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Thilo Koch

Tischgespräche - Begegnungen mit Prominenten unserer Zeit

 

Saga

VORWORT

Das Tischgespräch war schon für Martin Luther eine höchst ergiebige Form des Gedankenaustauschs, zumal es sich auch gut dazu eignet, literarisch dokumentiert zu werden. Die Griechen hatten einen wohlklingenden Namen dafür: Symposion. Eine ganze Symposion-Literatur entstand daraus. Meine Tischgespräche konnten und wollten allerdings keine Symposien sein, denn beim Symposion waren Frauen nicht zugelassen, und sie vollzogen sich in liegender Körperhaltung. Meine Tischgespräche hingegen wurden von Anfang bis Ende aufrecht sitzend absolviert, und Damen waren manchmal selbst Tischgesprächspartner und immer gern gesehene Gesprächsteilnehmer. Es traten bei mir, anders als beim klassischen Symposion, auch keine Hetären, Gaukler und Tänzerinnen auf.

Wie entstanden die hier als Buch vorgelegten Tischgespräche? 1985 hatte die Redaktion des Gourmetjournals VIF die Idee dazu – ich konnte mir nach meiner Pensionierung beim Fernsehen die Zeit dafür nehmen, und da ich als Journalist viele interessante Leute kennengelernt hatte, machte ich mich an die Arbeit. Arbeit? Das Vergnügen überwog bei weitem. Für mich war das nach der Pflicht nun eine Kür, nach der politischen Publizistik wieder Feuilleton. Ein Zeitalter des neuen Hedonismus sei angebrochen, heißt es, Glück und Genuß das oberste Lebensziel. Sind wir die neuen Epikuräer?

Wie dem auch sei, ein gutes Gespräch an festlich gedeckter und bestellter Tafel, das gehört nun einmal zu den durchaus angenehmen Dingen des Daseins. Oft allerdings sah ich mich wie Buridans Esel vor eine unmögliche Wahl gestellt. Entweder zollte ich, über die köstlichsten Kreationen gebeugt, der Kochkunst der besten »Chefs« der Bundesrepublik Deutschland den gebührenden Respekt – oder ich vernachlässigte den Dialog mit meinem illustren Gast. Dennoch aber weiß ich nach mehr als fünfzig dieser kleinen Symposien, wie recht Paul Bocuse hatte, als er einmal sagte: »Was ist das Wichtigste beim Essen? Es kommt immer darauf an, wem man gegenübersitzt . . .«

Ich danke hier allen, die meine Gäste waren und ebenso gern wie ich an unser Tischgespräch zurückdenken. Ich danke VIF-Verleger Hajo Artopé, VIF-Chefredakteur Ulrich Metzner und wünsche mir für dieses Buch ebenso geneigte Leser, wie ich sie bei VIF hatte und habe. Die Texte erscheinen hierin derselben Reihenfolge, in der sie Monat für Monat bei VIF herauskamen. Da die Gespräche über einige Jahre hin geführt wurden, mag sich im persönlichen Leben meiner Gesprächspartner inzwischen mancherlei verändert haben. Selbstverständlich aber wurden sie deswegen für dieses Buch nicht »aktualisiert«, denn ihr Reiz, denke ich, sind Impressionen und Assoziationen des Augenblicks.

 

Thilo Koch

AUGUST EVERDING

ER ZÄHMTE SEINEN SPIELTRIEB NICHT

Wenn er eintritt, füllt er sofort das kleine Séparée:

leiblich, geistig, stimmlich. Er schaut sich um

und sagt: »Hier pflegte Franz Josef Strauß zu

dinieren, wenn er zum Käfer kam. In diesem kleinen

Stüberl sind schon manch’ große Entscheidungen

gefallen. Aber, zunächst die Dramaturgie

unseres Menüs.«

 

Hat er Zeit mitgebracht für unser Tischgespräch? Um 14.30 Uhr muß er zur Vorlesung, und es ist jetzt gegen 13 Uhr. »Austern?« fragt er und taxiert mich aus den Augenwinkeln. Ich erzähle, bei welcher Gelegenheit ich Kaviar kennenlernte – als ich mit Adenauer 1955 in Moskau war.

Ein anerkennendes Nicken, für den Kaviar, für mich – in dieser Reihenfolge. Mit Blinis, möchte er. »Wir haben Kartoffeldatschi dazu bereit«, sagt der Oberkellner. Blinis sind ihm lieber: »Aber aus Buchweizen!« »Probieren’s doch beides, Herr Generalintendant.« Gut. Zum Kaviar gehören ein eiskalter Wodka und Champagner. »Kein Wodka für mich, muß heute abend noch Karajan in Berlin treffen.« Zwei Gläser Lanson Rosé Brut sind blitzschnell zur Stelle. Wie anmutig sich der gewichtige Herr verneigen kann, beim ersten »Zum Wohl«, wie zierlich die Hand das Glas balanciert.

Ist er für Karajan oder für das Orchester? »Für Karajan, natürlich, auch öffentlich.« Die Berliner Philharmoniker waren vor Karajan da und werden nach Karajan da sein, gebe ich zu bedenken und berichte von einer Begegnung mit Herrn von Stresemann, dem Überbrückungsintendanten – der sehe, wie seinerzeit sein Vater Gustav, der Außenminister, einen »Silberstreif am Horizont«.

Er wiegt den schweren Kopf, nein, es ist ein veritables Haupt. Er trinkt bedächtig und mit Behagen einen zweiten langen Schluck: »Ein herrliches Getränk, aber was geschieht hier auf unserer kleinen Bühne nach dem Vorspiel? Im Drama folgt dann der Hauptteil mit dem Höhepunkt, mit der Katharsis.« Nun, die Läuterung unserer Seelen werden wir beim Käfer nicht finden, darauf ist nicht einmal er, der lukullische Tausendsassa Münchens, vorbereitet.

Der Oberkellner macht einen gastronomisch-dramaturgischen Vorschlag, dem wir beide sofort zustimmen: junger Fasan mit Trauben, Nüssen, Weinkraut, Pilzen und Kartoffelpüree. Welchen Wein? Einen Sancerre, sagt der Intendant kurz und bestimmt. Darf es auch der schönste Wein der Loire sein, der Pouillyfumée »Baron L«, frage ich. Wieder das anerkennende Blinzeln und das liebenswürdige Neigen des Hauptes. Er hat das Volumen eines Barockfürsten, aber den Charme eines Rokokokavaliers.

War sein Vormittag anstrengend? Er hebt die Schultern unterm blauen Nadelstreifenjackett. So etwas wie Anstrengung paßt nicht zu ihm, seine rastlose Motorik scheint ohne Reibungsverlust zu laufen – ständig rotierend und doch souveräne Ruhe vermittelnd. »Es ging um unsere neue ›Ariadne‹, heute morgen, gestern abend war ja Premiere im Nationaltheater.« »Zufrieden?« Er neigt sich herüber und bemerkt leise und kühl: »Erfolgreich und unbedeutend.« Für eine Sekunde ist da nichts als kritische Härte.

