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Nr. 3050

 

Solsystem

 

Sie erreichen das Dyoversum – und finden die verlorene Menschheit

 

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Briefe aus einem fremden Universum

1. Ankunft

2. Ein Traumspiel (1)

3. Willkommensgeschenk

4. Ein Traumspiel (2)

5. Eine Vorhersage zum Guten und zum Schlechten

6. Ein Traumspiel (3)

7. Aufbruch

Epilog: Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 21. Jahrhunderts NGZ

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Für die Menschen einer fernen Zukunft ist die Erde nicht mehr der »kleine blaue Planet«, von dem aus sie ins All aufgebrochen sind. Die Menschen verstehen sich – nach der lateinischen Bezeichnung ihrer Ursprungswelt – als Terraner, obwohl sie auf Tausenden Welten siedeln. Terra selbst wurde von unbekannter Macht vor Jahrhunderten gegen einen nahezu identischen Planeten ausgetauscht und ist seither verschwunden; mittlerweile gilt die Erde als Mythos.

Doch Perry Rhodan und seine Gefährten haben die Hoffnung nicht aufgegeben, die ursprüngliche Heimat der Menschen wiederzufinden. Sie sind mit der RAS TSCHUBAI, einem riesigen Raumschiff, in die ferne Galaxis Ancaisin gereist. Dort hoffen sie, hinter das Geheimnis der verschwundenen Erde zu kommen.

Im Jahr 2046 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – es entspräche dem Jahr 5633 nach Christus – gibt es endlich eine klare Spur: Die Raumfahrer haben Zugang zur sogenannten Zerozone gefunden. Dahinter, so hoffen sie, verbergen sich die Erde und der Mond.

Perry Rhodan landet in einem ungewöhnlichen Kosmos, wo neue Herausforderungen auf ihn warten und – vor allem – ein ihm unbekanntes und doch vertrautes SOLSYSTEM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Unsterbliche findet die verlorene Heimat.

Homer G. Adams – Der älteste Mensch begegnet dem Tod.

Tergén – Der Vergleichende Historiker schreibt Briefe.

Ein Schiff wird kommen,

und das bringt mir den einen.

(Anonyme Sammlung

altterranischer Weisen,

Kapitel 52 »Lale Andersen«)

 

Prolog

Briefe aus einem fremden Universum

 

Lieber Mésren,

ich habe die Erde gesehen. Du liest richtig: die Erde! Den Planeten, um den sich unzählige Mythen ranken und den es angeblich nie gab.

Du kennst die Redewendung: Frag fünf Terraner nach ihren Wurzeln, und sie werden dir sechs verschiedene Geschichten erzählen.

Und nun bin ich auf der Spur der einzigen, der wahren Geschichte.

Erinnerst du dich an deine Reaktion, als ich dir damals sagte, ich wolle eine Karriere als Vergleichender Historiker und Datenarchäologe anstreben? Wahrscheinlich nicht, immerhin sind mittlerweile beinahe siebzig Jahre vergangen. Mir jedoch steht dein zweifelndes, amüsiertes Gesicht deutlich vor Augen, war es schließlich das erste Mal, dass ich mich von meinem Zwillingsbruder missverstanden gefühlt habe. Nein: unverstanden.

»Aha«, lautete deine Antwort. Nach geschlagenen zwanzig Sekunden folgten zwei weitere Wörter: »Und warum?«

Wie oft habe ich es dir erklärt? Trotzdem glaube ich, dass es dir nie richtig gelungen ist, meine Motivation nachzuvollziehen. Ich wünschte, du wärst mit mir an Bord der TESS QUMISHA. Wenn du das Gleiche sehen würdest wie ich, könntest du mich vielleicht verstehen. Ach was, ganz sicher!

So teile ich nur per Brief das Gefühl der Erleichterung mit dir, dass die vergangenen siebzig Jahre keine Verschwendung waren. Weil wir nicht reden können, schreibe ich auf altmodische Weise mit Stift auf Folie meine Gedanken auf und fürchte dabei, dass die Seiten dieses fremde Universum nie verlassen werden.

