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Die Autorin und der Autor

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Fotograf: David Weyand

Dr. Silvia-Iris Beutel ist Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der TU Dortmund. Sie ist in der Vorjury des Deutschen Schulpreises tätig und fachliche Leitung des Regionalbüros West des Deutschen Schulpreises und der Deutschen Schulakademie. Als Mitglied im Programmteam der Deutschen Schulakademie verantwortet sie die Themen: »Leistungen lern- und entwicklungsgerecht beurteilen« sowie »Demokratie lernen und leben«.

Dr. Hans Anand Pant ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied in der Jury des Deutschen Schulpreises und seit 2015 als Geschäftsführer (Programmbereich) der Deutschen Schulakademie tätig. Der renommierte Bildungsexperte beschäftigt sich mit Kompetenzmessung im Schul- und Hochschulbereich sowie mit dem Transfer von Innovationen im Bildungsbereich.

Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant

Lernen ohne Noten

Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034270-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034271-2

epub:    ISBN 978-3-17-034272-9

mobi:    ISBN 978-3-17-034273-6

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung
  2. Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant
  3. Lernen ohne Noten
  4. Lernen, Leistung und Kinderrechte
  5. Lern- und Leistungsförderung im Deutschen Schulpreis
  6. Individualisierung, Kooperation und Professionalität
  7. 1   Notengebung, Leistungsprinzip und Bildungsgerechtigkeit
  8. Hans Anand Pant
  9. 1.1   Lernen, Leistung, Leistungsfeststellung, Leistungsbeurteilung, Noten – einige begriffliche Sortiervorschläge
  10. 1.2   »Was ist schulische Leistung?«
  11. 1.3   Noten und Fairness
  12. 1.4   Leistungsprinzip, meritokratisches Versprechen und Bildungsgerechtigkeit
  13. 1.5   Welche Bildungsgerechtigkeit wir wollen, entscheidet darüber, welche Leistungsbeurteilung wir brauchen?
  14. 2   Notenunabhängige Leistungserfassung und -beurteilung: Ansätze und Effekte
  15. Alexandra Marx
  16. 2.1   Ansätze zu notenunabhängiger Leistungserfassung und -beurteilung
  17. 2.2   Alternative Ansätze zur Leistungserfassung
  18. 2.3   Alternative Ansätze zur Leistungsbeurteilung
  19. 2.4   Empirische Befunde zu Effekten von Noten und notenunabhängigen Systemen
  20. 2.5   Akzeptanz bei Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern
  21. 2.6   Effekte auf die Motivation und das Fähigkeitsselbstkonzept von Schülerinnen und Schülern
  22. 2.7   Effekte auf schulische Leistungen
  23. 2.8   Überblick zu den wichtigsten Erkenntnissen
  24. 3   Lernen und Leistungsbeurteilung – ein grundlegender Zusammenhang
  25. Silvia-Iris Beutel
  26. 3.1   Leistungsbeurteilung – Thema der Schulreform und der Schule
  27. 3.2   Leistungsprinzip, Leistungsbeurteilung und »Neue Lernkultur«
  28. 3.3   Leistung und Individualisierung
  29. 3.4   Partizipation und Schülerfeedback
  30. 3.5   Beziehung, Bindung und Lernen
  31. 3.6   Lernen ohne Noten
  32. 4   Konzepte von Preisträgerschulen
  33. Silvia-Iris Beutel
  34. 4.1   Leistungsbeurteilung
  35. 4.2   Kommentar: Inklusive Schule und Notenfreiheit
  36. 4.3   Individualisierung und Schule
  37. 4.4   Kommentar: Individualisierte Lernstrukturen
  38. 4.5   Schulentwicklung
  39. 4.6   Kommentar: Demokratische Bildungskultur
  40. 4.7   Leistungsbeurteilung als Beitrag zur Demokratieerziehung
  41. 5   Entwicklung und Implementation innovativer Leistungskonzepte
  42. Silvia-Iris Beutel
  43. 5.1   Werkstatt: Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung
  44. 5.2   Inhalte und Bausteine
  45. 5.3   Qualitätsbereiche von Schule
  46. 5.4   Best-Practice: Jenaplan-Schule Jena (Praxisbeispiel I)
  47. 5.5   Formative Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung
  48. 5.6   Lernbegleitung – Konturen und Ziele
  49. 5.7   Best-Practice: Matthias-Claudius-Schule Bochum (Praxisbeispiel II)
  50. 5.8   Die Ergebnisperspektive: Professionelle Lerngemeinschaft auf Zeit
  51. 6   Lernen ohne Noten verändert Schule
  52. Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant
  53. 6.1   Lernorganisation, dialogische Diagnostik und Kommunikation
  54. 6.2   Pädagogisches Grundverständnis
  55. 6.3   Professionalisierung, Implementation und Bildungsgerechtigkeit
  56. Literatur
  57. Dank

Einleitung

Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant

 

 

Lernen ohne Noten

 

Leistungsbeurteilung und Notengebung gehören zusammen. Wenn wir über die Schule als biographische Erfahrung in unserer Gesellschaft nachdenken, werden sich diese beiden Grundelemente der Schule zwangsläufig verbinden. Lernen, Leistungserbringung und Noten erscheinen dabei als eine Einheit, zumindest als zwei Seiten einer Medaille. Dieses Begriffs- und Konzeptpaar ist in der Erfolgsgeschichte der modernen Schule ein kennzeichnendes und auffallend stabiles Merkmal und zugleich bis heute ein anhaltender Streitpunkt in den pädagogischen Reformdebatten sowie in der Bildungspolitik. Als Streitpunkt bindet und trennt es zugleich zwischen zwei elementaren Funktionen und Aufgaben der Institution Schule: dem individuellen Anspruch jedes Kindes und Jugendlichen auf Förderung und dem staatlichen Berechtigungswesen, das schulischen Lernerfolg mit der Aspiration weiterer staatlich finanzierter akademischer Bildungsleistungen und einem möglicherweise höheren Berufs- und Lebenserfolg verknüpft.

