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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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Mandy Tröger

Pressefrühling und Profit.

Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten

Köln: Halem, 2019

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© 2019 by Herbert von Halem Verlag, Köln

ISBN (Print)   978-3-86962-474-7

ISBN (PDF)     978-3-86962-475-4

eISBN 978-3-86962-511-9

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SATZ: Herbert von Halem Verlag

LEKTORAT: Vera Belowski, Rüdiger Steiner

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

GESTALTUNG: Claudia Ott Grafischer Entwurf, Düsseldorf

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Mandy Tröger

Pressefrühling und Profit

Wie westdeutsche Verlage 1989/1990
den Osten eroberten

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DANK

»Auch wenn der Akt des Schreibens einsam ist, ist dessen Resultat die Arbeit vieler.« Das gab mir Prof. Dan Schiller am Anfang meines Doktorstudiums an der Universität Illinois mit auf den Weg. Dieses Buch ist Beweis dafür, dass er Recht hatte: Viele Menschen hatten Anteil am langen Prozess des Forschens und Schreibens. Mein Versuch des Dankes kann daher nur unvollständig bleiben.

Seit Beginn meiner Wissenschaftslaufbahn habe ich an Institutionen gearbeitet, in denen mir intellektueller Freiraum, kollegiale Unterstützung und die nötigen finanziellen Mittel zugutekamen. Auch in der Wissenschaft ist das nicht selbstverständlich. Dafür gebührt dem Institute of Communications Research (ICR) der Universität Illinois (UIUC), dem Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Lehrbereich von Michael Meyen der LMU München mein tiefer Dank. Der daraus erwachsenen Verantwortung soll mit diesem Buch ein erster Tribut gezollt werden.

Am ICR war es vor allem mein Doktoranden-Komitee, das mich auf verschiedenste Weise unterstützte: mein Betreuer, John Nerone, der mir den Raum gab, selbst herauszufinden, was und wohin ich wollte; Robert McChesney, der mich verstehen ließ, dass Forschung nicht dem Selbstzweck dient, sondern sozialer Verantwortung geschuldet ist; Inger Stole, eine der wenigen kritischen politischen Ökonominnen. Ihre Lehre und aktivistische Arbeit sind mir Vorbild; und Dan Schiller, ein Wissenschaftler, der mich wieder an die Wissenschaft hat glauben lassen. Sie alle haben mich darin bestärkt, an meinen Überzeugungen festzuhalten. Dank auch an Angharad Valdivia, die sich während meiner Zeit am ICR als dessen Direktorin mit voller Energie für strukturelle Sicherheiten einsetzte.

Dem Studienwerk der Böll-Stiftung danke ich für das Promotionsstipendium nach meiner Rückkehr aus Illinois. Ohne die finanzielle Förderung hätte ich nicht so forschen können, wie es nötig gewesen ist, und ohne die ideelle Förderung wäre ich an mir selbst gescheitert. Das Stipendium gab mir Raum und Zeit für intensive Archivarbeit, für die ich vor allem den Archivaren der Stiftungsarchive danken möchte. Ohne ihr Wissen und Engagement wären mir viele Informationen verborgen geblieben. Dank auch allen Interviewpartnern für ihre Zeit und Mitarbeit, hier vor allem Hans-Jürgen Niehof, Gottfried Müller und Wolfgang Spickermann, die mir Zugang zu ihren Privatarchiven gaben und nicht müde wurden, meine Fragen zu beantworten.

Dem Lehrbereich Meyen gilt mein Dank für die Möglichkeit, nun als promovierte Kommunikationswissenschaftlerin historisch und in kritischer Tradition in Deutschland arbeiten zu können, den Lehrstuhl-Mitarbeitern für Beistand und Hilfestellung (hier stellvertretend genannt Kerem Schamberger und Julia Traunspurger, die mir Obdach gewährten) und Michael Meyen. Diesem möchte ich besonders danken: für das Vertrauen in meine Arbeit und die stete Unterstützung, lang aus der Ferne, nun aus der Nähe, durch Gespräche und Zeit; konkret aber für die letzten Wochen, in denen er mir den Raum gab, dieses Buch zu schreiben.

Dank auch an Herbert von Halem für das Angebot, mein Buch in seinem Verlag veröffentlichen zu dürfen, und meinem Lektor Rüdiger Steiner für die Arbeit, die es brauchte, um das so schnell zu schaffen; zudem dem Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft, das mir seit meiner Rückkehr aus den USA einen vertrauten Hafen kritischen Denkens bietet, und hier besonders Dr. Uwe Krüger, der mich seither mit Ideen und konstruktiver Kritik unterstützt. Für inhaltliches Feedback danke ich außerdem Konrad Dussel, Hans-Jürgen Niehof und Joachim Nölte, letzterem vor allem für die zusätzliche Lektürearbeit. In den USA hat außerdem meine dreijährige Arbeit im Education Justice Project (EJP) mein Denken über systemische Ungleichheiten stark beeinflusst. Daher Dank an jeden, mit dem ich innerhalb dieses Projektes (vor allem im Gefängnis) zusammenarbeiten durfte.

Es bedurfte aber meiner Freunde außerhalb der Wissenschaft, den langen Prozess des Studiums, Forschens und Schreibens gesund zu überstehen. Auf der Welt verstreut, haben sie mich immer wieder daran erinnert, dass es mehr und Wichtigeres gibt im Leben. Daher Dank an Oscarine de Vonk in Amsterdam, Marcus Voigt in Berlin und Caroline Stachura in Augsburg, langjährige Begleiter, die meine verschiedenen Leben geteilt und mich stets unterstützt haben. Besonderen Dank auch an die ganze »Urbana-Community,« stellvertretend hier Miriam Larson, Matt Turino & Co., Adrienne Bauer & Co. und Aimee Rickmann & Co. für fünf Jahre kleiner großer Momente. Dank auch an Amy Bird, Doug Bland und Ursula Goode in Phoenix, von denen ich mehr über das Leben gelernt habe, als ich das aus Büchern je könnte. Auf verschiedene Weise unterstützt haben mich auch Juliane Baruck, die Familie Nölte, und die ganze Familie Veramendi in den USA und Spanien.

