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ANN MARIE ACKERMANN

Tod eines Mörders

Ein spektakulärer Kriminalfall aus dem 19. Jahrhundert

Mit einem Geleitwort von Ralf Michelfelder,
Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Dr. phil. Otfried Kies

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Ann Marie Ackermann ist eine ehemalige amerikanische Staatsanwältin, die seit 23 Jahren in Deutschland lebt. Sie hat nicht nur in den Bereichen Jura, Ornithologie und Geschichte publiziert, sondern auch akademische Aufsätze vom Deutschen ins Englische übersetzt. www.annmarieackermann.com

Dieses Buch wurde zunächst in den USA veröffentlicht, wo es einen Buchpreis erhielt (Independent Publishers Book Award 2018; Bronze Medal Winner – True Crime).

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1. Auflage 2019

© 2019 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, 72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

2017 erschienen als Death of an Assassin:

The True Story of the German Murderer Who Died

Defending Robert E. Lee © The Kent State University

Press, USA, 2017

Lektorat: Dr. Sabine Besenfelder, Tübingen.

Umschlaggestaltung, Satz und Layout:

César Satz & Grafik GmbH, Köln, unter Verwendung einer Fotografie von Inge Hermann (Originaldokumente und Waffe – baugleich, nicht original – des Mordfalls in Bönnigheim).

Druck: CPI Books, Leck.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-8425-2169-8

eISBN 978-3-8425-2307-4

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Für die Stadt Bönnigheim
und drei meiner Lieblingseinwohner,
Dieter, Alexander und Dennis

Welche Sühne gibt es für vergossen Blut?
Aischylos

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort – Ein außergewöhlicher Mordfall

Erster Teil:
Mord im Königreich Württemberg, 1835/36

Ein namenloser Held

Tatort Bönnigheim – 1835

Ein Konflikt bahnt sich an: Virginia und Texas, 1835/36

Der Mord und die Stadt

Die Sanduhr des Ermittlers

Die »Carolina«

Munition in der Waagschale der Justiz

Wie Kain wirst Du einhergehen

Ein Zeuge!

Die Geburtsstunde der forensischen Ballistik

Der himmlische Taktgeber

Eine Kritzelei im Wald

Zweiter Teil:
Exil in den Vereinigten Staaten, 1835–1846

Jäger und Gejagte

Flucht nach Amerika

Kurswechsel

Der Hauptmann in F-Dur

Dritter Teil:
Heldentum in Mexiko, 1847

Insel der Wölfe

Goldene Schätze und eine weiße Festung

Amphibischer Einsatz

Ein Brüllen wie ein Wirbelsturm

Ein Mann – so viel wert wie ganz Mexiko

Vierter Teil:
Eine internationale Lösung, 1872

Post aus Amerika

Neuerliche Untersuchung und Abschluss des Falls

Nachworte

Anhang

Dank

Bibliographie

Endnoten

Geleitwort

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Ralf Michelfelder, Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg.

Bönnigheim, es ist der 21. Oktober 1835. Ein Unbekannter erschießt den Bürgermeister Johann Heinrich Rieber. Es dauert 37 Jahre, bis die Tat aufgeklärt ist, und 183 Jahre, bis die Nachfahren des Hinweisgebers die ausgeschriebene Belohnung erhalten. Der Fall ist außergewöhnlich und steckt voller Superlative. Er ist historisch, einzigartig und spektakulär – besonders für die Kriminaltechnik.

Der Untersuchungsrichter Eduard von Hammer betreibt im Jahr 1835 großen Aufwand, er lässt 48 Schusswaffen der Bürger von Bönnigheim einsammeln. Er ist optimistisch: Mit der Untersuchung dieser Waffen will er den Täter zur Strecke bringen. Hammer hat so bereits 54 Jahre vor der ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung über die forensische Ballistik mit seiner Untersuchung bemerkenswerte Pionierarbeit geleistet. Abgesehen davon, dass er 48 potenzielle Tatverdächtige ausschließen konnte, hat er die Arbeit des Kriminologen und Gerichtsmediziners Alexandre Lacassagne in Grundzügen vorweggenommen. Die Gesetze der Wissenschaft sind jedoch eindeutig: Derjenige, der zuerst publiziert, gilt als der Begründer eines Wissenschaftszweigs, erntet den Ruhm und sichert sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern.

Die Enttäuschung über die trotz allem erfolglose Tätersuche nimmt Hammer übrigens mit ins Grab, er ist sich seiner bahnbrechenden Leistung zeitlebens nicht bewusst. Heute stellen wir fest: Nicht der Gründer der Lacassagne-Kriminologie-Schule in Lyon hat die forensische Ballistik erfunden, sondern ein schwäbischer Richter in einem Bönnigheimer Kriminalfall. Die Zeiten ändern sich, doch in der Kriminaltechnik haben manche Verfahren bis heute Bestand. Im Kern geht es um die zentrale Frage: Schuld oder Unschuld.

Fundierte Antworten gibt heute das Kriminaltechnische Institut beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Seine Untersuchungen und Analysen basieren auf wissenschaftlichen Methoden und folgen objektiven Kriterien. Diese finden national und international höchste Akzeptanz. Das weite Spektrum der Forensik stellt sehr hohe Anforderungen an die Qualifikation seiner rund 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Vielfalt: Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Chemie, Physik, Biologie, Informatik, Psychologie, Geologie und weiterer Naturwissenschaften sowie spezialisierte Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte suchen gemeinsam nach Antworten. Sie liefern die objektiven Fakten zur Wahrheitsfindung in justiziellen Verfahren.

Was Eduard von Hammer sicherlich trösten würde: Die Herangehensweise der Spezialistinnen und Spezialisten des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg folgt nach wie vor dem Hammerschen Prinzip. Ist das Geschoss durch die vorliegende Waffe abgefeuert worden? Passen Kaliber und sonstige Merkmale zur Waffe? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, beginnt die Suche nach Feinspuren. Denn jeder Lauf ist individuell, jedes Geschoss erhält sein charakteristisches Spurenbild durch den Lauf, der es einzigartig macht. Allein im Jahr 2017 hat das Landeskriminalamt Baden-Württemberg 758 Untersuchungen an Schusswaffen und Munition durchgeführt. Damit hat es maßgeblich dazu beigetragen, Täter zu überführen oder Personen vom Tatverdacht zu befreien.

