Über das Buch

Schluss mit Diät: Melanie Mühl zeigt unterhaltsam und wissenschaftlich fundiert, warum ein achtsamer Umgang mit Ernährung wichtig ist. Der Nachfolger von »Die Kunst des klugen Essens«.

Bei Langeweile essen wir salzig, und Angst ist der größte Feind gesunder Ernährung. Unsere Gefühle beeinflussen unser Essverhalten — und umgekehrt. Gesunde Ernährung beginnt nicht mit einem perfekten Essensplan, sondern mit einer stabilen, aufmerksamen Beziehung zu unserem eigenen Ich. Melanie Mühl zeigt unterhaltsam und wissenschaftlich fundiert, warum ein achtsamer Umgang mit Ernährung wichtig ist. Damit wir im Einklang mit dem eigenen Körper und unserem Wohlbefinden lustvolles Essen genießen können.

Melanie Mühl

Das Ernährungsgefühl

Wie Emotionen unser Essverhalten beeinflussen

Inhalt

Vorwort

Blue Zones

Die mediterrane Ernährung von Ikaria und Sardinien: Fettreich, einfach, von hoher Qualität

Okinawa: Achtsamkeit und Mäßigung

Jenseits der Blue Zones: Langes Leben durch Bewegung und Wertschätzung

Achtsame Ernährung — die Grundprinzipien

Hunger

Die besten Nahrungsmittel bei Hunger

Die sieben Arten von Hunger

Das Gegenteil von Hunger: Wann ist man eigentlich satt?

Achtsamkeit

Technik, Ablenkung und Selbstquantifizierung

Was Achtsamkeit ist

Meditation: Die transformative Kraft

Achtsames Essen

Achtsamkeitsübungen für jeden Tag

Fasten — eine traditionelle Heilpraxis

Unsere innere Uhr — ein wichtiger Begleiter des achtsamen Essens

Fasten führt zu den erstaunlichsten Ergebnissen

Heilfasten ist nicht der einzige Weg — Methoden des Fastens

Können wir uns glücklich essen? Und wenn ja — wie?

Fast Food und Zucker machen auf Dauer nicht glücklich, sondern begünstigen Krankheiten

Die emotionalen und gesundheitlichen Auswirkungen von ganzheitlicher Ernährung

Nachwort

Literaturverzeichnis

Vorwort

Es gibt fünf Orte auf dieser Welt, wo die Menschen gesünder sind und älter werden als überall sonst. Beneidenswert fit sind sie außerdem. Mit Magie hat das nichts zu tun, sondern mit einem klugen Lebensstil, von dem wir viel lernen können. Wissenschaftler haben diese Gegenden Blue Zones getauft, und dazu gehören das griechische Ikaria sowie die japanische Inselkette Okinawa, Nicoya in Costa Rica, Sardinien und Loma Linda in Kalifornien. Was deren Bewohner gemeinsam haben: Sie ernähren sich gesund, wenn auch nach völlig unterschiedlichen Prinzipien. Vor allem aber beherzigen die Blue-Zones-Bewohner eine bestimmte Haltung: Achtsamkeit.

Ganz im Hier und Jetzt zu sein und die Sinne zu schärfen, wird auch für uns immer wichtiger. In einer Welt, in der Optimierungs-Gurus die irrsinnigsten Ernährungsregeln aufstellen und einem vorgaukeln, man müsse in kürzester Zeit schlank werden, ist es nur vernünftig, ja heilsam, sich auf die wahren Bedürfnisse des Körpers zu konzentrieren. Dieses Buch soll dabei helfen.

Unumstößliche ernährungswissenschaftliche Fakten spielen ebenso eine Rolle wie die Rückeroberung unseres Körpergefühls. Welchen Einfluss hat Ernährung wirklich auf unsere Gesundheit und Langlebigkeit? Wie ernähren wir uns nicht nur gesund, sondern auch gut? Was bedeutet es, hungrig zu sein? Bin ich ein emotionaler Esser? Die meisten von uns sind das, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wer erst einmal das eigene Essverhalten und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, die dabei im Spiel sind, durchschaut hat, dem wird ein Stein vom Herzen fallen.

Wie also funktioniert Achtsamkeit im Alltag? Wie kann ich gesünder und genussvoller essen? Und: Kann ich damit abnehmen?