Letztlich ist es aber meine eigene Familie, der ich verdanke, dass ich nicht vergesse, wo ich herkomme. Sie hält mich davon ab, dem Irrglauben zu verfallen, die Welt der Wissenschaft sei die wahre. Tiefen Dank also an Gabriele Tröger, Nina Tröger & Co. und Kalle Fordan. Sie haben mich immer meinen eigenen Weg gehen lassen und standen auch dann hinter mir, wenn sie selbst einen anderen gegangen wären. Und ›last but not least‹ wäre nichts von alldem möglich ohne die tagtägliche Unterstützung meines Mannes und ›number one fan‹ Gregory Veramendi. Er bestärkt mich, das zu tun, woran ich glaube und kam mit mir in ein Land, dessen Sprache er nicht spricht.

Und trotz dieses Dankes an viele gilt jedwede Kritik an diesem Buch mir allein.

INHALT

DANK

INSTITUTIONEN UND ABKÜRZUNGEN

ZEITTAFEL

VORWORT

EINLEITUNG

1.LITERATUR- UND QUELLENLAGE

1.1Probleme

1.2Literatur

1.3Quellen und Methoden

1.3.1Archive und Interviews

1.3.2Zeitungen als Quellen?

1.4Sprache

2.DIE PRESSE-WENDE 1989/1990

2.1Die DDR-Presselandschaft – Monopol der Politik

2.1.1Der Postzeitungsvertrieb und die Lizenzen

2.1.2Zeitungen und Parteien

2.1.3KSZE-Treffen und Presseimporte

2.2Der Presse-Herbst 1989

2.2.1Frühe medienpolitische Abkommen und Reformen

2.2.2Der Medienkontrollrat

2.3Die Wende-Presse

2.3.1Das Ministerium für Medienpolitik

2.3.2Der Volkskammer-Ausschuss für Presse und Medien und der ›Preiskrieg‹

2.3.3Das ungewollte Mediengesetz – Etablierte Strukturen und der freie Markt

2.3.4Medienfreiheit und die Kompetenzen künftiger Länder

2.4Neue Monopole in der Wirtschaft

3.DER PRESSEVERTRIEB ALS ›HINTERTÜR‹

3.1Fragen des Imports: Die DDR-Konzepte

3.1.1Die ›Konzeption zur Einführung westlicher Presseerzeugnisse in die DDR‹

3.2Die frühe Lobbyarbeit der Großverlage

3.2.1Heinrich Bauer

3.2.2Springer

3.2.3Fazit

3.3Verlagsgespräche: ›Konkurrenz ausnutzen‹

3.3.1Bauer und Gruner+Jahr

3.3.2Springer und Burda

3.3.3Fazit

3.4Konsolidierte Verlagsinteressen: Die ›Großen Vier‹

3.4.1Konzept zur (eingeschränkten) umfassenden Versorgung

3.4.2Die DDR-Seite: »Festlegung ist nötig«

3.4.3Fazit

3.5Die ›Geheimverhandlungen‹ der ›Großen Vier‹ mit dem MPF

3.5.1Andere Interessengruppen in West und Ost

3.5.2Welcher Titel ist dabei?

3.5.3Die neue Ministerratsvorlage mit Titelauswahl

3.5.4Fazit

3.6Die Informationskampagne des Jahreszeiten Verlags

3.6.1Die Presseschlacht

3.6.2Der Runde Tisch unter Lobbybeschuss

3.6.3Die Post und die Mittelständler

3.6.4Fazit

3.7Deutsch-deutsche Mediengespräche

3.8Das Rennen um den Runden Tisch

3.9›Medienriesen‹ und die ›Freie Presse‹: Der Schlagabtausch am Runden Tisch

3.9.1Das Veto des Runden Tisches als Trittbrett

3.9.2Interessenkampf auf dem Rücken der Demokratie

3.10Das Bundesinnenministerium an der Seite der Verlage

3.10.1Ein Wirtschaftstreffen im BMI

3.10.2Die »rechtliche Grauzone nutzen«

3.10.3Der Medienkontrollrat und die begrenzte Einfuhr einer ›freien Presse‹

3.10.4Fazit

3.11Die Großverlage auf eigene Faust

3.11.1»Der Medienkuchen ist aufgeteilt«

3.11.2»Matter Protest«? Die Stimmen der DDR

3.12Die Post in Konkurrenz zu den Großverlagen

3.12.1Der Wettlauf: Die Post will BRD-Titel

3.12.2Der Ministerrat, die DDR-Post und die Titel-Flut

3.13Der VDZ und die ›Großen Vier‹ für die ›freie Presse‹

3.14Widerstände in der DDR treffen auf taube Ohren

3.14.1Das BMI: Mittendrin und doch neutral?

3.14.2Ein ›tolerables‹ Verlagsmodell

3.14.3Die Post und die Großverlage: Exklusivlieferung verlagseigener Grossisten?

3.14.4Fazit

3.15Das Ministerium für Medienpolitik im Kampf um den Vertrieb

3.16Das Amt für Wettbewerbsschutz: Ein Exkurs

3.17Die Pressevertriebsordnung unter Lobbybeschuss

3.17.1Die Verordnung: Die Großverlage laufen Sturm

3.17.2Die Folgen: Die Ausnahme als Regel

3.18Die Verordnung im Interessenkampf: Das MfM, die Verlage, Presse-Grosso und das BMI

3.19Das Ringen um ein unabhängiges Vertriebssystem

3.19.1Eine Zusatzverordnung

3.19.2Die Post auf dem Abstellgleis: »Alte und neue Monopole«

3.20Die Tagesspiegel-Kampagne: Ein »Handstreich«

3.21Die Last mit der Post

3.22Unabhängige Grossisten vs. Verlags-Grossisten: »Keine Chance«?

3.23Kartellamt übernimmt und zerschlägt Kartell?

4.ZUSAMMENFASSUNG

ANMERKUNGEN

QUELLEN

LITERATUR

BILDNACHWEISE

PERSONENREGISTER

INSTITUTIONEN UND ABKÜRZUNGEN

Amt für Wettbewerbsschutz (DDR)

Außenhandelsbetrieb (AHB)

Berliner Verband der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger (DDR)

Bundesministerium des Innern (BMI)

Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)

Bundesverband des werbenden Buch- und Zeitschriftenhandels e.V. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV)

Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft (Dewag) (DDR)

Förderverein unabhängiger Pressevertrieb in der DDR (DDR)

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) (DDR)

Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben

Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW)

Ministerium für Betrieb und Verkehr (DDR)

Ministerium für Kultur (MfK) (DDR)

Ministerium für Medienpolitik (MfM) (DDR)

Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR (MPF)

Ministerium für Finanzen und Preise (DDR)

Postzeitungsvertrieb (PZV) (DDR)

Presse- und Informationsdienst der Regierung der DDR

Treuhandanstalt (THA)

Verband der Film- und Fernsehschaffenden (VFF) (DDR)

Verband der Journalisten der DDR (VJD)

Verband der Lokalpresse (BRD)

Verband der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger der DDR (VZZD) Verband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten e.V. (Presse-Grosso) (BRD)

Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) (BRD)

Verband der unabhängigen Zeitungs- und Zeitschriften-Großhändler (DDR)

Verein Berliner Zeitungsverleger (DDR)

Vereinigung Organisationseigener Betriebe (VOB) (DDR)

Verein zur Förderung eines unabhängigen Vertriebs von Presseerzeugnissen in der DDR (DDR)

Vertriebs-Vereinigung der Berliner Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (DDR)

ZEITTAFEL

9. November 1989

Die Berliner Mauer fällt.

