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Sie sind am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere und nicht älter als 35 Jahre. Sie suchen nach einer ernsthaften Herausforderung in der Literaturszene. Dazu haben sie die Chance – als Teilnehmer*innen des open mike des Hauses für Poesie.

Der open mike ist der Wettbewerb für junge Literatur. Längst ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Viele Autor*innen, deren Namen heute im Literaturbetrieb bekannt sind, haben ihre Karriere beim open mike in der Literaturwerkstatt Berlin, heute Haus für Poesie, gestartet. Dazu gehören zum Beispiel Karen Duve, Rabea Edel, Julia Franck, Björn Kuhligk, Inger-Maria Mahlke, Terézia Mora, Kathrin Röggla und Tilman Rammstedt.

Sechs Lektor*innen aus renommierten Verlagen – Günther Eisenhuber (Jung und Jung, Salzburg), Urs Engeler (roughbooks, Schupf-art), Nadya Hartmann (Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main), Eva-Maria Kaufmann (dtv, München), Susanne Krones (Penguin Verlag, München) und Martina Wunderer (Suhrkamp Verlag, Berlin) – haben riesige anonymisierte Textberge abgetragen, sich durch rund 600 Einsendungen gelesen und die 22 interessantesten Texte herausgesucht. Die ausgewählten Autor*innen präsentierten im Finale vom 8. bis 10. November 2019 in Berlin ihre Texte dem Publikum und den Juror*innen Uljana Wolf, Thomas Meinecke und Clemens Meyer.

Der open mike ist eine Gemeinschaftsveranstaltung des Hauses für Poesie und der Crespo Foundation in Kooperation mit dem Heimathafen Neukölln und dem Allitera Verlag.

27. open mike

Wettbewerb für junge Literatur

Die 22 Finaltexte

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Allitera Verlag

Inhalt

Vorwort von Ulrike Crespo Eine Bühne, ein Mikrofon und 15 Minuten Zeit

Sina Ahlers Originale

Sebastian Behr Verschwinden

Hannah Bründl wald-efeugeil: stille (auszug)

Annina Haab Nachbarschaft

Carla Hegerl Bambi: Gedichte

Clara Heinrich Gedichte

Manon Hopf Gedichte

Lasse Jürgensen altes Geld

Lisa Krusche Tralala im Kopf

Sarah Kuratle Auf ihrer Zunge eine Hand voll Blätter

Nora Lassahn Ein Traditionszirkus auf Wundersuche

Simon Liening Rot

Katrin Pitz Antworten zu geben

Laetizia Praiss Widerhall

Nadine Sieger Irma

Fiona Sironic Das ist der Sommer, in dem das Haus einstürzt (Auszug)

Alexandra Stahl Mein Vater badet morgens

Friedrich Stockmeier GLORYHOLE, WEIN und OLEANDER

Mascha Unterlehberg HELIOPHILIA

Angie Volk Das Schicksal der Edlen Steckmuschel

Elisa Weinkötz Gedichte

Zarah Weiss Gold’ne Kette, gold’ner Schuh

Die Autor*innen

Die Jury

Die Lektor*innen

Preisträger*innen & Jury 1993–2019

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ULRIKE CRESPO

Eine Bühne, ein Mikrofon und 15 Minuten Zeit

Seit 1993 gibt es ihn nun schon, den open mike. Begonnen hat alles mit einer einfachen Idee, die damals wie heute den Kern dieses Literaturwettbewerbs ausmacht, weil sie noch immer trägt: Junge Autor*innen sollen eine Bühne, ein Mikrofon und 15 Minuten Zeit bekommen, um aus ihren Texten zu lesen und sich in der literarischen Öffentlichkeit einen Namen zu machen.

Bis zum Jahr 2005 wurde der open mike von der Stiftung Preußische Seehandlung finanziert, die sich dann aber aus der Förderung zurückziehen musste. Damals war Karin Heyl die Geschäftsführerin meiner Stiftung. Über ihr Netzwerk hatte sie erfahren, dass der open mike einen neuen Förderpartner braucht, und fragte mich, ob ich mir ein Engagement seitens der Crespo Foundation vorstellen könne? Ich war sofort begeistert, denn meine Stiftung fördert seit jeher junge Künstler*innen, und ich selbst habe – neben der Musik – ein besonderes Faible für Literatur.