Ungeachtet einer inzwischen fast fünfzigjährigen erziehungswissenschaftlichen Forschungstradition zu den Noten, den Zeugnissen und den Schulabschlüssen sind diese idealtypischen institutionellen Funktionen und Leistungen der Schule bis heute der Dreh- und Angelpunkt von Anerkennung und Misserfolg beim Schulbesuch und in jeder Bildungsbiographie. Zwischen Erfolg und Versagen, Fairness und fehlender Gerechtigkeit, Subjektivität und Sachbezogenheit bewegen sich die Wahrnehmungen und Zuschreibungen der Menschen zur Leistungsbeurteilung in der Schule. Zeugnisse und Noten gelten bis heute als die entscheidende »Währung« schulischer Bildungsergebnisse. Dabei dominiert die Überzeugung, dass die Beurteilung schulischer Lernleistungen bei den Schülerinnen und Schülern durch die anscheinend objektive oder wenigstens objektivierbare Ziffernbenotung von sich aus eine valide Beschreibung von Lernen und damit die Berechtigung des Vergleichs begründet – im bundesdeutschen Berechtigungswesen etwa beim Zugang zu den durch den Numerus Clausus begrenzten Hochschulstudiengängen.

Ganz aktuell blüht dieser Diskurs im Koalitionsvertrag der zweiten schwarz-grünen Landesregierung in Hessen auf, indem 150 »Pädagogisch selbstständige Schulen« im Verlaufe dieser Regierungsphase auch »Rückmeldungen über den Lernfortschritt und den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler in Form einer schriftlichen Bewertung geben« (CDU/Die Grünen, 2019, S. 81) können. Diese eher beiläufige kleine Reform zur Stärkung der Schulvielfalt und zur pädagogischen Profilierung wird kurz nach Regierungsantritt zu einem publizistischen Diskurs, wie er für die Ambivalenz der Notenfrage seit Jahrzehnten nicht typischer sein könnte: »Tschüss Notenstress! Hessens Schulen gehen ›pädagogisch neue Wege‹« titelt der Stern (Heft 6 v. 31.1.2019), »Note in Not« kommentiert die FAZ am selben Tag (Müller, 2019), die bundesdeutsche Presse folgt diesen Leitmedien. Aus einer Nebenbestimmung eines umfassenden Regierungsprogramms ist publizistisch sofort die Infragestellung eines Grundpfeilers der deutschen Schule geworden. So ist in der FAZ auf der Titelseite der Ausgabe vom 6. März 2019 im Leitseiten-Kommentar, einem prominenten allgemein-publizistischen Ort, unter dem Titel »Hessischer Holzweg« zu lesen: »Wer den Ziffernnoten den Rücken kehrt, muss wissen, dass er sich damit gegen alle empirische Evidenz auf den Holzweg begibt. Es ist nichts Neues, dass sich Länder aus ideologischen Gründen über alle Forschungserkenntnis hinwegsetzen und so tun, als gehe sie die Bildungsforschung nichts an. Es bleibt allerdings erstaunlich, dass solche Feldversuche mit ganzen Schülergenerationen in der Schulpolitik toleriert werden, während sie in der Medizin als schwerer Kunstfehler bewertet würden« (Schmoll, 2019). Die Leistungsbeurteilung durch Ziffernnoten bleibt ein Politikum und eine Essenz der modernen Schule!

Im Fokus der aktuellen pädagogischen Debatten in Wissenschaft und Praxis zur Leistungserbringung und Leistungsförderung in der Schule stehen verschiedene Fragestellungen. Das sind vor allem das Zusammenspiel der Qualität von Lehren und Lernen, die Individualisierung von Lernen und Bildung, die Inklusion, die Förderung von Resilienz und die gesellschaftlich funktionale Integration der Kinder und Jugendlichen in die Demokratie, die Berufswelt und den Markt in einer offenen Gesellschaft in Freiheit und Verantwortung. Vor diesem Hintergrund stellt der neuere Diskurs zu differenzierenden Formen der Leistungsbeurteilung die Lernenden als Akteure ihrer Bildungswege in den Mittelpunkt (Images Kap. 3). »Lernen ohne Noten« ist dann zwar das Stichwort, gemeint ist dabei jedoch nicht das prinzipielle Abschaffen von rationalisierten Formen der Leistungsbeurteilung, sondern eine besonders effiziente Form der Förderung des Lernens durch Verständigung und Mitverantwortung der Lernenden für ihren Erfolg und die hierfür notwendige Motivation und Kommunikation – die dann nach differenzierten Formen der Rückmeldung und Verständigung fragt und damit vorzugsweise über Sprache stattfinden soll.