13. November 1989

Hans Modrow wird Vorsitzender des Ministerrats.

29. November 1989

G+J schickt der Modrow-Regierung das »Konzept zur umfassenden Versorgung.«

7. Dezember 1989

Gründung des Runden Tisches; Konzepte von G+J und Bauer werden DDR-Experten vorgestellt.

19. Dezember 1989

Hans Modrow und Helmut Kohl treffen sich in Dresden (Vereinbarung zum Presseaustausch).

20. Dezember 1989

Der Axel Springer Verlag sendet der Modrow-Regierung sein Konzept »Zusammenarbeit im Medienbereich.«

21. Dezember 1989

Der Ministerrat erlässt den »Beschluss zur Unterstützung des Runden Tisches.«

9. Januar 1990

Die Gesetzgebungskommission Mediengesetz legt den Gesetzentwurf zur Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit vor.

5. - 10. Januar 1990

Das MPF führt Verhandlungen mit Springer, G+J, Bauer und Burda zum Pressevertrieb.

15. Januar 1990

Erste Teilnahme Hans Modrows an einem Treffen des Runden Tisches, der Runde Tisch ratifiziert die Vorlage zur Meinungs-, Informationsund Medienfreiheit.

16. Januar 1990

Bauer, Burda, G+J und Springer (die »Großen Vier«) schließen sich zusammen und legen dem MPF ihr »Konzept zur umfassenden Versorgung« vor.

23. Januar 1990

Das MPF und die »Großen Vier« unterzeichnen einen Partnerschaftsvertrag zur Bildung eines Joint Ventures für den Import und Vertrieb westdeutscher Presseprodukte.

26. Januar 1990

Das MPF legt dem Ministerrat die Beschlussvorlage »Vertrieb von Presseerzeugnissen« zur Bildung eines Joint Ventures mit den Verlagen vor.

29. Januar 1990

Die Informationskampagne des Jahreszeiten Verlags gegen die Joint-Venture-Pläne startet.

1. Februar 1990

Der Ministerrat lehnt die Vorlage »Vertrieb von Presseerzeugnissen« ab und übergibt sie dem Runden Tisch.

3. Februar 1990

Der Jahreszeiten Verlag legt gegen die Vorlage eine Beschwerde beim Runden Tisch ein.

5. Februar 1990

Die Volkskammer verabschiedet den »Beschluß über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit.«

8. Februar 1990

Deutsch-Deutsche Mediengespräche finden statt.

10. Februar 1990

Das BMI hält erste inoffizielle Gespräche zum DDR-Pressevertrieb.

12. Februar 1990

Das Runde Tisch schlägt treuhänderische Verwaltung des Volkseigentums vor, lehnt die Beschlussvorlage »Vertrieb von Presseerzeugnissen« ab.

13. Februar 1990

Der MKR konstituiert sich.

13.-14. Februar 1990

Hans Modrow und Vertreter des Runden Tisches treffen Helmut Kohl in Bonn.

19. Februar 1990

Das BMI hält erste offizielle Anhörung zum DDR-Pressevertrieb und verabschiedet »Grundsätze zur Erhaltung der Pressevielfalt.«

21. Februar 1990

Der MKR hält Anhörung zum Pressevertrieb.

2. März 1990

Die »Großen Vier« erstellen verlagsabhängiges Konzept zum DDR-Pressevertrieb.

5. März 1990

Die »Großen Vier« beginnen ihren verlagsabhängigen Vertrieb in der DDR.

7. März 1990

Der MKR verabschiedet »Grundsätze zum Pressevertriebssystem.«

9. März 1990

Die Volkskammer verabschiedet die Vorlage »Grundsätze für den Verkauf,« eine Registrierungspflicht wird eingeführt.

12. März 1990

Die letzte Sitzung des Runden Tisches findet statt.

18. März 1990

Bei den Wahlen gewinnt die Allianz für Deutschland, Lothar de Maizière (CDU) wird Ministerpräsident.

22. März 1990

Beschluss zum Amt für Wettbewerbsschutz, 1:1-Preiskampf westdeutscher Verlage und Joint-Venture-Aktivitäten nehmen zu.

1. April 1990

Aufhebung der Subventionen für DDR-Zeitungen

4. April 1990

Die Großverlage stellen »50-25-25«-Modell vor, das Kartellamt akzeptiert.

17. April 1990

Das MfM beginnt mit der Arbeit.

24. April 1990

Der Volkskammer-Ausschuss für Presse und Medien wird gegründet.

2. Mai 1990

Volkskammer verabschiedet »Verordnung über den Vertrieb.«

5. Mai 1990

MfM-Minister Gottfried Müller trifft Helmut Kohl in Bonn.

10. Mai 1990

Die »Verordnung über den Vertrieb« wird der Presse vorgestellt, das MfM stellt Arbeit an Mediengesetz ein.

15. Mai 1990

Durchführungsbestimmungen zum Pressevertrieb werden erlassen.

18. Mai 1990

Der erste Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen BRD und DDR wird unterzeichnet.

7. Juni 1990

Das Amt für Wettbewerbsschutz beginnt mit der Arbeit, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird vorgestellt.

15. Juni 1990

Die »Großen Vier« und das MPF schließen Vereinbarung über Zusammenarbeit.

17. Juni 1990

Die Volkskammer beschließt das Treuhandgesetz.

28. Juni 2019

Fünf »50-25-25«-Grossisten der Großverlage existieren in der DDR.

1. Juli 1990

Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der BRD tritt in Kraft. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird wirksam; Volkseigentum fällt unter das Treuhandgesetz.

26. Juli 1990

Der Volkskammer-Ausschuss für Presse und Medien stellt Arbeit an Mediengesetz ein.