Seit 2006 begleitet also die Crespo Foundation den open mike. Dabei war es mir von Anfang an wichtig, nicht nur finanziell zu fördern, sondern zusätzlich auch konzeptionelle Impulse in die Weiterentwicklung des Wettbewerbs einzubringen. So haben wir den open mike gemeinsam mit dem Haus für Poesie zu dem gemacht, was er heute ist: nicht nur ein Literaturwettbewerb, sondern eine Talentschmiede, die junge Autor*innen in ihrer künstlerischen Entwicklung fördert und ihnen Zugang zu wichtigen Netzwerken im Literaturbetrieb verschafft – durch Schreibwerkstätten, Kolloquien, Debütlesungen ehemaliger Preisträger*innen, Lesereisen der jeweils aktuellen Preisträger*innen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie durch den open mike-Blog. All diese konzeptionellen Details, die wir dem open mike in Kooperation mit dem Haus für Poesie über die Jahre hinzugefügt haben, haben den Wettbewerb lebendiger und für das Publikum, insbesondere aber für die Künstler*innen spannender und fruchtbarer gemacht.

Die Karrieren vieler Autor*innen, deren Namen heute aus dem Literaturbetrieb gar nicht mehr wegzudenken sind, haben beim open mike begonnen. Heute ist der open mike der wohl bedeutendste deutschsprachige Nachwuchswettbewerb für Prosa und Lyrik. Für die professionellen Talentscouts der Buchbranche und Literaturkritiker*innen ist der Wettbewerb mittlerweile ein jährlicher Pflichttermin.

Es ist nicht zuletzt dem open mike zu verdanken, dass Berlin auch zur Hauptstadt der jungen deutschsprachigen Literaturszene geworden ist. Für mich und das Team der Crespo Foundation war es eine Freude und Ehre, den open mike in den vergangenen 13 Jahren begleiten und fördern zu dürfen, und wir wünschen ihm für die Zukunft alles erdenklich Gute. Thomas Wohlfahrt und sein Team haben in den vergangenen drei Jahren die Weichen für eine Fortsetzung des Wettbewerbs mit neuen Förderern gestellt.

Seit 1993 war der open mike im besten Sinne des Wortes »work in progress«. Ich bin sehr gespannt darauf, wie er sich – nicht zuletzt durch die Impulse neuer Förderer – weiterentwickeln wird, und freue mich auf inspirierende neue Texte vielversprechender Nachwuchsautor*innen!

Ulrike Crespo ist Vorsitzende der 2004 gegründeten Crespo Foundation, die den open mike seit 2006 als Stiftung unterstützt.

SINA AHLERS

Originale

ÜBERSETZUNG 2

I Eines Nachts stieg ich in eine Streichholzschachtel.

II Seit zweitausendzehn werden die Winter wärmer.

III Von einer Brücke herunter habe ich einer leeren Autobahn meine Brüste gezeigt.

IV Nach dem Weinen und einer Nacht Schlaf ist es, als trüge man ein fremdes Gesicht.

V In Bädern werden meine Gedanken zu Kacheln, die scharf von den Wänden fallen.

VI Wenn du dich ein Mal für den Wahnsinn entschieden hast, lässt er dich nicht mehr gehen.

VII Die Oberflächenspannung des Wassers trägt ganze Menschen.

ÜBERSETZUNG 3

I Das letzte Zündholz in einer Schachtel deutet das Scheitern schon voraus. Im schlechtesten Fall bekommt man im Moment der Zündung nicht mal eine Zigarette zum Glühen. Die Schwefelflamme duckt sich bei leichtem Nordostwind unter dem Objekt weg. Dann wird es dunkel.

