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Table of Contents

Titelblatt

Die Story

Der Autor

Ein Gebäude verschwindet

Im Dienst der Krone

Bevor es Nacht wird

Reisefieber

Die Angst ist ein unliebsamer Begleiter

Ein unerwarteter Gast

Löwenkopf

Rebellisches Herz

Die Farben des Orients

Blut im Ritterbad

Grenzüberschreitung

Düstere Mauern

Treu bis in den Tod

Das Zeichen

Petit Trianon

Kampf der Herzen

Nacht zu Tag

Wenn der Donner verhallt

Die wundersame Welt der Venus

Die andere Seite

Auf allen Gipfeln herrscht Ruh

Keine Gefangenen

Die Schlinge zieht sich zu

Ausweglos

Der Tag des Herrn

Hundings Waldeinsamkeit

Das Blockhaus

Sünde

Ein Feuerwerk zu Ehren

Inferno am Teufelsg'saß

Blutrote Aussicht

Bis du eingeschlafen bist

Ein Sturm zieht auf

Postskriptum

Mehr aus der edition tingeltangel

Impressum

 

 

Markus Richter

Ohne Herz

Neuschwanstein-Thriller

 

 

Die Story

 

Ein König in der Einsamkeit der Berge. Und ein kleiner Bub, der für ihn die größte Gefahr bedeutet.

 

 

1885: Der junge Schlossverwalter Lenz Baumgartner stößt in der »Neuen Burg« (Neuschwanstein) auf einen verängstigten Buben. Die Männer, die hinter dem Kind her sind, scheinen vor nichts zurückzuschrecken. Lenz stürzt beim Versuch, ihm zu helfen, in ein Abenteuer auf Leben und Tod. Besteht etwa eine Verbindung zwischen dem Buben und König Ludwig II.?

Zehn Jahre ist es her, dass Lenz mit seiner großen Liebe Klara und dem Soldaten Heiland eine Verschwörung gegen den König vereitelt hat. Sollte sich das Drama nun wiederholen?

Auch wenn der Monarch sich aus Angst vor Attentaten in abgelegene Bergresidenzen zurückzieht, ist er nicht sicher.

 

Der Autor

 

 

Markus Richter kennt alle Winkel im berühmtesten Schloss König Ludwigs II. Als Kastellan war er für alle Belange des täglichen Betriebes zuständig. Schon in seinem ersten Neuschwanstein-Thriller »Ins Herz« hat er viele persönliche Erlebnisse verarbeitet. In den Medien avancierte Markus Richter zum begehrten, historisch fundierten Gesprächspartner. Nicht nur in seinen Büchern, auch auf zahlreichen Veranstaltungen taucht er tief ein in die Zeit des »Märchenkönigs«.

Ein Gebäude verschwindet

 

 

In der Chronik des Schwangauer Dorflehrers Alois Left finden sich zwei querformatige Blätter, die ich hier einander zugeordnet habe.

Auf das obere hat Left ein Baustellenfoto der »Neuen Burg von Hohenschwangau« aus dem Jahr 1876 geklebt. Die handschriftlichen Anmerkungen mit den Pfeilen beziehen sich zum einen auf ein Nebengebäude des Torbaus, das 1883 in die Pöllatschlucht gestürzt sei, und zum anderen auf einen Felsabbruch 1885.

Auf dem unteren sieht man eine Fotografie aus dem Jahr 1881 und daneben eine Ablichtung des Torbaus, vermutlich um 1873, als dieser gerade fertiggestellt war. Dieses Blatt befand sich, im Gegensatz zu allen anderen der Chronik, nicht in der zeitlichen Reihenfolge eingeordnet, sondern war irgendwo mittendrin lose eingelegt. Wahrscheinlich hat Alois Left dieses Blatt nachträglich angefertigt. Nach den Ausführungen einer Publikation aus den 1970er Jahren gab es in der Left-Chronik außerdem einen Eintrag zum Absturz des Nebengebäudes mit der Datierung 1885. Dieser Eintrag ist in der Chronik leider nicht mehr vorhanden. In meiner Sammlung befindet sich jedoch der Abzug einer Fotografie der Baustelle der »Neuen Burg« aus dem Jahr 1884. Darauf ist das Nebengebäude noch zu sehen.

Hat sich Alois Left bei seinen Anmerkungen zum oberen Foto in den Jahreszahlen getäuscht, weil er sie erst viel später seiner Chronik hinzugefügt hat? Wurde die Öffentlichkeit vielleicht sogar bewusst über das abgestürzte Gebäude im Ungewissen gelassen? Was steckt hinter dessen geheimnisvollem Verschwinden? Und warum hat man es völlig vergessen?

Dieses Rätsel ist der Ausgangspunkt für meine neue Geschichte ...

Im Dienst der Krone

 

  • Lorenz »Lenz« Baumgartner

Kastellan von Schloss Hohenschwangau und der Neuen Burg Neuschwanstein

  • Johannes Balthasar Heiland

Soldat des 4. Chevaulegers-Regiments; persönlicher Leibwächter von Prinz Otto, dem Bruder König Ludwigs II. von Bayern

  • Klara Grünspan

Kammerzofe von Königin Marie, der Mutter König Ludwigs II.

  • Herr Schilling

Agent der bayerischen Geheimpolizei; zuständig für die diskrete Abwicklung von Sonderaufträgen

  • Marianna Rieger

Dienstmädchen im Königshaus auf dem Schachen

  • Paul Lieb und Friedrich Vogelsang

Soldaten des 3. Chevaulegers-Regiments; abkommandiert zum persönlichen Dienst bei König Ludwig II.

  • Der Gerüstbauer Cornelius

Zimmermann aus Schwangau

  • Karl Hesselschwerdt

Marstallfourier und Vertrauter von König Ludwig II.

  • Lorenz Mayr

Kammerdiener im persönlichen Dienst bei König Ludwig II.

  • Franz Dengg

Diener im Königshaus auf dem Schachen

  • Alfred Reichsgraf Eckbrecht von Dürckheim-Montmartin

Flügeladjutant von König Ludwig II.

Mariannas Schreie hallten von den zerklüfteten Steilwänden zurück und wurden mit jedem weiteren Echo leiser. Angespannt lauschte sie in die langsam eintretende Stille. Je länger diese andauerte, desto schwerer fiel ihr das Atmen. Beklommen rang sie nach Luft. Wo war er nur, ihr Sohn?

Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie musste ihn finden, bevor die Nacht hereinbrach. Obwohl sie schon völlig heiser war, rief sie ihn wieder und wieder und schrie damit an gegen die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf. Zerschmettert sah sie ihren Buben zwischen den Felsen liegen. Seine zarten Arme und Beine blutverschmiert.

»Hansi, wo bist du? So antworte doch«, rief sie erneut aus Leibeskräften und unterdrückte ein Schluchzen.

Sie horchte angestrengt, bis das Echo verstummt war.

Dann nichts mehr.

Wieder nur unheilvolle Stille.

Dabei hatte sich der Bub so auf das Abenteuer in den Bergen gefreut. Je näher der Ausflug gerückt war, desto zappeliger war er geworden. Den kleinen Rucksack hatte sie schon Tage vorher für ihn zusammenpacken müssen. Und ihr aufgeregter Sohn hatte dann beinahe stündlich alles wieder herausgeholt, nur um das rotweiß karierte Kissen, den bunt bemalten Spielzeugsoldaten und die blecherne Trinkflasche in ständig wechselnder Reihenfolge wieder hineinzustopfen.