30. Juli 1990

MfM-Minister Gottfried Müller vertagt Entscheidung über Ausnahmegenehmigung verlagseigener Grossisten.

1. August 1990

Das MfM arbeitet an künftiger Landesgesetzgebung.

31. August 1990

Der Einigungsvertrag wird von DDR und BRD unterschrieben.

3. Oktober 1990

Die DDR tritt der BRD nach Artikel 23 des GG bei, das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen fällt der Treuhandanstalt zu.

VORWORT

Im April 2019 behauptete Altbundespräsident Joachim Gauck, vielen Ostdeutschen fehle der »absolute Durchsetzungswille« – anders als ihre Landsleute im Westen hätten sie sich »eine bestimmte Wettbewerbsmentalität […] auf natürlichem Wege [nicht] antrainieren können«.a Natur gemäß kann man sich nichts ›natürlich‹ antrainieren – denn wäre der Wille ›natürlich‹, wäre das Training überflüssig. Dennoch steht Gaucks Kommentar für mehr als nur falsche Logik. In ihm steckt die Annahme, dass es den Menschen im Osten aufgrund eines ihnen innewohnenden Unvermögens nicht gelang oder gelingt, sich in einer sozialen Marktwirtschaft durchzusetzen. Natürlich kann man fragen, wie ›sozial‹ diese Marktwirtschaft gerade zur Wendezeit war – dieses Buch zeigt letztlich den Konflikt zwischen Marktinteressen und demokratischen Idealen, nicht deren angenommene gegenseitige Bedingtheit.

Hinter Gaucks unvermögenden Menschen stehen wiederum die Institutionen und Organisationen, in denen sie arbeiten. Auf die Wendezeit bezogen: die DDR-Regierung oder der Runde Tisch, deren Reformer nicht wussten, wie Politik ›wirklich‹ funktioniert. Auf die Wende-Presse bezogen: DDR-Zeitungen und Zeitschriften, die untergingen, weil sie schlechthin unfähig waren, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Sie hatten es sich ja nicht antrainiert.

Die Forschung gibt dieser Annahme allzu oft recht. In einem Bericht für das Bundesministerium des Innern schrieben 1995 die Kommunikationswissenschaftler Michael Haller, Johannes Ludwig und Hartmut Weßler, bis Ende 1993 seien 80 Prozent der Zeitschriftentitel im Osten Deutschlands »untergegangen oder in Westtitel aufgegangen«, nicht zuletzt »infolge mangelnder Anpassung an die neuen Marktgegebenheiten, aufgrund unzureichender Investitionen, und, vor allem, wegen […] fehlender Marketing-Kenntnisse.«b Die Schlussfolgerung liegt nah, es waren Mängel der Verlage, die letztlich deren Tod bedeuteten: deren Unfähigkeit, sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Das vorliegende Buch zeigt, dass die Sache so einfach nicht war. Denn das Problem hier ist der reine Ost-Fokus (aus West-Perspektive). Er versperrt die Sicht auf das Wirken westdeutscher politischer und wirtschaftlicher Gruppen, die schnell eigene ›Claims‹ in der DDR absteckten und an deren Durchsetzung konsequent arbeiteten. Damit wurden strukturelle (nicht individuelle!) Rahmenbedingungen geschaffen, die die Interessen bestimmter Gruppen begünstigten und andere ausschlossen. Denn der rasant expandierende BRD-Pressemarkt wurde früh und auf allen Ebenen von marktbestimmenden BRD-Verlagen nach ihren Interessen geformt, und das zu einer Zeit, als medienpolitische Reformziele der DDR vor allem der Zerschlagung des SED-Informationsmonopols galten. Nicht zuletzt durch das frühe Wirken der Verlage blieben Monopolstrukturen im Tageszeitungssektor bestehen, das heißt, aus politischem wurde wirtschaftliches Monopol. Die Mehrzahl der vielen neu gegründeten oder sich reformierenden DDR-Zeitungen blieb hier außen vor. Sie dienten westdeutschen Interessengruppen als rhetorisches Mittel, um politische und wirtschaftliche Ziele im Namen einer ›freien Presse‹ durchzusetzen.

Das vorliegende Buch zeigt: Nicht die Unfähigkeit der DDR-Presse zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten der Marktwirtschaft führte zu ihrem Untergang oder Verkauf, sondern die aggressiven Marktstrategien westdeutscher Verlage auf allen Ebenen des DDR-Pressesektors (Verkauf, Eigentum und Vertriebsstrukturen). In einem komplexen Gewirr aus Macht- und Interessenkämpfen wurden die Möglichkeitshorizonte verschiedener ost- und westdeutscher Akteure abgesteckt, leitgebend waren hier die politischen Interessen der damaligen Bundesregierung, eng gekoppelt an die Wirtschaftsinteressen westdeutscher Verlagsgruppen.

Diese Geschichte ist auch Teil der Wende, sie ist nicht so glatt, wie sie heute gern präsentiert wird. Sie zeigt, wie basisdemokratische Reformen im Rahmen einer marktgesteuerten Pressereform ignoriert oder plattgemacht wurden. Wer dieses Buch liest, bekommt so einen kleinen Einblick in den Erfahrungshorizont vieler Ostdeutscher zur Wendezeit, der vielen Westdeutschen bis heute verschlossen bleibt. Letztlich erzählt es auch die Geschichten der Menschen, die für dieses Buch interviewt wurden. Auch wenn die Funde auf dreijähriger Archivarbeit beruhen, stehen ihre geteilten Erfahrungen für die vieler DDR-Bürger, die zur Wendezeit aktiv an Reformprozessen beteiligt waren. Sie setzten sich für eine bessere Presse und freie Medien ein, investierten viel und kamen häufig mit »resignierte Erschöpfung« aus diesem Prozess heraus.c Wie Wulf Öhme von der untergegangenen DDR-Zeitung Der Morgen meinte: »Man hat alles gegeben und doch verloren.«d Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.

a»Suche nach der Einheit: Peter Frey trifft Joachim Gauck.« ZDF am 1.4.2019, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/zdfzeit-suche-nach-der-einheit-peter-frey-trifft-joachim-gauck-100.html [28. April 2019]

bHaller, Michael, Johannes Ludwig und Hartmut Weßler, »Entwicklungschancen und strukturelle Probleme der Zeitschriftenpresse in den neuen Bundesländern«, Forschungsbericht für den Bundesminister des Inneren, Band I: Der Zeitschriftenmarkt Ost, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, 1994, S. 1.

cInterview, Wulf Öhme, 25. Januar 2017.

dEbd.

