Über Clare Clark

Foto: Chris Clark

Clare Clark, 1967 in London geboren, studierte Geschichte in Cambridge. Mit ihrem dritten Roman Die französische Braut wurde sie, ebenso wie mit ihrem Debüt, für den Orange Prize nominiert. Zwei weitere ihrer Romane standen auf der Longlist des Women’s Prize for Fiction. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den USA lebt die Autorin heute wieder in London und schreibt u.a. regelmäßig Beiträge im Literaturteil des Guardian.

 

Die Übersetzer

Bernhard Jendricke studierte Germanistik und Philosophie. Seit mehr als dreißig Jahren übersetzt er als Mitglied des Kollektivs Druck-Reif Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, u.a. die Romane von Clare Clark.

Christa Prummer-Lehmair lebt als staatlich geprüfte Übersetzerin und Dolmetscherin in München. Sie übersetzt seit fünfundzwanzig Jahren im Kollektiv Druck-Reif Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen.

Ab diesem Moment machte mein van Gogh erstaun-

liche Fortschritte. Er schien zu erahnen, was in ihm steckte, und so entstanden Sonnenblumen über

Sonnenblumen im gleißenden Licht der Sonne.

Paul Gauguin, Avant et après (1903)

Berlin 1923

Für die Rückfahrt von Paris nahm Julius den Nachtzug. Er schlief unruhig, sein leichter Schlaf wurde vom Pfeifen der Lokomotive und dem Rütteln und Rattern der Räder begleitet. Als er aufstand, war es noch dunkel. Im Speisewagen servierte ihm ein gähnender Kellner eine Tasse dünnen Kaffee. Dieser Waggon war mit seiner Teakholztäfelung und den Schirmlampen alles, was von dem eleganten Nordexpress, der vor dem Krieg diese Strecke befahren hatte, übrig geblieben war. Julius starrte aus dem Fenster. Kein Mond zu sehen. Die vorbeihuschenden Telegraphenmasten schnitten die Schwärze in Rechtecke.

Ich sollte wütend sein, dachte er, oder sogar traurig, aber er spürte nur die Erschöpfung, die für gewöhnlich einer Niederlage folgt. Seine Ehe war zu Ende, und ihr Schlusspunkt war, wie so vieles, was Luisa tat, geschmacklos und unsäglich banal. Die beiden, stöhnend und ineinander verschlungen in Luisas zerwühltem Bett, ihr blankes Entsetzen, als er das Licht einschaltete. Er gab ihnen eine Minute, um aus dem Haus zu verschwinden, bevor er die Polizei rufen würde. Frau Lang hielt sich die Schürze vors Gesicht, als die beiden die Treppe hinabhasteten, ihre Kleidung zusammengeknüllt in den Armen. Hätte er doch auch weggeschaut. Ich bete den Nackten an wie einen Gott, hatte Rodin einmal gesagt, aber an ihrer Nacktheit, an ihren

Und später Luisa, die selbstvergessene Luisa in dem von leeren Flaschen übersäten Salon, ihr Make-up verschmiert, das Kleid über eine Schulter gerutscht, den Arm um Lehmbrucks Kniende geschlungen, ein silbernes Röhrchen zwischen den Fingern wie eine Zigarette. Ihr verächtliches Grinsen, als sie sich vorgebeugt und mit funkelndem Blick vom steinernen Schenkel der Skulptur eine Prise Kokain geschnupft hatte. Er hatte zu ihr gesagt, er wolle die Scheidung, aber sie hatte nur gellend aufgelacht, schrill wie das Geräusch von zerberstendem Glas.

»Darauf trinke ich«, hatte sie gesagt, nach dem Hals einer Champagnerflasche gegriffen und sie an die Lippen gesetzt. Der Wein war ihr aus dem Mund und übers Kinn gelaufen.

Der Zug wurde jetzt langsamer. Über der dunklen Silhouette der Hügel zog eine graue Dämmerung herauf. Quecksilberartige Regentropfen glitten diagonal über das Waggonfenster. Julius schloss die Augen und massierte sich den Nacken. Auch wenn er es sich ungern eingestand, war er ebenso schuld wie sie. Du und dein Faible für schöne Dinge, hatte sein alter Freund Bruno trocken bemerkt, als Julius die beiden einander vorstellte, und Julius hatte daraufhin nur gelacht. Er war damals dreiundfünfzig, erst kurz zuvor aus dem Kriegsdienst entlassen worden und vor Verlangen schier benommen. Luisa war vierundzwanzig. In den trostlosen, deprimierenden Monaten nach der Kapitulation war ihm ihre Schönheit wie ein Wunder vorgekommen. Er hatte nicht genug von ihr bekommen können. In ihren Armen verblasste die Vergangenheit mit ihren Schrecken, und die Zukunft versprach, grandios zu werden. Er dachte, sie würde ihn heilen, er könnte