II Den letzten harten Winter habe ich verpasst. Der Schnee hing wohl so schwer über den Regenrinnen, dass es den Menschen zu gefährlich war, ihre Häuser zu verlassen. Wenn es ein Maximum an Häuslichkeit gibt, war das die letzte Chance. Mir bleibt nur noch das Stromern in der Welt.

III Diese Gesellschaft ist ja so brav geworden. Ich langweile mich in meiner Generation beinah zu Tode. Selbst mir fällt nichts mehr ein, womit ich provozieren könnte. Ob das mit den gelinde werdenden Strafen zusammenhängt? Ob man zu härteren Verstößen neigt, je brutaler die Bestrafung? Ich denke, der Mensch begehrt die heimliche Freiheit.

IV Wenn sich eine Verzweiflung im Gesicht festgreift, läuft Tränenflüssigkeit auch hinter die Haut. Und im Schlaf dann formen dir deine Träume ein zweites Gesicht, mit dem du morgen durch den Tag kommen musst, Kröte.

V In manchen Familienhäusern gibt es Badezimmertüren, die nicht abschließbar sind. Es macht mir Sorgen, wie unterschiedlich Privatsphäre gehandhabt wird.

VI Es zeugt von gesundem Menschenverstand, einen Therapeuten aufzusuchen. Sobald man aber einen Fuß in eine Psychi-atrie gesetzt hat, scheint sich an der Konsistenz des Verstandes etwas grundsätzlich verändert zu haben. Dein Wahnsinn wohnt jetzt in einer Institution. Ihm wurde ein eigenes Haus gebaut. Dass du nicht auf der nassen Straße zusammenklappen musst.

VII Wenn ich so auf dem Wasser liege, frage ich mich, warum ich je an Land gegangen bin.

ÜBERSETZUNG 4

I Zum Sterben laufen wir an Haltestellen, um uns vor einfahrende Züge zu werfen. Wir haben alte Regenjacken an. Wir nehmen die Hände in die Taschen und finden Streichholzschachteln. Wir schieben die Schachteln auf. Darin liegen Zettel, auf denen Telefonnummern stehen, und letzte Zündhölzer. Wir rufen an und laufen Hand in Hand zu den nah gelegenen Häusern der Großeltern. Die Federbetten in den Gästezimmern sind wie Uteri. Wir schauen uns an, auch wenn wir schlafen. Frühmorgens wachen wir auf, steigen aus den Fenstern und laufen nach Hause.

II Zum Sterben ziehen wir uns leicht an und gehen raus in den Schnee. Wir haben die Bücher dabei, in denen wir nach Zeichen gesucht haben. Aber da waren keine. Also gehen wir an die Ränder der Dörfer auf Anhöhen an Feldern und legen uns auf Bänke, die Köpfe auf den Büchern der fehlenden Zeichen. Wir wollen erfrieren. Es gelingt uns nicht. An diesen Tagen ist es nicht kalt genug. Der Schnee schmilzt. Wir kommen pünktlich zum Abendessen nach Hause.

III Zum Sterben laufen wir auf die Autobahnbrücken hinter unseren Häusern. Die Nächte sind lau und sternverstrahlt. Also verlieren wir die Lust am Sterben. Zu Hause öffnen wir die Fenster und schlafen tief.

IV Zum Sterben sinken wir betrunken in Partyküchen zusammen und weinen uns in Unterwelten. Niemand weiß, woran wir zerbrechen, aber sie haben Verständnis. Wir weinen lange an Brustkörben, bis wir schwach sind und die Trauer versickert. Sie bringen uns in die Betten. Die nächsten Morgen schauen uns mit angedickten Augen an. Sie sehen nichts. Das stimmt uns glücklich.

V Zum Sterben gehen wir in Badezimmer und liebäugeln mit scharfen Gegenständen. Wir fantasieren uns in saubere Duschen, in denen das Blut den Abfluss findet. Dann wischen wir den Urin vom Geschlecht und flüchten auf Balkone. Sie folgen uns und wir ändern die Pläne. In Tiefen zu springen. In Korbstühlen zittern wir, bis es hell wird. Ihr begleitet uns nach Hause, aber wir schlafen nicht. Nur Hochglanzserien können uns ablenken. An Mittagen gibt es Pfannkuchen.