Selbstverständlich ist auch einem August Everding der Erfolg nicht geschenkt worden. Warum ging er nicht nach New York an die Metropolitan? Kann ein Mann so überheblich sein, diesen Spitzenjob in seiner »Branche« auszuschlagen? Jetzt schüttelt er das Haupt energisch. »Ich habe mich nicht gegen New York, sondern für München entschieden; ich will hier das Residenztheater wieder aufbauen und sonst einiges für das kulturelle Klima der Stadt tun.«

Außerdem ist ihm eine Inszenierung pro Jahr an der »Met« sicher. Er versteht offenbar die seltene Kunst, einen Kuchen zu essen und zu behalten. August Everding kann mühelos lachen, schmunzeln, lächeln, zu passender Zeit und immer in der richtigen Art. »Der Fasan läßt auf sich warten.« Zum ersten Mal schaut er auf die Uhr, aber ganz gelassen. Gerd Käfer steckt den Kopf herein, auf seine eigene Weise motorisch. Zwei Profis sind sofort im Gespräch und auf dem Punkt. »Machen’s doch ein Fest im Resi, Herr Professor, die Garderobentische fürs Buffet, eine Band, was glauben’s, wie das lauft.«

Schon ist der Wirbelwind wieder draußen und weiter. Everding schaut ihm nach, väterlich wohlwollend – in der Tat hat er vier Söhne. »Er macht meine Theaterbuffets hervorragend.« »Darf man sagen, der Käfer ist der Everding der Gastronomie?« Der Vergleich behagt ihm. Der Fasan kommt, wird zerlegt und serviert und gekostet und gelobt. Wie hat »der General« angefangen? Ganz theoretisch, auf der Universität, mit Philosophie, Theologie, Theaterwissenschaft und einer Doktorarbeit über den »Tod auf der Bühne«.

Er verehrte Romano Guardini, den katholischen Schriftsteller, der von der Kirche nicht immer so hochgeschätzt wurde wie von der Jugend jener Jahre, August Everding wurde 1928 geboren, in Bottrop, Vater Organist. Die Praxis, das war dann zunächst Regieassistent bei Schweikart und Fritz Kortner. Den unzähligen Kortner-Anekdoten fügt er – »für Sie, Herr Koch, ich habe das noch nie erzählt« – eine hinzu. »Ich mußte einmal für einen Schauspieler einspringen, nur in der Probe. Ich hatte einen Finger zu heben, nicht zu hoch – ja, so ist es gut. Nächster Tag, mein Stichwort, ich erscheine, hebe den Finger, vielleicht 3 cm höher. Kortner: ›Everding, hemmen Sie Ihren Spieltrieb!«

Genau das hat er nicht getan und es dadurch weiter als fast alle in seiner Generation, in seinem Metier gebracht. Fürs Dessert ist es schließlich zu spät. Wann und wo immer August Everding sich erhebt und verneigt, hat das Gewicht und Bedeutung. »Verstehen Sie sich gut mit Strauß, der auch so gern an diesem Käfertisch speist?« »Ich bin Westfale, wie Sie wissen, und wir haben mit den Bayern dreierlei gemein: Dickfälligkeit, Humor und Biestigkeit.«

Sagt’s, neigt das Haupt und enteilt zu seinen Studenten und zu Karajan. Biestigkeit? Er ist ein Büffel, denke ich, ein starker, schöner Büffel, bei dem man nie weiß, ob er nicht bereits zu einer ungeheuerwuchtigen Aktion ansetzt, während er scheinbar nur zierlich mit den Hufen scharrt.

RALF DAHRENDORF

UNRUHE IST DER NATÜRLICHE MITTELPUNKT SEINES LEBENS

Mit wehendem Mantel betritt er das behäbig-

gediegene Restaurant in der Drachenburg,

wo einst der Reformator Johannes Hus während des

Konstanzer Konzils gefangengehalten wurde.

Ein Reformator, säkularisiert und liberal, ist auch

Professor Dahrendorf. An unserem Tisch im Erker

stellt er die zerknautschte Reisetasche ab und

ruft noch im Stehen der hilfreichen Saaltochter zu,

während wir uns die Hände schütteln:

»Ich brauche einen Whisky.«

 

Es ist Punkt 12 Uhr mittags, er ist mit dem Taxi über den Rhein und durch den Schweizer Zoll gedonnert, vor einer Viertelstunde stand er noch vor seinen Studenten der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Konstanz.

»Wie hast du sie vorgefunden, deine Schüler?«, frage ich den alten Freund, der die neue Universität Konstanz 1966 »unter Kiesinger« mitbegründete. Er nimmt einen Schluck – pur auf Eis – atmet tief durch, lacht kurz und trocken und sagt: »Sie könnten mehr lesen, sie sollten genauer denken, sie hören leider nicht gut zu, allerdings sind sie auch materiell recht anspruchslos.«

Neben mir auf der rotgepolsterten Bank unter den Butzenscheiben habe ich sein neuestes Buch: »Reisen nach innen und außen, Aspekte der Zeit«. Ich halte es ihm entgegen, auf dem Schutzumschlag diskutiert er mit Rudi Dutschke, ein berühmtes dpa-Foto. »Was ist von der Studentenrevolte 1968 geblieben?«

»Die Dutschke-Generation, das ist doch heute schon wieder die Vätergeneration der jetzt Studierenden, infolgedessen wird sie von der abgelehnt. Wir damals jungen Professoren sind nur noch die Großväter – belächelt oder ignoriert.«

»Wie ein Großvater wirkst du nun gerade nicht, stürmisch wie du hereinwehst und mit deinen 56 Jahren . . . Aber wir wollten ja eigentlich hier auch was Gutes essen, denn ich weiß, du bist ein Gourmet, wenn du dir die Zeit dazu nimmst.«

Sein Dimple und mein Tio Pepe sind ausgetrunken, wir widmen uns der Karte, sie ist kurz und gediegen, die Saaltochter empfiehlt uns eine frische Lachsforelle aus dem Bodensee, gerade angelandet. Wir nicken, es soll kein ausgedehntes Festmahl werden, denn mein Feuergeist muß um 14 Uhr nach Kloten, zum Züricher Flugplatz. Also beschränken wir uns auf eine Flasche Dom Perignon und dazu als Appetitanreger ein Eßlöffelchen Kaviar.

