image

image

Sonja Siegert, geb. 1974, ist Journalistin und Lektorin. Sie studierte Philosophie und Politikwissenschaft. Bis 2008 war sie Lektorin und Redakteurin beim Mabuse-Verlag, danach Redakteurin für das Portal Gesundheits information.de und arbeitet jetzt als Referentin für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Sie lebt mit ihrem Freund, der sich ebenfalls keine Kinder wünscht, in Köln. www.sonja-siegert.de

image

Anja Uhling, geb. 1963, ist Journalistin und Mitarbeiterin in einer medizinrechtlichen Anwaltskanzlei. Sie studierte Germanistik und Geschichte und arbeitete als Lektorin und Redakteurin, unter anderem 1995-2005 bei der Zeitschrift Dr. med. Mabuse. Sie lebt mit ihrem Freund, der zwei erwachsene Stieftöchter hat, in Frankfurt am Main.

Die Internetseite zum Buch: www.ichwillkeinkind.de

Sonja Siegert, Anja Uhling

Ich will kein Kind

Dreizehn Geschichten über eine
unpopuläre Entscheidung

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

2. Auflage 2019

© 2013 Mabuse-Verlag GmbH

Kasseler Straße 1 a

60486 Frankfurt am Main

Tel.: 069-70 79 96-13

Fax: 069-70 41 52

verlag@mabuse-verlag.de

www.mabuse-verlag.de

www.facebook.com/mabuseverlag

Lektorat: Katharina Budych, Springe

Satz: Tischewski & Tischewski, Marburg

Umschlaggestaltung: Karin Dienst, Frankfurt am Main

Umschlagfoto: © plainpicture / Kniel Synnatzschke

ISBN: 978-3-86321-131-8

eISBN: 978-3-86321-514-9

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort

Ein paar Fakten

Hannah, 35, Redakteurin:

Mein Leben ist schon komplett

Axel, 45, Schreiner:

Ich leb mein Leben anständig, aber ich dreh nicht am großen Rad

Dorothea, 61, Biologin im Ruhestand:

Die Arbeit war meine große Leidenschaft

Claudia, 48, Altenpflegerin und Pflegewissenschaftlerin:

Ich habe mir ein Kind nie zugetraut

Luise, 50, Beraterin in einer Arbeitsloseninitiative:

Mit Kindern fühle ich mich einsam

Susanne, 51, Journalistin:

Man kann so oder so leben, das wusste ich schon immer

Chris, 40, Systemadministrator:

Ich mag Kinder, aber ich will meine Freiheit

Eva, 78, Journalistin und Gutachterin im Ruhestand:

Ich liebe mein Leben so, wie es ist

Martin, 39, Support-Mitarbeiter:

Kümmert euch um die Kinder, die es schon gibt!

Tanja, 35, Lehrerin:

Familie schadet Kindern ganz oft

Thomas, 36, Inhaber einer Internet-Agentur:

Babygeschichten interessieren mich nicht

Ilu, 45, Köchin und Künstlerin:

Ich wollte neue Erfahrungen machen

Meike, 36, Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen:

Ich fühle mich Kindern nicht so nahe

Vielfalt statt Rückschritt!

Zum Weiterlesen

Vorwort zur 2. Auflage

Nachdem vor sechs Jahren die erste Auflage dieses Buches erschienen war, ist viel geschehen. Rundfunk, Fernsehen und Printmedien sprangen auf unser Thema an; wir diskutierten auf Lesungen, gaben Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews, chatteten live mit Leser*innen der Welt, lasen viele Artikel und Rezensionen über unser Buch und gruben uns mehr oder weniger vergnügt durch Online-Kommentare. Wir hatten einen Nerv getroffen – der Satz „Ich will kein Kind“ ist auch im dritten Jahrtausend noch eine Provokation.

Dabei erlebten wir einige Überraschungen: Wir wurden von Müttern angesprochen, die sich in vielen Aspekten wiedererkannten und das Thema wichtig und spannend fanden. Wir begegneten auf unseren Lesungen Frauen, die wütend berichteten, wie sie mit ihrem Wunsch nach Sterilisation immer wieder von Ärzt*innen zurückgewiesen werden. Eher konservative Medien interessierten sich ehrlich für das Buch und die Menschen, die freiwillig keine Kinder haben; manche eher linksliberale reproduzierten dagegen Klischees.