Der »Cold Case« von Bönnigheim fasziniert die Spezialistinnen und Spezialisten bis zum heutigen Tage. Kriminalhauptkommissar Volker Schäfer, Sachverständiger für Schusswaffen und Schusswaffenspuren beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg, hat die Bedingungen des Jahres 1835 authentisch nachgestellt. Er feuerte diverse Schrote aus einer historischen Waffe ab und rekonstruierte detailgetreu das Vorgehen von Hammer. Schäfer konnte eindrücklich beweisen, dass die Expertise von Hammer auch noch im Jahre 2019 ihre volle Gültigkeit hat. Das vorliegende Buch von Ann Marie Ackermann beleuchtet diesen kuriosen Fall und lässt die Geschichte der Ballistik in einem neuen Licht erscheinen. Mit forensischer Genauigkeit und wissenschaftlicher Akribie nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit ins Jahr 1835 und macht so »Germany’s coldest case« brandaktuell und lesenswert – nicht nur für Freunde der Belletristik, sondern auch für versierte Kriminalisten. Wir danken Ann Marie Ackermann für die spannenden Einblicke in die Geschichte der Kriminaltechnik und freuen uns sehr, dass wir einen Beitrag hierzu leisten konnten.

Ralf Michelfelder

Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg

Stuttgart, im Mai 2019

Vorwort

Ein außergewöhnlicher Mordfall

Nach einem Mord fängt die Ermittlungsuhr zu ticken an. Im frühen 19. Jahrhundert tickte diese Uhr anders. Um überhaupt erfolgreich zu sein, mussten die Ermittler einen Mordfall binnen weniger Wochen aufklären. Da Indizien nur eingeschränkt nutzbar waren und forensische Kriminaltechnik noch fehlte, waren die Ermittler hauptsächlich auf Zeugenaussagen und Geständnisse angewiesen. Mit der modernen DNA-Analyse ist es heute möglich, jahrzehntealte Fälle zu lösen. Vor 200 Jahren hingegen war es unerhört, einen so alten Fall aufzuklären. Waren Spuren einmal erkaltet, blieben sie ›kalt‹.

Vor 200 Jahren fanden die Ermittler ihre Beweise in der Stadt oder Region, in der das Opfer oder der Täter wohnte. Normalerweise löste ein Strafverfolgungsbeamter den Fall. Unser Mordfall des 19. Jahrhunderts entsprach aber nicht der Norm. Der Mord fand in Württemberg statt, wurde aber in Washington, D.C., aufgeklärt. Er war der einzige Mordfall des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der in den USA gelöst wurde. Und es war kein Strafverfolgungsbeamter, der zur Aufklärung des Falles beitrug, sondern ein Zivilist. Er lieferte fast vier Jahrzehnte nach dem Mord den entscheidenden Hinweis.1

Wenn man tiefer in den Akten gräbt, merkt man, dass dieser regionale Fall auch in der Weltgeschichte seine Spuren hinterlassen hat. Die Ereignisse dieses Buches sind mit der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika verflochten. Sie spielten in der ersten Schlacht eines der beliebtesten Bürgerkriegshelden der amerikanischen Geschichte, Robert E. Lee, eine Rolle. Lee schrieb sogar einen Brief über den Täter.

Der Fall ist auch die Geburtsstunde der forensischen Ballistik. Der Ermittler benutzte dieses Verfahren schon 1835, eine Technik, die offiziell erst 50 Jahre später in Frankreich erfunden wurde. In seinem Eifer, die Tatwaffe zu bestimmen, hatte der Ermittler eine neue Idee: Der Württemberger scheint der erste Mann der Geschichte zu sein, der in einem Mordfall die »ballistischen Fingerabdrücke« einer Schusswaffe untersuchte.

Es waren die Vögel, die mich zu diesem Fall führten. Vogelbeobachtung ist mein Hobby. 2013 forschte ich in Archiven über das Vorkommen verschiedener Vogelarten in den umliegenden Wäldern, Streuobstwiesen und Weinbergen und bot der Bönnigheimer Historischen Gesellschaft an, einen Aufsatz über die Geschichte der örtlichen Vogelwelt zu schreiben. Kurt Sartorius, der Vorsitzende, übergab mir das unveröffentlichte Tagebuch eines Försters aus dem 19. Jahrhundert. »Sicher«, sagte er, »erwähnt der Förster darin irgendwelche Vögel.« Zwischen den Beobachtungen von Eisvögeln am Bach hinter dem Schloss und der Beschreibung von Jagdausflügen auf der Suche nach Waldschnepfen und Haselhühnern fand ich die Erwähnung eines Mordes. Der Förster beschrieb den Todesschuss auf den Stadtschultheißen und wie er fast 40 Jahre später im Forstarchiv Beweismaterial fand, das die Aufklärung bestätigte. Der Mörder war in die USA geflohen, und die Lösung des Mordfalls kam aus Washington, D.C.

Dieser Tagebucheintrag regte die ehemalige US-amerikanische Staatsanwältin in mir an, weitere Forschungen anzustellen. Mit der Absicht, einen zweiten Aufsatz für die Historische Gesellschaft zu schreiben, fing ich an, dem Täter in amerikanischen Archiven nachzuspüren. Meine Nachforschungen führten mich in die Archive Philadelphias. Zusätzlich nahm ich Verbindung zu einigen Forschern auf, mit der Bitte, mir mit Archivrecherchen in anderen Teilen der USA zu helfen.

Die vorliegende Kriminalgeschichte hebt den Vorhang von zwei kaum erforschten Kapiteln der deutsch-amerikanischen Geschichte. Eines dreht sich um kriminelle Auswanderer. Der Mörder machte genau das, was viele andere deutsche Straftäter damals taten, wenn sie in in ihrem Geburtsland nur noch die Aussicht auf Gefangennahme und Todesurteil hatten: Er floh in die Vereinigten Staaten. Das war ein Risiko. Straftäter wanderten oft illegal aus, ohne Papiere, mit gefälschtem Pass oder unter Decknamen: ein dunkler Teil der Geschichte der Einwanderung und dennoch ein Aspekt des amerikanischen Kulturerbes. Sobald sie in den Vereinigten Staaten waren, versuchten sie, sich in der Neuen Welt zu integrieren, in der Hoffnung, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Natürlich teilten sie den amerikanischen Behörden ihre Taten nicht mit. Aus diesem Grund wissen wir heute wenig über diese Menschen. Nur selten fanden die wahren Motive für ihre Auswanderung den Weg in die behördlichen Akten und Statistiken.2 In diesem Fall war die Recherche also mehr als eine schlichte Suche nach einzelnen Puzzleteilen in deutschen und amerikanischen Archiven, ich musste sie dem gut gehüteten Mordgeheimnis quasi einzeln entlocken und wieder zusammensetzen.