EINLEITUNG

»Niemand hatte nach dem Ende des Kommandojournalismus der DDR erwartet, daß die Gliederung des Pressemarkts […] den Grenzziehungen der SED nachgebildet sein würde – natürlich nicht aus politischen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen.«

Walter A. Mahle, Pressemarkt Ost, 19921

Am 8. Mai 1990, sechs Monate nach dem Fall der Berliner Mauer, trafen sich Vertreter der vier Großverlage Heinrich Bauer, Axel Springer, Gruner+Jahr und Burda im frisch gegründeten Ministerium für Medienpolitik (MfM) der DDR in Ost-Berlin. Die Verlagsvertreter hofften, rückwirkend die offizielle Genehmigung für das Pressevertriebssystem zu bekommen, das die Verlage seit Anfang März ohne Genehmigung in der DDR auf deren Gebiet aufgebaut hatten.

Empfangen wurden sie vom damaligen DDR-Medienminister Dr. Gottfried Müller. Er überreichte den Anwesenden vor Gesprächsbeginn eine Verordnung, die nur Tage zuvor verabschiedet worden war. Nachdem alle das Dokument studiert hatten, wurde Empörung laut. Ein verlagsabhäniger Pressevertrieb war laut Verordnung rechtswidrig. Es folgten hitzige Diskussionen. Die Vertreter argumentierten, die Verlage hätten bereits beträchtliche Investitionen getätigt und Infrastrukturen für den Pressevertrieb »aus dem Nichts« aufgebaut.2 Sie hätten mitgeholfen, eine freie Presse in die DDR zu bringen. Der Vertreter des Axel Springer Verlags sprach von einem »massiven Eingriff in die Pressefreiheit«, andere bezweifelten, ob die Verordnung überhaupt demokratisch war, und gemeinsam drohten sie, jegliche Investitionen zu stoppen und die DDR sofort zu verlassen.3 Nach dem Treffen schrieb Müller nicht ohne Genugtuung in sein Ministertagebuch: Für die »Großen Vier« seien die Maßnahmen gegen ihr Eindringen »in die Grauzone DDR« wie eine »Ohrfeige« gewesen.4

Müller, der grundsätzlich einen ›kleinen Staat‹ in Medienangelegenheiten bevorzugte, betonte, dass nur ein verlagsunabhängiger Vertrieb Neutralität und gleiche Marktchancen für alle Verlage sicherstelle. Die Verleger seien mit dem bereits erfolgten Aufbau eines eigenen, exklusiven Vertriebssystems »bewußt in eine Grauzone, in rechtsfreie Räume, vorgestoßen.«5 »Man habe hier«, so Müller bei dem Treffen, »nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus wohl den real existierenden Kapitalismus demonstrieren wollen.«6 Eine sich entwickelnde freie Presse in der DDR könne durch eine Flut westdeutscher Presse zudem erstickt werden. Außerdem gäbe es »zweifelhafte Formen einer grenzüberschreitenden Produktion, wobei ein Herstellungsort in der DDR genannt wird, obwohl die wirkliche Produktion in der Bundesrepublik erfolgt.«7 All diese Marktmethoden hätten gravierende Folgen für eine sich gerade frei entfaltende DDR-Presse. Diese sei in vieler Hinsicht benachteiligt. »Die Verordnung«, so schloss Müller, »richtet sich nicht gegen, sondern schützt die Pressefreiheit [Hervh. durch die Autorin].«8

Diese Episode scheint weniger spektakulär, als es sie es tatsächlich war. Sie war Höhepunkt intensiver Verhandlungen, Lobbyarbeit, breit gestreuter Informationskampagnen sowie politischer und wirtschaftlicher Manöver verschiedenster Interessengruppen; und das in kürzester Zeit.

Seit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 waren gerade sechs Monate vergangen. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) hatte ihr Machtmonopol zwar verloren, aber die DDR war weiterhin ein souveräner, sozialistischer Staat. Die ersten freien Wahlen am 18. März 1990 hatten eine neue (konservative) Regierung hervorgebracht, deren neu geschaffenes Ministerium für Medienpolitik (MfM) einen »kultivierten Übergang in die Medienfreiheit« gewährleisten sollte.9 Parallel dazu hatten sich seit November 1989 auch verschiedene Wirtschaftsgruppen in der DDR engagiert, Geschäftsbeziehungen aufgebaut, Kooperationen geschlossen und nicht selten Fakten ohne rechtliche Grundlagen geschaffen.

Im Pressebereich fand das auf drei Ebenen statt: erstens durch die Einfuhr und Preispolitik westdeutscher Presseprodukte, zweitens durch den Abschluss von Kooperationsverträgen zwischen ost- und westdeutschen Verlagen und, drittens, durch die Reform des Pressevertriebssystems. Zunächst gedacht als Reform des DDR-Postzeitungsvertriebes (PZV) war das Ziel, westdeutsche Presseprodukte in die DDR großflächig zu vertreiben. Hierfür hatten Verhandlungen mit den Großverlagen stattgefunden; diese scheiterten. Anfang März hatten die ›Großen Vier‹ so die DDR in vier Vertriebszonen aufgeteilt und bauten fortan den Vertrieb vor allem eigener Produkte aus. Sollte die Mai-Verordnung also in Kraft treten, wären Monate der Arbeit der Verlage umsonst, Millionen an DM in bereits geschaffene Infrastruktur dahin.

Minister Müller waren weder die genaue Entstehungsgeschichte des Verlagsvertriebs noch die Regeln des Zeitungsgeschäfts bekannt. Der einstige Chefredakteur der Kirchenzeitung Heimat und Glaube hatte, wie viele DDR-Politiker der Wende-Monate, wenig oder keine Erfahrung mit Märkten. Er glaubte an Reformen und wollte die Demokratisierung des DDR-Pressesektors. Das hieß, eine basisdemokratische Presse und ein umfassendes Mediengesetz, das jegliches Informationsmonopol für die Zukunft verhindern sollte. Ziel war, Monopolstrukturen ehemaliger SED-Bezirkszeitungen aufzubrechen und Pressevielfalt aufzubauen.