Denn ebenso klar wie die Tatsache, dass Noten nur scheinbar evident und objektiv sind (Images Kap. 1), dürfte auch die These sein, dass ein »Lernen ohne Noten« nicht in einen vermeintlichen Schonraum ohne Leistungsanforderung zu unverbindlicher Gleichmacherei führen muss. Eine Gesellschaft, die Vielfalt als Wesensmerkmal kultiviert, benötigt Konkurrenz, unterschiedliche Leistungsartikulation sowie damit zusammenhängend Erfolg und Misserfolg – auch dies müssen Kinder und Jugendliche lernen, das kann die Schule als Schonraum nicht fernhalten. Es geht also nicht um die Alternative zwischen »harten« und »weichen« Formen der Leistungsbeurteilung, sondern um die Frage nach der sachbezogenen Effizienz der für diese zentrale schulische Aufgabe gewählten Formen, die sich im professionellen Vollzug in der Schule als angemessen erweisen müssen. »Lernen ohne Noten« ermöglicht es aus dieser Perspektive im Idealfall, Schülerinnen und Schülern einen inklusionsstarken Partizipationsraum zu eröffnen und mitzugestalten, indem ein positives Konzept von Lernen und Leistung zugrunde gelegt und als lebenspraktisch wirksame Handlungskompetenz gefördert wird. Eine solche Form leistungsförderlicher und auf Beteiligung setzender notenfreier Leistungsbeurteilung benötigt bei den Lehrerinnen und Lehrern professionelle Fähigkeiten der Lernförderung, der Leistungsdiagnose und der Konzeption von diagnostischen Instrumenten (Images Kap. 5). Lerndiagnose und Leistungsbeurteilung müssen in schulischen Kollegien als Berufskompetenz vorausgesetzt und im Verlaufe der Berufsausübung stetig und standardbezogen gepflegt werden. Dabei spielen aktuelle und innovative Konzepte der Kompetenzmessung sowie eines professionalitätsstärkenden und systematisch in die Schulentwicklung integrierten Schülerfeedbacks eine tragende Rolle. Eine solche Beurteilungspraxis in der Schule zu etablieren, hat mehrere Voraussetzungen und Konsequenzen:

•  Es bedeutet, erstens eine systematisch entfaltete, diagnostisch (in Blick auf die Lernenden) wie didaktisch (in Blick auf das Lernen) ausgewiesene Lernbegleitung von Schulbiographien kollegial zu ermöglichen, stetig zu reflektieren und langfristig zu kultivieren – von der Bezugsnormanwendung bis zur kritischen Reflexion der eigenen schulischen Leistungsbiographie.

•  Dazu benötigt es zweitens vielfältiger Instrumente und Verfahren einer Feedbackkultur, die zugleich in den Handlungs- und Professionskontext der jeweiligen Schule individuell einzubetten und zu adaptieren sind.

•  Drittens ist dabei die Schülerbeteiligung als Grundlage einer Strategie individueller und gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme und Lernförderung zu verstehen. Anders gesprochen: Eine entwicklungsgerechte Leistungsbeurteilung ohne kommunikative und substanzielle Beteiligung der »Beurteilten« ist nicht realisierbar. Sie setzt zudem eine entwickelte Lesekompetenz voraus. Diese Anforderung richtet den kritischen Blick auf jüngere Analysen, denen zufolge 17 % der Absolventinnen und Absolventen der Grundschulen diese jedoch gar nicht haben (Brehmerich-Vos, Stahns, Hußmann & Schurig, 2017).

Insgesamt werden bei einer wirksamen Strategie zur Implementation einer lern- und entwicklungsgerechten Leistungsbeurteilung »ohne Noten« die schulischen Binnenverhältnisse am erkennbaren Grad von Sozialität, Selbstwirksamkeitserleben, Partizipation, Kompetenz und Kommunikation sowie fachlich fundierter Entwicklung von Beurteilungsinstrumenten und -standards im Kollegium – ggf. mit professioneller Unterstützung – bemessen.

So gesehen verbindet sich mit der »Schule ohne Noten« das Schulentwicklungsziel, die verbreiteten einseitigen, oftmals intransparenten Beurteilungsrituale zu überwinden. Denn diese stellen meist eine Erwartung an die alleinige Bringschuld des Lernens und der Leistungspräsentation der Schülerschaft in den Mittelpunkt. Sie orientieren sich dabei überwiegend an curricular begründeten Erträgen eines Lernens, das weder Verständigung pflegt, noch Förderziele zuordnet. Dies gilt ebenso für die mehrheitliche Praxis rein zensurenbezogener Beurteilung und der entsprechenden Dominanz von Ziffernzeugnissen.

Deshalb ergibt sich aus schultheoretischer Perspektive die These, dass die Schule ihrer Aufgabe individuell erfolgreicher Zuweisung (Allokation) von Funktion, Beruf, Studium und in dessen Folge sozialer Position in der Gesellschaft dann besonders gerecht wird, wenn sie eine konstruktive und vielfaltsbezogene Lernkultur, bestmögliche Entwicklungschancen für ihre Schülerschaft und grundlegende Demokratieerfahrungen zu Grundelementen der stetigen Veränderung von Schul- und Lernkultur macht (Beutel & Beutel, 2014).

 

Lernen, Leistung und Kinderrechte

 

Aktuell hat sich ein Diskurs um die Wirkung einer juristisch tragenden Geltung der Kinderrechte entfaltet (Krappmann & Petry, 2016), von der aus ebenfalls die Reform der schulischen Praxis der Leistungsbeurteilung und insbesondere kinderrechtlich fundierte Fragen an die Praxis der Ziffernnoten resultieren. Wirkungsprägend sind hierbei die UN-Kinderrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention. Beide juristischen Komplexe beeinflussen das geltende Recht in Deutschland und legen einen veränderten Umgang auch mit der Leistungsbeurteilung in der Schule nahe: Der Unterricht muss im Licht dieser beiden Rechtskonventionen ein Lehren und Lernen fördern, das Formen der Individualisierung des Lernens erforderlich macht, in denen Didaktik, Methodik sowie die Anerkennung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Verhaltenserwartungen ebenso wie biographischer Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen, Bindungen, Stärken und Schwächen der Lernenden berücksichtigt werden. Die hierfür notwendigen schulpraktischen Überlegungen müssen nunmehr die Inklusionspraxis sowie die rechtlich bindenden Ansprüche von Kinderrechten einbeziehen, die in einer demokratisch-pluralen und auf Verschiedenheiten setzenden Gesellschaft besonders stark ausgeprägt sind.