Viele Reaktionen in den Online-Kommentaren waren abwehrend und vorurteilsbeladen. Gern wird da freiwillig Kinderlosen Frustration unterstellt oder zumindest künftiges Unglück angedroht. Zum Beispiel behauptet omen in unserem Live-Chat mit Leser*innen der Welt: „In meinem Umfeld kenne ich keine Kinderlosen über 50, die es nicht bereut haben. Mehr muss ich zu diesem Thema nicht wissen.“ Student fragt im Welt-Chat: „Liegt es daran, dass Sie nicht den richtigen Mann gefunden haben? Und um sich das alles etwas gut zu reden, reden Sie sich jetzt ein, keine Kinder haben zu wollen?“ Und auch Karl (Welt-Chat) macht sich Sorgen um uns: „Sich nach Millionen von Jahren aus der Evolution zu verabschieden, ist nicht befriedigend am Sterbebett, glauben Sie mir!“1

Auffällig häufig wird die Meinung vertreten, Kinderlose sollten gefälligst nicht erwarten, eine Rente zu erhalten, denn sie hätten ja nichts dafür getan. So kommentiert Wenn es denn sein muss unter einem Interview mit uns in der Welt: „Dann sehen Sie bitte auch zu, wer ihnen ihre Rente bezahlt. Ich zahle gerne für meine Kinder und meine Eltern, aber nicht für Sie.“ Auch im Beitrag von Panorama darf Wirtschaftstheoretiker Wilfried Schreiber Kinderlose als „parasitär“ bezeichnen. Mit ähnlichen Zitaten könnten wir viele Seiten füllen. Uns scheint das zurzeit ein beliebtes Ausweich-„Argument“ zu sein, das auch in Kreisen salonfähig ist, in denen man sich mittlerweile scheut, Frauen offen auf ihre Rolle als Gebärerin zu reduzieren: Über das Thema Rentenfinanzierung möchten diejenigen, die freiwillige Kinderlosigkeit für anstößig halten, das Ausscheren aus der Norm doch noch sanktionieren können.

Per E-Mail erreichte uns noch Unappetitlicheres: Wir hätten es nicht verdient zu leben, eine Zuschrift sprach sogar von nötiger Zwangssterilisation (!). Einschüchterungsversuche wie die per E-Mail erleben leider alle Frauen, die sich öffentlich für feministische Anliegen, sexuelle und reproduktive Rechte einsetzen.

Aber es gibt natürlich auch viele andere, unterstützende und Mut machende Stimmen. Kinderlos glücklich (Welt-Interview) schreibt: „Ich bin 60. Und ich wollte NIE Kinder haben. Und ich bereue nicht.“ Und auf den Einwand eines Lesers, dass diese Ausnahme die Regel bestätige, antwortet prompt Gast: „Keine Ausnahme, bin ebenfalls knapp 60 und haben meinen Entschluss keine einzige Sekunde bereut!“

Viele bedanken sich ausdrücklich, dass wir das Thema behandeln. So Zerro im Welt-Live-Chat: „Vielen Dank, ich möchte auch keine Kinder und muss mir immer wieder anhören, dass ich ein Egoist bin.“ Und HHerin (Welt-Live-Chat): „Vielen Dank. Ich möchte auch keine Kinder. Ständig muss ich mich dafür rechtfertigen, auch der gern gesagte Spruch ‚Das kommt noch‘ ist mir schon unzählbare Male entgegengebracht worden.“ Joanna kommentiert auf amazon: „Zum Glück wird immer mehr über das Leben ohne Kinder geschrieben und dieses Buch gibt viele Einblicke, wie ein solches Leben aussehen kann und dass es ebenso glücklich sein kann.“ Gianna Reich schreibt bei amazon: „Ich bin sehr dankbar für dieses Buch und kann die negativen Bewertungen hier nicht verstehen. Ich fühle mich durch die Erzählungen der einzelnen Gesprächspartner sehr verstanden und bin dankbar für die Faktenauflistung zu Beginn des Buches.“ Und Helena meldet sich bei amazon: „Ist es nicht toll, dass Menschen auch ohne Kinder glücklich sein können? Ist es nicht super, dass Frauen mit 70 sagen können ‚ob ich später bereuen werde, keine Kinder bekommen zu haben, also zum Beispiel mit 80, kann ich noch nicht sagen‘? … Ein Segen, so ein Buch. 13 tolle Geschichten über freie glückliche Menschen.“