Das sind nur ein paar der Fragen, die dieses Buch beantworten möchte. Richtet man den Scheinwerfer auf die entscheidenden Stellen im Ernährungskosmos und beleuchtet Fakten und Gefühl, ist ein gesundes Leben nämlich gar nicht mehr so kompliziert. Und der Genuss kommt auch nicht zu kurz.

Blue Zones

Ikaria ist eine kleine Ägäis-Insel mit verwinkelten Gassen, weißen Postkartenhäuschen und einem Strand, der so schön ist, dass die Ikarianer ihn »Seychelles« genannt haben, was gar nicht nötig gewesen wäre, weil das Außergewöhnlichste an dieser Insel nichts mit ihren landschaftlichen Reizen zu tun hat, sondern mit den Einheimischen selbst. Diese glücklichen Menschen werden steinalt, und zwar in einem derart fitten Zustand, dass man sich verwundert fragt, wie das möglich ist. An guten genetischen Voraussetzungen kann das nur zu einem kleinen Teil liegen, denn unsere Gene sind lediglich zu etwa 25 Prozent für Langlebigkeit verantwortlich.

Ikaria zählt zu den sogenannten Blue Zones, jenen im Vorwort erwähnten Orten, die eine auffallend hohe Konzentration von sehr alten, gesunden Menschen aufweisen und die hier noch mal genannt werden sollen: Okinawa, Nicoya, Sardinien (besonders die Dörfer der Bergregion Barbagia, wo in der Gemeinde Seulo zwischen 1996 und 2016 zwanzig Hundertjährige lebten), Loma Linda (dort ist eine große Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten ansässig, die etwa zehn Jahre länger leben als der durchschnittliche Amerikaner) und eben Ikaria. Entdeckt haben die Blue Zones der belgische Demograph Michel Poulain und der italienische Altersforscher und Mediziner Gianni Pes. Auf der Landkarte markierten sie die Zonen mit einem blauen Stift, daher der Name. Durch einen 2004 veröffentlichten Bericht der beiden Forscher wurde der Wissenschaftsautor Dan Buettner, der inzwischen als eine Art Blue-Zones-Experte gilt, auf Poulain und Pes aufmerksam. Buettner schrieb eine Titelgeschichte für das Magazin »National Geographic« unter der Überschrift: »The secrets of a long life«. Der Begriff Blue Zones fiel darin zum allerersten Mal.

Die mediterrane Ernährung von Ikaria und Sardinien: Fettreich, einfach, von hoher Qualität

Doch wie genau leben nun die Bewohner der Blue Zones? Die Ikarier zum Beispiel sammeln Wildgemüse und Wildkräuter, die sie in der Küche verarbeiten und aus denen sie morgens und abends Tee zubereiten. Schließlich wachsen mehr als 150 verschiedene Kräuter auf der Insel. Mittags, nach der reichhaltigsten Mahlzeit des Tages, legen sich die Ikarier für ein kleines Nickerchen hin, und abends gönnen sie sich gern in geselliger Runde ein Glas Rotwein. Dan Buettner listet in seinem Buch The Blue Zones Solution die wichtigsten Nahrungsmittel der Ikarier auf:

Die Athener Kardiologin Christina Chryssohoou vermutet, dass auch regelmäßiger Sex bis ins hohe Alter zur Langlebigkeit der Ikarier beitrage, jedenfalls deutet darauf eine mehrjährige Studie mit mehr als 23.000 griechischen Probanden hin, unter denen sich auch Ikarier befanden, die ihr Sexleben als recht aktiv beschrieben hatten.

Die berühmte mediterrane Ernährung stellen sich wohl viele so ähnlich vor, wie es Andreas Michalsen, Chefarzt für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin und Autor des Bestsellers Mit Ernährung heilen, in jungen Jahren getan hat. Michalsen, damals auf Reisen in Nordspanien, bestellte in einer kleinen Pension das einzige Menü auf der Karte, nach Art des Hauses. »Ich war begeistert und stellte mir vor, dass es nun leckeren Tintenfisch, Manchego-Käse und Paella geben würde«, schreibt er in seinem Buch. Serviert wurden allerdings vier Gänge: »eine Gemüsesuppe, Salat, zwei gefüllte Teller mit Gemüse — Aubergine, Zucchini, Artischocke, weiße Bohnen, grüner Spargel, gebratene Paprika und Spinat mit reichlich Zwiebeln und Knoblauch — sowie einen süßen Nachtisch aus Pistazien, Honig und Mandeln. Zum Hauptgang wurden frisch gebackenes Brot und Oliven gereicht.« Damals war er ziemlich enttäuscht über dieses vermeintlich karge Mahl, doch heute weiß er, dass er ein traditionell mediterranes und gesundes Essen bekommen hatte.