Individualisierung als Herausforderung und Folge dieser noch keinesfalls selbstverständlichen Rechtssituation ist für die Schule in Deutschland und deren pädagogische Qualität deshalb eine der aktuellen Entwicklungsaufgaben. Zugespitzt formuliert: Kinderrechtsansprüche und eine umfassende Praxis der Inklusion stehen in gravierendem Widerspruch zu einer curricular zentrierten Notenpraxis und zum möglicherweise Formen der Ausgrenzung begünstigenden sozialen Vergleich. Denn die Kinder als Träger ihrer eigenen, nicht begrenzbaren Menschenrechte haben ein Recht auf Gehör (Art. 12 Kinderrechtskonvention/KRK), auf Berücksichtigung ihres Wohls (Art. 3 KRK), auf Förderung ihrer Entwicklung (Art. 6 KRK) und auf Bildung durch Handeln und Urteilen (Art. 28/29 KRK), wie dies Krappmann in These 8 des Manifests »Kinderrechte, Demokratie und Schule« prägnant zusammengefasst hat: »Die leitende Absicht (der KRK, die Autoren) ist es, die Kinder dahin zu führen, ihre Rechte selber ausüben zu können und bis dahin die Erfüllung ihrer Rechte in ihrem Sinne sicher zu stellen« (Krappmann, 2016, S. 22).

Der pädagogische Umgang mit Vielfalt führt notwendigerweise an die Grenzen der Unterschiedlichkeit und verlangt aktive Toleranz sowie Werteklarheit. Das führt in der schulischen Praxis zu Situationen, in denen die Grenzen des Miteinanders immer wieder neu ausgelotet werden müssen. Denn das Verhältnis der Lehrenden zu ihrer Schülerschaft sowie auch der Schülerinnen und Schüler zueinander braucht eine individualitätssensible Wahrnehmung und damit letztlich auch eine persönlich zentrierte und zugleich professionelle Haltung der Lehrkräfte zur beruflichen Aufgabe der Leistungsbeurteilung!

Eine inklusionsstarke Schule zu entwickeln, führt zur Herausforderung, den Druck zur Aussonderung zu reduzieren sowie die schulischen Erwartungen an Normierung und Standardisierung sinnvoll zu gestalten und zugleich kritisch zu beleuchten. Die Schule kann hierbei alternative Konzepte des Lernens entwickeln, die sich dann in der Kultur der Leistungsbeurteilung ausweisen können (Images Kap. 3). Die die Schule immer noch mehrheitlich dominierende Defizitorientierung sollte gegenüber der Förderung individueller Stärken und eines entsprechenden Lernens in den Hintergrund treten. Das schließt letztlich auch bildungspolitische Forderungen und Veränderungen ein, die darauf zielen, dass ein umfassendes, schülernahes und individualisierendes Konzept von Leistung die Grundlage sein muss für die Bewältigung der schulischen Aufgabe, mehr Gerechtigkeit gegenüber den sozialen Kontexten ihrer Schülerschaft ausüben zu können, denn »[…] dann muss der Begriff von Leistung wieder seine umfassende Bedeutung erhalten. Dann muss Schule befreit werden von der Dominanz ihrer Selektionsfunktion und dem irrationalen Streben nach vermeintlicher Homogenität. Dann wird Leistung nicht mehr zur Legitimierung von Sortierungsentscheidungen missbraucht, sondern in seiner umfassenden Bedeutung zum Ziel der individuellen Förderung jedes einzelnen Schülers« (Schäffer, 2017, S. 31).

 

Lern- und Leistungsförderung im Deutschen Schulpreis

 

Der Deutsche Schulpreis (DSP)1 setzt sich seit 2006 jährlich mit entwicklungsstarken Schulen und deren pädagogischen Konzepten auseinander. Dabei spielt die pädagogische Konzeption von Leistung und Leistungsbeurteilung ebenso eine Rolle wie der datengestützte Ausweis schulischer Leistung im Kontext des jeweiligen Schulsystems. Es zeigt sich dabei, dass die dort qualifizierten »guten Schulen« ein differenziertes, viele Domänen betreffendes Curriculum und Angebotsportfolio vorweisen, das einen differenzierten Umgang mit dem Komplex schulischer Leistung und Leistungsbeurteilung sowie eine entsprechende curriculare Reflexion und Praxis einschließt. Dabei dominiert nicht die tradierte Fokussierung allein auf »akademische Kompetenzen« im Sinne curricular verankerter Fachleistungen, gerade wenn neben der Förderung sprachlicher Kompetenzen sowie der Vermittlung mehrerer Sprachen naturwissenschaftliche Angebote ausgeprägt sind. Entscheidend ist, dass dies didaktisch meist mit Formen forschenden Lernens und schulöffentlicher Präsentation sowie entsprechenden Projektarbeiten verknüpft ist. Wettbewerbsteilnahmen und Kooperationen mit namhaften und exzellenten Partnerinnen und Partnern des tertiären Bildungsbereichs schließen sich an. Ein Wechselspiel von individueller und kooperativer Leistung, von vielfältigem und gekonntem Lernen wird so im gesamten Schulhaus – hier durchaus auch räumlich und sozial gemeint – dokumentiert. Das leistungsambitionierte Auftreten solcher Schulen korrespondiert auf Schülerseite mit positiven Lernhaltungen, Offenheit und Interesse sowie mit Elternhäusern, die ein solches Leistungskonzept erwarten, mittragen und unterstützen. So wird das individuelle Leistungsgeschehen beispielsweise in regelmäßig stattfindenden »Schüler-Eltern-Lehrer-Konferenzen« reflektiert (Images Kap. 4).