»Das ist mal ein Kaviar auf Erden,« sagt er, »sonst ißt man so etwas ja immer nur in der Luft, als Firstclass-Passagier.«

»Wohin geht’s heute nachmittag?« »Nach London zu Ellen. Aber morgen weiter nach New York. Mit der Concorde.«

»Fliegst du gern mit ihr?«

»Nein, sie ist laut und so eng, daß du nicht mal die Times entfalten kannst, allenfalls Time Magazine. Aber sie spart Zeit. Nur mit ihr kriege ich meinen Vortragstermin morgen abend.«

»Auf den Spuren Helmut Schmidts? Hoffentlich ist dein Mindesthonorar auch 10 000 Dollar.«

»Ich war kein Bundeskanzler.«

»Wärst es aber ganz gern geworden, hast auch mal so etwas gesagt.«

Er hebt das Glas und lacht wieder kurz und trocken: »Meine Partei konnte nie den Bundeskanzler stellen. Fein, aber klein, wie sie ist. Und Staatssekretär bei Scheel im Jahr der Wende 1969, in der Morgenröte der sozialliberalen Koalition, die so viel in Bewegung setzte, das war gut genug.«

»Weißt du noch, als du Scheel dein Jawort ins Telefon hauchtest?«

»Genau, auf deinem Bettrand sitzend.«

Er war mit seiner ersten Frau und zwei Töchtern an jenem Abend bei uns eingeladen, hatte unsere Telefonnummer angegeben, das Telefon klingelt, Walter Scheel meldet sich, Ralf will ungestört reden, das ging nur vom Zweitapparat im Schlafzimmer.

»Warum bist du schon nach einem guten Jahr von Bonn nach Brüssel gegangen? Unruhe? Fortsetzung des Senkrechtstarts?«

»So senkrecht war das übrigens nicht, wenn du die Stationen alle im Blick behältst, vom Studium in Hamburg gleich nach dem Krieg über London als Student, Saarbrücken, Gastprofessuren an mehreren europäischen und nordamerikanischen Universitäten, Eintritt in die FDP 1967, Bundesvorstand, Landtag Baden-Württemberg, Bundestag und die ungezählten Stühle in Gremien und Kommissionen, Gesellschaften zur Förderung von XYZ.«

»Und Brüssel dann war der Höhepunkt? Als Kommissar für das Auswärtige der EG stand dir ja die Welt offen und stets auf höchstem Level. Du fuhrst einen rot-braunen Jaguar mit Chauffeur, erinnere ich mich, der rote Teppich war immer schon ausgerollt.«

»Gute, interessante Jahre, gewiß. Aber die London School of Economics war mehr, länger, wichtiger für mich.«

»Wohl nicht nur die Leitung dieser berühmten Hochschule, deine Arbeit, die Bücher, sicher wohl auch das Persönliche, Private. Daß du Ellen gefunden hast, deine zweite Frau. Ralf, du warst fast seßhaft geworden. Bist aber auch treu, kehrtest nach Konstanz zurück.«

»Behielt die schöne Wohnung in London und habe noch ein Buen retiro im Schwarzwald.«

»Wo warst du letzte Woche?«

»In Jordanien.«

Ich zeige ihm einen Ausschnitt aus dem Konstanzer Südkurier, ein Bericht über seine erste öffentliche Vorlesung nach der Rückkehr aus London. Es ist ein Foto von ihm dabei – Brille und eingerolltes Manuskript in der linken Faust, blickt er herausfordernd ins Weite.

»Du kannst ziemlich aufmüpfig aussehen.«

»Ich bin ein Radikaler.«

»Ein radikaler Liberaler, also ein Widerspruch in sich.«

»Ja.«

Das Gespräch ist, wie immer mit ihm, ein so rasches Pingpong, daß wir die rosa Forelle aus dem Bodensee gar nicht richtig würdigen, eher schon den Champagner.

»Bei dieser öffentlichen ›Rückkehrvorlesung‹ zitiertest du gern Kant. Der ist nie aus Königsberg herausgekommen und war zufrieden, wenn Diener Lampe ihm das Frühstück pünktlich hinstellte. In dieser Selbstbeschränkung entstanden dann Werke, die das Denken der Welt veränderten. Wann und wo schreibt Ralf Dahrendorf sein Opus magnum?«

»Hier und bald. Immerhin gab es ›Gesellschaft und Demokratie in Deutschland‹.«

»Das ist zwanzig Jahre her. War es dein wichtigstes Buch?«

»Nein, ich denke immer noch ›Soziale Klassen und Klassenkonflikt‹. Hier in der Bundesrepublik wurden insgesamt 2000 Exemplare verkauft, in England und Amerika jedes Jahr so viele, noch heute.«

»Hat dich swinging London geprägt? England, the british way of life?«

»Mehr als alles andere. Ich bewege mich dort am reibungslosesten, lebendigsten. Meine jüngste Tochter Daphne, 15, ist ein typisches Collegegirl. Meine erste Frau war Engländerin, die zweite ist Amerikanerin.«

»Sehr emanzipiert?«

»Sie ist berufstätig, Historikerin, übersetzt aus dem Russischen.«

»Und ist liberal mit ihrem liberalen Ralf, schätze ich. Und wer hat dich in der Soziologie am meisten beeinflußt? Die Frankfurter Schule, Horkheimer, Adorno?«

»Nein, im Gegenteil: Karl Popper.«

»›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ ist ja auch für Helmut Schmidt eine Art Evangelium. Übrigens, du hast dich manchmal etwas reserviert über den Altbundeskanzler geäußert?«

»In Hamburg beim Studium war er unser Vorsitzender, beim SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), und wir Jungen mochten die altgedienten Offiziere nicht. Er war ein guter Kanzler. Er war der einzige westliche Regierungschef, der etwas von Wirtschaft und Strategie verstand. Aber er zeigte es zu sehr, zu lehrhaft. Seine Arroganz machte ihn unbeliebt.«

»Die SPD ohne ihn. Deine Partei ohne Scheel, jetzt ohne Genscher. Auch ohne Dahrendorf? Werden euch die Grünen nicht ablösen als Zünglein an der Waage im Parteienringelreihen bei Bund und Ländern?«

»Im Bund wird die FDP sich knapp halten. Die Grünen gehen an ihren inneren Widersprüchen kaputt. Und an der Demographie.«

»An der?«

»Wir haben eine schrumpfende Bevölkerungsentwicklung. Es wird immer weniger Junge und immer mehr Alte geben. Das verteilt auch die Farben im Parteienspektrum allmählich um. Ohnehin ist der Trend: neokonservativ.«

»Jeans raus, Krawatte rein?«

»An der Uni noch nicht, aber schau mal in einige Gymnasien, da ist Bügelfalte optimal.«

»Ich mag sehr dein Amerikabuch ›Angewandte Aufklärung‹. Rennen wir Europäer wieder einmal den USA hinterher?«

»Europa wird und wird nicht, jedenfalls nicht so, wie wir es uns dachten. Der Weltgeist, wenn es einen gibt, hält sich heute in den USA auf.«

»Aber du fliegst sicherlich nicht nur deshalb so gern über den Atlantik, um drüben den Weltgeist von Hegel zu grüßen. Du findest dort deine eigene Unruhe, ›aufgehoben‹ – im Hegelschen Sinn.«

»Unruhe ist der natürliche Mittelpunkt des Lebens.«

Sagt’s, lacht noch einmal kurz und trocken und sitzt schon im wartenden Taxi, als ich, ihm freundlich nachblickend, meinen Kaffee gemächlich trinke.

