sporadisch ab dem 15. Jahrhundert gegen die Steuerlast entbrannt waren. Der Vergleich war naheliegend. Wie auch die Gilets Jaunes keine Vertreter anerkennen, nannten sich die Rebellen von damals alle »Jacques«, um die Abwesenheit von Anführern zu betonen. Die Zerstörungswut richtete sich gegen die Zollschranken wie heute gegen die Autobahnmauten. Damals war der Auslöser der Brotpreis, jetzt der Dieselpreis (in Anlehnung an Marie-Antoinette ließ ein böses Graffiti Brigitte Macron sagen: »Dann sollen sie doch Biosprit tanken!«). Als die Aktionen endemisch wurden und die Hauptstadt erreichten, rutschte das kollektive Imaginäre Richtung 1789. Das Bild der Sansculottes befeuerte das Selbstbild der Avec-Gilets. Ganz selbstverständlich mündete die ursprüngliche Forderung nach mehr Kaufkraft in das Verlangen nach Abschaffung der Privilegien. Auf einem Verkehrskreisel wurde gar ein Guillotine-Imitat errichtet und ein Konterfei des präsidialen Monarchen geköpft. Revolutionsfolklore, wie von Franzosen zu erwarten, mögen manche meinen. Ungewöhnlich bloß, wie diese von staatlicher Seite ernst genommen wurde. Auffällig ist vor allem, wie sich Macron mit der Rolle identifizierte, die ihm der Mob zugeteilt hatte. Mitten in der Krise ereignete sich eine seltsame Episode. Für seinen ersten öffentlichen Auftritt seit der Schmach von Le Puy-en-Velay empfing der Präsident hundertfünfzig Topmanager ausgerechnet im Versailler Schloss. Wie jeder halbwegs geschichtsbewusste Franzose weiß, jährte sich an diesem Tag, dem 21. Januar, die Enthauptung des Königs Ludwig XVI. Darum hielt Macron es für angebracht, vor dem versammelten Wirtschaftsadel die Bemerkung fallen zu lassen: »Ein solches Ende widerfuhr dem königlichen Paar deshalb, weil es zu reformieren aufgegeben hatte.« Unüberhörbar spielte er dabei auf die eigene Situation an, was an sich schon seltsam ist. Prunk und Goldglanz der Republikpaläste mögen frühere Präsidenten geblendet haben, doch niemals hätten sie andeutungsweise eine Kontinuität mit dem monarchischen Zeitalter zugegeben. Davon abgesehen, dass Macrons Behauptung historisch zweifelhaft ist, davon abgesehen, dass der Bezug auf das »königliche Paar« die Vermutung weckt, seine Gattin nehme Einfluss auf seine Politik, interessant ist hier das autosuggestive Element: »Höre mit deinen Reformen bloß nicht auf, sonst wirst du geköpft!« Wäre Ludwig XVI so reformfreudig wie er gewesen, dann hätte keine Revolution stattgefunden und das Land wäre von Blutbädern und Demokratie verschont geblieben! Dem Managerstand gelobt der Sonnenpräsident, anders als sein unglücklicher Vorgänger, dem Druck des Pöbels nicht nachzugeben. Nichtsdestotrotz wird er sich ein Beispiel an ihm nehmen. Um die Wut der Untertanen zu besänftigen, ließ Macron Beschwerdehefte in Rathäusern aufstellen. So hatte man es schon im Mai 1789 getan, doch das Manöver blieb so erfolglos wie sein historisches Vorbild.

Selbst wenn die Bewegung sich laut übereinstimmenden Umfragen auf das Einverständnis von drei Viertel der Bevölkerung berufen konnte, mag es bei einer aktiven Beteiligung von vielleicht einer halben Million übertrieben anmuten, von einem »Volksaufstand« zu sprechen. Doch geht es hier nicht um Quantität. Bei den Demonstrationen der Gilets Jaunes konnte eine undifferenzierte Menge ausgemacht werden, weder klassenspezifisch noch ideologisch gekennzeichnet, allein in Zorn geeint. Das war ein Wesensunterschied zu allen Protesten des letzten Jahrhunderts, an denen zum einen klar bestimmbare Sektoren teilnahmen (Fabrikarbeiter, Angestellte im öffentlichen Dienst, Studenten, Schüler usw.), und die zum anderen eine ähnliche Gesinnung teilten und sich in einem gemeinsamen symbolischen Feld bewegten. »Volks«-Aufstand will also hier keine positive Einheit signalisieren, sondern umgekehrt eine unspezifische Menge, in der sich (zumindest am Anfang) sowohl Kleinunternehmer als auch Lagerarbeiter, sowohl Rechts- als auch Linkswähler wiederfinden konnten.