Sein neu gegründetes Ministerium sah sich allerdings massiven Problemen gegenüber. Die DDR-Medien waren im Reformprozess, viele Zeitungen kämpften ums Überleben. In seinem Ministertagebuch notierte er: »[D]er PZV versagt« (23. April), was ein schnelles und wirksames Handeln der Regierung erforderte (16. April / 23. Mai), dabei würde die Position des MfM schwierig sein (11. April), da es sich ständiger Kritik ausgesetzt sähe und seine Rolle immer wieder erklären müsse (27. April / 10. Mai).10 Tatsächlich sollte die Arbeit des MfM anfangs vor allem durch Rechtfertigungsdruck definiert sein.

Zwei Tage vor Amtsantritt resümierte Müller in Bezug auf die DDR-Presse: Deren Probleme seien weniger politischer, sondern vor allem wirtschaftlicher Natur. Sie würden verursacht durch den »Verdrängungsund Vernichtungswettbewerb der Westgrossisten [Bauer, Burda, Springer und Gruner+Jahr].«11 Diese Verlage waren zwar keine Grossisten im eigentlichen Sinne, da Grossisten in der Bundesrepublik grundsätzlich verlagsunabhängig arbeiteten (s. Kap. 3.5.1). Müllers Punkt macht aber deutlich, dass westdeutsche Großverlage in einer noch souveränen DDR eine andere Rolle einnahmen, als sie es in der BRD getan haben oder hätten tun können.

Das vorliegende Buch fragt nach dieser Rollenverschiebung und deren Hintergründen. Also, wer hatte auf dem DDR-Pressemarkt welche Rolle inne und was machte das Agieren der Großverlage im DDR-Pressevertrieb überhaupt möglich? Es dokumentiert, wie Müller, das MfM und andere DDR-Medienreforminitiativen wie der Medienkontrollrat (MKR) sich in kürzester Zeit inmitten verschiedenster politischer und wirtschaftlicher Manöver wiederfanden. Diese erlaubten anstelle von Handlungsspielraum bestenfalls Korrekturmaßnahmen. Die DDR-Medienpolitik reagierte also mehr, als dass sie agierte. Laut MKR war das vor allem den »frühkapitalistischen Wild-West Praktiken« der BRD-Verlage geschuldet.12 Dieses Buch zeigt, wie viel ›Wilder Westen‹ im Osten wirklich stattfand und wie verschiedene DDR-Akteure damit umgingen. Der MKR beispielsweise legte Beschwerden ein, bezog öffentlich Stellung und appellierte an die DDR-Regierung. Die Proteste blieben in einem schwachen, sich transformierenden Staat unwirksam.

So war auch die von Müller beschworene ›Ohrfeige‹ eher ein kleiner Schubs für die Großverlage. Denn die so viel diskutierte Verordnung blieb letztlich wirkungslos; einmal geschaffene Vertriebsstrukturen konnten nur schwerlich abgebaut werden. Dennoch war die Verordnung nicht bedeutungslos. Vielmehr eröffnet die Frage nach den Gründen ihrer Wirkungslosigkeit Einblicke in konkurrierende Interessen und Strategien ost- und westdeutscher Akteure. Wie war es den Verlagen gelungen, ihren eigenen Vertrieb in der DDR aufzubauen? Welche Strategien nutzten sie, was waren die Konsequenzen? Wie gestalteten sich reformpolitische Konzepte und Initiativen für eine ›freie Presse‹ in der DDR? Wie bedingten sich also ost- und westdeutsche Interessen gegenseitig, wie standen sie sich gegenüber? Die Antworten auf diese Fragen geben Einblick in die vielschichtige DDR-Presselandschaft der Wendezeit und erlauben einen Blick hinter die Kulissen öffentlicher Debatten. Müller fügte rückblickend hinzu, vor allem musste damals »alles ganz schnell, schnell, schnell gehen.«13 Denn das »immer schneller werdende Tempo der Vereinigung der beiden deutschen Staaten« setzte den Rahmen für die DDR-Medienreform.14

Dieses Buch erzählt die Geschichte dieser ganz schnellen Wendegeschichte. Der Fokus liegt auf der Presse vor dem Hintergrund des Pressevertriebs. Denn, so betonte die Berliner Zeitung im Mai 1990, die »Kernfrage für die künftige Gestaltung der Verhältnisse auf dem Medienmarkt« war »das Vertriebssystem.«15 Oder wie MfM-Mitarbeiter Ralf Bachmann es einmal ausdrückte, der Pressevertrieb sollte die »Hintertür« zur Übernahme und Transformation des gesamten Pressesektors werden.16 Hauptaugenmerk dieses Buches liegt dabei auf der Zeit zwischen dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, oder, wie die DDR-Jugendzeitschrift Junge Welt es formulierte, der Zeit zwischen dem Wegfall des »alten Maulkorbs« politischer Zensur und der Übernahme des Marktes.17 In diesem Zeitfenster wurden alle Fragen einer freien, demokratischen Presse neu aufgegriffen, ausdiskutiert und festgemacht: die Rolle des Staates, der Industrie, der Journalisten und Bürger, sowie die Definition einer ›freien Presse‹ selbst.

Die Frage ist also: Inwieweit hat sich dieses demokratische Potenzial, das es im Moment des revolutionären Umbruchs 1989/1990 gab, in den (ost)deutschen Pressestrukturen durchgesetzt? Basierend auf Methoden aus der Geschichtswissenschaft wird diese Frage beantwortet, indem Reformideen und -initiativen der Wendemonate 1989/1990 in engem Zusammenhang mit wirtschaftspolitischen Möglichkeiten und Zwängen im Zuge einer schnellen Einheit betrachtet werden. Im Mittelpunkt stehen die Räume und Grenzen, die sich im Zuge einer sich ausweitenden wirtschaftspolitischen Ordnung der damaligen BRD für die Reform des DDR-Pressewesens ergaben. Anders als bereits existierende Literatur zur DDR-Pressetransformation, die sich vornehmlich auf den Osten konzentriert, konzentriert sich dieses Buch auf die wirtschaftspolitischen Einflüsse der damaligen Bundesrepublik in diesem Prozess.

Was dieses Buch nicht bietet sind Einzelfälle (z. B. bestimmter DDR-Zeitungen oder Verlage) oder biografische Analysen (z. B. individuelle Schicksale DDR-Medienschaffender). Hierzu gibt es bereits Fallstudien (s. Kap. 1.2), die im Kleinen zeigen, was hier versucht wird, im Großen nachzuzeichnen, d. h. strukturelle Entwicklungsprozesse, die frühzeitig Möglichkeiten, aber auch Grenzen für Reformen im DDR-Pressewesen setzten. In der Literatur fehlen diese. Auch die ihnen zugrunde liegenden wirtschaftspolitischen Strategien (z. B. Lobbyarbeit) wurden bisher nicht untersucht. Dieses Buch soll das ändern. Damit einhergehende Verallgemeinerungen oder Vereinfachungen können kritisiert werden. Sie sind aber nötig, um die hier gestellten Fragen erkenntnisbereichernd zu beantworten.