GERD BACHER

WIEN, WIEN, NUR DU ALLEIN . . .

Vom rotgedeckten Frühstückstisch im Restaurant

des Hotels im Palais Schwarzenberg blicken wir in

den Park, der das Palais Schwarzenberg und das

Schloß Belvedere verbindet, das sich vor 300 Jahren

Prinz Eugen, der edle Ritter, bauen ließ.

»Dort drüber wohne ich«, sagt Gerd Bacher,

»im Gesindehaus des Belvedere.«

 

Österreichs Würdenträger werden auch heute, im Zeitalter der Demokratie, feudal untergebracht. Die Schlösser, Palais und Herrensitze der Habsburger Monarchie sind ja alle noch da. Wien überstand, anders als Berlin, den Zweiten Weltkrieg ohne Totalzerstörung.

»Fünfundvierzig, das verlief bei uns vergleichsweise gelinde, mit den vier Besatzungmächten ›in einem Jeep‹. Aber das Jahr 1918/19, das war hier ein wesentlich tieferer Einschnitt als in Deutschland. Beispielsweise wurde nach dem Weltkrieg Nummer 1 in Österreich der Adel abgeschafft. Seine Durchlaucht, der Fürst Karl Johannes von und zu Schwarzenberg, in dessen Haus wir hier frühstücken, durfte sich nur noch Herr Schwarzenberg nennen. ›Von Karl dem Großen geadelt, von Karl Renner entadelt‹, hieß es damals.«

»Dennoch«, sage ich »blieb Österreich – anders als wir ›draußen im Reich‹ – konservativ bis in die Knochen. Bis heute? Oder heute wieder? Oder heute erst recht?«

Er schenkt sich bedächtig etwas Kaffee nach, greift zu einem Kipferl: »Schauen Sie, der Kreisky, das war doch nichts weiter als ein Theaterdonner, ein sozialistischer. Was hat der denn seinem beklagenswerten Nachfolger Sinowatz hinterlassen? Einen Trümmerhaufen.«

»Sie waren, Herr Bacher, einmal Berater Helmut Kohls, bevor er Bundeskanzler wurde. Und Sie wollten dazu beitragen, daß er es wurde. Wie beurteilen Sie ihn heute, nachdem er es ist?«

Viele kleine Fältchen um die blauen Augen geben seinem Blick etwas Lustig-listiges. Gerd Bacher, ein Herr von 59 Jahren, trägt ein dezent kariertes Jackett, weinrote Strickkrawatte und Pullunder. Er redet lebhaft und gern, kann aber auch aufs Liebenswürdigste geduldig zuhören. Er sagt:

»Man spricht ihm Brillanz ab. Seine Art zu regieren sei ohne Glanz – ein Kleinbürger. Insofern ist Helmut Kohl vielleicht wirklich a bisserl der Gegentypus zum Kreisky. Aber er ist es eben auch im positiven Sinne. Wo auf der Welt finden Sie heute eine so solide, erfolgreiche Regierungsarbeit wie in Bonn? Nennen Sie mir ein einziges Land. Von Wien aus betrachtet, muß ich es schon erstaunlich finden, daß man diesen deutschen Bundeskanzler – und sein großartiges Team notabene – nicht so schätzt, wie er es verdient. Nur weil er nicht so ›brillant‹ ist wie sein Vorgänger Helmut Schmidt?«

»Nun, er hat vielleicht etwas zu vollmundig von der großen Wende gesprochen. Die blieb aus: für die Arbeitslosen, bei der Rentenfinanzierung. Aber Sie kennen nicht nur Helmut Kohl, den Politiker. Man sagt, er liebe Österreich ganz besonders. Warum, was glauben Sie?«

»Er hat 13 Jahre lang hintereinander stets bei uns seinen Urlaub verbracht. Er mag uns, wir mögen ihn. Vielleicht findet er bei uns eine Lebensart, die leichter ist als die seine, wir nehmen halt auch das echt Tragische nicht so ganz tragisch. Nein, ich bewundere ihn wirklich. Allein wie er mit seinem großen Problem in München fertig geworden ist. Na . . .«

Die Serviererin im weißen Schürzchen möchte uns gern noch etwas Kräftigeres bringen, vielleicht Rührei mit Schinken? Er dankt: »Ich unterhalte mich besonders gern morgens in der Früh, aber es bleibt beim kleinen Caféhaus-déjeuner.«

»Was wurde aus dem Wiener-Caféhaus? Ich gehe in Wien natürlich immer mindestens einmal zum Dehmel.«

»Schon der leckeren Canapés wegen?«

»Ja. Und ein bißchen nostalgisch ins Sacher-Café, wo ich früher stets Friedrich Torberg traf.«

»Er und Hans Weigel – in ihrem Caféhaus hielten sie geradezu Hof, täglich. Dort schrieben sie auch ihre Rezensionen, die dann ganz Wien in zwei Lager spalteten. Das ist vorbei. Wir beide, Herr Koch, trafen uns das letzte Mal ja in Ihrer Heimatstadt, in Berlin.

Berlin und Wien haben einiges gemeinsam. Zum Beispiel auch dies: den Verlust der Juden. Das haben beide Städte nie verwunden. Dreihunderttausend waren es in Wien, die nach dem ›Anschluß‹ 1938 verschwanden, man hatte Wien ganz zu Recht das zweite Jerusalem genannt.«

»Männer von Weltgeltung wie Sigmund Freud mußten emigrieren. Immerhin, Torberg und Weigel, Hilde Spiel, andere kamen nach 1945 zurück.«

»Das war ungeheuer wichtig, ich war ein junger Mann damals, ich habe zu ihren Füßen gesessen. Aber nach Wien kehrten die paar Überlebenden noch zögernder heim als nach Deutschland. Warum? Weil man sich 1945 und danach hier viel schlimmer als bei Ihnen aus der Verantwortung gestohlen hat. Das mußte einem Wiener Juden doppelt widerwärtig sein. Er hatte ja am eigenen Leibe den Antisemitismus Wiens erfahren, auch vor 1938, vor 1933, noch früher, als Hitler selbst seinen Judenhaß hier in Wien so grauenhaft folgenreich in sich aufsog.«

»Gerd Bacher stammt aus Salzburg, wurde fast so etwas wie ein Wiener Lokalpatriot, aber er bleibt auch hier der kritische Beobachter und Historiker?«

Wieder lächelt er lustig-listig mit seinen Augenfältchen: »Vielleicht auch deswegen, weil es sehr wienerisch ist, Wien zu kritisieren.«

Wir kommen – wie könnte es anders sein – auf unsere recht unterschiedlichen Erfahrungen mit den elektronischen Medien in Österreich und Deutschland zu sprechen. Der Gebieter über alle Rundfunk- und Fernsehsendungen in Österreich führt es auf Wien zurück, daß die Atmosphäre in seinem »network« auch heute noch immer persönlicher ist, legerer und gerade deshalb auch kreativitätsfördernd.