Schon in aller Früh hatten sie sich von ihrem Haus in der St. Anton-Straße auf den Weg zum Schachenschloss gemacht. Die Gassen von Partenkirchen waren noch menschenleer gewesen.

In der Nähe von Vordergraseck hatten sie die Partnach überquert, und waren dort von der Straße auf einen ausgetretenen Holzfällerpfad gewechselt. Bei trockener Witterung nahm Marianna diese Abkürzung gern, auch wenn der Weg stellenweise nah am Abgrund der Partnachklamm verlief. Sie mochte die senkrechten Wände der Partnachklamm, die über und über mit Moos und Farn bewachsen waren und die von den ersten Sonnenstrahlen in ein leuchtendes Grün getaucht wurden.

Dort, wo sich die Schlucht nur wenige Schritte neben dem Pfad auftat, hatte Marianna die Hand ihres Sohnes instinktiv fester umklammert und ihn zur Hangseite hingeschoben.

Voller Neugier hatte Hansi immer wieder versucht, sich an ihr vorbeizudrücken, um einen Blick in die brodelnde Tiefe zu werfen. Marianna spürte dabei jedes Mal ein unangenehmes Kribbeln im Bauch und sie fing an zu bereuen, diesen Weg gewählt zu haben. Noch dazu mussten sie ständig über frisch geschlagene Baumstämme klettern, die mitten auf dem Weg lagen und die von dort auf der Partnach abwärts getriftet werden sollten.

Als sie die Klamm endlich hinter sich gelassen hatten, fühlte sich Marianna wohler. Sie hatte dem Drängen ihres Sohnes nachgegeben und war mit ihm am flachen Ufer des Wildbachs bis zu dem Punkt gelaufen, wo sich die Felsen zur Schlucht verengten. Dort waren sie auf einen großen Granitblock gestiegen und hatten den Fluten der Partnach, die schäumend im Schlund der Klamm verschwanden, hinterhergeschaut.

Danach hatte Marianna entschieden, über die Kälberhütte aufzusteigen, denn das war eigentlich der schnellste Weg zum Schachen.

Anfangs hüpfte Hansi auch noch flink über die Rundhölzer und Wurzeln, die auf dem steilen Stück durch den Wald als Tritte dienten. Er sang fröhlich vor sich hin und ließ seine Mutter weit hinter sich. Doch schon an der ersten Kehre saß er müde auf einem umgestürzten Baumstamm und rieb sich die Waden.

»Wann sind wir endlich da, Mama?«

Und diese Frage wiederholte er dann nach immer kürzeren Abständen. Marianna war ins Grübeln gekommen: War es noch zu früh gewesen, den Buben mit nach oben zu nehmen? Der Aufstieg zum Schachenschloss war nämlich wirklich eine Herausforderung, wenn man nicht, so wie der König, einen »Bergwagen« zur Verfügung hatte. Vielleicht hätte sie doch den bequemeren Reitweg nehmen sollen.

Allerdings wären sie da den Lakaien und Trägern aus den umliegenden Dörfern begegnet, denn die transportierten am gleichen Tag die ersten Fuhren des königlichen Gepäcks zum Schachenhaus. Und Marianna reichte es völlig, diesen Flegeln auf den letzten Metern der Wegstrecke, also erst oben beim Königshaus, in die Arme zu laufen. Deren derbe Sprüche hatte sie nicht schon am frühen Vormittag hören wollen.

Sie rief wieder nach ihm und lauschte.

Nichts.

Sie hätte ihren Buben nicht mitnehmen dürfen, egal auf welchem Weg! Schon bald würde die Sonne untergehen, und Hansi blieb verschwunden.

Ob er zum See hinuntergelaufen war, überlegte Marianna, als ihr Blick auf das Wasser fiel, das von unten zwischen den Bäumen hindurch schimmerte und Marianna daran erinnerte, dass Hansi heute früh vom Anblick des Sees, der unterhalb der Schachenalm in einer Senke lag, so begeistert gewesen war. Als er nach dem mühsamen Aufstieg das in der Sonne glitzernde, smaragdgrüne Wasser entdeckt hatte, wollte er sich von ihrer Hand losreißen und hinunterlaufen.

»Schau, Mama, ein Boot«, hatte er gejauchzt und schien die Strapazen des stundenlangen Aufstiegs völlig vergessen zu haben.

Und sie war so streng mit ihm gewesen. »Du weißt, dass ich erst meine Arbeit machen muss«, hatte sie gesagt. »In ein paar Tagen kommt der König herauf, um hier seinen Geburtstag zu feiern. Da muss alles strahlen und glänzen.«

Sie hatte sich zu ihm hinunter gebeugt und ihm eine feuchte Strähne seiner schwarzen Haare aus der Stirn gestrichen.

»Und du hast versprochen, mir zu helfen. Wenn wir fertig sind, dann gehen wir hinunter und rudern über den See. Versprochen.«

Der See! Mariannas Herz pochte schneller angesichts dieser Möglichkeit. Das war des Rätsels Lösung. Der Frechdachs war ausgebüxt und zum See gelaufen. Es war ihm einfach zu langweilig geworden, Betten zu beziehen, Spinnweben von den Balken zu kehren und das Silberbesteck zu polieren, das die Träger schon heraufgebracht hatten. Womöglich hatte ihn auch die Derbheit der Träger abgeschreckt, die sich gern mit einer lautstarken Partie Watten die Zeit bis zum Abstieg vertrieben. Dabei wurden die Spielkarten mit groben Kommentaren in Richtung Gegenspieler krachend auf die Tischplatten gedroschen und es ging oft reichlich rüde zu.

Marianna hob ihre Rockzipfel, um schneller laufen zu können. Schon bald würde die Spätsommersonne ganz hinter dem Gipfel der Alpspitze verschwinden. Sie musste ihren Sohn unbedingt vor dem Einbruch der Dunkelheit finden!

»Ist er immer noch nicht aufgetaucht, der Rotzlöffel?«

Die Träger und Diener hatten ihr Tagwerk auf der Schachenalpe hinter sich gebracht, waren auf dem Weg nach unten und überholten Marianna ausgerechnet an jener Stelle, an der man zum See hinunterging.

Einer der Männer schaute sie mit einem breiten Grinsen an. Wo bei anderen Menschen die Schneidezähne saßen, klaffte bei ihm eine dunkle Lücke.

»Mit den Lausern hat man nur Ärger! Du solltest ihn finden, bevor es dunkel wird. Sonst fressen ihn noch die Füchse.«

Fassungslos starrte Marianna den Mann an. Er hatte ein ledriges, von der Sonne gegerbtes Gesicht und einen riesigen, blank rasierten Schädel, der unförmig zwischen den viel zu schmalen Schultern saß und im Abendlicht glänzte.

Eigentlich kannte Marianna die meisten Träger. Das waren in der Regel junge Burschen aus den umliegenden Dörfern, deren Väter schon beim Bau des Königshauses gutes Geld verdient hatten. Sie selber arbeitete seit mehr als fünf Jahren als Dienstmagd auf dem Schachen. Aber diesen groben Menschen hatte sie noch nie gesehen.