Fünf Jahre, drei davon mehr oder weniger miserabel. Sie beide waren füreinander nicht das, was sie sich erhofft hatten. Ihre Auseinandersetzungen – anfangs noch temperamentvoll geführt – wurden aus Enttäuschung bitter und zornig. Es gab keine leidenschaftlichen Versöhnungen mehr, nur noch Phasen des Schweigens; kurze, argwöhnische Feuerpausen. Wie einander belauernde Armeen verschanzten sie sich in ihren Stellungen. Julius nahm die Gewohnheiten seiner Junggesellenzeit wieder auf und vergrub sich in die Arbeit. Luisa gab sich ihrem Kaufrausch hin, tanzte und johlte bis zum Morgengrauen.

In Wahrheit schämte er sich. Das Renommee, zu dem er im Lauf seines Lebens gekommen war, verdankte er seiner Fähigkeit zu sehen – nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen. In Die Genese der modernen Kunst hatte er gegen einen Kunstbetrieb gewettert, der sich von der Verführungskraft technischer Virtuosität blenden ließ, und stattdessen deutlich zu machen versucht, dass jeder großen Kunst in ihrem Wesenskern ein heroischer Kampf zugrunde lag, und dennoch war er, was Luisa betraf, genau demselben Irrtum erlegen. Er war auf ihre Oberfläche hereingefallen, hatte aufgrund ihrer körperlichen Vollkommenheit mit einer Reinheit des Geistes gerechnet, mit etwas darüber Hinausweisendem und Wahrem.

Ein Paar betrat den Speisewagen. Die Frau war klein, hatte dunkles Haar und schläfrige Augen wie eine Figur

Natürlich würde ihn seine Anständigkeit einen Preis kosten. Nur schuldig gesprochene Ehemänner waren zu Unterhaltszahlungen verpflichtet. Doch während er sich einerseits darüber ärgerte, weiterhin Luisas Verschwendungssucht zu finanzieren – denn die bourgeoise Tochter eines zur Pfennigfuchserei neigenden Bankdirektors hatte stets wie selbstverständlich eine atemberaubende Gier nach Prunk und Luxus an den Tag gelegt –, überwog seine Erleichterung. Ein Mann von Ehre zahlte selbstverständlich für seine Fehler. Er würde die Strafe auf sich nehmen, so hart sie auch sein mochte. Darin lag auch eine Art Läuterung, eine Demut, die fast etwas Nobles an sich hatte. Außerdem fehlte es ihm nicht an den nötigen finanziellen Mitteln. Das Buch über van Gogh war ein überwältigender Verkaufsschlager geworden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Großbritannien. Selbst

 

In Berlin regnete es anhaltend. Es war die geschäftigste Stunde des Vormittags. Die Menschen auf den Gehsteigen drängelten und schubsten einander, spannten ihre Regenschirme wie Schutzschilde auf, während die Trambahnen an ihnen vorbeiratterten und die Omnibusse das schmutzige Wasser am Straßenrand hochspritzen ließen. Um halb zehn hielt das Taxi schließlich vor der Villa in der Meierstraße. Julius blieb einen Moment lang auf dem Gehweg stehen und betrachtete die elegante Fassade. Lange her, dachte er, dass ich mich darauf gefreut habe, nach Hause zu kommen.

Eine rotgesichtige Frau Lang begrüßte ihn an der Tür. Sie mied seinen Blick, als sie ihm Hut und Mantel abnahm. Sein Frühstück, sagte sie, stehe schon im Speisezimmer bereit, es werde langsam kalt. Es klang, als sei er daran schuld. Als er erklärte, er habe keinen Hunger und wolle vor allem ein Bad nehmen, schien sie kaum zuzuhören. Mürrisch blickte sie zu Boden und strich den Ärmel seines Mantels glatt.