Genauso wenig wie Paella gehört übrigens der fantastische Serrano-Schinken zur mediterranen Ernährung. Was nicht heißt, dass man ihn aus dem eigenen Leben verbannen muss, aber dazu später mehr.

Ein Blick auf den Speiseplan aus der sardischen Blue Zone bestätigt den Eindruck von einfachen, aber hochwertigen Lebensmitteln:

Der gesundheitliche Nutzen einer klassischen mediterranen Ernährung — sie senkt beispielsweise das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen- wurde in zahlreichen Studien bewiesen, auch wenn die gefeierte Mittelmeerdiät 2018 einen kleinen Dämpfer bekam: Spanische Forscher mussten eine großangelegte Studie aus dem Jahr 2013 über den enormen Gesundheitsnutzen der Mittelmeerdiät zurückziehen. Es hatten sich erhebliche Fehler bei der Datenerhebung eingeschlichen. Doch die positive Wirkung dieser Ernährung auf unsere Gesundheit ist inzwischen vielfach bewiesen, daran ändert auch die fehlerhafte Studie der Spanier nichts.

Was die Ernährung betrifft, ist eine Tatsache ebenfalls unumstößlich: Industrienahrung ist Gift. Wer jetzt hofft, dass auch für diesen Befund einmal gelten wird, was mittlerweile für die ehemals verteufelten Kohlenhydrate und bestimmte Fette gilt, wer also insgeheim an eine Rehabilitierung des Junk-Foods glaubt, der muss enttäuscht werden. Die wird nicht kommen.

Okinawa: Achtsamkeit und Mäßigung

Eine mediterrane Ernährung kann durchaus zu einem gesünderen, längeren Leben führen. Das beweisen die Bewohner von Ikaria und Sardinien.

Was die Superalten betrifft, belegt allerdings Okinawa, genauer gesagt das Inseldorf Ogimi mit seinen gut 3000 Einwohnern, den Spitzenplatz. Ende März 2019 waren laut Gemeindeverwaltung 437 der 3084 Bewohner älter als 80 Jahre, und 17 hatten sogar die 100 Jahre erreicht oder überschritten. Seit mehr als 40 Jahren schon interessieren sich Wissenschaftler für die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten dieser Menschen.

Dass die Okinawaer derart lang leben, ist indes kein neues Phänomen, im Gegenteil. Bereits vor Jahrhunderten nannten die Chinesen Okinawa neidvoll das »Land der Unsterblichen«. Forscher fanden heraus, dass die besondere Langlebigkeit in den Blue Zones auf vier Säulen fußt: Ernährung, Bewegung, Stressabbau und Gemeinschaft.

Die Ernährung sollte maximal pflanzenbasiert sein, möglichst komplett auf industriell verarbeitete Lebensmittel verzichten, Fisch und Fleisch dürfen nur in Maßen konsumiert werden (was besonders für Fleisch gilt). Ein hoher Ballaststoffanteil hilft, schnell satt zu werden. Alkohol ist hin und wieder erlaubt. Auf Zucker hingegen sollte komplett verzichtet werden, Softdrinks sind also tabu. Die wichtigsten Eiweißlieferanten auf Okinawa sind Tofu und Fisch. Die japanische Küche verwendet außerdem reichlich Algen, die einen hohen Gehalt an ungesättigten Omega-3-Fettsäuren enthalten. Diese lebensnotwendigen Fettsäuren kann unser Körper nicht selbst herstellen, weshalb wir sie zuführen müssen. Sie wirken entzündungshemmend, sind an etlichen Stoffwechselprozessen in unserem Körper beteiligt und helfen unter anderem bei Gelenkschmerzen und Arthrose, Blutgerinnungsstörungen und hohem Blutdruck sowie trockenen Augen. Die wichtigsten Omega-3-Fettsäuren sind EPA (Eicosapentaensäure), DHA (Docosahexaensäure)und ALA (alpha-Linolsäure).