»Bitte … helft mir suchen«, stammelte Marianna trotzdem. Der Mann spuckte vor ihr aus und grinste noch breiter.

»Wir haben Besseres zu tun. Diese Kiste muss heute noch runter zur Wettersteinalpe. Da wird sie morgen wieder vollgepackt.«

Er wies mit dem Kopf in die Richtung des kleinen Trosses, der mittlerweile ein ganzes Stück weitermarschiert war und bald hinter der nächsten Kehre verschwinden würde. Zwei Träger schleppten eine große, hölzerne Transportkiste, in der die Raketen verstaut gewesen waren. Wahrscheinlich sollte darin in den kommenden Tagen das Schwarzpulver für das obligatorische Feuerwerk herauftransportiert werden. Das wurde jedes Mal abgebrannt, wenn König Ludwig auf dem Schachen ankam.

»Viel Glück bei der Suche«, wünschte der Glatzkopf mit einem verächtlichen Unterton und machte auf dem Absatz kehrt.

Marianna lief weiter zum See. So angenehm warm sich der Sommer hier oben den Tag über anfühlte, so empfindlich kalt könnte die Nacht werden. Sie fing an, den Trampelpfad zum Schachensee hinunterzurennen. Immer wieder suchten ihre Augen bang das Ufer und die Wasseroberfläche ab. Der Kahn, der ihrem Buben so gut gefallen hatte, lag festgetäut am Steg und schaukelte sanft hin und her.

Er kann nicht ertrunken sein, beruhigte sie sich immer wieder. Denn für sein Alter konnte er ausgezeichnet schwimmen. Schon von klein auf war sie regelmäßig mit ihm zum Baden gegangen, manchmal sogar in der eiskalten Loisach, damit er es rasch lernte. Bei all den Seen, Tümpeln und Weihern, die es rund um Partenkirchen gab, schien ihr das ratsam.

Sie hastete am Ufer entlang, um seine Anziehsachen zu finden, derer er sich vielleicht noch entledigt hatte, bevor er voller Übermut in den See gesprungen war.

»Hansi«, schrie sie aus Leibeskräften, doch ihre Stimme war vom vielen Rufen schon heiser und kaum noch zu hören. »Wo bist du? Du machst mir solche Angst.«

Die letzten Worte erstickten in einem lauten Aufschluchzen. Tränen strömten über die Wangen. Hätte sie den Buben nur nicht mitgenommen! Andererseits hatte er so lang darum gebettelt, dass sie seinen traurigen Kinderaugen einfach nicht länger hatte widerstehen können. Außerdem wollte sie ihn nicht immer bei ihrer kranken Mutter zurücklassen, wenn sie zum Schachen musste.

Marianna fand keine Spur von seiner Kleidung. Vom Steg aus suchte sie mit Argusaugen den Seegrund ab. Das Abendlicht narrte sie mit allerlei Schatten, doch zum Glück konnte sie dort niemanden ausmachen. Ihr Hansi war nicht am See.

Marianna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und beschloss, wieder zur Schachenalpe hinaufzugehen. Womöglich wartete er ja schon oben auf der Veranda des Küchengebäudes, voller Angst, sie hätte ihn alleingelassen.

Mit jedem Schritt Richtung Königshaus wuchs ihre Hoffnung, den Buben wohlbehalten in ihre Arme schließen zu können. Vielleicht hatten sie sich einfach nur verpasst. Oder Hansi war irgendwo auf einer Wiese eingeschlafen und hatte ihre Rufe nicht gehört.

Die Sonne verschwand hinter dem mächtigen Nordgrat der Alpspitze. Atemlos rannte Marianna am Königshaus vorbei zum Küchengebäude. Schon aus einiger Entfernung konnte sie erkennen, dass niemand auf der Veranda saß.

Sie eilte die Stufen hinauf, riss die Küchentür auf und hoffte, ihn auf der Ofenbank zu finden. Da war er aber auch nicht. Hastig entzündete Marianna alle Lampen, durchsuchte die Kammern des Kochs und der Küchenjungen, schaute unter jedes Bett. Sie brüllte Hansis Namen, lief nach draußen, warf einen ängstlichen Blick in den schummrigen, leeren Stall und in die Remise, wo der Bergwagen des Königs stand. Umsonst.

Voller Sorge lief sie nun zum Königshaus hinauf. Vielleicht hatte er sich ja irgendwo hingelegt und schlief den Schlaf des gerechten, weil hundemüden Gipfelstürmers. Im Königshaus drinnen konnte er nicht sein. Denn noch waren alle Türen und Fensterläden verschlossen. Erst morgen wollte Franz Dengg heraufkommen und aufsperren, damit Marianna auch hier alles auf Hochglanz bringen konnte.

Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, ihren Hansi dabei zu beobachten, wie er zum ersten Mal den Türkischen Saal in der oberen Etage betrat: Was für ein Gesicht würde er machen?

Denn als Marianna den Raum zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr regelrecht die Spucke weggeblieben, was nicht allzu oft vorkam: Seidenbespannte Diwane, schwere Vorhänge, flauschige Teppiche, emaillierte Vasen mit Pfauenwedeln, goldene Räuchergefäße und prunkvolle Kandelaber umgaben einen plätschernden Springbrunnen mit halbmondförmiger Spitze. Und über diesem orientalischen Märchenzauber, der dank bunter Glasfenster in den leuchtendsten Farben schimmerte, wölbte sich eine himmelblaue Zimmerdecke, die mit goldenen Sternen verziert war.

Der Franz hatte damals ausprobiert, ob der Brunnen funktionierte, und Marianna dazugerufen. Als er ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte, konnte er gar nicht mehr aufhören zu lachen. Den Franz hätte sie jetzt dringend an ihrer Seite gebraucht. Er würde ihr beim Suchen helfen.

So wie früher, wenn sie zusammen mit dem Schorschi die Wälder rund um Partenkirchen erkundet hatten. Nicht, dass sie viel Zeit zum Spielen gehabt hätten. Aber wenn, dann waren der Franz, der Schorschi Grieser aus der Bad Gasse und sie unzertrennlich gewesen. Der Schorschi wollte immer der Chef ihrer Rasselbande sein und beschützte sie wie ein großer Bruder – obwohl Marianna drei Jahre älter war als er und viel kräftiger. Die anderen Kinder hatten sie immer aufgezogen und behauptet, er sei in Marianna verliebt, weswegen er eine Rauferei nach der anderen vom Zaun gebrochen hatte. Kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag war der Schorschi plötzlich verschwunden, dreizehn Jahre war das jetzt her.

Sie stöhnte laut. Nachdem Marianna das hölzerne Königshaus mehrfach umrundet und unter den Vordächern der aufgesetzten Veranden und Balkone erfolglos nach Hansi geschaut hatte, verlor sie allen Mut. Ihr Sohn blieb verschwunden. Furchtbare Bilder davon, wie ihr kleiner Sohn hilflos und ganz allein irgendwo zwischen den Felsen lag, quälten sie und umklammerten ihr Herz mit kaltem Griff.