Dieser Mordfall beleuchtet aber auch einen der wenig erforschten Aspekte des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs von 1846 bis 1848 – die Rolle der deutschen Soldaten. Eine multikulturelle Armee führte jenen Krieg, in dem die Vereinigten Staaten fast ein Drittel ihres jetzigen Hoheitsgebietes eroberten.3 Tausende von Immigranten meldeten sich zum Militärdienst. Ungefähr 40 Prozent der Rekruten der regulären Armee waren Einwanderer, hauptsächlich Iren und Deutsche.4 Zusätzlich wurde eine Miliz aus Freiwilligen aufgestellt, in der sich deutsche Kompanien aus Missouri5, Ohio6 und Philadelphia7 befanden. Der Mörder trat in eine Kompanie aus Philadelphia ein, die als »rein deutsch« galt.

Obwohl irische Soldaten im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielten, wurde bislang über die Rolle der deutschen Soldaten in jenem Krieg nur wenig veröffentlicht. Was erschienen ist, sind hauptsächlich drei Tagebücher von deutschen Teilnehmern und eine Briefsammlung.8 Der Mörder selbst hinterließ kein Tagebuch und keine Briefe.

Die Dialoge in diesem Buch sind nicht erfunden. Sie stammen unmittelbar aus den Zeugenvernehmungen des deutschen Ermittlers.

Dass der Mörder mich auch zu Robert E. Lee führen würde, hatte ich nicht erwartet. Damit wurde dieses Buch mehr als ein Lokalkrimi für die Zeitschrift meiner Historischen Gesellschaft. Dies ist deutsch-amerikanische Geschichte, verpackt als spannender Kriminalfall.

Erstaunlicherweise zieht diese internationale Geschichte Kreise bis in das 21. Jahrhundert. Meine Forschungen zeigten, dass die Belohnung für die Aufklärung des Mordes nicht bezahlt worden ist, was im Jahr 1872 hätte geschehen müssen, als der entscheidende Hinweis aus Washington, D.C., kam. Der ehemalige Bürgermeister des Tatortes, ein Nachfolger des Mordopfers, machte den Fehler 2018 wieder gut. Auf Einladung eines US-amerikanischen Bürgermeisters flog er mit mir in die USA, um eine Belohnung von 1.000 Euro an die Nachkommen des Hinweisgebers zu übergeben. Dazu beantragte er einen neuen Guinness-Weltrekord-Titel für die am spätesten ausbezahlte Belohnung für die Aufklärung eines Mordes.

Es ist mir eine große Freude, diese Geschichte mit Ihnen zu teilen.9

Erster Teil

Mord im Königreich Württemberg, 1835/36

Kapitel 1

Ein namenloser Held

Auf seine Angriffsziele konzentriert, duckte sich Hauptmann Robert E. Lee hinter dem Schutzwall. Seine Gedanken waren bei dem verletzten Soldaten hinter ihm, dessen Schmerzen qualvoll sein mussten.

Es war Lees erste Schlacht, und obwohl er seine Pflicht tat, konnte er das Leiden um ihn herum schwer ertragen. Hier, bei der Belagerung von Veracruz im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, sammelte Lee seine ersten Erfahrungen mit Kriegsverletzten. Die Strategie, die er mit General Winfield Scott (1786-1866) entworfen hatte, ging nun in Rauch, Blut und zersplitternden Knochen auf.

Westlich der Stadt Veracruz, des wichtigsten Atlantikhafens Mexikos am Golf von Mexiko, hatten sie eine landseitige Marinebatteriestellung errichtet. Lee kommandierte die Kanonade. Er wählte die Ziele an der Stadtmauer und den Befestigungen aus, und die Matrosen feuerten. General Scotts Absicht war es, die Verteidigungsanlagen zu schleifen.

Veracruz warf im Gegenzug Granaten auf Lees Einheit. Die Amerikaner duckten sich hinter dem Kanonenwall, um sich zu schützen, aber manchmal trafen die Granaten die Köpfe der Matrosen mit einem furchtbaren Schlag und enthaupteten sie. Diese knirschenden Explosionen hatte keines von Lees Lehrbüchern je beschrieben.

Der Mann, an den Lee jetzt dachte, lag, zum Schutz vor der quälenden Sonnenglut mit belaubten Ästen bedeckt, in einem Schützengraben hinter der Stellung. Eine hereinfliegende Kanonenkugel hatte eines seiner Beine zerschmettert, und als er am Boden lag, flog noch eine Kugel hinein, traf das gleiche Bein und zerschmetterte es noch einmal.10

Diese fürchterlichen Wunden quälten den Gefreiten, besonders dann, wenn das Kanonenfeuer den Boden erbeben ließ. Der Mann musste vorübergehend versteckt bleiben; man konnte ihn nicht zum Lazarett tragen. Die Offiziere hatten angeordnet, dass niemand die Gefechtsstellung verlassen dürfe. Das mexikanische Dauerfeuer machte das zu gefährlich. Der Verletzte litt Höllenqualen, doch er beklagte sich nicht.

Später, als der feindliche Beschuss nachließ, entschieden die Offiziere, dass es nun sicher genug sei, ihn zum Lazarett zu transportieren. Genau zu dem Zeitpunkt, als sie alle dachten, die Lage habe sich beruhigt, schlug das Schicksal zu: Als die Männer ihn aus dem Schützengraben auf die Trage legten, traf ihn eine mexikanische Bombe in den Brustkorb und detonierte, so dass Fleisch und Knochen in Fetzen davonflogen. Sie tötete den Mann auf der Stelle.11

Was machten diese ersten Schlachterfahrungen mit Robert E. Lee? Haben die Eindrücke von Veracruz und diesem Tod im Schützengraben ihn während des Amerikanischen Bürgerkriegs wieder und wieder heimgesucht? Zwei Wochen später versuchte er in einem Brief an seinen ältesten Sohn George Washington Custis Lee, genannt Custis, seine Gefühle zu verarbeiten:

