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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht

 

Saga

1

Damals, als wir noch in der Stadt wohnten, war die Rückkehr aus den Ferien ein selbstverständliches Nachhausekommen für mich gewesen, manchmal mit einem Schuß Bedauern, manchmal auch voller Erleichterung. Mit Dreililien aber war es anders.

Ich kannte dieses Gefühl von Heimkehr erst, seit wir hier lebten, in unserem Gebirgstal, das eine Welt für sich war – die Empfindung von tiefem Glück und freudiger Erwartung, wenn wir bei Achenmühle die Autobahn verließen und durch friedliche Dörfer fuhren, über die ersten Ausläufer der Berge; bis hinter einem Wäldchen die Kirche von Mariabrunn auf dem Hügel erschien, schlicht und malerisch wie ein Motiv aus einem Bilderbuch.

Carmen sprach aus, was ich empfand. „Allmächtige Tante!“ sagte sie. „Ich könnt aus dem Auto springen und alles umarmen, was ich erwische. Ist das schön, heimzukommen!“

„Es haut einen fast um“, bestätigte Jörn, der neben mir auf dem Rücksitz der Ente saß. „Dabei ist so ein Frühling in der Toskana das Satteste, was man sich vorstellen kann. Alles sprießt und blüht wie verrückt. Man lebt in einer einzigen Duftwolke und meint, man müßte abheben! Unser Frühling ist ganz anders. Langsamer, verhaltener. Aber mindestens genauso schön.“

Roddy nieste fünfmal hintereinander explosionsartig. Die Ente schlingerte, denn er saß am Steuer. Für ihn waren die Ferien in Italien nur mäßig romantisch gewesen, weil er Heuschnupfen hatte, und zwar die Frühlingsvariante.

„Bleibt mir bloß mit eurer verdammten Blüherei vom Hals!“ forderte er schnüffelnd. „Wenn das so weitergeht, wandere ich aus, und zwar in die Wüste Gobi.“

Jetzt hatten wir Mariabrunn erreicht, und mein Herz schlug Purzelbäume. Tulpen und Osterglocken blühten in den Bauerngärten. Zwischen Gastwirtschaft und Bäckerei stand Hopfi, Dreililiens Haushaltshilfe, mit zwei Bäuerinnen beim abendlichen Tratsch, und vor dem Weberhäusl hing Gesines pflanzengefärbte Wolle in langen Strängen zum Trocknen vom Balkon. In der Einfahrt des Leitnerhofes parkte der Wagen unseres Tierarztes. Hopfis Schwiegersohn fuhr Mist aus, und weil wir mit offenem Verdeck fuhren, fing sich der ländlich-nahrhafte Geruch im Inneren der Ente und wehte uns lieblich um die Nasen.

„Schweinemist“, bemerkte Carmen. „Pfui Geier!“

„Pferdemist riecht besser“, sagte ich verträumt.

„Kein Vergleich!“ murmelte Jörn.

„Mir ist der Geruch von frisch gesägtem Holz am liebsten“, sagte Roddy. Und Carmen meinte, er könne sich jeden Tag glücklich preisen, daß er nicht auch gegen Holzstaub allergisch sei. Das stimmte, da Roddy bald seine Gesellenprüfung als Schreiner ablegen sollte.

Rosarot und feierlich versank die Sonne hinter dem Heuberg. Schwaden von Dunst schwebten über der Filz, dem Feuchtgebiet zwischen Mariabrunn und dem Vorgebirge, wo im Spätfrühling Bergprimeln, Knabenkraut und Trollblumen blühten. Im Hintergrund sahen wir die Gipfel des Zugspitzmassivs, die jetzt dunkel und ernst wirkten, umflossen vom letzten Schimmer des Abendrotes.

„Du kannst uns hier absetzen“, sagte Jörn zu Roddy, als wir die Linde im oberen Teil des Dorfes erreicht hatten. „Nell und ich gehen das letzte Stück zu Fuß. Die Schlafsäcke lassen wir dir im Auto, die kannst du uns ja bringen, wenn du am Samstag zum Reiten kommst.“

Wir stiegen aus und hievten unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum. Meiner war besonders schwer, denn ich bin eine Sammlernatur. Ich kann beispielsweise nie an schönen Steinen vorbeigehen, ohne wenigstens ein paar mitzunehmen. Außerdem hatte ich in der Toskana Geißblatt in einem Wäldchen ausgegraben, hatte es in einen Topf gepflanzt, den Topf mit einer Plastiktüte umwickelt und in den Rucksack gesteckt – als Geschenk für Kirsty, die ein Gartenfreak ist. Dazu kamen noch ein Glas Traubenmarmelade für meinen Vater und allerhand Mitbringsel für meine kleine Schwester Kathrinchen, für Matty und Mikesch und Maja, die mein Pferd Hazel versorgt hatte.