Als es fast schon völlig dunkel war, schleppte sich Marianna mit hängenden Schultern hinunter zum Küchengebäude. Hinter den kleinen Fensterscheiben flackerten die Lichter in der Stube, wie ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit. Ein winziger Leuchtturm inmitten des tödlichen Steinmeers des Wettersteingebirges, in der ihr Bub verschollen blieb. Marianna öffnete die Küchentür, die ihr schwer wie Blei vorkam und trat ein. Sie setzte sich in der Stube neben der Küche auf die knarzende Eckbank – an den Tisch, an dem die Bediensteten ihre Mahlzeiten einnahmen. Hier hatte sie heute mit ihrem Hansi Brotzeit machen wollen.

Jetzt erst entdeckte sie Hansis Rucksack am anderen Ende der Eckbank. Sie stutzte, denn den hatte sie doch auf Hansis Nachtlager im Schlaftrakt gelegt. Hastig nahm sie ihn und öffnete die Riemen. Das rotweiß karierte Kissen und die Trinkflasche waren noch da. Der Spielzeugsoldat fehlte. Marianna wollte den Rucksack schon wieder zumachen, als ihr etwas Merkwürdiges auffiel: Zwischen Kissen und Trinkflasche spitzte eine weiße Ecke Papier hervor. Sie griff danach und zog einen Brief aus dem Rucksack. Wie kommt der da rein?, wunderte sie sich. Sie beugte sich über das leicht vergilbte Kuvert. Es war an »Marianna Rieger« adressiert.

Mit zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag.

Am Gittertor salutierte Johannes Balthasar Heiland zum Abschied. Sein erster Urlaub seit vier Jahren! Die weißen Hosen der beiden Torwachen leuchteten in der morgendlichen Augustsonne. Sie wurden nur vom Glanz des geschwungenen »L« übertrumpft, das golden auf dem schwarzen Grund der Helme prangte – das Monogramm von Prinz Ottos Bruder, König Ludwig II. Im Gegensatz zu Heiland, der Chevauleger, also ein Soldat der leichten Reiterei war, trugen sie blaue Überröcke mit roten Epauletten auf den Schultern. Auch die grünen Überröcke der Chevaulegers zierten rote Epauletten. Doch auf denen der Torwachen war zusätzlich eine goldene Königskrone eingestickt.

Heiland zupfte kurz am Ärmel seiner dunkelgrünen Ausgehuniform. Vor vier Jahren, als er sie zum letzten Mal getragen hatte, war sie noch nicht so eng gewesen.

Entschlossen wandte er sich vom Schloss Fürstenried ab und marschierte Richtung Augustinerstraße.

»Heil, Heiland«, hörte er Müller und Lohmayr, die beiden Wachposten hinter sich grölen. Ihr Spott kam nicht von ungefähr, denn die Chevaulegers galten als Trumpf jeder Armee und hielten sich für etwas Besseres als die einfachen Fußsoldaten. Trotzdem stand es den beiden Burschen nicht zu, sich über ihn lustig zu machen, selbst wenn Heiland schon seit zehn Jahren nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte.

Er wachte über den geistig zerrütteten Prinzen Otto, dem er im Frankreichfeldzug das Leben gerettet hatte. Es war Heiland unangenehm gewesen, zur Belohnung für eine Heldentat, die er nur als soldatische Pflicht betrachtet hatte, von König Ludwig als persönlicher Leibwächter für Otto eingesetzt zu werden. Aber diese Ehre hatte er natürlich nicht ablehnen können.

Nach dem Krieg von 1870/71 hatte sich Ottos Verfassung dramatisch verschlechtert. Anfangs rechnete man mit einer Genesung, sobald die Erlebnisse des Krieges verblasst sein würden. Doch schon bald schwand jede Hoffnung. Angstzustände und Krampfanfälle suchten den Prinzen in regelmäßigen Abständen heim. Als er sich während eines Hochamtes in der gut besuchten Frauenkirche auf die Stufen des Altares warf, um vor der erstaunten Menschenmenge um Vergebung seiner Sünden zu bitten, entschloss sich die königliche Familie, den Prinzen nicht mehr in die Öffentlichkeit zu lassen. Manchmal hatte er seinen Geburtstag noch in den Bergen gefeiert oder seine Mutter im Schloss Hohenschwangau besucht. Doch sein Zustand verschlechterte sich monatlich. Und nun wohnte er in Fürstenried und hatte kaum noch gute Tage. Seine aggressiven Ausbrüche steigerten sich. Außerdem plagten ihn immer beängstigendere Halluzinationen.

Heiland schmerzte es, den Verfall des fast gleichaltrigen Prinzen hautnah miterleben zu müssen. Dabei ähnelte Heilands Alltag eher dem einer uniformierten Gouvernante als dem eines Leibwächters. Er spielte Karten mit dem alt gewordenen Prinzen, ging im Park spazieren und kegelte mit ihm in der mit zahlreichen Hirschgeweihen dekorierten schlosseigenen Bahn. Oder er half den Pflegern, indem er den Prinzen überzeugte, sich morgens von ihnen anziehen zu lassen. Weil König Ludwig II. aber jede Form körperlicher Gewaltanwendung gegen seinen Bruder verboten hatte, gab es Tage, an denen Prinz Otto seinen Pyjama bis zum Schlafengehen nicht auszog.

Es gefiel Heiland, die bedrückende Atmosphäre in Fürstenried nun für zwei Wochen hinter sich lassen zu können. Und er freute sich darauf, Lenz Baumgartner, den Kastellan von Hohenschwangau, zu besuchen. Zusammen mit ihm und der Dienstmagd Klara hatte er vor einigen Jahren einen handfesten Skandal, womöglich sogar den Ausbruch eines Aufstandes in Bayern verhindert. Dabei hatten sie alle ihr Leben riskiert, damit brisante Unterlagen nicht in die falschen Hände gelangten. Sie hatten schwören müssen, niemals mit einer Menschenseele über die Geschehnisse zu sprechen. Doch seither pflegte er einen regen Briefkontakt mit Lenz und jetzt würden sie sich endlich wiedersehen.

Johannes Balthasar Heiland wandte Müller und Lohmayr den Rücken zu und begann durch die Lindenallee zu schlendern, seinen Reisesack über der linken Schulter und die Türme der Münchner Frauenkirche vor Augen. Irgendwann blieb er stehen und nestelte in seiner Jackentasche nach dem Päckchen Zigaretten, besann sich dann aber eines Besseren. Rauchen war für ihn eher Zeitvertreib, nicht Genuss. Schließlich mussten die endlosen Stunden des Wartens ja irgendwie gefüllt werden. Außerdem rauchte er nur, weil es seine Kameraden auch taten, ebenso wie die königliche Hoheit, mit der er so viele Stunden verbrachte.

Heiland zog die Zigaretten aus der Tasche und stopfte sie ganz tief in seinen Reisesack. Er nahm sich vor, sie spätestens am Bahnhof wegzuwerfen. Er schaute ein letztes Mal zum Schloss, um dann zügig voranzuschreiten, in der Hoffnung, von einem Fuhrwerk mitgenommen zu werden. Andernfalls würde er geschlagene zwei Stunden Fußweg bis zum Münchner Hauptbahnhof vor sich haben.