»Mir steht nur ein Fünftel des Etats zur Verfügung, über den Herr Stolte in Mainz gebietet. Damit machen wir täglich 137 Stunden Rundfunk und 22 Stunden Fernsehen. Täglich, Herr Koch!«

Er beugt sich über sein Gedeck zu mir herüber und ist nun sichtlich engagiert. Natürlich könne auch er nicht ohne bürokratischen Apparat auskommen. Aber der sei wesentlich kleiner, habe nicht so viel zu sagen wie in Deutschland.

»Der entscheidende Vorteil jedoch heißt schlicht und einfach Wien. Hier ist alles, hier ist jeder. Wir von der ORF leben kulturell von diesen herrlichen Institutionen der Musik, des Theaters, von der Burg, von der Staatsoper, in die Sie heute abend gehen. Bedenken Sie, der kleine Staat Österreich mit seinen 7 Millionen Einwohnern gibt jährlich 300 Millionen Mark, nicht Schilling, für die Kultur aus.«

»Und zugleich haben Sie das gesamte politische Leben ihres Landes in unmittelbarer Nähe.«

»Genau, in der Bundesrepublik Deutschland fehlt das nationale Zentrum, es fehlt Berlin.«

»Hand aufs Herz, Herr Bacher: Ist Intendant eines großen Funk- und Fernsehhauses heute nicht ein ›impossible job‹? Was soll der arme Mann nicht alles sein: ein souveräner Programmplaner und bedeutender Journalist, ein Verwaltungs- und Finanzgenie, ein Betriebs- und Menschenführer erster Güte und last but not least: alle Parteien müssen ihn – es lebe der Proporz – akzeptieren.«

Der Generalintendant lehnt sich zurück, blickt hinaus zu den Statuen Lorenzo Matiellis im Park und spricht die geflügelten Worte:

»Ich liebe meinen impossible job, ich bin gern Intendant, mit Leib und Seele. Ich bin hier in Wien frei, alle wichtigen Personalentscheidungen allein zu treffen und zu verantworten: meine Unterschrift genügt. Und ich bin stolz auf das, was wir machen. Überall in der Welt weiß man das, erkennt man es an, nur bei uns zuhause nicht: Das deutsche Fernsehen – und da schließe ich das österreichische ein – ist das beste der Welt. Gleich nach dem englischen, sollte ich fairerweise hinzufügen.«

Hat auch er ein Generationenproblem? Hat er in seinen Redaktionen Alternative, Grüne?

Seine Augen werden etwas kleiner, kühler, der Mund wird spitz, aber auch spitzbübisch: »Schauen’s, natürlich, die Jungen müssen sich artikulieren, müssen opponieren, haben wir doch auch getan. Die Grünen, das sind für mich die Romantiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sie knüpfen an die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts an. Die herrliche Lyrik der deutschen Romantik, was feierte sie? Tod und Vergehen. Und die Grünen heute? Ihr Schlüsselerlebnis ist die Angst. Haben Sie bemerkt, daß unser deutsches Wort Angst gerade im Begriff ist, ein angelsächsisches Lehnwort zu werden? Sie können heute in der International Herald Tribune Sätze lesen wie: ›The main issue in Germany today is angst . . .‹«

Sieht er diese »deutsche Angst« auch in Österreich?

»Wir nehmen ›Angst‹ vielleicht nicht ganz so teutonisch-tragisch. Wir sind ja angeblich Lebenskünstler. Aber wenn Sie mich fragen, was liegt alledem zugrunde, so antworte ich Ihnen mit Arnold Toynbee: Eine Zivilisation, die nicht mehr um ihr Überleben kämpft, ist zum Untergang verurteilt. Offenbar sind wir jetzt dran, nachdem sieben Hochkulturen vor uns schon zur Hölle gefahren sind, weil sie zu schwach waren, zu bequem und zu satt, um ihr Überleben zu kämpfen.«

Gerd Bacher ein Kulturpessimist? Er blickt mich voll an. Keine Allüren, keine Rhetorik, ohne jeden Wiener Schmäh’ sagt er leise und fest: »Ja.«

Greift zu Mantel und Hut, wünscht mir ein »Alles Walzer« beim Opernball, eilt ins Chefzimmer der ORF und tut das Seinige, um den Untergang des Abendlandes aufzuhalten. Oder nur: so angenehm wie möglich zu gestalten?

LOTHAR-GÜNTHER BUCHHEIM

VOM U-BOOT ZUR KUNST

Bei Eckart Witzigmann zu tafeln, ist sowieso

ein Fest. Mit Lothar-Günther Buchheim bei

Eckart Witzigmann zu tafeln, ist schon fast so,

als fiele Weihnachten und Ostern auf einen Tag.

Den einen Superstar am Herd hinter mir,

den anderen Superstar auf dem Stuhl vor mir –

ich brauche etwas Angemessenes, um der Situation

gewachsen zu sein und bestelle einen Gimlet,

wie ihn Hemingway so schätzte.

 

Der »Boot«-Autor steigt mit ein: »Weil ich Hemingway mag wie Sie, und weil man dem Zufall seine Chance geben soll.«

Wir laben uns an Rose’s Lime Juice (2 Teile) und Finlandia Wodka (3 Teile) oben in der Bar, die sich nach 19 Uhr langsam bevölkert. Uns zu Füßen die Max-Joseph-Straße im Schneegestöber des letzten Apriltages. Behagen stellt sich ein. Wir verstehen uns schon deshalb gut, weil wir die gleiche Sprache sprechen können, genauer: denselben deutschen Dialekt, den angeblich schrecklichsten und doch so gemütvollen: sächsisch. Er ist in Weimar geboren und in Chemnitz aufgewachsen, ich stamme aus Halle wie Händel.

Was ist sächsisch an ihm? Der Bienenfleiß, das Kauzige, der helle Verstand. Auch das Querköpfige, Geltungsbedürftige, Egozentrische, Pfiffige, die vigilante Geschäftstüchtigkeit, die Neugier? Er mag sich ähnliches über mich denken, und so vertiefen wir das lieber nicht, sondern steigen flugs hinunter ins Allerheiligste, den Restaurant-Tempel.