»Es gab einen armen Kerl, der sich tapfer verhalten hat. Sein Oberschenkel wurde von einer Kanonenkugel gebrochen & man legte ihn aus Sicherheitsgründen in einen Schützengraben. Die Kugeln und Granaten flogen so dicht, dass man ihn nicht wegtragen konnte. Ein Busch wurde über ihm befestigt, um die Sonne aus seinen Augen zu halten, & alles, was wir ihm geben konnten, war gelegentlich eine Tasse schlechtes, warmes Wasser. Die Männer, die die Kanonen bedient hatten, waren überhitzt & durstig & tranken das Wasser, sobald es gebracht wurde. In einiger Entfernung sausten Kugeln mit rasendem Tempo über die Flur, so dass die Offiziere nicht erlaubten, Wasser zu holen. Da lag der arme Kerl bis zum Abend; als sie die Trage geholt & ihn weggetragen hatten, fiel eine Granate in seiner Nähe und tötete ihn. Ohne zu klagen, hatte er den ganzen Tag im Kugelhagel gelegen. Seine Leiden mussten außerordentlich sein, denn die Batterie hatte ständig & tatkräftig gefeuert & die Erschütterung von den 32-Pfündern & Paixhans-Kanonen [Geschütze großen Kalibers mit glattem Lauf] hatten den Boden erschüttert & mussten ihn furchtbar geschmerzt haben. Ich bezweifle, dass ganz Mexiko das Leben dieses Mannes aufwiegt.«12

Dieser letzte Satz aus der Feder eines Mannes, der später eine amerikanische Militärlegende werden sollte, einer der führenden Generäle der Weltgeschichte, mag überraschen. Hatte er Probleme damit, mit dem Schrecken des Blutvergießens umzugehen? Oder spiegeln seine Worte einen Versuch, das Elend eines einzelnen Mannes und seine eigenen Gefühle mit der harten Notwendigkeit, Männer in den Tod zu schicken, in Einklang zu bringen?

Als die Virginia Historical Society den Brief 1981 erwarb, übernahm sie zugleich ein Rätsel von nationalem Interesse: Wer war der Mann, der so viel wert war wie ganz Mexiko? Wie konnte Lee militärische Ziele der Vereinigten Staaten mit dem Schicksal eines einzelnen Soldaten vergleichen? Spielte er während seiner ersten Schlacht für kurze Zeit mit dem Pazifismus? Oder erhob Lee den namenlosen tapferen Helden zum Vorbild für seinen eigenen Sohn? Seit der Veröffentlichung dieses Briefes ist die Identität des Soldaten ein Mysterium geblieben.

Lee nannte den Mann nicht beim Namen. Es kann sein, dass er seinen Namen gar nicht kannte.

Wir können nicht wissen, was in Lees Kopf vorging, aber das Rätsel der Identität des Soldaten können wir lösen. Seine Spur bringt uns zurück nach Deutschland und zu einem der außergewöhnlichsten Kriminalfälle Württembergs – einem Mord, der jahrzehntelang unaufgeklärt blieb.

Dies nun ist die Geschichte, die Lee nicht kannte. Wahrscheinlich hätte sie ihn schockiert.

Kapitel 2

Tatort Bönnigheim – 1835

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Bönnigheims Schloss mit dem St.-Georgs-Brunnen im Vordergrund. Stadtschultheiß Rieber ging auf seinem Weg nach Hause an diesem Brunnen vorbei.

Als der Bönnigheimer Stadtschultheiß Johann Heinrich Rieber am 21. Oktober 1835 die Gaststätte »Waldhorn« verließ, bemerkte er den Mann nicht, der, sein Gewehr an sich gedrückt, in der Dunkelheit hinter ihm herschlich. Hätte er ihn rechtzeitig bemerkt, wäre er vermutlich mit dem Leben davongekommen.

Aber der Stadtschultheiß war zu sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt, als dass er seiner Umgebung gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Er hatte an jenem Nachmittag der Beerdigung eines ortsansässigen Metzgers beigewohnt. Und das rief schmerzliche Erinnerungen an seinen eigenen Verlust wach: Genau vor einem Jahr hatte die Beerdigung seines besten Schulkameraden – eines Kommunalpolitikers, der ihm geholfen hatte, die neue Schule zu gründen – stattgefunden. Seit dem plötzlichen Tod des Freundes im Oktober 1834 bemerkte Bönnigheims Pfarrer eine neue, nachdenkliche Verzagtheit im Wesen des Stadtschultheißen. Rieber trauerte auch bei der Beerdigung des Metzgers, und der Pfarrer bemerkte es. Später beschrieb er Riebers Stimmung als »besonders ernsthaft«.13

Bönnigheim, eine Kleinstadt im Königreich Württemberg, umgeben von Weinbergen, lebte hauptsächlich von der Weinherstellung und dem Gaststättengewerbe. Mitten durch die Stadt lief ein wichtiger Handelsweg. Die Bewohner hatten Rieber 1823 zum Stadtschultheißen gewählt. Damals war er 29 Jahre alt. Anfangs ermutigt von dem ihm geschenkten Vertrauen, entdeckte Rieber bald, dass seine Jugend und Unerfahrenheit ihm zum Nachteil gereichten; für die Stadtbewohner war es leichter, einen jungen Stadtschultheißen zu beleidigen und zu bedrohen als einen älteren, erfahreneren Beamten. In den ersten Jahren seiner Amtszeit sorgten umherstreichende Banden ungestümer Jugendlicher für Aufruhr, die die Nachtruhe störten und sogar Gottesdienste unterbrachen. Rieber reagierte darauf mit drakonischen Strafen. Sein Bemühen, den Respekt der Stadtbewohner zu gewinnen, prägte die ersten Jahre des auf Lebenszeit berufenen Mannes. Jetzt, im Alter von 41 Jahren, hatte er diesen Kampf weitgehend gewonnen. Seine Antwort auf die Provokationen der Jugendlichen bestand in der Gründung einer Knabenschule, um für die nötige Bildung zu sorgen. Er wandte dafür 900 Gulden – etwa den halben Wert seiner Wohnung – auf.14