Aber sind wir überhaupt in einem fremden Universum gelandet?

Ich weiß es nicht!

Ich weiß so vieles nicht, was ich in der nahen Zukunft herauszufinden hoffe. Dennoch: Sollte ich diese Reise nicht überleben, sterbe ich im Bewusstsein, dass sie sich gelohnt hat. Der Anblick der Erde entschädigt für eine Menge Elend, weißt du? Sogar für den Tod.

Klingt das pathetisch? Wahrscheinlich. Das liegt wohl an der schwierigen Situation, in der wir uns gerade befinden. Wobei »schwierig« wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise die passende Tragweite vermittelt.

Aber lass mich der Reihe nach erzählen. Immerhin schreibe ich zum ersten Mal seit beinahe einem Jahr. Es tut mir leid, dass ich es so vernachlässigt habe, mich bei dir zu melden und dich auf dem Laufenden zu halten.

Im Dezember 2045 NGZ bekam ich im Ephelegonsystem die Erlaubnis, an Bord der RAS TSCHUBAI zu gehen. Da die Besatzung für die anstehende Mission ohnehin verstärkt wurde, kam es auf eine Person mehr oder weniger nicht an.

Obwohl eine Menge Leute den praktischen Nutzen eines Vergleichenden Historikers anfangs durchaus angezweifelt haben. Und manche zweifeln immer noch, das will ich dir nicht verhehlen.

Jedenfalls musste ich vorher lange diskutieren und argumentieren.

Offenbar haben meine Arbeiten – Mythos Terra – Gemeinsamkeiten und Unterschiede in 1001 Erdlegenden, Geschichte bewerten heißt Geschichten vergleichen und Historienforschung im Zeitalter nach der Datensintflut letztlich für genügend Aufsehen gesorgt, um ein Billett für die gewaltige Reise über Lichtjahrmillionen in eine ferne Galaxis zu gewinnen.

Es hat mir eine Heidenangst eingejagt, so weit wegzufliegen, das gebe ich gerne zu. Weiter als so gut wie jedes andere Lebewesen der Milchstraße. So unfassbar weit, dass es zurzeit nur ein einziges Schiff gibt, das diese unbegreifliche Distanz bewältigen kann – die RAS TSCHUBAI.

Das Ergebnis zählt.

Man hat mich mitgenommen, obwohl ich in Wissenschaftskreisen größtenteils als Spinner gelte, als Märchensammler. Aber der Kreis derer, die mich ernst nehmen, wächst beständig. In einer Zeit, in der nichts sicher ist, ausgerechnet die Historie zur Wissenschaft zu erheben, ist eben ein kühnes Unterfangen.

Ich muss es noch einmal sagen: Es gibt Millionen Versionen dessen, was geschehen ist, und ich will aus der Wahrheit über die vergangenen Zeiten wieder eine Wissenschaft machen.

Ist das nicht typisch für mich? So kennst du mich von früher, mein lieber Bruder, nicht wahr?

Aber könnte es ein schöneres Lob geben, als sich mit dem Mann an Bord eines Raumschiffs aufzuhalten, der in etlichen Terra-Mythen vorkommt? Vielleicht hast auch du von ihm gehört. Sein Name ist Perry Rhodan, und in den verschiedenen Mythen spielt er völlig unterschiedliche Rollen: der Held, der Diktator, das Überwesen, der Narr, oder eine von tausend anderen Rollen.

Irgendwie steht dieser Perry Rhodan immer im Mittelpunkt der Ereignisse und löst ganze Zeitenwenden aus.

Natürlich zählte ich weder in der RAS TSCHUBAI noch in der TESS QUMISHA zur Besatzung, sondern gelte als Gast. Was mir während der langen Reise durchaus recht war, befreite es mich schließlich von der Ableistung irgendwelcher Dienste. Stattdessen konnte ich mich völlig der Forschung hingeben.