VI Zum Sterben stehen wir in Innenhöfen. Ihr haltet uns fest. Ihr überlegt, in die Psychiatrien zu fahren. Wir lehnen das ab. Wir haben Ängste, dass das das Ende unserer normalen Leben sein könnte. Dass wir die Grenzen überschreiten. Wir müssen versprechen, wieder Kontakt zu den Welten aufzunehmen, versprechen, dass wir uns wieder auskennen. Wir versprechen alles und werden darüber froh.

VII Zum Sterben gehen wir des Nachts an die Flüsse. Es regnet stark. Auf dem Weg dorthin schreiben wir Nachrichten vom Nichtmehrkönnen. Ihr fragt uns, was wir nicht mehr können. Darüber denken wir so lange nach, bis die Flüsse uns metaphorisch und die Leben real vorkommen.

Übersetzung 5

I Jouissance. Zwei Menschen fangen Feuer. Die eine kokelt ein bisschen am Ohr. Dem anderen knistert die Lende. Sie stecken sich gegenseitig an, bis am ganzen Körper Flammen nagen, greifen, lecken, schlagen. Hast du einen Moment versucht zu flüchten, junger Padawan? Eingefangen! Grade noch am Brustkorb erwischt. Deine Rippen, wie Zündhölzer in meiner Hand, ein Tuch aus Fleisch darüber gespannt. Die Luft wird knapp. Das Fleischtuch zappelt. Spürst du’s? Das ist der Höhepunkt. Mehr kann ich für dich nicht empfinden, darüber kommen wir nicht hinaus. Ich will darüber hinaus. Aber ich komm nicht darüber hinaus. Aber ich will darüber hinaus.

II Häuslichkeit ist ein Lustprinzip. Dieselben Menschen, in den immerselben Räumen, auf gebügelten Laken drapiert. Was bleibt, ist ein gelber Rand und die Mechanik des Küssens.

III Eine exklusive Beziehung ist zum Davonschleichen. Die Regeln sind so bekannt wie die Stellen, an denen die Holztreppe nach unten knarrt. Mit der Tür, die ins Schloss fällt, wachst du auf. Ich bin verloren.

IV Heute hat keiner Zeit zum Spielen. Und du? Der du neben mir liegst in einer nebulösen Vertrautheit? Magst du ein bisschen für Klarheit sorgen? Nimm die Maske von der Wand und drück sie mir so lange ins Gesicht, bis sie passt. Es wird dir gefallen.

V Ich pisse. Die Tür geht auf. Dein Blick geht viral. Ich lösche mein Profil. Du greifst in meinen Urin. Ich schließe den Muskel. Es gibt Dinge, die gehören dir nicht. Du nimmst ihn in den Mund. Ich sage, bäh Kevin, bäh, tu der Mama den Gefallen und nimm nicht jeden Schmutz in den Mund. Du schiebst mir zwei Finger in die Vagina. Hast du im Sand gespielt? Die Pisshand drückst du mir ins Gesicht. Jetzt hilft kein Humor mehr, nur noch Gewalt. Ich bin eine Frau. Und ich habe Gewalt.

VI Es gibt Momente, in denen wünsche ich mir einen Wahnsinn. Damit sich die Dinge um mich herum auf eine neue Art betrachten lassen. Damit mein Körper vergisst, was er zu wissen glaubt. Damit ich vergesse, was ich über deinen Körper zu wissen glaube. Selbst im Drogenrausch bin ich auf ein Introjekt zurückgeworfen. Normstreicheln. In Form lecken. Mandalastöhnen. Ich will über deine Ränder malen. Jemand reiche mir einen dicken Pinsel und Fehlfarben.

VII So, wie das Meer in eine Unruhe gerät. Sich überwirft. Gegen Felsen klatscht. Gurgelt und schmatzt. Und der Untergrund nie unberührt bleibt. Genau so.