Großer Beliebtheit erfreuen sich auf Okinawa außerdem Seetang und Süßkartoffeln, Nüsse, fermentierte Sojabohnen und Sojasprossen, Knoblauch, brauner Reis, grüner Tee und Shiitake-Pilze, und nicht zu vergessen die berühmte und für unseren Geschmack gewöhnungsbedürftige Bittergurke Goya, die eine genoppte Schale hat und zur Familie der Kürbisgewächse gehört.

Der inflationär gebrauchte Begriff Superfood trifft bei ihr tatsächlich zu: Sie enthält unter anderem Eisen, Kalzium, Carotin und Vitamin C. Verschiedene klinische Studien zeigen, dass sie bei Diabetikern zu einer Reduktion des Blutzuckerspiegels führt, weshalb weniger künstliches Insulin gespritzt werden muss. Ohnehin gilt auf Okinawa die »Kusui-mum«-Philosophie, sprich: Essen kann auch Medizin sein. Wohlschmeckende Medizin, selbstverständlich!

Ohne regelmäßige Bewegung allerdings lässt sich selbst bei gesündester Ernährung (und ein bisschen Glück) die 100-Jahre-Marke nicht knacken. Die Okinawa-Japaner arbeiten vorzugsweise in ihren Gemüsegärten oder im Haushalt und legen viele Strecken zu Fuß zurück. Ihr Streben nach Lebenssinn (»Ikigai«) gibt ihnen jene mentale Stärke, die im hohen Alter besonders wichtig ist. Wenn man weiß, wofür man morgens aufsteht, tut man das gerne, wozu passt, dass es keinen Begriff für Ruhestand gibt, weil Ruhestand eben schnell in den Stillstand führt.

Die Okinawa-Japaner, auch das ist interessant, ernähren sich sehr kohlenhydratreich und fettärmer als die Sarden. Bas Kast rät in seinem Bestseller Der Ernährungskompass jedem, der Kohlenhydrate als Übel verdammt, einen Blick auf diese traditionelle Ernährungsweise zu werfen.

»Hier haben wir ein Volk, das zu den gesündesten der Welt gehört — und was essen diese Menschen? Größtenteils Kohlenhydrate! Einst machten die Kohlenhydrate nicht weniger als 85 Prozent der Kalorien ihrer Diät aus. Das hat sich über die Jahrzehnte gewandelt, der Anteil liegt aber heute immer noch bei knapp 60 Prozent.«

Die Okinawa-Japaner leiden sehr viel seltener als wir unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Zuckerkrankheiten, Krebs und Demenz. Ihre Ernährungsweise deshalb als Heilsbringer zu feiern, die man nur befolgen muss, um von fiesen Altersgebrechen und Krankheiten möglichst lange verschont zu bleiben, wäre freilich naiv. Die Kultur und Lebensweise (und ein bisschen auch die Gene) der Okinawa-Japaner haben ebenso viel mit ihrer Langlebigkeit zu tun wie die Ernährung.

So kann man sich zu Recht fragen, inwiefern die Okinawa-Japaner als konkretes Vorbild für uns taugen könnten. Und da gibt es neben dem Ikigai, dem Finden des Lebenssinns, noch eine zweite wichtige Erkenntnis. Die Japaner befolgen nämlich die kluge Achtsamkeitsregel »Hara Hachi Bu«, was so viel heißt wie: »Höre auf zu essen, wenn dein Magen zu achtzig Prozent gefüllt ist.« Das klingt leichter, als es in Wahrheit ist, aber dazu kommen wir später.