 

♔♔

 

Es war Freitagmittag geworden, bis sie endlich zum Aufbruch bereit waren. Drei Tage und drei Nächte hatten sie auf dem Tegelberg verbracht. Jetzt räumten die Bediensteten Paul Lieb und Friedrich Vogelsang alles für den Umzug ins Tal zusammen. Der König wollte zurück nach Schloss Hohenschwangau, von dort aus bei der Neuen Burg vorbeischauen und spätestens gegen zehn Uhr abends nach Linderhof weiterfahren.

Der Marstallfourier Karl Hesselschwerdt hatte ihnen hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, der König wolle dem »Oberst des 3. Infanterieregiments« aus dem Weg gehen. So nannte Ludwig II. seine Mutter, wenn er Differenzen mit ihr hatte. Die Königinmutter plante, ihre Zelte am Samstagabend in Hohenschwangau aufzuschlagen.

Paul Lieb konnte Hesselschwerdt nicht leiden, seit der versuchte, sich die Position von Stallmeister Richard Hornig als engstem Vertrauten des Königs unter den Nagel zu reißen, um damit quasi zum Privatsekretär von Ludwig II. aufzusteigen.

»Der Karl meint wohl, er ist was Besseres«, raunte ihm Friedrich ins Ohr.

Sie schlossen den Deckel der letzten Packtruhe mit den Bettlaken und Kissenbezügen. Friedrich Vogelsang war sein bester Kamerad. Sie beide waren von Richard Hornig in den Dienst beim König geholt worden. Das war jetzt ungefähr zwei Jahre her. Seitdem hatte sich einiges verändert.

»Geht das nicht schneller?«, rief Hesselschwerdt zu ihnen ins Jagdhaus hinein und zurrte eine Satteltasche fest. Als einer der wichtigsten Männer der königlichen Hofhaltung beaufsichtigte Hesselschwerdt, wie die Pferde vor dem Jagdhaus am Tegelberg bepackt wurden. »Etwas mehr Tempo!«, kommandierte er.

Der König war schon mit seinem Kammerdiener Lorenz Mayr vorausgeritten, um auf halber Strecke, an der Ahornhütte, wo der Weg breiter wurde, den Pferderücken gegen seinen einspännigen Bergwagen einzutauschen.

»Der Hesselschwerdt hat bloß Angst, dass er was verpasst, wenn der Mayr mit Seiner Majestät allein ist«, spottete Friedrich leise und hob die Truhe an. Paul packte den anderen Griff, dann gingen sie seitlich durch die schmale Hüttentür hinaus ins Freie. Paul blieb keine Zeit, die majestätische Aussicht über die Tannheimer Gipfel im Westen und die saftig grünen Flussauen des Lechs im Norden zu genießen. Denn Hesselschwerdt drängte sie zum Reitweg.

»Lasst den Kutscher nicht warten. Er muss vor Anbruch der Dunkelheit wieder im Schloss sein, um den großen Wagen für die Abreise nach Linderhof fertig zu machen«, schnauzte er sie an und stieg auf seinen voll bepackten Wallach.

»Das hätte es beim Richard nicht gegeben. Wir sind Soldaten, keine Packesel!«, beklagte sich Paul leise.

Ohne die beiden weiter zu beachten, ritt Karl Hesselschwerdt los, an der kleinen Gesindehütte vorbei, die unweit des Jagdhauses stand.

»Wir sind ja gleich unten, dann sind wir das schwere Trumm los«, tröstete Friedrich seinen Freund.

An der Ahornhütte luden sie die Truhe auf einen Fourgon, einen Packwagen.

»Lass uns noch eine Pris’ nehmen«, schlug Paul vor. Er zog eine silberne Schnupftabakdose aus der Hosentasche.

Ohne Zögern streckte Friedrich ihm seinen Handrücken entgegen.

»Bloß nicht so sparsam, Bürscherl.«

»Immer langsam, die ist fast leer. Wir haben in den letzten Tagen geschnupft wie die Appenzeller«, bremste Paul.

Trotzdem streute er seinem Freund eine ordentliche Prise auf die Mulde zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Wohl bekomm’s. Auf den Richard! Die Dose hab ich von ihm geschenkt bekommen.«

Friedrich teilte das Häuflein, sog den Schnupftabak in beide Nasenlöcher ein, kräuselte die Nasenflügel, riss die Augen weit auf und nieste so laut, dass es Paul vorkam, als würde ein mehrfaches Echo zwischen den Gipfeln des Branderschrofens und des Straußberges hin und her geworfen werden.

Vor ein paar Tagen hatten Paul und Friedrich eine Schimpftirade mitbekommen, die aus dem Arbeitszimmer des Königs deutlich zu hören gewesen war. Offensichtlich hatte Richard Hornig seinem Herrn geschrieben, dass die Termine für den Umbau des Schlafzimmers in Linderhof und die Fertigstellung des Hubertus-Pavillons in der Nähe von Linderhof nicht eingehalten werden könnten. Denn die königliche Kasse sei leer, und die Unternehmer weigerten sich, weiter in Vorleistung zu gehen.

Osterholzer, einer der Leibkutscher des Königs, hatte ihnen dann später erzählt, dass der König den Hornig deshalb nicht mehr sehen wollte und über dessen Versetzung nachdachte.

Schon kurz nach ihrem Dienstantritt waren sie ungewollt Zeugen einer Auseinandersetzung zwischen dem König und Hornig geworden. Bei einer Baustellenbesichtigung des Neuen Schlosses auf der Herreninsel folgten sie den beiden in gebührendem Abstand. Plötzlich fing der König an, mit seinem Regenschirm so heftig auf den Stuck eines unfertigen Treppenhauses einzudreschen, dass die Verzierungen zu Bruch gingen.

»Alles Schwindel! Ich wollte echten Marmor, keinen Gips«, brüllte er Hornig an und trampelte wütend auf den Bruchstücken herum. Friedrich und Paul hatten sich umgehend in eines der hinteren Zimmer zurückgezogen und den Rest der Szene nicht mehr mitbekommen. Als sie abends im Alten Schloss ihre Posten im Vorzimmer bezogen, weihte Hornig sie in die Hintergründe ein: Um die königliche Kabinettskasse war es schon lange schlecht bestellt. Deshalb wurde gespart, wo es nur ging. Oder die Arbeiten verzögerten sich. Und der König machte seinen Stallmeister für die finanzielle Misere verantwortlich.

Danach hielten sie Osterholzers Einschätzung zum Abgang von Hornig für realistisch. Paul bedauerte die sich anbahnende Entscheidung des Königs von ganzem Herzen. Denn Richard Hornig hatte ihn vor einer Versetzung nach Aschaffenburg bewahrt, wohin er als eingefleischter Oberbayer auf gar keinen Fall wollte. Außerdem hatte Hornig ermöglicht, dass Paul gemeinsam mit seinem Kameraden Friedrich an den Hof Ludwigs II. berufen wurde. Dafür war Paul dem Stallmeister zutiefst dankbar. Dass man die königlichen Lakaien immer öfter bei der Armee rekrutierte, weil man angeblich kein reguläres Personal für den Dienst beim König mehr fand, spielte für Friedrich keine Rolle.