Ich habe mit vielen Personen an Bord gesprochen, selbstverständlich nur in ihren Freischichten. Besonders faszinierten mich die Unterredungen mit Col Tschubai, dem Medienwart und Missionshistoriker des Schiffes, das nach einem seiner Vorfahren benannt ist. Faszinierend, sage ich dir – er ist der Hüter einer Vergangenheit, die in diesem riesigen Raumer nicht variabel und verschwommen ist, sondern festgeschrieben und eindeutig.

Was ich in den Bordarchiven lese, ist ungeheuerlich und hat etwa tausend meiner Theorien bestätigt, aber zehntausend andere verworfen.

Ein unendlicher Schatz an Wissen, den ich allerdings – sonst wäre ich wohl ein schlechter Wissenschaftler – häufig anzweifle. Doch das soll nicht dein Problem sein, und ehrlich gesagt, ist es auch das geringste meiner Probleme.

Col Tschubai und die übrigen Besatzungsmitglieder haben mich eine Menge Dinge gelehrt, aber davon schreibe ich dir vielleicht später.

Zunächst das Wichtigste: Inzwischen durfte ich, wie oben schon erwähnt, mit vielen anderen die RAS TSCHUBAI verlassen und auf eines der Beiboote wechseln, die TESS QUMISHA. Wobei Beiboot einen ganz falschen Eindruck erweckt, denn die TESS ist selbst ein riesiges Schiff.

Übrigens ist auch Perry Rhodan übergewechselt.

Wir sind durch ein seltsames kosmisches Gefilde geflogen, die sogenannte Zerozone, und dieser Bereich hat uns am anderen Ende wieder ausgespuckt, wenn ich es einmal so salopp formulieren darf.

Na ja, besser kann ich es nicht: Ich bin Historiker, kein Techniker. Was natürlich ebenso salopp formuliert ist.

Hinter diesem anderen Ende der Zerozone liegt ein kosmisches Gebiet, das uns völlig unbekannt ist.

Nein, stimmt nicht – etwas wissen wir: Dort, so hieß es, würden wir Terra finden. Aber als wir ankamen, flogen wir nicht unserer fremden, generationenlang verschollenen Heimat entgegen.

Sondern dem Tod.

1.

Ankunft

 

Wieder einmal war es so weit.

Es war für Perry Rhodan keine neue Erfahrung, aber es verlor nie seinen Reiz. Sollte er noch tausend Mal in diese Situation kommen, würde es ebenso oft jenes Kribbeln auslösen, die Unruhe, das Erwarten, die Hoffnung.

Die Faszination.

Am 8. November des Jahres 2046 Neuer Galaktischer Zeitrechnung war Perry Rhodan 3697 Jahre alt – rein rechnerisch gesehen und zumindest dann, wenn man etwas vereinfachte und Zeiträume, die er auf die eine oder andere Weise übersprungen oder doppelt erlebt hatte, außer Acht ließ.

Aber ob zwei-, drei- oder viertausend Jahre, er fühlte sich in Augenblicken wie diesen wie ein Kind, das staunend darauf wartete, welches Abenteuer auf ihn zukam.

Und so stand der dank eines Zellaktivators relativ unsterbliche Terraner wieder einmal in der Zentrale eines Raumschiffs und sehnte die Ankunft am Ziel herbei.

Auf das, was ihn erwartete und von dem er nichts wusste. Außer, dass das Zielgebiet in einem völlig fremden Gefilde lag und trotzdem die Möglichkeit bestand, dort die Heimat wiederzufinden: Terra.

Die Erde.

Der Planet seiner Geburt, der für ihn stets das Zentrum seines Lebens bleiben würde.

Eine Welt, die von unbekannter Hand ihrem angestammten Platz im heimatlichen Sonnensystem entrissen und an einen anderen Ort entführt worden war. Diesen Ort hatte Rhodan mit seinem Team, so hofften sie zumindest, entdeckt. Mit der TESS QUMISHA hatten sie außerdem die Möglichkeit, dorthin zu gelangen, indem sie ein kosmisches Sondergebiet durchquerten, das sie nur höchst unzureichend erforscht und dem ihr Begleiter Iwán/Iwa Mullholland den Namen Zerozone verliehen hatte.