Die Schulen des Deutschen Schulpreises überzeugen durch Lernsettings, in denen sich individuelles und kooperatives Lernen, Beziehung, Neugierde, Beteiligung und Zutrauen verbinden. Durch außerschulische Partner und ein damit eröffnetes Feld für Projekte kleiner und großer Dimension kann der Eigensinn des schulischen Lernens – Konzentration, gemeinsame Aufgabenbestimmung in altersähnlichen Gruppen, die Teilung kultureller und entwicklungsbezogener Formen der Repräsentation im sozialen Miteinander und anderes mehr, was die Schule als positive Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ausmacht – auch im Kontext künftiger Bildungs- und Ausbildungschancen gesehen werden. Es ist gewollter Teil pädagogischer Arbeit, dass Jugendliche einen vorausschauenden »Zeitsprung« ihres biographischen Werdegangs mitbedenken und darin ihr Lernen sowie ihre Leistungen reflektieren. In den standardisierten Überprüfungen wie auch in den Abiturabschlussprüfungen zeigen die Schülerinnen und Schüler oftmals überdurchschnittliche Leistungen. Die Schulen nutzen die Teilnahme an Schulleistungserhebungen nicht nur als Diagnostik ihres je aktuellen Status, sondern als Ausgangspunkt einer Datensammlung und Ergebnisauswertung für weitere individuelle Lernausgangslagen und Lernstände sowie als Anlass zur didaktischen Nachsteuerung in Fachgruppen – sie ziehen daraus einen im engeren Sinne pädagogischen Nutzen in der Bewältigung der aktuellen Aufgaben zwischen Individualisierung und Berechtigungswesen. Sowohl das umfassende pädagogische Leistungsverständnis als auch die sichtbaren Erfolge in den Lernstandserhebungen sowie die Verbindung der Leistungsethik mit einer lebenspraktisch orientierten Zielbeschreibung für das Leistungsbild der Schule begründen die bei den DSP-Preisträgern vorfindliche Vielfalt und Besonderheit dieser Schulen. Man kann aufgrund dessen zumindest die Vermutung formulieren, dass es den DSP-Schulen in dem für das deutsche Schulwesen kennzeichnenden »[…] Spannungsfeld aus inhaltlicher Unter- und bürokratischer Überregulierung« (Schratz, Pant & Wischer, 2014, S. 10) immer wieder gelingt, »[…] die Entkoppelung von Legitimitätsanspruch und Praxis der Leistungsbeurteilung durch gute selbstentwickelte Konzepte zu überwinden« (Schratz et al., 2014, S. 10).

Bei nahezu allen exzellenten, d. h. im Preisträgerstatus des DSP qualifizierten Schulen ist eine lernförderliche Beziehung zwischen den Lernenden und Lehrkräften klar ersichtlich. Das führt zur schulpraktischen Anwendung der Einsicht, dass nicht jeder jeden unterrichten kann, dass neue und andere Erklärungswege von Gegenständen, Phänomenen und Lernaufgaben – unterstützt von visualisierenden Medien – oftmals hilfreicher sind als tradierte fachdidaktische Konzepte. Zudem stärkt es eine Praxis, in der Schwächen und Fehler bei Lernenden nicht Ausschluss und Sanktion bedeuten, sondern Anlässe für ein Nachdenken der Lehrenden über das Lernen und für die Entwicklung von Unterstützungsangeboten für die Lernenden geben. Lernergebnisse zu erreichen und zu dokumentieren, das liegt hier nicht allein in der Verantwortung der Schülerschaft, sondern wird als durch die Individualisierung notwendigerweise erzeugte Herausforderung in der Lehrerschaft verstanden. Die Dokumentationsformen von Lernergebnissen sind dabei – auch bedingt durch die Aufgabenvarianz – vielfältig. Unterschiedliche Wege des Verstehens der Lernenden beim Lernen werden respektiert. Die Vielfalt von Richtigkeitsansprüchen und deren Geltung wird in der Verständigung zwischen Lehrenden und Lernenden überprüft und auch korrigiert.

 

Individualisierung, Kooperation und Professionalität

 

Es wird deutlich, dass die an den Schulen des DSP eingeschlagenen Wege zu mehr Individualisierung im Unterricht und zur Selbstverantwortung beim Lernen weniger einen pädagogischen Trend oder einen didaktisch-methodischen Selbstzweck beschreiben. Sie sind vielmehr eine vernünftig begründete Antwort auf die Herausforderungen von Vielfalt und Differenz in den Lern- und Lebensbiographien der Kinder und Jugendlichen. Die Schulen praktizieren durch ihre und mit ihren Kollegien eine pädagogische Haltung, die sich nicht nur auf die schulfachliche Leistungsentwicklung konzentriert, sondern Lernen und Leistung in den Kontexten von Beziehung, sozialer Begegnung und herausforderndem Lernangebot beschreibt. Über alle Jahrgangsstufen hinweg sind Differenzierungsmuster erkennbar. Dabei lassen sich verschiedene Formen größtmöglicher Konzentration auf individuelle Prozesse der Kompetenzentwicklung erkennen. Es spielen kompetenzorientierte Lernarrangements, variantenreiche Aufgaben- und Arbeitsmaterialien (geordnet nach Darbietung, Tempo, Umfang, Aufgabenstellung, Patensystem, Methode, Arbeitsmittel etc.) eine entscheidende Rolle.