Hornig erklärte ihnen, dass der König Anschläge auf sein Leben fürchte und sich deshalb mit Soldaten als Lakaien umgab. Allerdings war der Dienst kein Zuckerschlecken. Denn Ludwig II. reiste von einem Schloss zum anderen, wechselte zwischen abgelegenen Berghütten hin und her und hatte seine Geschäftigkeit komplett in die Nacht verlegt. Manchmal fiel es Paul schwer, seine Augen offen zu halten. Stundenlang musste er zu nachtschlafender Zeit vor den Räumen des Königs warten, während der in Baupläne oder in eine Lektüre vertieft war. Richard Hornig hatte schützend seine Hand über die einfache Mannschaft gehalten. Hesselschwerdt dagegen kümmerte sich nicht um ihre Befindlichkeiten. Er versuchte, sich auf Teufel komm raus beim König einzuschmeicheln. Das regte Paul Lieb noch mehr auf als die geplante vollständige Entfernung von Richard Hornig aus dem Umkreis des Königs.

»Auf geht’s«, rief er Friedrich zu, fuhr mit dem Handrücken über seinen dünnen, hellblonden Oberlippenbart und steckte die Schnupftabakdose wieder in die Hosentasche zurück. Er fasste nach dem Griff der Truhe. »Im Gegensatz zum Schachen wird das ja eher ein Spaziergang. Hoffentlich haben die anderen das ganze Zeug schon oben, bis wir angekommen sind.«

»Es ist ja noch Zeit bis Montag. Da sollten sie das meiste geschafft haben«, erwiderte Friedrich und packte auch zu.

»Täusche ich mich oder werden die Abstände zwischen den Quartierwechseln in letzter Zeit kürzer?«

Paul zuckte mit den Schultern. »Mich wundert gar nichts mehr.«

Sie wuchteten die Truhe gemeinsam in die Höhe und stiegen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, zur Ahornhütte ab.

 

♔♔

 

Lenz, der Kastellan in Hohenschwangau, kümmerte sich außer um das Alte Schloss auch um die Neue Burg. Die wuchs seit gut sechzehn Jahren gegenüber des Alten Schlosses in die Höhe. Er war also gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen, als mit dem Bau begonnen worden war. Der Neubau spielte eigentlich schon fast sein ganzes Leben eine wichtige Rolle, nicht zuletzt, weil sein Vater dort bis zu seinem überraschenden Tod vor ein paar Jahren als Bauarbeiter tätig gewesen war.

Dorthin war er jetzt unterwegs, weil der König einen überraschenden Besuch angekündigt hatte.

»Er will sich heute Nacht nochmal den Thronsaal anschauen«, hatte Hesselschwerdt zu Lenz gesagt. »Warte in der Nähe des Telefonapparats, damit ich dir rechtzeitig Bescheid geben kann. Beeile dich mit dem Anzünden der Kerzen. Außer die Maler sind noch am Werk, dann müsste es ja ausreichend Licht geben. Du musst sie aber alle wegschicken, sobald der Apparat klingelt.«

Lenz war schon gespannt, was Hauschild sagen würde, wenn er von der überraschenden Stippvisite des Bauherrn erfuhr.

Es war noch nicht lange her, da hatte Ludwig II. zwei Wochen probehalber im Palas, dem Hauptgebäude der Neuen Burg gewohnt. In dieser Zeit mussten alle Arbeiten ruhen. Und Hauschild, der Maler, hatte sich beschwert, weil er sowieso schon hinter dem Zeitplan lag und ständig vom König gedrängt wurde, schneller zu arbeiten. Um die Vorgaben des Auftraggebers wenigstens ansatzweise zu erfüllen, blieb ihm und seinen Gehilfen nichts anderes übrig, als Tag und Nacht zu arbeiten.

Lenz konnte sich lebhaft vorstellen, wie der bärtige Künstler seinen Pinsel in die Ecke schleudern und missmutig davonstapfen würde, wenn der Telefonapparat im Raum neben dem Thronsaal läutete, um den heutigen Besuch des Königs anzukündigen.

Lenz sperrte das große Portal auf und sagte bei der Torwache Bescheid. Die Wachstube war immer noch die gleiche wie damals, als er, der blutjunge Kastellansgehilfe, zum ersten Mal auf Johannes Balthasar Heiland getroffen war.

Er hatte sich bei ihm melden sollen, um den Aufenthalt des Königs in der kleinen Wohnung im Dachgeschoss des Torbaus vorzubereiten. »Bei Tag und bei Nacht die Treue stets wacht« mahnte die Inschrift über dem kleinen Portal, hinter dem die Wachsoldaten ihren Aufenthaltsraum hatten. Jedes Mal, wenn er daran vorbei lief, musste er unweigerlich an Heiland denken. Lenz durchquerte den Burghof und steuerte auf die Freitreppe zum oberen Hof zu. Auch hier übermannte ihn die Erinnerung an die Ereignisse von damals. Er dachte an das geheime Verlies im Keller des Torbaus. Dort unten wäre der angeschossene Heiland beinahe verblutet, wenn ihm Klara nicht geholfen hätte.

Beim Gedanken an Klara wurde Lenz traurig. In Windeseile stürmte er die breiten Stufen der Treppe hinauf, in der Hoffnung, den Geistern der Vergangenheit zu entkommen. Wie immer, wenn er die Treppe benutzte, versuchte er die Marienbrücke zu ignorieren, die sich über die Pöllatschlucht spannte. Die abenteuerliche Eisenkonstruktion zog jeden in Bann, der die Stufen zum oberen Hof hinaufstieg. Der Wasserfall in der Pöllatschlucht führte jetzt nur wenig Wasser, weil es wegen einer spätsommerlichen Hitzewelle schon lang nicht mehr geregnet hatte. Das war im Frühjahr vor zehn Jahren ganz anders gewesen. Zu jener Zeit rauschten wegen der einsetzenden Schneeschmelze gewaltige Wassermassen ins Tal.

Lenz legte nochmals einen Zahn zu. Angesichts der schwindelnden Höhe wurde ihm übel. Dazu trugen auch die Erinnerungen an Klara bei. Er war unsterblich in Klara verliebt gewesen. Jetzt sprintete Lenz quer über den Hof, vorbei an den zwei kleinen Bauhütten und den Schienen für die Materialwagen. Als er die zweite Freitreppe erreichte, die zum Eingang des Palas hinaufführte, wurde er langsamer. Lenz blieb kurz stehen, um durchzuatmen.

Inzwischen gewann die Dämmerung langsam die Oberhand. Die Berggipfel rund um die Neue Burg glühten hellrot und die Burgmauern tauschten ihren weißen Glanz gegen ein rötliches Schimmern ein.

Lenz musste noch die Freitreppe hoch, dann durch den langen Korridor mit dem Holzplankenboden und an den Dienerschaftsräumen vorbei bis zur großen Wendeltreppe. Über diese Stiege kam man in den dritten Stock. Vor knapp einem Jahr hatte der König erstmals seine Räume im Palast bewohnt. Seither arbeitete man mit Hochdruck am Thronsaal, damit dort mit den Wandgemälden begonnen werden konnte.

Lenz bewunderte die Künstler. Wilhelm Hauschild, der mit einer Handvoll Hilfsmalern die kahlen Wände der Neuen Burg mit buntem Leben schmückte, war nur einer von ihnen. Teilweise arbeiteten sie im Liegen auf klapprigen Holzgerüsten. Sie mussten immer wieder herabsteigen, um ihre Arbeit aus der Ferne begutachten zu können.