Am Abend des 21. Oktober 1835 war der unverheiratete und kinderlose Stadtschultheiß so erschöpft, dass er beim Abendessen einschlief. Das »Waldhorn« wurde von seinem älteren Halbbruder Karl Friedrich und dessen Frau Rike (Friederike) betrieben. Rike bediente ihn im Nebenzimmer. Die Deutschen aßen im 19. Jh. ihr Abendessen warm, wie z. B. Spätzle mit Linsen und Wurst. Zu dieser Jahreszeit genossen die Leute den moussierenden, nur leicht vergorenen neuen Wein aus den Keltern. Rike sagte aus, Stadtschultheiß Rieber sei zwischen sieben und halb acht Uhr abends angekommen. Er habe allein gesessen, gegessen und nur einen halben Schoppen getrunken. Er habe ihr gesagt, er sei müde, und habe mehr als eine Stunde lang auf dem Sessel geschlafen. Einige Stadtbewohner – ein Schuhmacher, ein Dreher und zwei Förster – seien gekommen und hätten im »Waldhorn« gespeist, aber der Schultheiß habe trotz ihrer Gespräche weitergeschlafen. Die anderen Gäste seien vor Rieber heimgegangen.15

Stadtschultheiß Rieber hatte einen kräftigen Körperbau, war von mittlerer Größe und trug eine Brille. Er trug wohl die übliche Trauerkleidung der Zeit: schwarze Hose, Weste und Jacke, ein breites, schwarzes Halstuch und einen großen Umlegekragen.16

Die zwei Förster im »Waldhorn«, Ludwig Schwarzwälder und Eduard Vischer, genossen den Abend zu zweit. Ihr Chef war über Nacht verreist. Sie hatten eine Menge zu besprechen. Die Jagdsaison hatte begonnen, und das Forstamt führte Bewerbungsgespräche durch für eine Stelle als Waldschütz. Gegen halb zehn Uhr standen sie auf, zogen ihre dunkelgrünen, mit schwarzem Kragen verzierten Forströcke über ihre gelben Westen und gingen.17 Schwarzwälder und Vischer nahmen den gleichen Weg, den der Stadtschultheiß später gehen sollte. Ihr Ziel war kaum 150 Meter entfernt, wo die ungepflasterte Hauptstraße in den Schlosshof mündete. Ein barockes Schloss, Bönnigheims größtes Gebäude, beherrschte den Platz. Die Förster arbeiteten nicht nur im Schloss, sondern wohnten auch dort. Einst war der Adel – und auch Deutschlands erste Bestsellerautorin Sophie von La Roche – im Schloss zu Hause gewesen, aber jetzt beherbergte es das regionale Forstamt und bot Wohnungen für einige Mitarbeiter.18 Keiner der beiden Männer bemerkte etwas Außergewöhnliches auf dem Heimweg. Sobald sie das Schloss erreichten, stiegen sie die Treppen zu ihren Schlafzimmern hoch und machten sich zum Schlafen bereit. Schwarzwälder ging mit in Vischers Zimmer, um noch eine Weile mit ihm zu plaudern.19

Gegen Viertel vor zehn Uhr stand auch der arglose Stadtschultheiß aus seinem Sessel auf, zog seinen schweren blauen Rock über die schwarzen Kleider, zündete seine Laterne an und steuerte heimwärts. Sobald er aus der Tür und auf die Straße trat, roch er den schweren Traubenduft, der durch die Straßen und Gassen wehte, Nebel aus Burgunderrot und zartestem Gold, wie immer, wenn die Keltern in Betrieb waren. Bönnigheim hatte vier Keltern innerhalb der Stadtmauern, und bis in den späten Oktober 1835 waren alle damit beschäftigt, die Tagesernte an Silvaner, Elbling und Trollinger zu pressen. Das Holz knirschte bis spät in die Nacht, wenn die Kelterknechte die Spindelgriffe der massiven Baumpressen bewegten und der süße, klebrige Nektar in die hölzernen Auffangbehälter floss. Es war ein guter Jahrgang: Der Weinherbst 1835 war ertragreicher als sonst.20

Vom »Waldhorn« neben dem Rathaus bog Stadtschultheiß Rieber rechts auf die Hauptstraße ein. Der Stadtschultheiß wohnte neben dem Schloss im »Kavaliersbau«, welchen er mit dem Stadtarzt, Dr. Nellmann, der über Riebers Wohnung wohnte und praktizierte, und einem Unterförster namens Ernst Philipp Foettinger, der in einem hinteren Flügel wohnte, teilte.21

Es war dunkel und still auf Bönnigheims Hauptverkehrsader. Die weiche, feuchte Erde der ungepflasterten Straße dämpfte den Trittschall. Riebers Laterne war die einzige Lichtquelle. Noch erhellten keine Gaslaternen Bönnigheims Straßen, und es war Neumond in jener Nacht. Die einzige andere Beleuchtung kam vom trüben Licht der vereinzelten Zimmeröllampen, das durch die Vorhänge sickerte. Enge Gassen auf beiden Seiten der Straße verschwanden in die Dunkelheit. Sie schienen menschenleer. Stadtschultheiß Rieber sah niemanden auf der Hauptstraße.

Auf halbem Weg nach Hause hörte er etwas. Zwei Schüsse zerrissen knallend die Nacht. Sie klangen, als kämen sie von links, vom Kirchhof und dem Unteren Tor her. Rieber störte es, dass jemand in der Stadt schoss. Er fühlte sich aber nicht bedroht und setzte seinen Heimweg fort.22

In der Tat geriet Rieber in Gefahr, seit er das Lokal verlassen hatte, aber er war arglos, es drängte ihn nicht nach Hause. Als er den St.-Georgs-Brunnen passierte und den Schlosshof erreichte, öffnete sich der bedeckte Himmel. Und wenn es irgendetwas gab, was den Stadtschultheißen auf dem Heimweg ablenkte, dann war es der Himmel über ihm. Der Halleysche Komet hatte nach fast 77 Jahren den Punkt der größten Annäherung an die Erde wieder erreicht. Seit 1378 hatte er seine Bahn nicht so nah an der Nordhalbkugel gezogen. Der Kometenschweif dehnte sich über eine Länge des zwölffachen Monddurchmessers aus. Seit Anfang September verschleierten Regen und Nebel Halley in Süddeutschland. Eine Zeitung bejammerte die Bescheidenheit des Kometen und »dass er seine Reize nicht öffentlich zur Schau geben will, sondern sie beständig im Nebelgewölke hüllt«23. Heute aber war Neumond, der Himmel klarte auf und bot die beste Sicht seit Wochen. In Erwartung der Begegnung mit Halley blickte der Stadtschultheiß nach oben, nicht um sich.24