Klar ist: So, wie es nicht ein Interesse ostdeutscher Verlage oder Institutionen gab, gab es auch nicht die eine politische oder wirtschaftliche Agenda der BRD. Westdeutsche Interessengruppen, auch solche mit ähnlichen Zielen in einem Bereich, kooperierten nicht zwangsläufig in anderen. Während die ›Großen Vier‹ beispielsweise im Pressevertriebsbereich zusammenarbeiteten, führten sie gleichzeitig einen aggressiven Dumpingpreis-Wettbewerb in der DDR und kämpften um Eigentumsanteile an ostdeutschen Verlagen. Es war, laut DDR-Fernsehzeitschrift FF dabei in einem Brief an ihre Leser, ein »zügelloser Kampf der Medienkonzerne, bei dem weder Ost- noch Westgesetze gelten.«18 Dabei versuchten verschiedene Interessengruppen in Ost und West (Ministerien, Verlage, Verbände, Parteien etc.), ihre Ziele durchzusetzen und die öffentliche Diskussion zu beeinflussen. Dieses Buch zeigt, wie sie das getan haben.

Fazit: Nichts, das vor, während und nach den Wendemonaten in der DDR geschah, fand in Isolation statt. Weder gründeten die Presseprobleme allein in den DDR-spezifischen Verhältnissen, noch waren die reformbestimmenden Interessengruppen aus dem Osten. Vielmehr wurde die DDR Austragungsort verschiedener Interessenkämpfe, bestimmend waren jedoch politische und wirtschaftliche Gruppen der damaligen Bundesrepublik. Diese weiteten ihre langjährigen politischen und wirtschaftlichen Machtkämpfe auf die neue DDR-Arena aus. Sie passten sich dabei flexibel an sich ändernde Gegebenheiten an und wurden so zentrale Akteure, die die ›Presse-Wende‹ weitgehend nach ihren Interessen mitbestimmten.

Joachim Nölte, der die Wendemonate im MfM verbrachte, erstellte 1991 eine Chronologie dieses Wandels. Er unterschied drei Phasen der DDR-Pressetransformation: erstens die Aufbruchszeit in einer Atmosphäre des Optimismus, d. h. die Befreiung von staatlicher Kontrolle, eng verbunden mit einer Art versuchter Schadenskontrolle des alten Systems. Nach Nölte begann diese Phase grob mit den Ereignissen um den 40. Jahrestag der DDR. Zweitens die Phase der politischen und strukturellen Umgestaltung im November/Dezember 1989. Hier wurden neue Verlage und Zeitungen gegründet und demokratische Strukturen im Journalismus diskutiert. Drittens die Marktdurchdringung westdeutscher Unternehmen, also die Wandlung der DDR-Presse in ein marktwirtschaftliches System. Es war der Beginn eines langen Umstrukturierungsprozesses der DDR-Medien nach den Grundsätzen der alten Bundesrepublik sowie des Überlebenskampfes ostdeutscher Verlage.19 Diese dritte Phase begann laut Nölte früh: am 1. April 1990. An diesem Tag wurden die Subventionen für DDR-Zeitungen gestrichen. Damit mussten diese nicht nur ihre Preise drastisch erhöhen, sondern auch über Nacht auf werbebasierte Einnahmequellen umstellen, während sie noch unter alten Planstrukturen arbeiteten.20

Diese drei Phasen waren nicht klar voneinander trennbar, sondern zeichneten sich durch Brüche und Überlappungen aus. So gab es beispielsweise direkt »nach der Öffnung der Grenze«, wie das Handelsblatt es formulierte, »eine Flut von Titeln« aus der Bundesrepublik, die frühzeitig starke Marktpositionen an ostdeutschen Zeitungsständen suchten.21 Auch wurden früh Kooperationsverträge zwischen ost- und westdeutschen Verlagen geschlossen oder, wie Publizistik und Kunst schrieb: »bundesdeutsche Verlage überrennen die DDR nicht nur durch den Vertrieb ihrer Zeitungen und Zeitschriften – sie kaufen sich in der DDR auch ganz massiv ein.«22 Grundlegend war der Pressevertrieb.

Nicht jeder war dieser Meinung. Der damalige Ministerialdirektor des Bundesministeriums des Inneren (BMI), Erich Schaible, etwa betonte im Februar 1990 während einer Besprechung im BMI zum DDR-Pressevertrieb: Entgegen der aktuellen ostdeutschen Rhetorik müsse zwischen »der unmittelbaren, unkontrollierten Einfuhr von Presseerzeugnissen in die DDR und der danach dort zu erbringenden Logistik« unterschieden werden.23 Das eine habe mit dem anderen, medienpolitisch, wenig zu tun. Das vorliegende Buch widerspricht dem. Es geht von der Annahme aus, dass alle drei Bereiche zusammen betrachtet werden müssen, um Transformationsprozesse in der DDR-Presselandschaft wirklich begreifen zu können. Denn Schaible sprach aus dem wirtschaftspolitischen Kontext der alten Bundesrepublik heraus: Hier waren Pressevertriebsfragen seit Jahrzehnten fest etabliert und institutionalisiert.

Die Situation der DDR war eine andere: Zum einen funktionierte die Presse weiter unter den Bedingungen einer Planwirtschaft. Auch wenn früh westdeutsche Presseprodukte eingeführt wurden, blieben Fragen der Medienproduktion, des Imports und des Vertriebs in der DDR wirtschaftlich voneinander abhängig. Außerdem bewegten sich BRD-Verlagskonzerne auf dem Gebiet der DDR in einer rechtlichen Grauzone und weiteten diese im Vertrieb nach eigenen Interessen aus. Trotz teils unterschiedlicher Interessen war allen westdeutschen Verlagen gemein, dass sie nach marktwirtschaftlichen Praktiken auf einem nicht regulierten DDR-Markt breit Fuß fassen wollten. Hierfür war der Vertrieb Ausgangspunkt. Konkret: Eine Million verkaufter Bild-Zeitungen in der DDR im Juni 1990 wären ohne die nötigen Vertriebsstrukturen nicht möglich gewesen. Mit einem geschätzten Jahresumsatz von rund 1 Mrd. DM waren auch die Gewinnaussichten in diesem Sektor hoch.24 Der Kampf um die Organisation des Vertriebes stand realpolitisch also für eine Verflechtung von Problemen.