Übersetzung 8

I Am Morgen habe ich große Sehnsucht danach, mich an einen Traum zu erinnern, von dem ich dir erzählen kann. Mir kommen die blauen Blumen in den Sinn, die gestern nah am See wuchsen. Die Angst, es könnte sich um Eisenhut handeln, und du in deiner Infantilerie ein paar Blüten schluckst. Um nicht zu lügen, schlafe ich noch mal ein und tauche nach einer wahren Begebenheit.

II Es sind nicht Räume. Es sind Menschen, in denen ich wohne. Ob ich in ihnen eine Nische finde, in der ich dichten kann.

III Die Wände bewegen sich. Langsam. Raum ist geduldig. Morgens schon, im Dampf eines Wasserkochers, da fängt das mit euch an. Er wartet darauf, dass du deine Stirn an seinen Putz legst. Ein bisschen Qualitytime. Das wird ja wohl noch. Du bist hier nicht im Hotel irgendwas. Ihr könnt jetzt intim werden. Der Keller ist feucht. Scheiße. Musst dich kümmern. Bilder hängen an Bildern. Die kriegst du nie mehr getrennt. Du, in deiner Gewohnheit: Ablaufen und Einordnen. Dahin der süße Senf, eine Stabkerze nachladen. Hau doch ab. Geh raus. Finde eine Bank, an der genau richtig viele Menschen vorbeikommen. Für den latenten Sinn kannst du zurückkommen. Darfst eine Fläche aufstellen, die nicht wie ein Tisch aussieht, aber wahrscheinlich genauso funktioniert. Darfst von blassen Fliesen essen, das scharfe Eisen aus dem Balken ziehen. Der Gasherd verteilt die Hitze ungleichmäßig, im Kühlschrank liegt Knete, aus der Vase ragt ein Knochen, irgendwo wirft ein Objekt Licht auf die Flächen. Wohnraum gehört dir nicht.

IV Unser Chatverlauf über Wochen. In denen wir uns fehlen und in eine Gedächtnislücke flüstern. Fantasien, alles nur Fantasien. Ich will irgendwas, das wahr ist. Etwas, das in die Zeit fällt. Dass einer den anderen mit heißem Kaffee verbrüht. Aua. Entschuldige. Schon verziehen.

V Ich male Gott. Eine Säufernase am linken Rand. Große Poren über den krummen Rücken verstreut. Finger, die in alle Richtungen stehen. Füße fehlen ganz. Ich habe Gott gemalt.

VI Während ich diese Sammlung vorlese, hat mein Knie schon sechs Mal gezuckt. Immer an Stellen, die sich noch nicht von meiner Biografie gelöst haben. Und wenn ich in ihr Fahrwasser gerate, kippt mein Knie einmal kurz nach links und nach rechts. Das hat nichts mit Verlegenheit zu tun. Die Versessenen hocken im Gelenk und nehmen sich den Raum, den sie zum Fortleben brauchen.

VII Du greifst den Apfel aus der Schale und nimmst einen unverschämt großen Bissen. Es knackt, als hättest du dir dafür deinen Kiefer ausgehängt. Spucke und Saft trielen auf deine Gürtelschnalle. Mein Blick sagt: Was zur Hölle. Du wirfst das Gehäuse in den Plastikmüll und lachst dreckig.

Übersetzung 12

I Im Schnee einer stillgelegten Landstraße mime ich rücklings einen Engel. Der Himmel hängt einen Zentimeter über meiner Stirn. Es gibt nur wenige Momente, in denen man friert, aber ein Lächeln wie 24 nackte Streichhölzer.

II Ein Mensch, der Angst hat, in Deutschland zu verhungern. Steht am Fenster seines Einfamilienhauses und schaut den Amseln beim Jagen zu. Es ist so leicht. Es ist so leicht. Es ist zu leicht.

III Großvater, von deinem Selbstmord 1972 ist noch heute etwas übrig. Wenn du das gewusst hättest, oder?

IV All diese Symptome, passen in kein Krankheitsbild, ihr Ficker, Wissenschaft ist eine Asymptote.