Kooperative Lernformen werden durch gemeinsame, forschend-erkundende Dialoge zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern eingeleitet und angelegt. Aufgabenplanung und Reflexion gehören dazu. Die Flure – und mit pädagogischer Perspektive in Aktivitätszonen unterteilte Gruppenräume –, meist mit ästhetisch anspruchsvoll ausgestellten Schülerarbeiten, sind nicht nur moderne Lernorte mit Galerien als Ergebnisnachweis, sondern bilden zugleich ein öffentlich wahrnehmbares Bildungspanorama der Schule. Sie sind ein auch den Eltern und der Öffentlichkeit zugänglicher Ort, an dem das Lernen der Kinder nachvollziehbar und zum Gesprächsanlass wird (Images Kap. 4). Didaktische Schwächen können dabei durchaus hervortreten. Sie sind der Lehrer- wie der Schülerwahrnehmung zugänglich und sie fordern neue Entwicklungsleistungen ein (Beutel, Höhmann, Pant & Schratz, 2016).

Der vorliegende Band nimmt hierbei eine vermittelnde Position ein: Selbstverständlich sehen wir die Notwendigkeit des Sichtbarmachens von Leistung und Leistungsergebnissen in den Schulen auf den Ebenen der Lernenden, der Schule als pädagogischer Handlungseinheit und der systemischen Ebene. Gerade die Arbeit der Schulen ist öffentlich und fachlich legitimationspflichtig. Sie muss beschreiben und ausweisen können, was sie gemessen an der Erwartung von Staat, Gesellschaft und den von ihr und in ihr handelnden Menschen erreicht und mit welchem Mittelaufwand sie dieses tut. Dabei gilt zugleich jedoch die der Schule eigene pädagogische Bestimmung, Schülerinnen und Schülern eine herausragende Umgebung für ihr Lernen und ihre Kompetenzentwicklung zu bieten und ihren Erfolg daran zu bemessen. Eine der möglichen Kehrseiten des Messens und Testens schulischer Leistungserbringungen wird im aktuellen pädagogischen Diskurs als ihre entpädagogisierende Orientierung hin auf wirtschaftliche Ergebnisoptimierung kritisiert. In dieser Sicht führen datengestützte Schulentwicklung mit kleinteiligen Lernstandserhebungen, regelmäßige Diagnose des Lernstands von Lernenden und Schulleistungsvergleiche zur »[…] ständigen Selbstevaluation. […] Ziel ist die möglichst standardisierte und automatisiert prüfbare ›Produktion von validierbaren Lernleistungen‹« (Lankau, 2018). Dass eine pädagogisch ungebremste Ausrichtung an Kriterien wirtschaftlichen Effizienzdenkens für die pädagogische Schulentwicklung auch ein Problem werden kann, sollte nicht übersehen werden. Unterricht gerät sonst im Extremfall zum reinen »Teaching to the Test«. Umso mehr benötigt die Schulentwicklung heute einen vernünftig begründeten Umgang mit Leistungsdiagnostik auf allen Ebenen, zuletzt und vor allem auf Ebene der Lernenden selbst und ihrer Erwartungen an ihre eigene Arbeit, aber auch an die Arbeit ihrer Schulen.

Für eine »Schule ohne Noten«, die Leistungsbeurteilung als rational begründete, professionell fundierte Aufgabe ihrer Lehrerschaft versteht, können wir also festhalten:

•  Leistungsbeurteilung ist mehr als curricular begründete Notenvergabe. Die Diskussion um Formen der Leistungsbeurteilung ist aber auch mehr als die pure und meist schnell vorgetragene Reproduktion alleine der Forderung, »Noten abzuschaffen«. Sie fokussiert vielmehr darauf, diese Aufgabe gut begründet als professionelles Handlungserfordernis zu verstehen, das im produktiven, auf Wechselseitigkeit, Anerkennung und Verständigung setzenden Prozess mit den Lernenden transparent und valide gelöst werden kann. Leistungsbeurteilung an der jeweiligen Schule ist pädagogisch-professionell gesehen dann qualitativ so gut, wie es der Unterricht und das Lernen dort auch sind.

•  Leistungsbeurteilung muss sich nicht alleine den damit genannten Merkmalen, sondern valider und gut begründbaren Verfahren der Überprüfung von Lernleistungen, deren Einordnung und kompetenzbegründeten Lern- und Leistungsanforderungen und deren transparenter und nachvollziehbarer Kommunikation stellen. Dazu gehören elementare entwicklungspsychologische Einsichten zum Verstehen und Lernen sowie zur moralischen und sozialen Urteilskompetenz von Kindern und Jugendlichen sowie zu deren prozesshaften Entwicklung in Kindheit und Adoleszenz.