Diese Probleme wurden am 28. März 1990 vom neu gegründeten basisdemokratischen Medienkontrollrat (MKR) der DDR in einer Erklärung zusammengefasst. Nach Meinung des MKR hätte sich die Mediensituation der DDR »drastisch verändert. Dabei sind eine Reihe von Problemen entstanden, auf die unsere Gesellschaft nicht vorbereitet war«, und die derzeitige Gesetzgebung biete »kaum eine Grundlage, die entstandenen Probleme zu lösen.«25 In der Erklärung forderte der Rat die DDR-Regierung auf, bestehende Gesetzeslücken zu schließen: erstens im Verkauf westdeutscher Presseprodukte in der DDR und den »extrem ungleichen Wettbewerbschancen zwischen westdeutschen Großanbietern und der einheimischen Presse.«26 Zweitens im Pressevertrieb. Drittens brauche es dringend eine »[w]irtschaftliche und rechtliche Kontrolle der Eigentumsveränderungen bei Zeitungen und Zeitschriften zur Wahrung der Eigenständigkeit der Presse und Verhinderung zu großer Kapitalkonzentration und Marktbeherrschung.«27 Der MKR setzte damit die drei großen Bereiche einer sich reformierenden Presselandschaft in Beziehung und umriss damit den analytischen Rahmen dieses Buches.

In seiner Chronik der Medien-Wende dokumentierte Joachim Nölte die Eckdaten dieses Prozesses: Die Chronik müsse »es zunächst dem Leser, bzw. einer späteren wissenschaftlichen Aufarbeitung überlassen, sich daraus ein Gesamtbild zu formen.«28 Das vorliegenden Buch nimmt sich dieser Aufgabe an.

Das folgende Kapitel 1 gibt dafür einen Überblick über Literatur, Methoden und Quellen. Kapitel 2 geht auf den historischen Kontext deutschdeutscher Beziehungen zur Wendezeit ein und stellt die wichtigsten medienpolitischen DDR-Institutionen vor. Die Gliederung orientiert sich an Institutionen und bietet damit keine chronologische Abfolge von Ereignissen. Eine kurze Übersichts-Chronologie befindet sich am Beginn des Buches. Kapitel 3 erzählt die kompliziert spannende Geschichte zur heiß umkämpften Reform des Pressevertriebs. Die Fachzeitschrift kress report nannte die Reform im Februar 1990 einen »Pakt des Staatsmonopols mit dem Großkapital« und meinte damit »die Geheimdiplomatie der vier Großverlage […] mit dem DDR-Postministerium.«29 Dieses Kapitel zeigt im Detail, dass die Geschichte dahinter komplizierter war. Es zeichnet die verschiedenen und miteinander konkurrierenden Interessen der beteiligten ost- und westdeutschen Institutionen nach, der Fokus liegt auf der Lobbyarbeit westdeutscher Wirtschaftsgruppen. Hier waren die Großverlage, aber auch mittelständische BRD-Verlage aktiv. Deren Strategien werden genauso dokumentiert, wie die Rolle des MKR, des Runden Tisches, des MfM oder des Bundesministerium des Innern (BMI). Das verbindende Element sind die weitreichenden medienpolitischen Folgen wirtschaftsorientierter ›Geheimdiplomatie‹ und deren Informationskampagnen. Zunächst werden dafür die DDR-Richtlinien dargelegt, dann werden die Interessenkämpfe verschiedener politischer und wirtschaftlicher Gruppen und deren Austragungsorte beleuchtet. Am Ende einiger Unterkapitel befinden sich, wenn passend, kurze Zwischenanalysen. Kapitel 4 fasst die vorigen Kapitel und Analysen zusammen.

1.LITERATUR- UND QUELLENLAGE

Dieses Buch zeigt, wie vor allem wirtschaftspolitische Dynamiken den Umbruch der DDR-Presse 1989/1990 steuerten. Im Mittelpunkt stehen also verschiedene wirtschaftliche oder politische Akteure, das heißt Verlage, Verbände oder Ministerien. Viele von ihnen sind bis heute aktiv. Das darf der kritischen Aufarbeitung deren Agieren zur Wendezeit nicht im Wege stehen. Auch dieser Teil deutsch-deutscher Geschichte muss geschrieben werden. Ein Ziel dieses Buches ist also, den Rahmen gegenwärtiger Geschichtsschreibung zur Wendezeit durch die Einbeziehung westdeutscher politischer und wirtschaftlicher Gruppen zu erweitern.

1.1PROBLEME

Die Wende-Geschichte 1989/1990 scheint lang zurückzuliegen, doch das täuscht: Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht passierte sie quasi gestern. Aufgrund dieses geringen zeitlichen Abstandes gestaltet sich Forschung schwierig (zur Quellenlage s. u.). So könnte der persönliche Hintergrund der Autorin und die Fragestellung des Buches zu Vorwürfen fehlender ›Objektivität‹ führen. Hier also vorweg: Geschichtsschreibung kann nicht objektiv oder neutral sein, denn sie ist immer eine Reflexion vergangener Realitäten unter gegenwärtigen Bedingungen. Da Letztere sich ständig weiterentwickeln, ändern sich auch die Perspektiven, aus denen wir uns Geschichte nähern, wie wir sie erzählen und welche Fragen wir an sie stellen. Anders ausgedrückt: Geschichte wird nie alt, denn sie ist immer auch ein Abbild der Gegenwart.

Dadurch hat sich auch in der Geschichtstheorie durchgesetzt: Mehr zeitlicher Abstand zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit garantiert keine Objektivität, nur eine andere Art der Subjektivität. Auch gibt es keine Biografie, die es einem erlaubt, sich ohne ›eigene Brille‹ Geschichte zu nähern. Jede/r Historiker/in wird selbst Teil der Geschichte, stellt Fragen, erforscht Quellen und wählt aus diesen aus. Man setzt Schwerpunkte und spricht wenn möglich mit Zeitzeugen. Was in der Wissenschaftsliteratur ›Intersubjektivität‹ oder ›Relativismusproblem‹ genannt wird, heißt, eigene Hintergründe offenzulegen, die in diesen Prozess mit einfließen – nicht, um Objektivität vorzutäuschen, sondern um Subjektivität transparent zu machen.30