Eckart der Große erwartet uns, im weißen Kittel, unter dem sich keineswegs ein heimlicher Bauch wölbt, das berühmte Lächeln aus seinen Augenwinkeln überstrahlt noch den Glanz der ledergebundenen Speisekarte. »Die brauch’ mer nich,« sagt der Landsmann, »erstens halte ich’s mit dem guten alten Spruch: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Und zweitens, wenn wir schon mal Herrn Witzigmann haben, soll er’s doch bestimmen.«

»Ich hätte da einen Ochsenschwanz . . .«

»Nee, Ochsenschwanz kann ich selber.« Also wird es im wesentlichen das Menü auf der Karte für 165 Mark. Buchheims Kommentar: »Das Teure darf teuer sein, getreu nach dem Kosten-Nutzen-Effekt.«

Aber bevor der Gast den Wirt entläßt, geht es noch um die Bilder an der Wand, die er erst mal geraderückt. »Da sollte mal was Besseres hin, an Ihre schöne Wand«, befindet der Sammler, »die naiven Jugoslawen sind auch nicht mehr so gut, wie sie mal aussahen, alles passé«.

»Sie, Herr Buchheim, hätten ja sicherlich etwas Geeignetes«, gibt Chef Witzigmann leise zu verstehen. »Müssen wir mal drüber reden«, schließt der Expressionistenkönig das Thema ab.

Über nichts spricht er zur Zeit lieber als über die große Ausstellung im Haus der Kunst. »Sogar Helmut Schmidt war drin, ein wirklicher Kenner.« Ich habe mir am Nachmittag den dicken Katalog gekauft, schön gedruckt bei Bruckmann, erschienen in seinem eigenen Verlag: Buchheim, Feldafing.

464 Exponate sind verzeichnet. Gehören sie tatsächlich alle ihm, die 63 Erich Heckel, 89 Ernst Ludwig Kirchner, 34 Otto Mueller, 17 Emil Nolde, 21 Max Pechstein, 43 Karl Schmidt-Rottluff, dazu viele gute und einige erstklassige Stücke von Barlach, Beckmann, Corinth, ein paar Dutzend Otto Dix, auch Feininger, Carl Hofer, Kokoschka, Kubin, Lehmbruck, Macke, Marc und Paula Modersohn-Becker?

»Nicht einmal ein Ölscheich könnte sich das heute leisten, abgesehen davon, daß er es nicht bekäme. Wie in aller Welt haben Sie das erwerben können?«

Seine flinken, stets kühl beobachtenden Augen blitzen: »Man muß früh genug aufstehen, Herr Koch, Bescheid wissen und hinterher sein. Wissen Sie, ich habe das mit der Muttermilch eingesogen, buchstäblich, meine Mutter war Malerin; wir haben sogar zusammen gemalt. Von ihr lernte ich auch das ›Gegenwartsprinzip‹.«

»Das heißt?«

»Das Gute erkennen, während es entsteht. Ich kannte ja die meisten Expressionisten schon vor und während des Krieges, dann danach in der schlechten Zeit. Den Otto Dix habe ich mir vom Munde abgespart. Für manches bin ich 3. Klasse nach Paris gefahren, bot 320 Mark, wenn die anderen bei 300 paßten, danach konnte ich mir keinen Kaffee mehr leisten.«

Was kann er sich heute leisten? Angenommen, er würde seine Sammlung bei Sotheby’s versteigern lassen? Wenn von den rund 500 Werken jedes nur zehntausend Mark erzielte, wären das schon 5 Millionen. Manche kämen aber auf hunderttausend und mehr, viel mehr. Der Versicherungswert seines Kunstbesitzes dürfte bei weit über 100 Millionen Mark liegen.

Als wir die erste Flasche Baron de L, den Rassigen von der Loire, ausgetrunken haben, sagt er zu Signore Pireddu, dem Oberkellner aus Sardinien, er möchte sie bitte für ihn einpacken. Sammelt er auch Flaschen? »Ich grapsche eben alles zusammen – wie ein Eichhörnchen, das seine Lager später wieder vergißt.« Walter Fritzsche vergleicht ihn in der Einleitung zum Katalog mit einem Biber, der mit seinen Sammlungen Bauteilchen für Bauteilchen zu einem Staudamm zusammenfügt: gegen den Strom der Zeit.

Er ist 1918 geboren, in unserer Generation strömte die Zeit gar mächtig. Der ganz große Durchbruch Buchheims kam spät. Schon in den Sechzigern veröffentlichte er »Das Boot«, den Welterfolg – als Roman, als Film, als Fernsehserie. Er reitet die Welle, das nächste Buch soll »Die Festung« heißen, Brest an der bretonischen Küste ist der Schauplatz. Unentwegt schreibt, dreht und schneidet er Dokumentarfilme, am liebsten alles selbst. »Wenn die kommen und wissen wollen, was ich verlange, sage ich immer nur: Viel, sehr viel und davon das Doppelte. Und Sie werden lachen, ich kriege es.«

Er spricht gern, assoziiert mühelos, nimmt kein Blatt vor den Mund. »Beschissen doof« fühlt er sich allemal, wenn etwas fertig ist. Schöpferische Pause? Das klingt ihm zu nobel. Henry Miller kam einmal zu ihm nach Feldafing, unangemeldet. Mit dem hat er sich großartig verstanden. Von Loriot will er nichts wissen: »Vom Erfolg korrumpiert, im Grunde überhaupt nicht witzig.« Emil Nolde und die Nazis? »Der malte doch lange vor 1933 schon Blut und Boden, dachte, nun käme seine Zeit, ein tragisches Mißverständnis.«

Trotz sprudelnder Rede vergißt er die Tafel nicht. Die winzige Quiche Lorraine auf dem Vorspeisenteller erregt sein Entzücken. Den Zander aus dem Ammersee lobt er bodenständig: »Den kriegen wir in Feldafing auch manchmal.« Er mag Nieren und Bries in einer pikanten Sülze, nickt beifällig zur schon gelösten kleinen, knackigen Lobsterschere. Beim Dessert – es sieht aus wie von Nolde gemalt – bedauert er wohl nur, daß er es nicht mit nach Hause nehmen kann.