V Als Kind nennt ihr es Fantasie. Im Jugendalter stellst du dumme Fragen (Schamfolgen). Ab Mitte zwanzig ist dein Leben dann eine ganz, ganz große Behauptung. Als ich sage, dass die Jahre mit dir ein Kompromiss waren, weil ich der Welt eine sehr, sehr eingängige Geschichte erzählen wollte, wird klar, dass wir nie eine Fantasie voneinander hatten. Ich wünschte, mir wäre in dem Moment eine dumme Frage eingefallen. Jetzt sitze ich auf öffentlichen Toiletten und fühle der Enthauptung nach.

VI Orgasmen können wehtun.

VII Es gab diesen Jungen, der Kinder gebissen hat. Mich hat er in Frieden gelassen. Es könnte an meinen ernsten Augenbrauen gelegen haben, oder daran, dass ich das härteste Brot von allen in der Box hatte. Bevor ich diesen Laden verlassen habe, biss ich mir einen Bluterguss in den Unterarm. Am nächsten Morgen hing kein Namensschild mehr über seinem Haken. Es gibt höhere Ziele.

SEBASTIAN BEHR

Verschwinden

»Who’s screaming upon night
the moonlight on the walk
will shortly disappear.«
unknown

eins

Es gibt ein Schwimmbad im Osten der Stadt, zwischen Gewerbehallen, dem riesigen, neu gestrichenen und dennoch mittlerweile nur noch schlecht besuchten Einkaufszentrum und zwei Autohäusern liegt es ein bisschen versteckt hinter Gebüsch und ein paar schmalen Bäumen. Aber wir finden es, laufen über den Parkplatz, gehen durch Schiebetüren, Lichtschranken, durch die Umkleidekabinen, die Duschen. Im Inneren befinden sich verschiedene Attraktionen, die die meisten größeren Spaßbäder aus den neunziger Jahren besitzen: ein kreisrunder Strömungskanal, verschiedene Whirlpools, zwei große, wasserbetriebene Rutschen, ein Außenbereich, sogar ein Wellenbecken. Das Becken misst etwa zehn mal acht Meter und ist mit rechteckigen, weißen Fliesen übermannshoch verkleidet. Wie in einer Schlachterei.

Die Menschen stehen bis zur Hüfte im Wasser und warten, alte, junge, kleine Kinder. Die Spannung legt eine seltsame Stille um sie. Alle dreißig Minuten setzt der Mechanismus ein und erzeugt etwa fünfzig Zentimeter hohe Wellen. Etwas löst sich und die Leute kommen in Bewegung, werfen sich hinein, drücken sich gegenseitig unter Wasser, kreischen, johlen, eine taucht unter den Wellen hindurch, springt auf, breitet die Arme aus, lacht hinter ihrem Schnorchel. Dann, nach zwei, drei Minuten, stoppt die Maschine, das Wasser beruhigt sich, die Gäste gehen zu den Rutschen. Ich stehe bis zu den Knien im Wasser. Das Chlor brennt in den Augen, meine Fingerkuppen sind faltig und weiß. Der Sommer nagt an mir, das Meer, der Strand, am Himmel weite Wolken. Ich dusche mich ab, ziehe meine Sachen an und warte draußen, neben der Schiebetür, auf die anderen.