Leider gibt es in ganz Europa und in den USA eine erstarkende rechte Bewegung, zu der immer eine Beschwörung der vermeintlich „natürlichen“ Geschlechterrollen und des „Völkischen“ gehören. Auch in Deutschland sitzt jetzt die AfD in den Parlamenten und macht dort Stimmung gegen Menschen, die aus ihrer Sicht nicht „deutsch“ genug sind. Mit ihrem Wahlplakat aus dem Jahr 2017 lässt sie alle Hüllen fallen: Da ist der schwangere Bauch einer blonden Frau abgebildet, und darüber steht: „Neue Deutsche? Machen wir selber.“2 Sie fordert eine „Willkommenskultur für Kinder“ – natürlich nur für „die angestammte Bevölkerung“3.4 An vielen Punkten geht sie eine unheilige Allianz mit der sogenannten „Lebensschutz“-Bewegung ein, die dafür kämpft, das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung und Sexualaufklärung einzuschränken sowie Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren.5

Angesichts dieser reaktionären Stimmen ist es heute umso wichtiger, für sexuelle und reproduktive Rechte zu kämpfen. Dazu gehört, dass jede*r selbst entscheiden kann, Kinder zu bekommen. Dieses Buch versucht, dazu einen Beitrag zu leisten.

1Dass andererseits Mutterschaft nicht immer als befriedigend erlebt wird, hat im Jahr 2015 die israelische Soziologin Orna Donath in ihrer Studie bewiesen: Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis. In: SIGNS: Journal of Women in Culture and Society. Vol. 40, Nr. 2, 2015, ISSN 0097-9740, S. 343–367, doi:10.1086/678145 (Online-Version). Auf Deutsch erschien ein Teil der Studie: Orna Donath: Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen. Knaus, 2016, ISBN 978-3-8135-0719-5. Orna Donath hat damit wohl an ein noch größeres Tabu gerührt als wir, entsprechend intensiv waren die Diskussionen über ihre Arbeiten.

2https://www.youtube.com/watch?v=KdGtKgDyzVQ

3https://www.afd.de/familie-bevoelkerung/

4Die häufigen Online-Kommentare in dieser Richtung kommentiert Antifa im Welt-Chat treffend mit: „Wenn ich die Argumente von manchem Völkischen Beobachter hier lese, schrumpft mein Kinderwunsch sofort auf ein Minimum zusammen.“

5Einen ersten Einblick gibt der Artikel von Patricia Hecht und Christian Jakob: „Marsch für das Leben: Auf dem Kreuzzug“, taz vom 21.09.2018, http://www.taz.de/Marsch-fuer-das-Leben-in-Berlin/!5535227/. Wichtige Recherchearbeit zu Netzwerken und Strategien der „Lebensschutz“-Bewegung leistet das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e. V. (apabiz) in Berlin: https://www.apabiz.de/rubrik/lebensschutz-bewegung/

Vorwort

„Ich möchte keine Kinder haben.“

Dieser Satz ist ganz einfach. Harmlos ist er nicht. Wer ihn schon einmal geäußert hat – im Freundes- oder Kollegenkreis, den eigenen Eltern gegenüber, in der Liebesbeziehung –, weiß, welche Sprengkraft sich in ihm verbergen kann.