Den Schluß bildet zum Espresso ein herrlicher alter, dunkler Calvados, so wie ihn Remarque gefeiert hat. Er schnuppert am Glas: »Witzigmann versteht sein Handwerk. So wie ich meines verstehe. Ich mag nur Leute, die ihr Handwerk verstehen. Ich bin auf bescheidene Weise anspruchsvoll.«

Bedächtig streicht er sich den weißen Kapitänsbart und dann den Bauch unterm Batikhemd und sagt, mich noch einmal aus den Augenwinkeln flink taxierend und so, als wollte er damit auch den gemeinsamen Abend nach Kosten und Nutzen bilanzieren: »Man muß dem Zufall seine Chance geben, damit er voll zur Wirkung kommt.«

HELMUT RAASCH

VORBILD ZUR SEE

War es sein Traum, einmal Traumschiffkapitän zu

werden? »Zur See wollte ich schon mit 15,

und natürlich hatte ich es mir in den Kopf gesetzt,

mein Kapitänspatent zu machen. Aber das Glück,

einmal Kapitän der ›Europa‹ zu werden,

davon kann ein Seemann nicht mal träumen.«

 

Der Kapitänstisch steht genau in der Mitte des Restaurants. Kapitän Raasch hebt das Glas bedächtig und schaut durch die großen Fenster hinaus – ringsum nur blauer Atlantik: »Wir halten Kurs Nord, fahren zur Zeit 15,2 Knoten und werden morgen früh sieben Uhr Teneriffa erreichen. Backbord von uns jetzt die Kapverdischen Inseln, Steuerbord Mauretanien. Aber selbst wenn die westafrikanische Küste in Sichtnähe wäre, wir würden nichts sehen als Wüste.«

»Wie schaffen Sie es, daß wir immer auf die Minute pünktlich im Bestimmungshafen festmachen?«

»Das ist heute kein Kunststück mehr. Wir kennen Entfernung, Windstärke, Seegang, haben genaue Seekarten und die Standortbestimmung via Satellit mit Magnavox. Wir kennen unsere Maschinenleistung. Den Rest besorgen Radar, Echolot, der wachsame Offizier auf der Brücke und der Rudergänger.«

»Ist der Kapitän eines Kreuzfahrers also nur noch der große Salonlöwe, gut fürs Farbfoto vom Begrüßungscocktail, den Händedruck und das freundliche Wort für jeden?«

»Wenn das alles wäre, hätte ich dieses Kommando nicht übernommen. Der Kapitän ist verantwortlich für das ganze Schiff und alles, was auf ihm und mit ihm passiert. Eigentlich habe ich drei Jobs: Ich bin der Vorgesetzte von fast 300 Mann Besatzung, ich fahre einen 30 000-Tonner als ›Kapitän auf großer Fahrt‹, und ich habe mich um Wohl und Wehe der 600 Passagiere zu kümmern. Das allein kostet allerdings etwa die Hälfte der Zeit.«

»Sind Sie ständig an Bord? Wieviel Urlaub haben Sie? Können auch Sie das Schiff verlassen, wenn Landgang im Tagesprogramm steht?«

»Seeleute werden heute nicht mehr ausgebeutet, jedenfalls deutsche nicht. Reedereien und Gewerkschaft haben Tarifverträge ausgehandelt. Neben hochanständigen Löhnen, Kranken- und Altersversicherung gibt es fast vier Monate Urlaub im Jahr, auch für Kapitäne. Dazu gehört eine feste Arbeitszeit pro Tag, allerdings nicht für Kapitäne. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die Ehefrau mitzunehmen.«

Kapitän Raasch erwartet seine Frau in Teneriffa, wo ein Hapag-Lloyd-Charterflug zeitgünstig eintrifft. Bis Bremerhaven wird sie an Bord bleiben. »Es klappt gerade gut mit der Familie, und sie hat ja alles an Bord, was die Kapitänsfrau so braucht. Auch Frau von Neuhoff hat ihren Schrank in der Kapitänskajüte.«

Michael von Neuhoff ist der andere Kapitän der »MS Europa«. Er und Helmut Raasch lösen sich ab, fahren zwischendurch auch mal wieder ein Containerschiff ihrer Reederei. Das haben sie gründlich gelernt, bevor man ihnen das große Passagierschiff anvertraute, den Stolz von Hapag-Lloyd, den größten und schönsten deutschen Kreuzfahrer.

»Wie ist es heute auf einem Frachtschiff, auf einem Tanker?«

»Ehrlich gesagt, ziemlich eintönig. Früher hatten wir oft ein paar Passagiere an Bord. Früher gab es auch noch Geselligkeit bei der Mannschaft. Heute schiebt jeder seine Videocassette in den Recorder, hockt vorm Bildschirm, trinkt sein Bier allein, und das ist es dann.«

»Und ›Schön ist die Liebe im Hafens‹, das ist auch vorbei?«

»Wir haben heute in der Frachtschiffahrt Liegezeiten von durchschnittlich sechs Stunden, jede Minute kostet. Da geht kaum noch jemand an Land. Man kann also auf diese Weise die Welt nicht mehr kennenlernen. Man sitzt komfortabel und sozial abgesichert auf seinem Pott. Das ist nicht zu verachten, aber das ist auch alles.«

Helmut Raasch wurde 1936 in Pommern geboren. Der Vater fiel im Krieg. Gleich nach der Schule verschwand er in Richtung Westen. »Es war ein point of no return. Meine Mutter hat mir das nicht verziehen, bis ich Kapitän wurde. Wenn sie noch lebte, würde ich sie gern mal mitnehmen, hier auf der ›Europa‹.«

Er fing ganz unten an, als »Moses«, als Schiffsjunge »vor dem Mast«, den alle herumstoßen und herumschicken können. »Es war der harte Weg, aber darum habe ich auch heute noch diesen Kontakt zum letzten Matrosen. Ich sitze nicht nur hier beim Galabuffet, sondern gern auch in der Mannschaftskantine, bei Birnen, Bohnen und Speck, zu einem Klönschnack, mit meiner Frau, wenn sie da ist.«

Seine ruhigen, ernsten Augen bekommen einen amüsierten Ausdruck, wenn er wohlwollend-kritisch die Damen in der Abendtoilette und die Herren im Smoking mustert, wie sie um ihn herum speisen und den relativ preiswerten Champagner fließen lassen.

»Gibt es den typischen Kreuzfahrer, Kapitän Raasch? Wer kann sich den Luxusliner leisten, für mehr als 500 Mark pro Tag, und wie sieht der Repeater aus, der immer wieder kommt?«

»Der Repeater ist meistens eine Dame, und wir schätzen natürlich unsere Stammkundschaft besonders, zeichnen sie aus, mit einer silbernen Nadel für 75 Tage an Bord, einer goldenen für 150 Tage. Es kommen auch Gruppen, Leserreisen, Clubs, für die gibt der Kapitän einen Sondercocktail. Im übrigen sind es durchaus nicht nur die sogenannten Kapitalisten, von denen wir leben, die reichen Unternehmersgattinen oder was man ›die oberen Aussteiger‹ nennt. Nein, wir haben pensionierte Beamte, erfolgreiche Handwerksmeister, Zahnärzte, Architekten – ein erstaunlich buntes Spektrum.«

Durchschnittsalter? »Das liegt schon gut über den 50, 60.« Durchschnittsgewicht? »Gehört nicht zum Zuständigkeitsbereich des Kapitäns. Dafür ist der überhaupt wichtigste Mann an Bord verantwortlich, Chefkoch Detlef Löwenberg.«

Und der bietet jeden Tag fünfmal an, was der dicke Bauch der »Europa« hergibt. Es kann ein jeder auswählen aus dem überreichen Angebot, was für ihn bekömmlich ist – nur, die meisten sind gerade auf Kreuzfahrt kein bißchen weise.