•  Leistungsbeurteilung benötigt beides – ein Leistungskonzept und ein begründetes Konzept von Beurteilung. Als kritisches Korrektiv bedarf sie zudem der Einsicht, dass Noten nur einen scheinbar objektiven Charakter haben, wie alle Darstellung sozialer Verhältnisse alleine durch Zahlen. Der ideologische Charakter solcher Traditionen ist allerdings auch Formen alternativer Leistungsbeurteilung etwa durch verbale Berichte nicht fremd. Nur die Umstellung der Darstellungsformen von der Zahl zum Wort wirkt alleine weder aufklärend noch entideologisierend. Entscheidend sind die Konzepte der Begründung und die nachvollziehbare, professionell begründbare Form der Anwendung. Aus der Erfahrung praktischer Pädagogik kann davon ausgegangen werden, dass kommunikativen Formen verbaler Leistungsbeurteilung ein variantenreicher und dem Erfordernis der Individualisierung eher entsprechender Grundzug innewohnt, als dies bei Ziffernzensuren der Fall ist.

•  Dabei ist besonders bemerkenswert, dass die Kinder und Jugendlichen in der Schule mehrheitlich über ihr Lernen und ihre Leistungen auskunftsfähig sind. Das betrifft sowohl den eigenen Lernprozess als auch aktuelle Tätigkeiten. Sie können diese in der Relevanz für Tests und Klassenarbeiten einordnen. Eine valide Praxis lernförderlicher Leistungsbeurteilung kommt schon alleine deshalb ohne Beteiligung der Lernenden nicht aus: Team-Teaching und Team-Learning sind zwei Glieder einer sich bedingenden Kette erfolgreichen Lernens.

Dieser Band will für eine lernnahe Leistungsbeurteilung und die damit aufgeworfenen Gestaltungsfragen in der schulischen Praxis sensibilisieren. Er will unterstützen und für die Leserinnen und Leser, vor allem dann, wenn diese Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen sind, Anregungen und Hilfestellungen geben, um diesem grundlegenden und unausweichlichen Zweig professionellen Handelns pädagogisch angemessen zu entsprechen. Hierzu gehen wir den Potenzialen der Leistungsbeurteilung ebenso wie möglichen Formen ihrer professionellen Handhabung nach (Images Kap. 3). Dabei spielen die Möglichkeiten, die eine Anschauung guter Praxis bietet, eine besondere Rolle (Images Kap. 4). Wir wollen – in theoretische und empirisch erprobte Konzepte eingeordnet – ein breites Spektrum adaptierfähiger Instrumente und Verfahren für eine notenfreie und leistungsfördernde Unterrichts- und Schulentwicklung aufzeigen (Images Kap. 2) und Erfahrungen sowie Arbeiten des Deutschen Schulpreises und der Deutschen Schulakademie aufgreifen (Images Kap. 5). Dabei wird auf eine systematische schulindividuelle Entwicklungs- und Aufbauarbeit gesetzt, die professionelle Handhabung, die Bereitschaft zur Standardentwicklung und zur Evaluation von individueller und schulbezogener Leistung voraussetzt (Images Kap. 6).

Im anschließenden Kapitel (Images Kap. 1) soll es zunächst darum gehen, Notengebung als den immer noch dominierenden Ansatz in der schulischen Leistungsbeurteilung mit all den vielen Unzulänglichkeiten und wenigen Vorteilen zu charakterisieren. Es geht uns um ein Verständnis dafür, welche tiefe Verwurzelung ein Denken in Noten hat und was es scheinbar so unverzichtbar macht.

1     Der Deutsche Schulpreis wird von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung ausgelobt, siehe https://www.deutscher-schulpreis.de/.

1          Notengebung, Leistungsprinzip und Bildungsgerechtigkeit

Hans Anand Pant

 

»Noten sind halt ungerecht, aber was willste machen?!« – in diesem leicht resignativen Alltagszitat einer Sekundarschullehrerin kommt zum Ausdruck, was die Diskussion um Notengebung als der dominierenden Praxis der Leistungsbeurteilung in Deutschland immer noch auszeichnet. Es ist eine Mischung aus rationaler Einsicht in die pädagogische Untauglichkeit von Noten und gleichzeitig deren scheinbare Unverzichtbarkeit für die Institution Schule und die alltägliche Anforderung der Leistungsbeurteilung an Lehrerinnen und Lehrer.

Dieses Kapitel möchte die Annahme der prinzipiellen Ungerechtigkeit von Notensystemen unter verschiedenen Perspektiven beleuchten und zuspitzen. Dabei soll und kann die jahrzehntelange fachliche Beschäftigung aus pädagogischer, historischer, soziologischer, lernpsychologischer, bildungsrechtlicher und anderer Perspektive auch nicht ansatzweise rekapituliert werden. Ziel dieses Abschnitts ist es vielmehr, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es häufig die unhinterfragten Annahmen im alltäglichen Nachdenken über Leistungsbeurteilung sind, die Pädagoginnen und Pädagogen zwangsläufig in »Fallen« laufen lassen. Durch die Anregung zur Reflexion dieser »Fallen« wird es (hoffentlich) verständlicher, was die praktischen Schulbeispiele alternativer, integrierter Systeme der Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung, die im Verlauf des Buches zur Darstellung kommen, leisten können: Sie erobern das Leistungsprinzip zurück in einem erweiterten pädagogischen Sinne, d. h. als Vorstellung einer ko-konstruktiven Gemeinschaftsanstrengung aller am pädagogischen Prozess Beteiligten.