»Und Kaffee«, fügte er hinzu. »Das Spülwasser, das sie im Zug serviert haben, war ungenießbar.«

Noch immer machte Frau Lang keine Anstalten, sich zu bewegen. Julius nahm es verärgert zur Kenntnis. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so früh am Tag in eine derart

»Das Bad, wenn Sie so nett wären«, sagte er spitz. »Oder muss ich es mir selber einlassen?«

Die Haushälterin verzog das Gesicht. Einen schrecklichen Augenblick lang meinte Julius, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Aber dann huschte sie, mit seinem zusammengefalteten Mantel vor der Brust, Richtung Treppe davon. Julius seufzte. Frau Lang war nach seiner Heirat mit Luisa bei ihnen in Dienst getreten; Luisa hatte darauf bestanden. Sie erklärte Julius, Frau Lang habe jahrelang bei ihren Eltern treu und zuverlässig ihre Arbeit verrichtet, ohne sie hätten sie den Krieg niemals überlebt. Damals hatte er seine Schwiegereltern noch nicht gekannt, sonst hätte er ihr das bestimmt nicht als positiv angerechnet.

Müde rieb er sich die Stirn. Der muffige Geruch der Eisenbahn hing in seinen Kleidern, und seine Augen schmerzten. Aus dem Morgensalon hörte er das gedämpfte Klappern der Schreibmaschine. Er würde Fräulein Grüber anweisen, in der Kanzlei anzurufen und mit Böhm einen baldigen Termin zu vereinbaren. Mit einem Aufschub wäre nichts gewonnen. Über ihm, in dem von der doppelten Treppe gebildeten Bogen, leuchtete das Tafelbild von Vuillard, eine Explosion aus Sonnenglast und rosafarbenen Rosen. Er legte den Kopf in den Nacken, labte sich an dieser Süße, an dem Spiel von Farbe und Struktur, das so einfach und so komplex zugleich war wie die Natur selbst. Dann durchquerte er die Eingangshalle zum Morgensalon und öffnete die Tür.

»Guten Morgen«, sagte er. Die Stenotypistin zuckte zusammen, ihre Hände schnellten von der Tastatur zum Mund.

»Ich muss mich umziehen. In einer halben Stunde gehen wir die Post durch. Vermutlich nichts Dringendes dabei?«

Fräulein Grüber biss sich auf die Lippe. »Ich wusste nicht – Ihre Verabredung heute Vormittag mit Herrn Rachmann …«

Der Händler aus Düsseldorf. Julius hatte ihn völlig vergessen. »Das ist heute?«

»Um halb elf. Es tut mir so leid, ich hätte ihm ja abgesagt, aber er hat keine Berliner Adresse hinterlassen, und ich war mir nicht sicher – das heißt, wenn Sie ihn lieber nicht treffen wollen, unter diesen Umständen, meine ich, kann ich ihn bitten, an einem anderen Tag vorbeizukommen. Wenn Ihnen das lieber wäre.«

Julius zögerte, halb versucht abzusagen. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, dass irgend so ein respektloser Jungspund aus der Provinz in seinem Arbeitszimmer herumlümmelte, die Hände in den Hosentaschen, und ihn affektiert mit dem vertraulichen Du anredete.

»Der Bursche hat Schmackes«, hatte Salazin achselzuckend erklärt. »Vielleicht bringt er Ihnen etwas Fabelhaftes. Und wenn nicht, na ja, es ist eine Echtheitsprüfung und keine Adoption. Schlimmstenfalls wird er Sie daran erinnern, was für ein Segen es ist, nicht mehr jung zu sein.« Hugo Salazin, der mit seinen sechzig Jahren immer noch den sicheren Instinkt eines Taschendiebs und das Lächeln einer preußischen Sphinx hatte. Kein Wunder, dass seine Galerie zu den erfolgreichsten in Berlin gehörte. Seufzend schüttelte Julius den Kopf.

»Nein, ich empfange ihn«, sagte er. »Händler sind wie

Die Stenotypistin lachte höflich und zeigte dabei die Zähne. Als das Telefon klingelte, bedeutete ihr Julius abzuheben und ging nach oben. Es bestand wenig Gefahr, zu dieser frühen Zeit am Vormittag zufällig Luisa über den Weg zu laufen. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie erscheinen würde, dennoch wappnete er sich ein wenig, als er den galerieartigen Treppenabsatz querte. Seine Räume lagen auf der Ostseite des Hauses, ihre auf der Westseite. Automatisch und mit einem unbehaglichen Gefühl blickte er in den langen Flur, der zu ihrer Tür führte. Zu seiner Überraschung stand sie offen. Ein Streifen blassgraues Licht schimmerte auf dem Parkett.

Langsam und widerstrebend ging Julius den Flur entlang und spähte hinein. Luisa hinterließ in ihrem Schlafzimmer meistens ein Chaos aus ringsum verstreuten Kleidern, Zeitschriften und aufgerissenen Briefen, auf dem zerwühlten Laken ein Tablett mit halb ausgetrunkenem Tee und angeknabbertem Toast. An diesem Morgen aber war das Bett ordentlich gemacht und der Tisch am Fenster leer bis auf eine Schale mit Blumen. Plötzlich waren auf dem Treppenabsatz eilige Schritte zu hören.