Wie viele Passagiere braucht die »MS Europa«, um rentabel zu sein, um nicht das beklagenswerte Schicksal der auch sehr schönen »Astor« zu erleiden?

»Die Reederei rechnet mit einer Untergrenze von 70 Prozent Auslastung. Alles was darüber ist, bringt schwarze Zahlen. Unsere ›Europa‹ liegt mit über 85 Prozent Durchschnittsbuchungen an der Spitze und fährt deutlich Gewinn ein. Das macht natürlich auch dem Kapitän Spaß.«

»Und wieviel Spaß macht das Kreuzfahren dem Kreuzfahrer? Bei den Landgängen hat er doch nie mehr als den Blick durchs Schlüsselloch. Vieles mißversteht er. Und umgekehrt wird auch er von den verschiedenen ›Eingeborenen‹ mißverstanden. Wenn er von seinem weißen Traumschiff steigt, muß er den Afrikanern, den Südamerikanern, Asiaten vorkommen wie ein Wesen vom anderen Stern.«

»Sie sprechen das komplizierte Problem des heutigen Massentourismus an, Herr Koch. Es stimmt, man kann die Welt nicht durchs Schlüsselloch wirklich kennenlernen. Es stimmt auch, daß einige Passagiere vorgestern in Dakar Aggressionen erlebt haben. In der Dritten Welt wachsen die Spannungen. Aber bringt der Tourismus diesen Ländern denn nicht eine Menge dringend benötigter Devisen?«

»Manche leben davon.«

»Drum müssen wir kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir sie besuchen. Es ist mein Job, Touristen zu befördern, so angenehm wie möglich. Tourismus ist eine der wenigen Wachstumsbranchen der achtziger Jahre. Und der Anteil der Kreuzfahrten wächst.«

Hat der »Europa«-Kapitän, der alle Weltmeere befuhr, und ungezählte Häfen kennt, der ein Menschenführer erster Ordnung sein muß, vor irgendetwas Angst?

»Ja, daß ich einmal zu spät an Bord zurückkommen könnte.«

»Ihr Stellvertreter, der Leitende Offizier, wird wohl kaum ohne seinen Kapitän abdampfen.«

»Das würde ich ihm auch nicht raten. Aber wäre ich dann noch ein Vorbild?«

ELISABETH NOELLE-NEUMANN

DIE SPHINX VOM BODENSEE

Es empfängt mich der Autor des »Kochbuchs

für Füchse«, Professor Dr. Heinz Maier-Leibnitz,

Atomphysiker, ehemals Präsident der Deutschen

Forschungsgemeinschaft, Kanzler des Ordens

Pour le Mérite, Friedensklasse.

Deutschlands prominentester »Gastrosoph« hat für

seine Frau und mich gekocht – in der kleinen Küche

des bescheidenen Häuschens am Bodensee, das

Deutschlands renommierteste Meinungsforscherin

schon seit 1947 bewohnt.

 

Frau Noelle-Neumanns rasante Mobilität ist ebenso berühmt wie gefürchtet. Vormittags konferierte sie noch in Mainz mit Ministerpräsident Vogel, nun erwarten wir sie beim Sherry in der winzigen, aber mit bibliophilen Schätzen vollgestopften Bibliothek.

Das erste, was wir von ihr sehen, ist ihr Fahrer. Er schleppt Taschen und Koffer, schließlich Akten, Papiere und Bücher herein. Dann steht sie selbst in der Tür, vergnügt und energisch wie eh und je, die lebhaften großen braunen Augen haben sofort alles erfaßt und durchdrungen: »Zweieinviertel Stunden Fahrt, kein schlechter Durchschnitt«, sagt sie.

Was hält sie vom Tempolimit 100?

»Wir werden immer das Äußerste herausholen.«

Schon ist sie wieder weg. Treppe hoch, umziehen, nach knapp zehn Minuten nimmt sie huldreich den Toast mit gebratener Hühnerleber aus der Hand des Gatten entgegen. »Danke, Lieber«, das Telefon klingelt. Sucht der Bundeskanzler ihren Rat am Freitag nachmittag?

Der Professor und Liebhaberkoch, geboren 1911 in Eßlingen, bittet liebenswürdig zu Tisch, er muß in einer Stunde zum Flughafen Zürich, da er heute abend in Oxford eine Herrenrunde hat, allesamt Hobbycooks und Wissenschaftler.

Die Fenster des Eßzimmers bieten Ausblick auf einen Frühsommertag über der idyllischen Reichenau. Schon weht sie wieder herein, die »Sphinx vom Bodensee«, aber weder sie noch ihr Ambiente hier zeigen irgendeine Spur von Mythos oder Mystik. »Ich bin Statistiker, bitte setzen wir uns doch.«

Kennt sie Robert Musils hintergründige Bemerkung im »Mann ohne Eigenschaften« – »Die Statistik ist das Schicksal«?

»Damit meint er vielleicht dies: Individualität geht im statistischen Mittel unter, persönliche Meinung in der öffentlichen.«

In ihren Umfragen finden wir uns plötzlich alle in bestimmten Gruppen wieder, in statistischen Trends. Und die können zum Schicksal werden. Sie hört so intensiv zu, daß sie zu atmen vergißt.

Sie bringt das Kunststück fertig, immer in Bewegung zu sein und nie unruhig zu wirken. Weißen Wein oder roten? Sie greift vom Fensterbrett den 82er Wertersheimer Karlsberg Kabinett für sich und für mich. »Und du, Lieber? Roten?« Ihre Fürsorglichkeit ist allgegenwärtig, auch wenn jetzt ein anderes Telefon schnarrt. Sie ist schon dran, die Suppe aus passiertem Kopfsalat muß einen Augenblick warten. Er sagt: »Ich habe Helmut Schmidt zum 60. Geburtstag meine Suppenrezepte geschenkt.«

»Hat er deshalb neuerdings so zugelegt?« Ein diskretes Lächeln.

Sie ist wieder zurück. »Drüben im Institut haben sie mitgekriegt, daß ich da bin. Jetzt ist Schluß mit dem Telefonieren, gehe nachher sowieso ’rüber.« Aber hat sie nicht selbst erfragt, daß die alten Tugenden kein Thema mehr sind in unserer Bundesrepublik? Fleiß zum Beispiel?

»Gilt nicht für Allensbach, Freitag nachmittag ist die Mannschaft an Bord.«

»Wie viele?«