Jenseits der Blue Zones: Langes Leben durch Bewegung und Wertschätzung

Die bolivianischen Tsimané, Jäger, Fischer und Sammler, die sich am Ufer des Amazonas niedergelassen haben, leben zwar nicht in einer Blue Zone, auffallend gesund sind sie trotzdem: »Bei den Tsinamé kommen Arterienverkalkungen so gut wie nie vor«, schreibt Bas Kast. Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen sind eine absolute Seltenheit. Das sei ebenso erstaunlich wie ermutigend und könnte heißen, dass der entscheidende Faktor für die häufigste Todesursache in Deutschland weitgehend selbst verursacht und damit vermeidbar sei. »Anders gesagt, Arteriosklerose ist sehr wahrscheinlich keine zwangsläufige Folge des Alterns, obwohl wir uns das üblicherweise so erklären.« Die Tsimané ernähren sich sehr kohlenhydratreich, genau gesagt beträgt der Kohlenhydrat-Anteil ihrer Ernährung 72 Prozent. 14 Prozent entfallen auf Fett und 14 Prozent auf Eiweiß. Alles vorwiegend pflanzlich: Auf dem Speiseplan stehen Reis, Mais, Kochbanane, Maniok und Früchte. Schädliche Transfette, wie in frittierten Lebensmitteln oder Margarine? Gibt es im Dschungel nicht. Allerdings verbringen die Tsimané einen großen Teil des Tages auf Nahrungssuche. Eine Jagd, teils noch mit Pfeil und Bogen, dauert gut und gerne acht Stunden oder sogar länger, wobei die Tsimané bis zu achtzehn Kilometer Regenwald durchkämmen. Die tägliche Bewegung ist also ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wer seine täglich zurückgelegten Schritte per Tracker aufzeichnet, wird feststellen, wie lächerlich wenig wir im Gegensatz dazu im Alltag laufen. Gregory S. Thomas, Co-Autor einer großen Studie über die Gesundheit der Tsimané, ist der Ansicht, dass »Arteriosklerose vermieden werden könnte, wenn Menschen Teile des Tsimané-Lebensstils übernähmen und beispielsweise ihre Cholesterinwerte, ihren Blutdruck und ihren Blutzucker sehr niedrig hielten.« Man muss ja nicht gleich die achtzehn Kilometer der Tsimané ins Visier nehmen, 5000 Schritte pro Tag würden schon viel bewirken.

Auch von den Franzosen können wir lernen, obwohl in Frankreich keine Blue Zone liegt. Ein beliebter Begriff, der die Franzosen zu einem seligen Volk genießender Feinschmecker und Rotweintrinker stilisiert, ohne, dass sie dabei groß Schaden nehmen würden, lautet The French Paradox. Er stammt aus den Achtzigerjahren und geht auf eine Studie zurück, die feststellte, dass Franzosen trotz ihres Alkohol- und Fettkonsums (Rotwein, Gänsestopfleber …) länger lebten als zum Beispiel Amerikaner und deutlich seltener Herzinfarkte bekommen. 1992 schrieb der Amerikaner Lewis Perdue das Buch French Paradox and Beyond: Live Longer with Wine and the Mediterranean Lifestyle. Die Annahme einer therapeutischen Wirkung von Rotwein hielt sich ziemlich lange, und auch heute noch hört man hin und wieder den Satz: »Rotwein ist doch gesund!« Außer Acht gelassen wurde damals, dass nicht der Rotweinkonsum der Franzosen für ihre — verglichen mit der von Amerikanern oder Deutschen — bessere Gesundheit verantwortlich war, sondern eine gesündere, obst- und vor allem gemüsereiche Ernährung. Seit auch in Frankreich das Fast Food Einzug in die kulinarischen Gewohnheiten gehalten hat, sieht die Sache allerdings anders aus. Und trotzdem: Die Franzosen sind uns hinsichtlich ihrer Ernährung voraus, auch, weil ihnen kulinarischer Genuss für gewöhnlich wichtiger ist als uns. Sie investieren in ihre Ernährung mehr Geld und nehmen sich fürs Essen viel Zeit.

Achtsame Ernährung — die Grundprinzipien

Der amerikanische Ernährungsguru und Bestsellerautor Michael Pollan veröffentlichte 2011 ein schmales Buch, in dem er ein paar simple Ernährungsregeln aufstellt. Sie fassen die Erkenntnisse gut zusammen, die man aus der Beobachtung von Blue Zones gewinnt. Dies sind die wichtigsten für eine achtsame Ernährung:

Hunger

Ohne Wasser können wir nur drei bis maximal vier Tage überleben, weil wir keinen Speicherplatz dafür besitzen — anders als die uns in dieser Hinsicht überlegenen Kamele. Deren Körper ist im Grunde ein einziger Wassertank, ausgenommen die Höcker, in denen das Fett sitzt.