Ebenjene Zerozone verließ die TESS QUMISHA in exakt diesem Augenblick, und niemand an Bord wusste, was dahinter wartete.

Tatsächlich Terra?

Perry Rhodans Handflächen wurden feucht. Er empfand keine Angst, aber seine nach Jahrtausenden zählende Lebenszeit hatte ihn nicht zu einem abgeklärten Roboter mutieren lassen. Im Gegenteil. Seine Gefühle mochten ... gereift sein, aber gleichzeitig waren sie stärker geworden. Intensiver.

»Ankunft!«, meldete Leutnant Terzio Adamoto von seinem Arbeitsplatz – der Chef der Ortung und Hyperfunkabteilung. Er saß vor seiner Arbeitsstation, umgeben von den Kollegen der Zentralebesatzung. In der Mitte des weitläufigen Raumes, der wiederum im Zentrum des gewaltigen Kugelleibs der TESS QUMISHA lag, stand der Sessel von Kommandant Muntu Ninasoma.

Rhodan hätte als Missionsleiter den Kommandantenplatz beanspruchen können – aber wozu? Er vertraute Ninasoma, und er hatte häufig genug selbst diesen Posten der größten Verantwortung bekleidet. Darum hatte er sich für einen unauffälligen Platz entschieden – neben dem Sessel von Farye Sepheroa, der Pilotin des Raumschiffs und zugleich Rhodans Enkelin.

Fast ein Familientreffen, dachte er, denn dicht bei ihm stand die Frau, die er aus ganzem Herzen und mit voller Wucht all seiner Gefühle liebte und vor etlichen Jahren auch geheiratet hatte. Sie war nicht nur wunderschön und dank der grünen Hautfarbe mit den goldenen Mustern ein exotischer Anblick, Sichu Dorksteiger war darüber hinaus eine brillante Wissenschaftlerin und wohl ebenso neugierig wie er auf das, was jenseits der Zerozone auf sie wartete.

Rhodan musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Adamoto seit seiner schlichten Meldung – Ankunft – auf die Instrumente starrte und den Eingang der ersten gesammelten Daten der Ortungsinstrumente des Schiffes herbeisehnte. Es war ihm oft genug selbst so gegangen – nein, es ging ihm in diesem Moment genauso, nur dass er das Starren auf die Displays und Holoanzeigen einem anderen überließ.

»Ich übermittle die Informationen durch Ortung und Tastung in ein Holo, das ich ...« Leutnant Adamoto sprach den Satz nicht zu Ende.

Einerseits musste er das nicht, weil jeder in der Zentrale wusste, was er sagen wollte – schließlich lief es nach Absprache, ganz zu schweigen davon, dass es eine völlig logische Routine darstellte: Selbstverständlich brauchten sie ein holografisches Abbild ihrer Umgebung in der Mitte des Raumes, wo alle es sehen konnten.

Andererseits verschlug es einem Profi wie Terzio Adamoto nicht so einfach die Sprache, und dass es dennoch geschah, bewies, wie sehr ihn der Anblick überwältigte.

Perry Rhodan ging es genauso.

Das kann nicht wahr sein, dachte er.

Aber natürlich war es das.

Die Daten logen nicht.

Sichu Dorksteiger brachte den Anblick mit ungewöhnlich schlichten Worten auf den Punkt: »Ganz erstaunlich.«

Und erstaunlich war es in der Tat, was sich erst langsam, dann immer schneller als dreidimensionale Darstellung inmitten der Arbeitskonsolen aufbaute. Das Abbild einer Sonne formte sich als kopfgroßer, gleißend gelber Ball im Zentrum des Holos. Aus zunächst diffusen, verschwommenen fingergroßen Flächen, die sich in Bahnen rundum bewegten, schälten sich die Bilder von Planeten.

Insgesamt entstanden elf Welten; manche wuchsen, während sich die Darstellung klärte, andere änderten die Farbe.