Ein großer Eisenzaun trennte den öffentlichen Schlosshof vom inneren, privaten Hof. Um sein Haus zu erreichen, musste Rieber durch ein vier Meter breites Holztor zwischen Zaun und Waschhaus schreiten, wo ein Förster namens Stölzle zu Hause war. Dieses Tor führte zum Kavaliersbau, wo Rieber wohnte. Es war geschlossen, hatte aber eine kleine Tür, die gerade groß genug war, dass eine Person hindurchgehen konnte, die normalerweise offen stand. Der Stadtschultheiß ging durch diese Tür, bog rechts ab und lief auf die Haustür zu. Nur wenige Schritte trennten ihn von seiner Wohnung.25

In diesem Moment trat ein Mann mit dem Gewehr im Anschlag aus dem Schatten. Er stellte sich an der Ecke des Waschhauses auf, hob den Lauf vorsichtig nach oben und zielte auf den Rücken des Laternenträgers. Hätte Stadtschultheiß Rieber sich umgeschaut, hätte er die Mündung des Gewehres vielleicht gesehen.

Plötzlich löste sich ein Schuss mit lautem Knall.

Stadtschultheiß Rieber drehte sich blitzschnell um, um den Schützen zu sehen, doch da war niemand. Der Schultheiß merkte nicht sofort, dass er angeschossen war. Nach ein paar Schritten packten ihn die Schmerzen, und er verstand, dass er das Ziel gewesen war. Der Unbekannte hatte ihm mit Schrotkugeln in den Rücken geschossen.

Riebers Kräfte schwanden. Er rief um Hilfe. Dr. Nellmann, der Stadtarzt, wohnte über Riebers Wohnung und hätte ihn möglicherweise hören können. Rieber schrie: »Doktor! Doktor!« und torkelte in den Kavaliersbau hinein. Er zog sich am Treppengeländer hoch, bis er auf dem nächsten Treppenabsatz zusammenbrach.26

Als das Echo seines Schusses von Schloss und Kavaliersbau widerhallte, floh der Mann mit dem Gewehr um das Waschhaus herum in eine dunkle Gasse hinein. Nach Norden abbiegend, tauchte er in einen engen Spalt zwischen zwei Häusern ab. Ab diesem Moment tickte die Uhr zur Lösung des am längsten unaufgeklärten Mordfalls des 19. Jahrhunderts in Württemberg und des einzigen württembergischen Mordfalls, der jemals in den Vereinigten Staaten aufgeklärt wurde.

Kapitel 3

Ein Konflikt bahnt sich an: Virginia und Texas, 1835/36

Nur Stunden nach der Erschießung Riebers in Bönnigheim griff Robert E. Lee zur Feder und schrieb einen Brief voller Weh und Ach an seinen Freund und früheren Vorgesetzten Andrew Talcott. Lee war plötzlich mit Haushaltsdingen beschäftigt, und er war sehr besorgt über den Gesundheitszustand seiner Ehefrau. Mary Custis Lee hatte sich im Wochenbett eine Infektion zugezogen und war bettlägerig. Sie konnte nicht für ihre Kinder sorgen, ihr neugeborenes kleines Mädchen und einen dreijährigen Sohn, die zudem beide an Keuchhusten erkrankt waren. Am 21. Oktober 1835, dem Tag, an dem Rieber erschossen wurde, beschrieb Lee Marys Gesundheitszustand: »Sie ist immer noch so schwach & hilflos wie zuvor & und ans Bett gefesselt.«27

Marys Krankheit war auch der Auslöser einer Identitätskrise Robert Lees, einer Krise, die ihn die Wahl seiner beruflichen Laufbahn in Frage stellen ließ. Mit seinen 28 Jahren hatte Robert E. Lee bereits eine begehrte, hohe Position in der Armee erreicht. Sein Weg dorthin war aber geprägt gewesen von den Steinen, die schon bei seiner Geburt in seinen Weg gelegt worden waren.

Lees Vater, Henry Lee III., war zwar ein Held des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs (1775–1783). Er wurde »Light-Horse Harry« genannt, weil er Offizier der Leichten Kavallerie gewesen war. Er hatte den Revolutionskrieg hochdekoriert beendet, saß im Kongress und diente von 1791 bis 1794 als Gouverneur von Virginia; er verfasste am 26. Dezember 1799 die unvergesslichen Worte im Nachruf auf George Washington: »Der Erste im Krieg, der Erste im Frieden, der Erste in den Herzen seiner Landsleute.«

»Light-Horse Harry« war aber nie im Stande gewesen, seine Fähigkeiten auch auf den Unterhalt seiner Familie zu übertragen. Er verlor viel Geld mit seiner Plantage in Stratford Hall; 1809, als Robert zwei Jahre alt war, ging der Vater bankrott und verbrachte nahezu ein Jahr im Schuldgefängnis. Drei Jahre später versuchte er, die Zeitungsdruckerei eines Freundes gegen eine aufgebrachte Menge zu verteidigen. Er wurde bewusstlos geprügelt und dann verstümmelt. Die Aufständischen stachen ihm Messer in die Seite, gossen heißes Kerzenwachs in seine Augen, um festzustellen, ob er noch am Leben war, und versuchten, seine Nase abzuschneiden. Lee überlebte, aber er blieb verkrüppelt und dienstunfähig. Er reiste mit dem Schiff nach Barbados, in der Hoffnung, dort seine Gesundheit wieder zu stabilisieren, aber er sollte nie wieder nach Virginia zurückkehren: Auf der Rückreise starb er. Henry Lees Tod hinterließ seine Familie arm und ehrlos.28

Roberts Mutter, Ann Carter Lee, kämpfte hart, um die Familie durchzubringen und ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Sie stellte die eigene Person hintan und lebte bescheiden. Zunächst unterrichtete sie Robert zuhause und schickte ihn dann auf eine Lateinschule. In einer privaten weiterbildenden Schule in Alexandra lernte er Latein und Griechisch und glänzte in Mathematik. Da für eine Hochschulausbildung das Geld fehlte, entschied die Familie, ihn nach West Point zu schicken, wo er beim Militär eine kostenlose Ausbildung erhalten konnte. Die Konkurrenz um die begehrten Plätze dort schreckte Robert nicht ab. Mit der Hilfe seiner Familie sammelte er Empfehlungsschreiben von Kongressabgeordneten und dem Kriegsminister John W. Calhoun, und erreichte so schließlich seine Zulassung. Als er 1829 von West Point abging, war er der Zweitbeste seiner Klasse und hatte nie einen Tadel erhalten. Sein Zeugnis öffnete ihm die Tür zum Ingenieur-Korps.