Im massenmedialen, aber auch im fachlichen Noten- und Leistungsdiskurs trifft man zunächst auf viel »semantisches Gestrüpp«. Da werden die Unterschiede zwischen Schlüsselkonzepten wie Lernen, Leistung, Potenzial und Fähigkeit verwischt oder – etwas konkreter – PISA-Test und Klassenarbeiten in einem Zuge als Instrumente der Leistungsbeurteilung bezeichnet. Zunächst sollen deshalb einige begriffliche »Sortierungen« und Ordnungsversuche vorgenommen werden. Diese beanspruchen keinen »Wahrheitswert«, sie möchten aber den fachwissenschaftlichen Diskurs aufgreifen und Lesenden und Schreibenden als gemeinsame Referenzpunkte im »Diskursgestrüpp« über Leistung und Noten dienen. Anschließend betrachten wir Notengebung – oder allgemeiner: Formen der Leistungsbeurteilung – unter gerechtigkeitstheoretischen Gesichtspunkten. Es wird versucht aufzuzeigen, welche widersprüchlichen Gerechtigkeitsmodelle zurzeit in der Diskussion kursieren und wie sich diese in einem zentralen Punkt der Leistungsbeurteilung widerspiegeln, der Bezugsnormorientierung.

Zum Schluss dieses Kapitels möchten wir der Illusion entgegentreten, dass man allein durch wissenschaftliche Begründungen und Untersuchungen zu einer »gerechten« Form der Leistungsbeurteilung kommen könne, und argumentieren, dass wir immer wieder bei normativen Grundfragen landen werden. Welche Formen des gesellschaftlichen Miteinanders wünschen wir uns grundsätzlich, d. h. auch und gerade jenseits der Institution Schule? Wie stellen wir uns das »Mischverhältnis« von inklusiven, kooperativen, wettbewerblichen, (höchst-)leistungsorientierten, glücksorientierten oder anderen Prinzipien des Zusammenlebens vor? Wer diese Frage dauerhaft ausblendet, so unsere Schlussfolgerung, wird – sei es als Lehrerin oder Lehrer, als Elternteil oder als Schulleitung – höchstwahrscheinlich in der »Notenfalle« stecken bleiben.

 

1.1       Lernen, Leistung, Leistungsfeststellung, Leistungsbeurteilung, Noten – einige begriffliche Sortiervorschläge

 

Betrachtet man jenseits einer routinehaften und »kurzatmigen« Alltagssicht (»Noten zeigen, wie gut Schülerinnen und Schüler etwas gelernt haben«) den Zusammenhang zwischen Lehren, Lernen, Leistung und Noten, dann erscheint er schnell ziemlich komplex. Lernen im Kontext von Unterricht und Schule wird zunächst immer als ein Lernen in Bezug auf ein Lehren, also als Lehr-Lern-Prozess verstanden. Dabei ist die Seite des Lehrens verhältnismäßig gut sichtbar, planbar und beeinflussbar und liegt (in »klassischer« Sichtweise) überwiegend in der Verantwortung der Pädagogin bzw. des Pädagogen. Dass »auf der anderen Seite«, also auf Seiten der Kinder und Jugendlichen, etwas gelernt wurde, muss hingegen erst sichtbar gemacht werden durch entsprechende Verfahren der Feststellung oder Erfassung von Ergebnissen des schulischen Lernvorgangs. Dazu zählen längst nicht mehr nur klassische Lernerfolgskontrollen, wie etwa von der Lehrkraft entwickelte schriftliche Klausuren und mündliche Prüfungen, sondern ein ausdifferenziertes Arsenal an unstandardisierten und standardisierten Instrumenten, wie Lerntagebücher, Lernlandkarten, Portfolios, Kompetenzraster, Lernentwicklungsgespräche, um nur Beispiele zu nennen. In Kapitel 2 (Images Kap. 2) werden einige von ihnen näher beschrieben und auf ihre empirisch feststellbaren Wirkungen und Zusammenhänge mit Lernergebnissen untersucht.

Diese Instrumente werden eingesetzt, um etwas prinzipiell für Außenstehende – auch für die Lehrerin und den Lehrer – »Uneinsehbares«, nämlich das Lernen selbst, sichtbar und für den Lehr-Lern-Prozess verfügbar zu machen2. Die Lernenden selbst bräuchten, um zu lernen, diese Akte der Feststellung und Erfassung von außen nicht. Sie könnten ihr eigenes Lernen, d. h. »das Mehr« und die Entfaltung von Wissen und Können, in der tätigen oder reflexiven Auseinandersetzung mit der dinglichen und sozialen Umwelt erleben und für sich selbst erfahren. Der hohe Stellenwert, den geeignete Rückmeldungen (»Feedback«) im Lernprozess haben können, ändert an dieser prinzipiellen Unabhängigkeit von innerem Lernvorgang und äußerer Sichtbarmachung nichts. In diesem Sinne bleibt Lernen stets ein latentes Konstrukt.

Der institutionelle Zugriff auf das unsichtbare Lernen erfolgt nun, wenn man so will, durch einen gesellschaftlich anerkannten, d. h. über Normen und Traditionen abgesicherten, sowohl rechtlich, administrativ als auch professionsmäßig verankerten »Kniff«. Dieser Kniff besteht ganz simpel darin, dass Lernen im schulischen Kontext als Leistung deklariert wird: Wer in der Schule (nachweislich) etwas gelernt hat, hat etwas geleistet. Aus dem unbeobachtbaren Lernprozess resultiert die ebenso konstrukthafte Lernleistung. Aus dem Versuch, mittels Verfahren und Instrumenten Lernprozesse sichtbar und fassbar zu machen, wird auf diese Weise Leistungsfeststellung bzw. Leistungserfassunggrundsätzlich