Auf der langen Fahrt durch die Po-Ebene, durch Tirol und über die Inntalautobahn war ich unheimlich müde gewesen und hatte mich nach meinem Bett gesehnt. Jetzt verflog die Müdigkeit mit einem Schlag. Wir wanderten mit unseren unförmigen Rucksäcken den holprigen Pfad am Wildbach entlang, der unter Tannen brauste, ungebärdig wie in jedem Frühling. Ein Stück des Weges ging ich mit geschlossenen Augen und spürte, wie vertraut mir alles war – der Geruch des Waldes über den Bergwiesen, das Rauschen der Bäume am Wegrand, das Gurgeln des Wassers und das ferne Bimmeln der Kuhglocken von den Almen.

Auf der Anhöhe, wo sich der Bach in einer tiefen Klamm im Wald verlor, machten wir halt. Unter uns lag das Tal von Dreililien in der Dämmerung: zwischen Baumgruppen und Waldstücken dunkel und mächtig der Vierseithof mit seinen tiefgezogenen Dächern, seit Jahrhunderten Heimat für Menschen und Tiere, umgeben von Koppeln, die wie eine Flickendecke aus grünen und braunen Samtflecken wirkten. Die Sichel des Mondes stand am Himmel, blaß noch und glanzlos. Vom Dorf hörten wir die Kirchturmglocke läuten.

„Heimatglocken!“ sagte Jörn in spöttisch-schmalzigem Ton, und wir lachten. Doch jetzt gingen wir unwillkürlich schneller, die geteerte Zufahrt mit den Frostaufbrüchen und Schlaglöchern hinunter, die von Jahr zu Jahr breiter und tiefer wurden, und hielten uns dabei an den Händen. Der Rucksack schwankte wie ein unförmiger Hafersack auf meinem Rücken und versuchte, mich zu Boden zu ziehen. Mein Herz aber war leicht und frei wie ein Vogel, der von seinem Winterquartier nach Hause zurückkehrt.

An der Wegkreuzung luden wir beide unsere Rucksäcke ab und lehnten sie gegen einen Baumstamm. Dabei dachte ich: Jetzt sehe ich sie alle wieder – die Pferde Hazel und Katama, die kleine Millirahmstrudel und Laurin, Joringel und Julka und all die anderen. Und Mikesch und Matty und Maja ...

Diana, die gefleckte Jagdhündin, kam durch den Torbogen geschossen. Sie erinnerte mich an einen Feuerwerkskörper, der am Boden dahinzischt, wie sie jaulend und japsend auf Jörn zustürmte, total durchgedreht vor Seligkeit, ihn endlich wiederzuhaben. Sie sprang an ihm hoch und überschlug sich zu seinen Füßen, so daß man nur noch schwarzweiße Flecken sah und Snoopie-Ohren, die wie Propeller durch die Luft flappten.

Jörn kniete nieder, nahm das sich windende, winselnde Bündel Freude in die Arme und streichelte, was er gerade erwischte – Kopf, Pfoten, Flanken und Nase, denn Diana war unfähig, auch nur einen Augenblick lang stillzuhalten. Sie leckte ihn ab und warf ihn schließlich um, so daß er längelang am Boden lag, das Gesicht im Gras, lachend und um Hilfe rufend. Da wurde sie noch wilder und scharrte an seinem Rücken und seinen Armen, bohrte die Schnauze unter seinen Hals und prustete dabei wie ein Walroß.

Ich überließ die beiden ihrer Begrüßungsorgie und ging weiter, voller Sehnsucht nach Hazel. Es war die Zeit, in der unsere Pferde von den Weiden geholt wurden; ich brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, das hatte ich im Gefühl. Und da kamen sie in der sinkenden Dämmerung den Koppelpfad herauf, voran Mikesch in seinen zerfransten Jeans und dem ausgebeulten grünen Pullover, der ihm fast bis zu den Kniekehlen hing, mit Julka am Führstrick und Jonas, ihrem Hengstfohlen, im Schlepptau.

Mein erster Impuls war, loszurennen, doch dann fiel mir zum Glück noch rechtzeitig ein, daß ich die Pferde nicht erschrecken durfte. Im Zwielicht erkannten sie mich vielleicht nicht sofort. Ich zwang mich, langsam weiterzugehen; dabei suchten meine Augen unter all den Braunen, den Rappen und Schimmeln und Falben nach einer haselnußbraunen Stute.

Doch jetzt waren nur noch die Schimmel deutlich zu erkennen, und irgendwo Mattys hellblonder Haarschopf wie ein Klecks Sahne zwischen Pferdeköpfen. Das Schnauben und Prusten, der dumpfe Hufschlag auf weichem Grund waren wie eine geliebte, altbekannte Melodie in meinen Ohren. Ich atmete den vertrauten Geruch nach Pferdeschweiß und Dung ein, und jetzt stand Mikesch vor mir. Er nahm mich in die Arme und sagte: „Nell, mein Mädchen! Du hast mir gefehlt!“ Auch das war ein Stück Heimkehr: der Geruch seines Pullovers, seine Brust an der meinen, der Druck seiner kräftigen und doch sanften Hände auf meinem Rücken. Dann kam Jörn, und Mikesch ließ mich los und umarmte auch ihn. Ich streichelte Jonas und Julka. Unruhe verbreitete sich in der Herde, Ich hörte Matty rufen: „Jörn, Nell? He, sie sind wieder da!“

Als ich unsere Erkennungsmelodie Yellow is the colour of my true love’s hair pfiff, gab Hazel Antwort. Ihr helles Gewieher fand Widerhall. Plötzlich war die Luft erfüllt von den hohen Stimmen der Stuten und den Kinderstimmen der Fohlen und Jungpferde.