Einigen Menschen ohne Kinderwunsch, die den Satz aussprechen, begegnen Verständnis und Interesse. Viele aber, Frauen mehr als Männer, berichten von Wut und Aggression, von Vorwürfen und Unterstellungen, Neid und Argwohn: „Du willst es dir also leicht machen … Was glaubst du eigentlich, wer später mal deine Rente zahlt? … Du bist schuld an der demografischen Katastrophe … Du wirst im Alter einsam sein … Euch sind Geld und Karriere also wichtiger … Du hasst Kinder … Du weißt nicht, was du verpasst! … Das kommt schon noch.“

Aber wieso wollen eigentlich manche Menschen keine eigenen Kinder? Sind sie wirklich alle gefühlskalte Egoisten, die nur ein möglichst großes Stück vom Kuchen für sich behalten wollen? Das lassen jedenfalls die Äußerungen einiger prominenter PolitikerInnen vermuten. Nur die halbe Rente für Kinderlose, forderte Angela Merkel im Jahr 2003. Noch drohen Menschen ohne Kinder keine derartigen Sanktionen, auch wenn sie jetzt schon mehr Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen – aber Rufe wie der von Frau Merkel fangen an, lauter zu werden.

„Eine Absage an Kinder ist eine Absage an das Leben“, verkündete gar Otto Schily während seiner Zeit als Innenminister.1 Geht es nicht noch dramatischer?

Was Frauen und Männer uns erzählt haben

Die Menschen, die sich keine Kinder wünschen, kommen in den aktuellen Debatten um sinkende Geburtenzahlen kaum zu Wort. Das ist erstaunlich. Sicher, sie sind in der Minderheit – die meisten Menschen in Deutschland wünschen sich, mit Kindern zu leben. Doch immerhin möchten 23 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen in Deutschland freiwillig kinderlos bleiben.2

Dieser unbekannten Spezies wollen wir eine Stimme geben. Deshalb haben wir Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen befragt, die sich keine Kinder wünschen – ältere und jüngere, Männer und Frauen, in Partnerschaft oder solo lebende, Heterosexuelle, Schwule und Lesben.

Wir fragten: Wie leben sie, was ist ihnen wichtig? Wieso haben sie sich gegen Kinder entschieden? Fühlen sie sich mit dieser Entscheidung in ihrem Umfeld akzeptiert? Oder begegnen ihnen Vorwürfe und Unterstellungen? Erleben sie Druck von Verwandten, FreundInnen oder KollegInnen? Wie nehmen sie die Rolle der Medien wahr? Wie antworten sie darauf? Was wünschen sie sich von der Gesellschaft?

Jede Geschichte ist anders, und jedeR unserer GesprächspartnerInnen hat seine eigenen, unverwechselbaren Meinungen und Gründe, wieso sie oder er keine Kinder haben möchte.3

Miriam sagt von sich, sie habe schon mit 14 gewusst, dass sie keine Kinder haben wird: „Ich habe das Gefühl, dass das in meinem Lebensplan nicht vorgesehen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass das schon so mit mir auf die Welt gekommen ist.“ Tanja findet: „Ich muss mich nicht reproduzieren. Ich halte es für größenwahnsinnig, zu sagen: ‚Ich muss unbedingt einen Teil von mir in die Welt setzen.‘“ Susanne meint trocken: „Die schönen Erfahrungen mit Kindern haben nie dazu geführt, dass ich unbedingt ein eigenes Kind wollte.“

Es gibt auch Gründe, die mit den jeweiligen Lebensbedingungen zu tun haben: Gudrun hatte klar vor Augen, dass sie sich mit einem Kind finanziell stark von einem Mann abhängig gemacht hätte – jedenfalls so, wie vor dreißig Jahren in Westdeutschland die Kinderbetreuung aussah. In dieser Abhängigkeit hätte sie nie leben wollen. Claudia hatte eine sehr schwierige Kindheit, in der sie Gewalt und Einsamkeit erlebt hat, und ist sich sicher, sie hätte kein Kind heil großkriegen können.