Lee setzte sein Ziel auch bei der Eheschließung so hoch wie bei seiner Karriereentscheidung. Mary Custis, gefeierte Schönheit von Arlington und Adoptivenkelin George Washingtons, zog seine Blicke auf sich, und er verbrachte, auf Urlaub von seinem ersten Posten in Georgia, den Sommer 1830 damit, sie zu umwerben. Sie heirateten 1831. 1832 gebar sie ihm den ersten Sohn, George Washington Custis Lee, und sah schon bald danach wieder Mutterfreuden entgegen.29

Während die schwangere Mary 1835 in Virginia unter der Hitze des Sommers litt, konnte Robert zu den kühlen Winden des Eriesees in der Wildnis des Nordwestens zwischen Michigan und Ohio Zuflucht nehmen. Das Armee-Ingenieur-Korps sandte ihn mit dem Auftrag dorthin, den umstrittenen Grenzverlauf zu vermessen, ehe es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den zwei Staaten kommen würde. Lee begab sich nach Turtle Island, das durch die Staatsgrenze geteilt wurde, und zur Insel Pelee auf der kanadischen Seite, wo er einen Leuchtturm als Vermessungspunkt bezog.30

Mary Lee gebar während seiner Abwesenheit im Juli 1835 ihre Tochter Mary. Sie klagte bald darauf brieflich über ihre Gesundheit und bat um seine Heimkehr. Er erhielt ihren Brief in Detroit, aber ihre Bitte irritierte ihn. Er ermahnte Mary in einem Brief, den er im August heimschickte:

»… warum drängst Du auf meine sofortige Rückkehr, & verleitest mich in der stärkst möglichen Art und Weise, dass ich mich bemühe, meine Pflichterfüllung, die mir mein Beruf auferlegt, erlassen zu bekommen, nur der Befriedigung meines persönlichen Empfindens wegen? Glaubst Du nicht, dass es schon ausreicht, allein mit diesen Gefühlen umzugehen, auch ohne weitere Erschwerungen; und dass ich eher benötige, gestärkt & ermutigt zu werden, die volle Leistung für das, was ich durchzuführen aufgerufen bin, zu liefern, als dass ich zu einer Amtsvernachlässigung angefeuert werde, die nicht einmal durch unsere Zuneigung begründet oder unser Urteil entschuldigt werden könnte?«31

Lee blieb auf seinem Posten. Seine Heimkehr im Oktober jedoch war nicht so, wie er erwartet hatte. Er spürte sofort, dass er die Schwere von Marys Krankheit unterschätzt hatte. Ihre Schmerzen waren so stark, dass sie nicht einmal gehen konnte. Bettlägerig, wie sie war, schor sie ihr Haar, weil sie es nicht pflegen konnte. Erst Anfang 1836 war sie wieder im Stande, das Bett zu verlassen und zu gehen. Mary Custis Lee sollte Zeit ihres Lebens kränklich bleiben.32

Sein Schuldbewusstsein ist die ganzen folgenden Monate und Jahre in Lees Briefwechsel spürbar. Er schrieb von den Beschwerden seiner Frau, ihrer langsamen Besserung und davon, sie den Sommer über in die Heilbäder Virginias zu bringen, um ihre Heilung zu beschleunigen. Robert und Mary schlossen einen Waffenstillstand im Privaten: Sie würde in der Zukunft nie wieder über ihre Leiden klagen. Und er würde sie für den Rest ihres Lebens umsorgen. »Ich habe noch nie einen Mann so verändert und betrübt gesehen«, äußerte ein Vetter dazu.33

Lees Niedergeschlagenheit wirkte sich auch auf seine Karriereentscheidungen aus. Das Jahr 1836 verbrachte er damit, zwischen seiner Arbeit in Washington, D.C., und seinem Heim in Arlington Villa in Virginia (dort, wo heute der Nationalfriedhof Arlington liegt) hin- und herzureisen. Lee hätte gerne auf einem Posten an einem anderen Ort gedient, aber er konnte Mary nicht alleinlassen. Jetzt verzweifelte er schier daran, dass jede Aussicht auf Beförderung davon abhing, dass er auswärtige Aufgaben übernahm. Im Februar 1837 spielte Lee mit dem Gedanken, das Militär zu verlassen und Bauingenieur zu werden.34 Er schrieb wieder an seinen Freund Andrew Talcott: »Du fragst mich, wie meine Aussichten beim Corps stehen? Schlecht genug … Was meine Absichten angeht, ist es recht schwer, eine Antwort zu geben. Eines ist auf jeden Fall sicher. Ich muss weg von hier … Ich hatte letzten Frühling einen verzweifelten Ausbruch vor, aber Marys Gesundheit war so angegriffen, dass ich sie nicht hätte verlassen können & sie hätte nicht mit mir gehen können. Ich erwarte, suche und erhoffe irgendeine gute Gelegenheit, um meinem teuren ›Uncle Sam‹ ein herzliches Lebewohl zu sagen …«35

Aber es gab ein Ereignis, das Lees Lebensgeister wieder aufflammen ließ – die Revolution von Texas im Jahr 1836. In einem anderen Brief an Talcott nannte Lee die Berichte über die Revolution »großartige Nachrichten« und »wunderbar«. Einwanderer aus den Vereinigten Staaten hatten sie im Oktober 1835 begonnen, im selben Monat, in dem Rieber in Bönnigheim erschossen wurde; aber die Gründe für die Kämpfe von 1835/36 lagen weit zurück in der mexikanischen und indianischen Geschichte: Als Mexiko 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien errang, war die Frage, was man mit dem ausgedehnten nördlichen mexikanischen Territorium in Texas, das westlich der Vereinigten Staaten lag, anfangen sollte.