Ich stand mitten unter ihnen; sie umringten mich, beschnupperten mich. Nüstern bliesen mich freundlich an, Nasen pufften mich; alle wollten gestreichelt und begrüßt werden. Ich wußte, ich würde dieses Willkommen nie vergessen.

Das Geschiebe und Gedränge nahm zu. Dann war Hazel bei mir. Sie drückte ihre Stirn gegen meine Schulter, schnaubte mir ins Haar, spielerisch und zärtlich zugleich, und wieherte leise, als wollte sie mir etwas erzählen. Und ich umarmte sie lange, lange, die Augen voller Tränen, und flüsterte: „Mein Tierchen, mein Tierchen! Wie gut, daß es dich gibt, und daß du gesund bist. Du bist mir doch nicht böse, daß ich weg war? Ich hab so viel an dich denken müssen! Auch wenn ich manchmal fortgehe – ich komme immer wieder zu dir zurück; das hab ich dir ja versprochen!“

Und ich küßte sie auf die schmutzige Nase und fragte mich, wie es möglich ist, daß es zwischen Mensch und Tier so viel Liebe und Vertrautheit geben kann, eine so starke Bindung. Wieso gibt es Leute, die glauben, daß Tiere keine Seele haben, daß sie nicht ebenso empfindsam sind wie wir, fähig zu Freude und Trauer, Angst und Schmerz und Bindungen, die bis zum Tod dauern?

Die Herde drängte weiter, dem Stall zu. Ich ging mit, die Hand in Hazels Mähne, und schaute mich nach Matty um. Rasch verdichtete sich die Dämmerung zur Dunkelheit, und ich sah ihn nicht; doch plötzlich faßte mich jemand von hinten um die Taille, hob mich hoch und sagte: „Da bist du ja endlich wieder! War’s schön?“

„Sehr schön!“ sagte ich atemlos, wandte mich um und zerraufte ihm die Haare. „Aber so schön wie hier kann’s nirgends sein!“

„Dazu fährt man wahrscheinlich weg, um das zu kapieren“, erwiderte er halb lachend, halb im Ernst.

Ich wartete am Stalltor, während die Pferde in ihre Boxen geführt wurden. Am liebsten hätte ich gleich mitgeholfen, sie zu füttern und zu tränken, doch jetzt spürte ich wieder, wie müde ich von der langen Fahrt war. Maja, die die Nachhut bildete, kam, und ich dankte ihr, daß sie Hazel für mich versorgt hatte.

„Morgen hast du mal einen freien Tag“, sagte ich. „Ich bin gleich in aller Frühe da und helfe im Stall. Du möchtest sicher mal ausschlafen.“

Ihre großen braunen Augen glänzten im Licht der Kutscherlampe, die über dem Stalltor hing. „Du, das Angebot nehm ich gern an. Ich möchte schon seit ewigen Zeiten nach Rosenheim, um mir neue Jeans zu kaufen und mal wieder einen Buchladen von innen zu sehen. Und hier war bis gestern mit den Osterferien-Reitern so viel los, daß wir kaum zum Schnaufen gekommen sind.“

Als ich über den Stallhof ging, sah ich Michls dünne, hochaufgeschossene Gestalt unter dem Balkon des Gesindehauses, geduckt und heimlich wie ein Einbrecher oder ein Geist. Er lebte jetzt schon seit mehreren Wochen bei uns und war noch immer total unzugänglich und menschenscheu. Ich wollte ihm etwas zurufen, doch er war schon durch die Tür zum alten Schafstall verschwunden, in dem nun die drei ehemaligen Rennpferde Victory, Turf Star und Lucky Duck untergebracht waren.

Ich trat durch den Torbogen, auf dem Dreililiens Wappen in Stein gemeißelt war. Die Lampe schwang sacht im Luftzug. Und ich dachte: Ich hab allen was mitgebracht, nur Michl nicht. Er hat keinen, der an ihn denkt und ihm auch mal ein Geschenk macht.

Plötzlich fiel mir der schöne Geldbeutel ein, den ich bei einem Bummel durch Florenz gekauft hatte. Eigentlich war er für mich bestimmt, denn mein alter fiel schon fast auseinander. Doch ich konnte ihn sicher noch einmal zusammenflicken; wir hatten Ledernadeln und festen Zwirn in der Sattelkammer.

Es ging mir durch den Sinn, wie reich ich war, daß ich alles hatte, was ich brauchte, und noch viel mehr: Jörn, den ich liebte, und meinen Vater und Kirsty und eine kleine Schwester; ein Pferd und Freunde und ein wunderbares Zuhause. Michl aber hatte nichts. Da konnte ich wenigstens auf einen Geldbeutel verzichten, um ihm eine Freude zu machen.