Was unsere Fettvorräte beziehungsweise Speicherkapazitäten betrifft, sind wir anderen Lebewesen dafür haushoch überlegen beziehungsweise unterlegen, je nach Perspektive. Unsere Kalorien- und Fettspeicher bewirtschaften wir nämlich so akribisch, als müssten wir uns für drohende Hungerzeiten wappnen. Ein schlauer Trick der Natur, der uns einst einen Überlebensvorteil brachte, inzwischen aber in einen Überlebensnachteil gekippt ist — siehe die Übergewichts- und Adipositaskrise in den westlichen Überflussgesellschaften. Eine Schlüsselrolle spielt unser Hunger. Besser gesagt: die Gefühle, die wir als Hunger interpretieren oder missverstehen, weil wir uns immer mehr von unserem Körper entfremdet und viel von der Fähigkeit des In-uns-Hineinhörens verlernt haben.

Das Lexikon der Neurowissenschaft definiert Hunger als eine durch Nahrungsmangel hervorgerufene, angeborene Allgemeinempfindung, die beim Menschen subjektiv auf die Magengegend projiziert wird und einem vernetzten System neuronaler, hormoneller und metabolischer Ereignisse entspringt. Die Steuerzentrale sitzt im Hypothalamus. Besonders intensiv interagiert unser Gehirn mit dem Magen-Darm-Trakt. Unser Hungergefühl ist, kurz gesagt, sehr komplex. Etliche Systeme des Körpers sind an seiner Entstehung beteiligt, und die Wissenschaft hat längst noch nicht alles über dieses spannende Zusammenspiel herausgefunden.

Wohl kaum jemand dürfte die Erregung des Ernährungsapparats so anschaulich in Worte gefasst haben wie der französische Gastrosoph Brillat-Savarin in seiner 1826 erschienenen Physiologie des Geschmacks: »Der Magen macht sich bereit, seine Säfte geraten in Aufruhr, die inneren Gase verändern geräuschvoll ihre Lage, das Wasser läuft im Munde zusammen und die gesamte Streitmacht der Verdauung steht unter den Waffen, wie Soldaten, die nur noch auf den Befehl des Losschlagens warten. Noch ein paar Augenblicke weiter, und schon treten krampfartige Zuckungen auf, man gähnt, man leidet, man hat einfach Hunger.«

Genau genommen kommt der Magenhunger, also der Hunger, der den Magen richtig knurren lässt, der einen hochgradig nervös (und manche ziemlich aggressiv) macht und der einen zittern lässt, in einer Wohlstandsgesellschaft relativ selten vor. Schließlich ist unsere Umgebung, unser sogenannter Food Radius, meistens derart gut ausgestattet, dass niemand darben muss. Wobei natürlich gilt, dass man sich einen kulinarisch komfortablen Lebensstil auch leisten können muss. Supermärkte, Restaurants, Imbissbuden, Lieferservice — ob Japanisch, Griechisch, Koreanisch, oder welche kulinarischen Vorlieben man auch hegt: Die modernen Versorgungsmöglichkeiten sind, wenn man nicht in einem abgeschiedenen Dorf mit miserablen Busverbindungen lebt, ein Bedürfnisbefriedigungsgarant.

Der Begriff »Food Radius« stammt von dem Psychologen Brian Wansink, der herausfand, dass wir achtzig Prozent unserer Essensentscheidungen in unserem unmittelbaren Wohnumfeld sowie einem kleinen Radius von etwa zehn Kilometern treffen. Das hat mit unserer Bequemlichkeit zu tun und damit, dass auch die Essensbeschaffung unter das Effizienzprinzip optimal foraging fällt — der optimalen Nahrungssuche. Wir bevorzugen Nahrungsquellen, die mit geringem Energieaufwand eine maximale Energieausbeute garantieren. Ein Drive-In, ein Hot-Dog-Stand oder der erwähnte Lieferservice sind solche Nahrungsquellen. Je leichter die Nahrungsbeschaffung ist, desto mehr essen wir. Bei größerer Kraftanstrengung verzichten wir lieber. Ein Versuch mit weißen Ratten hat gezeigt: Wenn sie zehnmal einen Hebel drücken müssen, um an Futter zu kommen, tun sie das oft. Müssen sie ihn hundertmal betätigen, tun sie das schon deutlich seltener. Wer es sich in seinem Hotelzimmer gemütlich gemacht hat und große Lust auf Schokolade verspürt, bedient sich an der Mini-Bar. Gibt es keine und man müsste sich erst anziehen und zum Snackautomaten in die Lobby gehen (oder gar das Hotel verlassen), verzichtet man.