Vielen unserer GesprächspartnerInnen ist auch wichtig, sich für eine lebenswerte Welt aktiv einzusetzen: Für Ulrich haben die Überbevölkerung und Ressourcenknappheit bei der Entscheidung gegen Kinder eine große Rolle gespielt. Thomas kann mit Kindern überhaupt nichts anfangen, sondern will sich unter anderem lieber politisch engagieren. Hannah will Zeit und Energie für ihre FreundInnen und ihren Partner haben und sich beruflich für eine Veränderung der Gesellschaft einsetzen – sie weiß, dass sie Vieles von dem, was sie für andere tut, mit Kindern nicht mehr könnte. Auch Eva hat in ihrem intensiven Berufsleben vor allem für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Afrika gearbeitet und weiß, dass das mit Kindern nicht gegangen wäre. Sie sagt: „Eigentlich finde ich mich nicht egoistisch.“

Viele Menschen, mit denen wir sprachen, haben intensive Beziehungen zu Kindern – entweder kümmern sie sich beruflich mit viel Herzblut um sie oder sie ziehen die Kinder ihrer Partner mit auf, sorgen für Geschwister mit Behinderungen, sind leidenschaftliche Tanten und Onkel oder kümmern sich um die Kinder ihrer FreundInnen. Eva hat jede Menge Freundinnen, die eine Generation jünger sind als sie und deren Leben sie begleitet.

Fast alle unserer InterviewpartnerInnen haben schon mal gehört: „Du weißt nicht, was du verpasst!“ – und auf fast niemanden trifft das zu. Sie wissen sehr wohl, wie schön und unschön es mit Kindern sein kann. Luise ist geradezu verliebt in jedes Kleinkind, guckt jedem Baby hinterher, kümmert sich rührend um die Kinder ihrer Freundinnen – und wollte trotzdem nie ein eigenes.

So verschieden die Menschen und ihre Motive sind, eines haben wir oft gehört: dass die Entscheidung gegen Kinder auch aus einem großen Verantwortungsbewusstsein heraus gefallen ist. Alle GesprächspartnerInnen legen Wert darauf, dass jedes Kind ein Recht darauf hat, wirklich gewollt zu sein, und fast alle halten es für einen Skandal, dass so viele Kinder in unserer Gesellschaft zu wenig Förderung und Aufmerksamkeit bekommen. Luise erzählt uns nach dem Interview noch, sie sei ganz sicher, dass viele Eltern früher gar nicht wirklich Kinder gewollt hätten, sondern sie eher wegen fehlender Verhütungsmittel bekamen oder weil es kein alternatives Lebensmodell für Frauen gab. Sie findet es gar nicht schlecht, dass Kinder heutzutage für viele Menschen „ein Projekt“ sind, auf das man sich gut vorbereitet und für dessen Umsetzung man sich viel Zeit nimmt.

Und tatsächlich bekommen die Kinder, die heute in Deutschland auf die Welt kommen, durchschnittlich viel mehr Liebe als früher: So berichtet der Kriminologe Christian Pfeiffer: „Seit 1992 hat sich der Anteil der einheimischen Deutschen, die zu Hause völlig gewaltfrei aufgewachsen sind, von 26,4 auf 52,1 Prozent fast verdoppelt. […] Außerdem haben alle von uns gemessenen Formen elterlicher Zuwendung zugenommen.“4

Warum wir dieses Buch lieber nicht geschrieben hätten

Ein Kinderwunsch muss heute im Allgemeinen nicht begründet werden – das Nichtvorhandensein dieses Wunsches aber sehr wohl. Das wird hinterfragt, es wird psychologisiert, es gilt als „heilbar“ durch gutes Zureden, durch schlichtes Älterwerden und durch ungefragtes Kinder-in-den-Arm-Drücken. Schon in der Frage: „Warum willst du denn kein Kind?“ kann eine gewisse Aggression stecken, weil niemand eine Schwangere fragen würde: „Warum willst du denn ein Kind?“, im Gegenteil, das gälte als taktlos und absurd. Rechtfertigen müssen sich die Kinderfreien, nicht die anderen.