Um Texas zu besiedeln und es vor den Angriffen der Indianer zu schützen, rollte Mexiko für Siedler aus den Vereinigten Staaten den roten Teppich aus und bot ihnen Land an. Aber man unterschätzte die Neuankömmlinge. Mexikos Siedlungspolitik erwies sich schließlich als ein Eigentor und sollte sowohl das Leben Lees als auch das des Mörders aus Bönnigheim verändern.36

Um 1835 bestand die Bevölkerung von Texas zum überwältigenden Teil aus »Texianern«, wie sich die Einwanderer aus den Vereinigten Staaten selbst nannten. Als sich deren Konflikte mit Mexiko um politische Fragen verstärkten, gründeten die Texianer eine Bewegung für einen eigenen Staat. Die Texianer begannen im Monat von Riebers Erschießung ihre Scharmützel mit dem mexikanischen Militär und waren recht erfolgreich. Bis November hatten die Texianer die mexikanischen Kräfte überall außer aus San Antonio vertrieben.

Die Führer der Texianer organisierten eine »Consultation«, eine Art provisorische Regierung. Sie stimmten für die Wiederinkraftsetzung der alten mexikanischen Verfassung. Es war keine eigentliche texianische Unabhängigkeitserklärung. Diese sollte später, erst im März 1836, erfolgen. Der mexikanische Präsident Antonio López de Santa Anna betrachtete aber all diese Aktivitäten als Akt des Verrats.37 Branch T. Archer, der Sprecher der Consultation, war sich der Rolle sehr wohl bewusst, die die Texianer in dieser Geschichte spielten. Für seine Eröffnungsansprache lieh er starke Worte aus der Bibel: »[D]ie Geschicke von Texas liegen in unserer Hand … Mit den Worten des hebräischen Propheten möchte ich sagen: ›Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land.‹ Die Rechte und Freiheiten von Tausenden von freien Menschen liegen in euren Händen, und die von Millionen noch Ungeborener können durch eure Entscheidungen bestimmt werden.«38

Was Archer nicht wissen konnte, war, dass durch diese Ereignisse in Texas auch die Rechte und Freiheiten von Robert E. Lee und vom Mörder von Bönnigheim betroffen sein würden – ihre Lebenswege sollten einen Kurswechsel erfahren und aufeinander zulaufen.

Kapitel 4

Der Mord und die Stadt

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Der Tatort vom Schloss aus gesehen. Stadtschultheiß Rieber war nur vier Schritte von der Tür auf der linken Seite des Fotos entfernt. Der Mörder stand an der Ecke des Waschhauses (rechts). Das beschriebene Tor existiert nicht mehr.

Als der Gewehrschuss in Riebers Hof die Stille der Nacht zerriss, sprangen einige Anwohner aus ihren Betten, öffneten ihre Fenster und lauschten angestrengt nach draußen. Stadtschultheiß Riebers nächste Nachbarn waren nicht nur als Ersthelfer vor Ort. Zu jener Zeit, in der der zuständige Ermittler mehr als eine Stunde entfernt wohnte, vor der Einrichtung eines modernen Polizeiwesens, unternahmen die Bürger auch selbst die ersten Schritte, um Beweismaterial zu sammeln und Einzelheiten des Falls zu notieren. Der Oberamtsrichter sollte ihre Bemühungen begrüßen.

Der Nachtwächter war gerade auf seiner Runde, als er den Schuss in Riebers Hof hörte. Er war nicht in der Nähe und reagierte deshalb auch nicht darauf. In Bönnigheim war zur Zeit der Traubenlese im Herbst zur Abschreckung von Vögeln das Schießen durchaus üblich; Gewehrschüsse, selbst abends und innerhalb der Stadtmauern, waren nichts Außergewöhnliches.39

Louise Hepperle, die 24-jährige Küferstochter, wohnte neben dem Kirchhof. Sie hatte gerade ihr Licht gelöscht und war dabei, ins Bett zu gehen, als ein seltsames, klapperndes Geräusch außerhalb des Hauses sie zum Fenster lockte. Jungfer Hepperle dachte sofort an zwei junge Männer. Einer von ihnen verehrte Katharina, das Mädchen nebenan, und wahrscheinlich führten sie etwas im Schilde. Dann hallten zwei Pistolenschüsse, sehr nah und in schneller Abfolge, von der Ecke des Kirchhofs. Hepperle riss ihr Schlafzimmerfenster auf und sah, dass Katharina auch aus ihrem Fenster starrte.

»Katharina, das hat dir gegolten«, sagte Louise.

Katharina lachte und sagte, das glaube sie nicht.

»Ach Gott!«, stöhnte eine männliche Stimme im Kirchhof auf.

Louise spürte, dass etwas Ernstes passiert sein musste. Sie konnte den Mann im Hof nicht sehen und vermutete immer noch, es sei Katharinas Verehrer. Wer auch immer es war – er verließ den Kirchhof.

Nicht lange danach schlug die Uhr zehn.40

Der Knall eines Schusses rüttelte auch Ernst Philipp Foettinger, den Unterförster, der im hinteren Flügel von Riebers Haus wohnte, wach. Er und seine Frau waren schon ins Bett gegangen. Die Foettingers hörten drei Schüsse, zwei in schneller Abfolge, gefolgt von einem dritten einige Minuten später. Sie vermuteten später, die Schüsse seien irgendwann zwischen neun und Viertel vor zehn Uhr gefallen.41

Juliane Stölzle wohnte im Waschhaus, dem kleineren Gebäude gegenüber dem Haus des Schultheißen, nur wenige Meter von seiner Eingangstür entfernt. Sie war zusammen mit ihrer Magd gerade dabei, das Geschirr zu spülen, als sie den Schuss eines Gewehrs hörte. Ihr Mann war nicht da. Er arbeitete bis spät in der Weinkelter. Juliane hatte ihm und einer Gruppe von Lesehelfern ein schnelles Abendessen zubereitet, bevor diese gegen neun Uhr zur Kelter zurückgekehrt waren.

Danach war sie zu ihrem Schwager gelaufen, um Milch zu holen. Als sie mit ihrem Milcheimer durch die hintere Eingangstür zurückkam, herrschte noch Stille. Sie bemerkte nichts Außergewöhnliches.

Frau Stölzle erkannte Stadtschultheiß Rieber in der Dunkelheit aber nicht. Sie beobachtete, wie der Mann zur Eingangstür des Kavaliersbaus schwankte, diese aufriss, und sie hörte seine schweren Fußtritte im Treppenhaus. Es klang, als nähme er zwei bis drei Stufen auf einmal. Sie nahm an, dass er zu Dr. Nellmann in den oberen Stock ging, um ihn um Hilfe zu bitten. Darum kehrte sie wieder heim.43