Die Verteilung dieser Welten, ihr Größenverhältnis, der Abstand zur zentralen Sonne ...

All das traf den Zellaktivatorträger wie ein Faustschlag, wenn auch nicht schmerzhaft, sondern eher wie der vielleicht etwas zu wohlmeinende Schubs eines Freundes in einer Bar, der eine wirklich überraschende Nachricht präsentiert.

Rhodan hatte viele Sonnensysteme besucht und zahllose weitere gesehen – aus dem All, auf Bildern, in Dokumentationen. Er konnte Dutzende zweifelsfrei benennen und bei Hunderten eine gut begründete Vermutung abgeben, um welche es sich handelte.

Aber es gab ein System, das er augenblicklich und ohne jeden Hauch von Zweifel erkannte. Hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen und ihm eine Sekunde dieses Bild gezeigt, wäre es ein Leichtes gewesen, es zuzuordnen. Er brauchte dazu nicht einmal seinen Verstand, die Gefühle genügten völlig, das Zuhause zu empfinden.

Er sah den markanten Gasriesen Jupiter, das Ringsystem des Saturn, die kleineren Planeten Merkur und Venus und die anderen wohlbekannten Welten.

Auch Terra.

Ohne jeden Zweifel: Dies war das Solsystem.

Der Gang durch die Zerozone hatte sie nicht in fremde Gefilde geführt – sondern zurück in die Milchstraße, mehr noch: direkt in die Heimat.

Ein rot blinkendes Kreuz markierte den Standort der TESS QUMISHA, zwischen Neptun und seinem Mond Triton, dem Trabanten nah.

Sehr nah, wie er ganz nebenbei wahrnahm.

Aber – wieso befand sich Terra im Solsystem?

Der Planet war vor Jahrhunderten im Zuge eines Phänomens verschwunden, das man später den Raptus Terrae nannte, den Raub der Erde. Nur deshalb hatte sich Rhodan überhaupt auf die Suche gemacht – auf einen Weg, der ihn über mehr als 250 Millionen Lichtjahre in die Heimatgalaxis der Cairaner und von dort aus in die Zerozone geführt hatte.

War es am Ende dieser Reise mit der Passage durch die Zerozone ... einfach wieder zurückgegangen?

Aber im Solsystem zog anstelle von Terra der extrem und ungewöhnlich ähnliche Planet Iya seine Bahn. Die aktuellen Ortungsergebnisse zeigten allerdings eindeutig das echte Terra. Und vor allem gab es keine cairanischen Einheiten, die vor Ort patrouillierten.

Das war jedoch bei Weitem nicht die einzige Frage, die sich Rhodan beim Blick auf das Umgebungsholo stellte.

Weshalb existierte im Solsystem wieder Pluto, der bereits im Jahr 3438 alter Zeitrechnung zerstört worden war?

Und wie konnte es sein, dass er die beiden verlorenen Welten sah, die vor schieren Ewigkeiten das System verlassen hatten – Zeut und Medusa?

Waren sie durch die Zerozone in die tiefe Vergangenheit gelangt?

Aber da fiel Rhodan auf, dass etwas mit Pluto nicht stimmte. Er sah genauer hin und erkannte, dass das, was immer dort seine Bahn zog, nicht wie ein Planet aussah, sondern ein unwirkliches, fast geometrisches Gebilde formte, kleiner als der Zwergplanet. Das Holo rechnete allerdings noch, lud die aktuellen Daten von Ortung und Tastung hoch und verarbeitete sie, weshalb die Darstellung verschwommen blieb, als verschleierte eine Wolke die Sicht.

Gewiss, Ungeduld dehnte für gewöhnlich die Zeit, aber dauerte es nicht wirklich ungewöhnlich lange – so, als würde etwas den reibungslosen Ablauf dieses simplen Vorgangs stören?

Neue Fragen strömten binnen jedes Herzschlags auf Perry Rhodan ein, gemeinsam mit einem Potpourri aus Erleichterung, Begeisterung, Verwirrung und Tatendrang.