Die Gedanken an die Künstler wurden durch die Erwartung von Heilands Besuch verdrängt. Er hatte den Soldaten seit damals nicht mehr gesehen. Es fühlte sich an, als käme ein alter Freund zu Besuch. Sie schrieben sich regelmäßig Briefe, nicht nur zu Geburtstagen oder an Weihnachten, und berichteten einander von allen möglichen Ereignissen. Sie tauschten auch ihre persönlichsten Gedanken aus. Lenz wusste von Heilands Sorge wegen der Verschlechterung von Prinz Ottos Gesundheitszustand. Er kannte Heilands Ängste, als einsamer Mann zu sterben, weil sich sein ganzes Leben ausschließlich an der Seite des kranken Prinzen abspielte. Und er wusste, dass Heiland das ewige Warten vor einer verschlossenen Zimmertür mürbe machte. Es hatte zehn Jahre gedauert, bis sie ihr Wiedersehen in die Tat umsetzten. Lenz konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wer von beiden die Idee gehabt hatte. Heute Abend war es nun aber endlich soweit. Sie würden sich bei seiner Mutter treffen, die in Füssen wohnte. Bei ihr konnte Heiland für die nächsten Tage ein Zimmer beziehen.

Doch die unvorhergesehene Stippvisite des Königs in der Neuen Burg wirbelte seine diesbezüglichen Pläne gehörig durcheinander. Heiland und er würden sich wohl erst spät in der Nacht sehen können. Oder morgen beim Frühstück. Der Soldat war nach der langen Reise bestimmt hundemüde und würde nicht ewig auf ihn warten. Lenz konnte nicht genau sagen, ob er sich auf das Wiedersehen freute oder ob ihm eher mulmig war. Er fürchtete, dass ihn seine Gefühle übermannen würden. Es war viel passiert seit ihrer letzten Begegnung.

Als Lenz die Wendeltreppe im großen Turm betrat, hörte er Stimmen von oben. Sie wurden von Stufe zu Stufe lauter. Die Künstler waren also noch am Werk. Durch die halbrunden Bleiglasfenster des Turms sah er die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Die Wiesen und bewaldeten Hügel rundum leuchteten an dem Spätsommertag ein letztes Mal in einem kräftigen Grün auf. In den kunstvoll verzierten eisernen Laternen, die in regelmäßigen Abständen an der Mittelsäule der Treppe angebracht waren, flackerten dicke Kerzen. Die Maler hatten also bereits für Licht gesorgt. Normalerweise blieb Lenz gern im Treppenhaus stehen, um die Lampen genauer zu betrachten. Jede war ähnlich gearbeitet und mit einer langen Kette versehen, an der sie hoch- und runtergezogen werden konnte. Besonders hübsch waren die schmiedeeisernen Wandhalterungen, die kunstvoll gearbeitete Drachenwesen darstellten. Heute hatte Lenz allerdings keine Zeit, die Laternen zu bewundern. Denn er hörte schon auf halbem Weg die Glocke des Telefonapparats läuten. Im selben Moment erstarben die Stimmen. Lenz beeilte sich und nahm zwei Stufen auf einmal. Jetzt musste er schnell sein. Sonst würde Hauschild ob des Klingelns die Fassung verlieren und Karl Hesselschwerdt wieder einen Grund haben, Lenz zur Minna zu machen. Er verdrängte Heilands Besuch, um ja keine Zeit zu verlieren.

Seit Marianna den Brief gelesen hatte, fühlte sie sich völlig hilflos.

»Wo bleibt mein Tuch?«, fragte Franz Dengg.

Sie stand regungslos vor dem Herd und starrte wie hypnotisiert in den Topf mit der dampfenden Kartoffelsuppe.

»Marianna, mein Tuch«, rief er nochmals.

Seine Worte drangen wie durch Watte gedämpft an ihr Ohr. Sie wollte sich bewegen, schaffte es aber nicht. Erst als ihr der Franz von hinten auf die Schulter tippte, wich die Steifheit aus ihren Gliedern.

»Entschuldige, ich hol dir sofort dein Tuch«, murmelte sie.

Er war am frühen Morgen mit einem großen Fass Bier auf der Rückenkraxe über das Oberreintal aufgestiegen und hatte den Schachen gegen Mittag erreicht. Die Strapazen merkte Marianna dem hageren Burschen mit dem Vollbart aber kaum an. Wie immer war er schnurstracks zum Brunnen neben der Alm gelaufen, hatte sich mit beiden Händen das eiskalte Wasser ins verschwitzte Gesicht geklatscht, und unter normalen Umständen hätte ihm Marianna dann ein frisches Tuch zum Abtrocknen entgegengestreckt. Das war in den vergangenen Jahren fast schon ein Ritual geworden.

»Ich bin gleich da«, sagte sie, sah den Franz aber nicht an. Denn sie fürchtete, gleich in Tränen auszubrechen.

»Ich hab geschwitzt wie ein Ochs«, brummte Franz.

Er stellte seinen mannshohen Hirtenstock neben den Herd und fragte: »Hast du den Hansi gesehen? Der saust bestimmt noch draußen rum, oder? Bei dem herrlichen Wetter.«

Marianna biss sich auf die Lippen, blieb eine Antwort schuldig und stürmte stattdessen in die Kammer nebenan, um ein Tuch aus dem Wäscheschrank zu holen. Sie hoffte, währenddessen ihre Fassung wiederzufinden.

»Ich nehm’ mir einen Teller Suppe«, rief Franz aus der Küche.

»Wie lange bleibst du da?«, versuchte sie ihn von seiner Frage abzulenken.

»Ich dreh nur noch das Wasser im Schloss auf«, sagte er, kaum verständlich, zwischen zwei Löffeln Suppe. »Der Hansi kann mir ja helfen.«

Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, zog dann eines der blütenweißen Tücher aus dem Schrank und holte tief Luft.

»Der Hansi ist zu Hause geblieben«, rief sie in die Küche. »Er hat Fieber«, log sie mit brüchiger Stimme.

Franz reagierte nicht. Aus der Küche drang nur lautes Schlürfen und Löffelgeklapper. Jetzt sag was, dachte Marianna. Bestimmt wusste der Franz von den anderen Trägern, dass sie gestern mit dem Hansi hier heroben gewesen war. Das Lügen fiel ihr von jeher schwer. Es war schon immer furchtbar für sie gewesen, dass sie wegen Hansis leiblichem Vater schwindeln musste. Weil sie den Mann nicht heiraten konnte, hatte ihre Familie einem Besenmacher das kleine Vermögen von zwanzig Goldmark gezahlt, damit er sich als Vater des Buben ins Geburtenregister eintragen ließ. Mariannas Vater reiste mit ihr sogar nach München, damit der Eintrag im Standesamt der Hauptstadt rechtswirksam beglaubigt wurde. Der Besenmacher dachte allerdings gar nicht daran, in die ihm zugewiesene Rolle zu schlüpfen, und haute das schöne Geld auf den Kopf. Die Eltern verbreiteten im Dorf das Gerücht, er habe Marianna verlassen, weil er nicht für sie und das Kind sorgen wollte. So stand sie als geschwängerte und verlassene Frau da. Viele Nächte hatte sie wegen dieser Geschichte wachgelegen, und nun hatten Unholde ihr auch noch das Kind geraubt.