Feuerwerk

Am Silvesterabend vor einigen Jahren feierten wir in der neuen WG im Süden. Einer hatte die Wanne im Bad bis zum Rand mit Bierdosen gefüllt, im Flur standen zwei Dutzend Schuhe und Punkmusik dröhnte blechern aus der kleinen Anlage durch die Wohnung. Vor elf Uhr abends gingen wir auf die Straße, lachten, grölten, liefen vorbei an leeren Häusern, Ruinen und ein paar heruntergekommenen Läden. Da waren auch andere unterwegs, einer zog ein langes Brett aus dem Gebüsch am Straßenrand und legte es über die Fahrbahn. Fast jeder, der da war, half und wir trieben Bretter, Balken, Einkaufswägen und sonstigen Unrat auf, um eine Straßensperre zu errichten. Ein Absperrgitter zogen wir quer darüber, das Holz zündeten wir an. Das alles dauerte keine Viertelstunde, verschiedene Menschen feierten, tranken und wärmten sich am Feuer. Schatten und jubelnde Hände huschten an den Flammen vorbei. Weiter oben, am Kreuz, standen Polizeiwägen, ein Wasserwerfer und eine Hundertschaft in Schwarz. Sie ließen sich Zeit und rückten nur langsam vor. Manchmal flog eine Rakete von einem der Dächer auf die dunkle, gepanzerte Menschenschlange und explodierte zu rosa oder grellgrünen Sternenhaufen. Nachdem der Wasserwerfer das Feuer gelöscht hatte, fuhr das Räumfahrzeug die Barrikade beiseite. Pflastersteine flogen auf die Schilde der Hundertschaft, Fensterscheiben gingen zu Bruch, »Bullenschweine!«, rief einer, ein anderer rannte mit blutiger Nase davon, alle hatten wir uns vermummt, sodass wir uns nur noch an unseren Augen erkannten. Tränengas lag in der Luft und brannte wie Säure. Die, die eine Ladung abbekommen hatten, röchelten, zogen sich die Tücher herunter und wurden ganz rot im Gesicht. Nach einer Weile rannten wir zurück in die WG, beschwerten uns über so viel Boshaftigkeit und bemerkten erst gar nicht, dass zwei von uns fehlten. Da fragte einer nach den beiden, wir schnappten uns ein Auto und fuhren zur Polizeidirektion in der Dimitroffstraße. Auf dem Weg lag alles voller Scherben, Bierflaschen, explodierter Silvesterböller, umgeworfener Mülltonnen und verbrannter Gegenstände. Wir freuten uns, so musste die Apokalypse aussehen, ein richtiger Aufstand. Auf dem Revier forderten wir lauthals und wild gestikulierend die Freilassung der Gefangenen, der Beamte hinter der Plexiglasscheibe blieb sitzen und meinte, es dauere noch ein Weilchen. Er könne auch nichts sagen. Als wir protestierten und nicht gehen wollten, bot uns der Polizist Kaffee an, die Sicherheitstür öffnete sich, und er gab uns zwei dampfende Plastikbecher. Wir verbrannten uns die Finger. Später warteten wir im Auto und tranken jeder noch ein Bier. Es dämmerte schon, als die beiden Vermissten die große Tür aufdrückten und herausstolperten. Wir rauchten noch eine Kippe vor dem Revier, scherzten und lachten: Es war ein schöner kleiner Krieg gewesen und beim nächsten Mal würden die alles zurückbekommen. Auf dem Nachhauseweg wunderte ich mich über die saubere Straße, ein kleines, oranges Kehrfahrzeug kam uns entgegen. Am Kreuz waren ein paar Flaschensammler unterwegs, das Café hatte geöffnet, vor dem Kiosk hing ein Schild, auf dem mit backfrischen Brötchen geworben wurde. Am Rand stand noch der Rest einer großen, heruntergebrannten Mülltonne, deren Plastikhülle samt Inhalt zu einem vielfarbigen Klümpchen zusammengeschmolzen war, und mich überkam große Lust auf ein Croissant mit Butter und Himbeermarmelade, auf ein Glas Saft und meinen weichen, warmen Schlafsack.