Und dem ungreifbaren Gefühl einer Bedrohung.

Was stimmte nicht?

Die Rätsel, die sich in dieser ersten Sekunde stellten, bildeten garantiert nur die Spitze des Eisbergs. Rhodan ahnte, dass er Licht in eine Menge Dunkel würden bringen müssen.

»Gibt es andere Raumschiffe im System?«, fragte Kommandant Muntu Ninasoma, der offenbar bereits einen Schritt weiterdachte; auch Rhodan fiel auf, dass es dem Umgebungsholo nach erstaunlich ruhig war.

Selbstverständlich ging es dem Kommandanten in dieser Situation vorrangig um ihre Sicherheit und damit um mögliche Angreifer in diesen unbekannten Gefilden jenseits der Zerozone.

Nur dass die Zielregion eben überraschenderweise nicht unbekannt war.

Oder doch?

»Ich ... ich kann es nicht mit Gewissheit feststellen«, sagte Leutnant Adamoto. »Die Daten sind nicht eindeutig. Viele Sensoren fallen aus, ohne Fehlermeldungen, wobei es ohnehin keine Fehler in dieser Häufung geben dürfte. Es bleiben blinde Flecke und ... Irritationen, vielleicht Orterreflexe einiger Schiffe, aber ...« Er brach mitten im Satz ab.

Das Holo flackerte und erlosch.

Es krachte dumpf, und eine leichte Erschütterung lief durch den Boden. Irgendwo in der Ferne im Leib der TESS QUMISHA war etwas explodiert.

Ein Angriff?

Rhodan hatte das Gefühl zu fallen, als würde das Schiff absacken, nur dass es im Weltall kein unten gab. Er verlor den Bodenkontakt, hob ab, schwebte zur Seite, stieß gegen Sichu und fasste automatisch ihren Arm, um sie bei sich zu halten und zu schützen.

Sämtliche Helligkeit erlosch. Letzte leuchtende Funken des Holos verglühten wie tanzende Irrlichter.

Und als wäre das nötig, um die Besatzung auf die Katastrophe hinzuweisen, heulte ein Alarm auf.

 

*

 

Die Notbeleuchtung sprang an und tauchte die Zentrale in schattiges Rot. Der schrille Lärm des Alarms schmerzte in den Ohren.

Kommandant Ninasoma bellte Befehle an seine Mannschaft in ein Akustikfeld – oder ins Leere, denn Rhodan bezweifelte, dass das Feld noch funktionierte. Die künstliche Schwerkraft setzte abrupt wieder ein, und er krachte gemeinsam mit Sichu Dorksteiger zurück auf den Boden.

Die Beleuchtung sprang an, das dumpfe Rot wich der gewohnten, nahezu schattenlosen Helligkeit der technischen Umgebung in der Zentrale. Eine Technik, auf die offenbar kein Verlass mehr war.

Was hatten sie soeben erlebt? Nur ein kurzzeitiges Systemversagen? Das wäre gut, wenn auch unklar blieb, wie so etwas geschehen konnte.

Aber Rhodan traute dem Frieden nicht; seine ganze Erfahrung sprach dagegen. Die entscheidenden Fragen, die er sich stellte, lauteten: Wo sind wir? Wie wirkt sich die Umgebung auf unser Schiff aus?

Egal, welchen vertrauten Anschein es erweckte, dies war nicht das Solsystem oder zumindest: nicht nur. Befanden sie sich in einem Paralleluniversum? In diesem Fall hätten Anpassungsfolgen eines Wechsels, sogenannte Strangeness-Effekte, auftreten müssen. Davon spürte er aber nichts. Das bedeutete entweder, dass der Unterschied zwischen den beiden Universen vernachlässigbar klein war, oder dass sie keineswegs einen Universenwechsel vollzogen hatten.

Eine weitere Explosion riss Rhodan aus den Gedanken und bewies unmissverständlich, dass die Situation ernster war, als eben noch befürchtet.

Sehr viel ernster.