Sie reichte Franz das Tuch. Der tupfte sich das Gesicht ab und verließ dabei die Hütte, wohl um zum Schloss hinaufzugehen. Marianna spülte in der Zwischenzeit ab, setzte sich erschöpft auf die Eckbank und suchte mit angehaltenem Atem nach der kleinen Ampulle, die sie in der Tasche ihrer weißen Schürze wusste. Sie zog das gläserne Fläschchen so vorsichtig heraus, als handle es sich um ein rohes Ei, hielt es sich vor die Augen und fixierte die darin eingeschlossene Flüssigkeit. Ungläubigkeit, Angst und Übelkeit stiegen in ihr auf.

Sie starrte dermaßen gebannt auf die Ampulle, dass sie erst im letzten Moment hörte, wie jemand die Küchentür öffnete. Es gelang ihr gerade noch, ihre Hand samt Ampulle unter ihrer Schürze verschwinden zu lassen. Schon wieder der Franz! Auch wenn sie ihn mochte und sie sich früher um ihn gekümmert hatte, als er noch ein kleiner Bub gewesen war, wünschte sie sich jetzt, dass er endlich verschwinden würde.

»Fehlt dir was? Du bist so blass um die Nase«, fragte der Franz, und schob – ohne auf eine Antwort zu warten – hinterher: »Kannst du mir bitte den Stock geben?«

Marianna rutschte auf der Bank in die Zimmerecke, griff nach dem Hirtenstock und war sorgsam darauf bedacht, die Ampulle, die sie noch immer vorsichtig in der Hand hielt, ja nicht fallenzulassen. Sie schwitzte.

»Ich lass’ dich jetzt allein. Wir sehen uns morgen Abend wieder. Dann bring ich mit den anderen die Getränke herauf«, sagte er. »Denn der Herr selbst ist ja erst für den Montag angekündigt.«

Mit »der Herr« meinte Franz den König. Marianna stand auf, um Franz den Stock zu reichen, und spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie hielt ihm den Hirtenstock hin, und er riss ihn ihr so ungestüm aus der Hand, dass sie ins Schwanken kam und reflexartig die Hand mit der Ampulle unter der Schürze hervorzog, um sich abzustützen. Schon spürte sie die brennende Flüssigkeit in ihrer Handfläche. Das war’s, schoss es ihr durch den Kopf.

»Hoffentlich geht’s dir morgen besser«, sagte Franz. Er bemühte sich, besorgt zu klingen, und zwinkerte ihr aufmunternd zu: »Gute Nacht.«

Beim Rausgehen schnappte er sich die leere Kraxe auf der Veranda und verschwand viel zu langsam aus ihrem Sichtfeld.

Ängstlich stierte Marianna auf ihre geschlossene Faust. Sie wagte es nicht, die Umklammerung zu lösen.

Das ist der Lohn für meine Sünden, hämmerte es in ihrem Kopf. Irgendwann musste sie der liebe Gott zur Rechenschaft ziehen. Millimeterweise öffnete sie die Faust. Die Ampulle war überhaupt nicht zerbrochen, sondern nach wie vor ganz. Marianna hatte ihren eigenen Handschweiß für die ausgelaufene, giftige Substanz gehalten.

Sie setzte sich wieder auf die Eckbank, legte die Ampulle behutsam auf den Tisch und zog aus der anderen Schürzentasche den Brief heraus. Ehrfürchtig glättete sie das zerknitterte Papier. Rechts oben prangte ein Tintenfleck. Marianna las die erste Zeile. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Wir haben deinen Sohn! Wenn du ihn unversehrt wieder möchtest, befolge die Anweisungen ...«

Marianna konnte nicht weiterlesen. Ihre Tränen tropften auf das Papier. Sie legte den Brief zur Seite, zog ein Büschel schwarzer Haare aus dem Umschlag und roch daran. Es waren eindeutig die von ihrem Sohn. Der Gedanke, wie viel Angst er jetzt gerade haben musste, brachte sie beinahe um den Verstand.

 

♔♔

 

Jede Nacht wurde Max Schöffl vom selben Albtraum heimgesucht. Und jedes Mal erstickte er von Neuem. Er lag auf dem Rücken, starrte in den blauen Himmel und spürte, wie ihm der kalte Schlamm über die Stirn in Augen und Nase lief. Zu keiner Bewegung fähig, musste er erdulden, wie die zähe Masse seinen Mundraum füllte und dann seinen Rachen hinabrann. Das strahlende Blau des Himmels wurde von bräunlichen Schlieren durchzogen. Der Schlamm verstopfte seine Luftröhre. Er spürte einen unbändigen Brechreiz, wollte den erdigen Brei ausspucken. Stattdessen rutschte der immer weiter hinunter. Der Himmel verfinsterte sich. Schließlich blieb ihm die Luft weg. Mund und Nase fühlten sich so zu an, als säße jemand auf seinem Gesicht. Max Schöffl wusste, dass er dabei war, bei vollem Bewusstsein zu ersticken. Manchmal wachte er genau in diesem Moment schweißgebadet auf. Hin und wieder glaubte er sogar im Traum, nicht mehr aufwachen zu können. Das fand er jedes Mal aufs Neue schockierend. Wenn er Glück hatte, schreckten die Schreie seine Mutter hoch, die ihn dann voller Mitgefühl aufweckte. Trotzdem dauerte es stets eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Das Gefühl der Hilflosigkeit begleitete ihn bis in die Morgenstunden. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Max war eines von sieben Kindern der Familie Schöffl. Neben den Eltern, zwei Brüdern und vier Schwestern lebte auch eine Großmutter in dem Haus in Horn bei Füssen. Max war der Jüngste. Sein Vater arbeitete als Jagd- und Forstgehilfe für den königlichen Forstmeister Caspar Engstler. Er musste bei Hofjagden den Herrschaften das Wild vor die Flinte treiben. Auch die Bergung der geschossenen Tiere gehörte zu seinen Aufgaben. Manchmal lag das Wild in kaum zugänglichen Schluchten oder an Steilhängen. Mit seinem Verdienst konnte der Vater die Großfamilie aber nicht ernähren, zumal er für das erlegte Wild, das er im Jagdhaus ablieferte, in der Regel mit Naturalien bezahlt wurde, bevorzugt mit Innereien wie Rehleber.

Die Jagdgesellschaften waren in letzter Zeit seltener geworden. Es hieß, der König habe für das Waidwerk nichts übrig. Deshalb bewirtschaftete die Familie von Max auch einen kleinen Hof außerhalb von Schwangau. Obwohl die jahrzehntelange harte Arbeit dem Vater körperlich zugesetzt hatte, jammerte er nie. Aber man konnte ihm anmerken, dass ihn jede Bewegung schmerzte.

Zum Glück betrieb Cornelius, der jüngere Bruder von Max’ Mutter, eine kleine Zimmerei ganz in der Nähe. Ab und zu hatte Max dort mithelfen dürfen, um zusätzliches Geld für die Familienkasse zu verdienen. Bis zu dem Unglückstag.