Krater

Das Zimmer, in dem ich wohnte, hatte strahlend weiße Wände und eine rote Bordüre, ein mäanderndes Muster, das an das kretische Labyrinth erinnerte und meinen Kopf wie einen Heiligenschein umgab. Es lag im obersten Stockwerk eines brüchigen Hauses, das die Besitzer, ein älteres Ehepaar, gerade an eine Immobilienfirma verkaufen wollten. Ich war dennoch eingezogen, hatte das Gefängnisgrau der Wände übermalt, die Kisten und alten Leitern entsorgt, die Fenster geputzt und Blumen aufgestellt. Das Zimmer war keine zwei Meter breit, aber es fand sich Platz für mich und das Kind, ich schlief oben auf dem Hochbett und außer im Hochsommer lag es sich gut. Eines Nachts ließ mich ein Hämmern aufschrecken, es dröhnte in meinem Schädel und die Wände zitterten. Der Nachbar musste, unter einem Anfall leidend und auf seinem Bett stehend, mit einem Hammer gegen die Wand schlagen. Sein Bett und meines trennte ja gerade nur eine einfache Lage übereinander gemauerter Ziegel, Putz und Tapete. Er schrie und wütete die ganze Nacht, randalierte später im Treppenhaus, trat und schlug gegen unsere Wohnungstür. Wir öffneten nicht. Sie weinte und ich hielt ihr die Ohren zu. Am nächsten Tag klingelte ich nebenan. Er schloss auf, lächelte und bat mich herein. Er könne sich nicht erinnern, was in der Nacht geschehen sei. Tief und fest habe er geschlafen. Wir tranken einen Kaffee in seiner Küche und redeten noch eine kurze Weile belanglose Sachen, wir wussten beide, dass der eine den anderen nicht mochte, und ließen uns doch nichts anmerken. Im Gehen flog mein Blick an seinem Zimmer vorbei, die Tür stand offen, die Wand, an der sein Bett lehnte, war übersät mit faustgroßen Einschlaglöchern, sandiger Putz verteilte sich über das Laken, das Möbel lag zertreten am Boden, ein Fenster war eingeschlagen. An der Wohnungstür gab ich ihm die Hand und wir wünschten uns einen schönen Tag. Zwei Monate später wurde uns allen gekündigt. Heute leuchtet das Haus in einem weichen Ocker, in den Fenstern stehen Orchideen und jemand hat Gardinen aufgezogen.

Reise

Es sind Ferien und wir fahren mit den Rädern an der Saale entlang, immer nach Norden, ihrer Mündung entgegen. Die Sonne scheint und es ist ungewöhnlich warm für Mitte April. Zu beiden Seiten des Flusses liegen grüne, baumbestandene Wiesen, die lehmfarbenen Steilhänge erzeugen eine steppenhafte Atmosphäre, der Himmel hat ein weiches Blau und es tut gut, ohne Hast und ohne Pause zu fahren, sich frei und ungebunden zu fühlen. Dennoch überkommt mich eine bedrückende Stimmung, wenn ich an den Ausgang des Tages denke, aber ich lasse mir nichts anmerken. Gegen Abend suchen wir nach einer geschützten Stelle für unser Zelt und jedes Mal habe ich, scheinbar ohne Not, an den Stellen etwas auszusetzen, also fahren wir weiter, und erst nach Sonnenuntergang, als wir schon nichts mehr sehen, gebe ich nach. Wir bauen das Zelt im Dunkeln auf, kochen am Ufer Nudeln mit roter Soße und ich höre mich immer wieder um, ob nicht doch jemand komme, der uns bestrafen würde. Ganz hoffnungslos, ganz zermürbt von Angst, Zweifel und Scham bin ich. Es kommt aber keiner, die Grillen zirpen, der Wind fegt über das Reet. Noch im Schlafsack, im Zelt kann ich alles deutlich hören, das Aufspringen der Fische im Fluss, ewiges Quaken der Frösche, kleine Eidechsen, die durch trockenes Gras rascheln. Sie sind immerzu wach und zittern, weil sie kein Zuhause haben.

Fächer

In der Nürnberger Straße stand bis vor wenigen Jahren ein altes, leergewohntes Eckhaus. Die rußige Fassade prangte immer noch streng und stuckverziert, das Holz der Fenstersprossen zeigte rissige Stellen, der Putz bröckelte und auf dem notdürftig gesicherten Dach wuchsen schmale Birkenstämmchen. Rundherum waren die übrigen Vorkriegsgebäude Ende der achtziger Jahre durch WBS 70-Plattenbauten ersetzt worden, vor denen man breite, in der Sonne sich schnell ins Braun verfärbende Rasenflächen angelegt hatte. Jedes Mal, wenn ich die Straße entlangkam, sah ich gern zu dem leeren Haus hinüber; in seinem Verfall strahlte es eine Erhabenheit aus, die seiner Umgebung abhandengekommen war.