»Der Hauptantrieb ist ausgefallen«, rief Kommandant Ninasoma – so laut, dass jeder in der Zentrale ihn hörte. »Wir treiben momentan ohne Steuermöglichkeit! Zahllose Aggregate überall an Bord überladen sich. Ein Überschlagsblitz hat ein Hangarschott zerrissen, Atmosphärenverlust. Und verdammt noch mal, das konnte ich nur bis vor zehn Sekunden sehen, es gibt keinen Zugriff mehr auf TESS! Der Hauptrechner ist ausgefallen. Für alles, was außerhalb der Zentrale passiert, bin ich blind.« Er stand auf, musterte die Besatzung an ihren Arbeitsstationen. »Geht es jemandem besser als mir?«

Während seiner Worte eilte eine Frau in die Zentrale, den Pony aus blonden Haaren an der Stirn verschwitzt. Hope Tiranjaar war die Sicherheitschefin an Bord – von der BJO BREISKOLL herübergewechselt.

Ninasoma sah sie auffordernd an: »Hope?«

»Es gibt katastrophale Technikzusammenbrüche im gesamten Schiff, soweit ich sehe«, rief sie, noch immer außer Atem. »Ich wollte in einen Antigravschacht. Er fiel direkt vor mir aus. Ein Mann ist an mir vorbeigestürzt. Ohne das automatische Sicherheitsnetz wäre er tot.«

Für eine Sekunde schloss Rhodan die Augen. Hopes Worte weckten eine Assoziation, eine Erinnerung an eine Katastrophe, die lange zurücklag, und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart spürbar geblieben waren. Natürlich konnte es eine andere Erklärung geben, aber er fühlte, dass er mit diesen Überlegungen der Wahrheit auf die Spur kam.

»Wahrscheinlich ist sämtliche höherwertige Technik betroffen«, sagte er. »Wir müssen auf robuste Technologie setzen, um die Lage an Bord unter Kontrolle zu bringen.«

»Und woher nehmen wir so etwas?«, fragte Sichu an seiner Seite. »Robuste Technologie? In einem der modernsten Kreuzer der Liga?«

Wenn er das nur wüsste. »Den Sensordaten zufolge waren wir nahe am Neptunmond Triton«, sagte er. »Da der Antrieb nicht funktioniert und gegensteuern kann, müssen wir wissen, ob uns der Mond bereits anzieht.«

Etwas dramatischer formuliert hätte er die Frage stellen können: Stürzen wir ab? Denn genau das befürchtete Rhodan, wenngleich es keine Möglichkeit gab, das zu überprüfen. Solange sämtliche Technologie versagte, konnten sie aus der Zentrale nicht nach draußen blicken.

»Meine Pilotenkonsole ist energetisch tot«, sagte Farye. »Ohne Zugriff auf Umgebungsdaten oder sonst irgendetwas.«

»Ich bin an dem Problem dran«, meldete Ninasoma. »Aber solange der Rechner nicht funktioniert, finde ich keine Antworten.« Er deutete auf Hope Tiranjaar, die gerade erst die Zentrale betreten hatte. »Bring es mit deinen Leuten in Erfahrung!«

Sie bestätigte und kündigte an, sich auf einer einfachen Funkfrequenz zu melden, die sie mit Terzio Adamoto absprach – genau die Art robuster Technologie, die Rhodan meinte. Sofort danach eilte die Sicherheitschefin aus dem Raum.

Perry Rhodan sah seiner Frau in die Augen. »Was glaubst du, Sichu?«

»Dass wir heute nicht sterben.« Sie lächelte schmallippig. »Wenn du allerdings den Zustand des Schiffes meinst, fehlen mir Informationen. Deine Worte zeigen mir jedoch, was du vermutest. Du rechnest mit einer erhöhten Hyperimpedanz in dieser kosmischen Region.«

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Illustration: Dirk Schulz

Er nickte.

»Was ein weiterer Beweis dafür wäre, dass dies hier nicht das Solsystem ist.«

»Falsch«, meinte Rhodan. »Es ist nicht das