Diesen Rechtfertigungsdruck finden wir falsch. Es sollte genauso normal sein, keine Kinder zu wollen, wie unbedingt Eltern werden zu wollen. Viele unserer GesprächspartnerInnen berichten, dass sie oft unangenehm angegangen worden sind. Ruth zum Beispiel fühlt sich von der Frage, warum sie denn immer noch kein Kind hat, oft belästigt: „Das ist so eine private, persönliche Frage, das ist sehr unverschämt.“

Und wir? Wir machen mit diesem Buch genau das, was wir für falsch halten: Wir fragen nur die Menschen ohne Kinderwunsch nach ihren Gründen, keine Kinder zu wollen. Sie mussten sich also sozusagen vor uns rechtfertigen. Das ist doch paradox. Wieso tun wir das? Nun, vor allem, weil wir es satt haben, dass so oft über Menschen ohne Kinderwunsch gesprochen wird, aber höchst selten mit ihnen. Deshalb war es uns so wichtig, sie selbst, ihre Ziele und Wünsche und eben auch ihre Gründe gegen ein Leben mit Kindern darzustellen. Alle Interviewten haben unsere Gespräche glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt als anstrengende Rechtfertigung verstanden, sondern waren im Gegenteil sehr froh und teilweise erleichtert, ihre Sicht der Dinge einmal in Ruhe darstellen zu können.

Nebenbei: Wenn man schon nach Gründen fragt, wäre es vielleicht lohnenswert, auch nach den Motiven von Eltern zu forschen. Immerhin setzen sie abhängige kleine Menschen in die Welt, die ihnen auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind. Was ist ein Kinderwunsch anderes als – egoistisch? Menschen möchten so leben, wie es ihnen Freude macht, in diesem Falle mit Kindern. Sie möchten „eigene Kinder“, empfinden Kinder als „Bereicherung“ ihres Lebens – nicht gerade altruistische Vokabeln. Sie möchten sich in ihren Kindern verewigen. Sie haben einen Wunsch und setzen ihn um.

Wir kennen Eltern, die ihre kaputte Herkunftsfamilie durch eine eigene Familie wieder heil machen wollen; Frauen, die sich von einem Kind erhoffen, aus ihrer Einsamkeit erlöst zu werden und endlich eine stabile Beziehung hinzubekommen; Männer, die den Wunsch nach einem „Stammhalter“ über alle anderen Ziele und Bedürfnisse auch ihrer Partnerin stellen; Frauen, für die ein eigenes Kind dafür steht, endlich als „richtige Frau“ anerkannt zu werden. Und natürlich kennen wir auch viele Eltern, die schlicht und einfach Freude am Leben mit Kindern haben, sie lieben und fördern und sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen können.

Die Gründe für Kinder sind so vielschichtig und legitim wie die gegen Kinder. Warum werden nur die gegen Kinder hinterfragt? Es gibt nichts zu verteidigen oder zu erklären, wenn man kein Kind will. Es gilt nur, zuzuhören und zu akzeptieren, dass es viele gute Gründe gibt, keine Kinder zu wollen, und viele Wege, ein erfülltes Leben ohne Kind zu führen. Die Gründe und Lebenswege sind so verschieden wie die Menschen. Einige von ihnen stellen wir mit den folgenden Porträts vor.

1Bundesministerium des Innern: Presseerklärung: Die Deutschen wollen immer weniger Kinder, 02.05.2005.

2Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung/Höhn, Charlotte/Ette, Andreas/Ruckdeschel, Kerstin: Kinderwünsche in Deutschland. Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik. Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2006, S. 20. http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Kinderwunsch.pdf

3Nicht alle Gespräche, die wir geführt haben, konnten in diesem Buch Platz finden. Die nicht gedruckten sind teilweise online unter www.ichwillkeinkind.de nachzulesen.

4Christian Pfeiffer: Wandel der Kindererziehung in Deutschland. Mehr Liebe, weniger Hiebe. In: Süddeutsche Zeitung vom 15.01.2012, http://www.sued-deutsche.de/politik/wandel-der-kindererziehung-in-deutschland-mehr-liebe-weniger-hiebe-1.1258028

Ein paar Fakten

Gibt es eine „demografische Katastrophe“ – und sind die Kinderlosen daran schuld?