Auch der Homo antecessor übrigens, der vor knapp einer Million Jahren in Spanien lebte, verfuhr nach dem optimal foraging-Prinzip: Er schreckte nicht davor zurück, Artgenossen zu verspeisen. Dieser Kannibalismus vor knapp einer Million Jahren ging gemäß maximaler Ausbeute mit möglichst geringem Aufwand so weit, dass nicht nur die Körper ausgeweidet, gehäutet und entbeint wurden, sondern selbst die Langknochen waren Teil der Verwertungskette, indem sie aufgebrochen wurden, um an das Knochenmark zu kommen. Das wäre in der wildreichen Umgebung der Gran-Dolina-Höhle, wo die Knochen des Homo antecessor erstmals gefunden wurden, allerdings gar nicht nötig gewesen. So geht der Wissenschaftler Jesus Rodriguez vom spanischen Nationalen Forschungszentrum für Menschheitsgeschichte davon aus, dass der Kannibalismus an den eigenen Artgenossen eine Bequemlichkeitsentscheidung war.

Wenn es um die sofortige Befriedigung von Bedürfnissen geht, vergessen wir, dass unser Körper erstaunliche Fähigkeiten besitzt. Dazu gehört die des mehrmonatigen Hungerns. Zwei bis drei Monate kann ein gesunder Mensch mit ausreichend Wasser zur Verfügung im Extremfall auf feste Nahrung verzichten. »Wir alle sind ausgesuchte Hungerkünstler«, sagt Joachim Gardemann, Professor für Humanbiologie und humanitäre Hilfe an der Fachhochschule Münster. »Hunger ist keine Krankheit, sondern eine Kompetenz des menschlichen Körpers«. Eine Kompetenz, die wir in Zeiten der ständigen Nahrungsverfügbarkeit viel zu häufig brachliegen lassen.

Je rascher der Blutzuckerspiegel fällt, desto stärker steigt unser Verlangen nach einem Nachschub an Energie. Die Unterzuckerung des Gehirns aktiviert die Nebenniere, die das Stresshormon Adrenalin ausschüttet und uns in Alarmbereitschaft versetzt. Unser Gehirn macht zwar nur zwei Prozent unserer Körpermasse aus, ist jedoch unglaublich gierig nach Glukose, und zwar so gierig, dass es etwa die Hälfte des Glukoseverbrauchs unseres Körpers beansprucht. Bekommt das Gehirn keine Glukosezufuhr, passiert Folgendes: Es stoppt die Insulinausschüttung. Glukose kann nur mithilfe von Insulin in unsere Muskeln gelangen, wohin es jetzt nicht mehr kann, weil das Gehirn sämtlichen Traubenzucker für sich beansprucht. »Das Gehirn steuert den Stoffwechsel so, dass es selbst überlebt«, sagt Gardemann. »Jedes Organ schrumpft während starken Hungerns auf etwa die Hälfte seines ursprünglichen Gewichts, bis der Tod eintritt. Nicht so das Gehirn. Es nimmt maximal zwei bis vier Prozent ab.« Man verhungert quasi bei vollem Bewusstsein. Je nach körperlichem Gesundheitszustand — also dem Ausgangsgewicht beziehungsweise der Fett- und Muskelmassereserven — verhungert der eine schneller, der andere langsamer. Hungern wir über einen längeren Zeitraum, werden unsere Körperzellen nicht mit genügend Glukose gefüttert, weshalb der Körper Fett anstatt Glukose verbrennt. Er baut dabei Fettsäuren zu Ketonkörpern um, zu Abbauprodukten des Fettstoffwechsels. Mit den entstehenden Ketonkörpern decken die Zellen ihren Energiebedarf. Einer der Ketonkörper ist das Aceton — ein Stoff, der in vielen Nagellacken enthalten ist und nach dem unser Atem bei der Stoffwechselumstellung riecht.

Gehen wir aber einmal vom »normalen« Hunger aus, der sich nicht erst kurz vor dem Verhungern einstellt und der sich zum »Hangry-sein« steigern kann. Hangry setzt sich aus den Worten hunger und angry