»Frau Lang?«, sagte Julius und erstarrte wie ein Hase im Scheinwerferkegel eines Automobils. »Wo ist meine Frau?«

Damit fiel sie in sich zusammen, sank auf die Stufen und hielt sich dabei mit einer Hand am Geländer fest.

»Sie ist fort«, sagte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, die Worte waren kaum zu verstehen. Es habe keine Vorwarnung gegeben. Eigentlich hätte Frau Lang von ihrer Abreise auch gar nichts mitbekommen, Mittwoch war ja ihr freier Tag, aber weil sie früher zurückgekommen war,

»Das war gestern?«

Die Haushälterin nickte unglücklich. Sie sah ihn dabei nicht an.

»Und hat sie gesagt, wann sie wiederkommt?«

Langes Schweigen. »Sie hat einen Brief hinterlassen«, sagte sie schließlich. »In Ihrem Arbeitzimmer.«

Julius ging nach unten. Ihm war, als läge ein schwerer Stein auf der Brust, er hatte eine böse Vorahnung. Luisa hätte das Baby nicht mitgenommen, wenn sie hätte wiederkommen wollen. Sein Arbeitszimmer sah aus, wie er es verlassen hatte, die Bücher auf seinem Schreibtisch waren ordentlich aufgereiht, ein Feuer knisterte im Kamin. Mit vier Schritten durchquerte er das Zimmer, sah flüchtig den Stapel Post auf der Schreibtischunterlage durch und ließ die Kuverts fallen wie abgeworfene Spielkarten. Kein Brief von Luisa dabei. Dann trat er an den Kaminsims und schob die Rosso-Büste zur Seite. Auch da nichts. Nur eine unnatürliche Leere in seinem Augenwinkel. Eine plötzliche

Es war weg. Julius starrte auf die leere Wand, den gräulichen Abdruck, den der Rahmen hinterlassen hatte. Auf den Briefumschlag, der auf dem Nagel aufgespießt war. In seinem Schädel war ein leeres Rauschen, ein Pfeifen und Zischen wie bei einem schlecht eingestellten Radioapparat. Mit unsicherem Schritt trat er an die Wand, strich mit der Hand darüber, als könnte er es dort immer noch berühren. Als sei sein Nichtvorhandensein nur eine optische Täuschung. Die Wand fühlte sich kalt an. Ohne zu schauen, griff er nach dem Brief, riss ihn vom Nagel. Das konnte nicht wahr sein. Ein Irrtum. Ein dummer Streich, um ihn zu erschrecken. Sein Gesicht war wie erstarrt, als gehörte es ihm nicht mehr. Auch die Finger fühlten sich fremd an. Er schaffte es kaum, den Umschlag zu öffnen.

Gekritzel. Etwas über seine Unzulänglichkeiten, ihren Überdruss und ihr Elend. Dann ein neuer Absatz:

Natürlich konnte ich nicht ohne meinen Vincent fortgehen. Ihn bei mir zu haben, gibt mir das Gefühl, sicherer und irgendwie beschützt zu sein. Wie tröstlich, ihn anschauen zu können und dabei an Dich zu denken.

Die Wut war wie ein Schmerz, der alles einnahm. Mit einem lauten Heulen warf er sich gegen die nackte Wand und schlug mit den Fäusten auf sie ein. In seiner Brust und seinem Schädel tobte ein beißendes Feuer. Er bekam kaum Luft, so sehr raubte es ihm den Atem. Der scharfkantige Metallnagel schnitt ihm in die Hand. Er packte ihn, ruckte und zerrte daran, als wollte er ihn aus der Wand reißen.

»Er macht mir Angst. Diese Schweinchenaugen, die uns angaffen, wenn wir miteinander schlafen. Und wo steckt seine andere Hand überhaupt? Im Ernst. Es ist abstoßend.«

Und er hatte daraufhin gelacht. Das meinte sie nicht ernst, sie konnte es nicht ernst meinen, sie neckte ihn bloß. Sie war jung, er würde ihr alles beibringen. Warum nur hatte er nicht gesehen, dass sie unbelehrbar war? Es ist abstoßend. Das Gemälde, das seit dreißig Jahren sein Herz schneller schlagen ließ.

Blutspuren an der Wand. Ein verschmiertes Rot und eine blasse graue Linie. Ein nackter Nagel. Ein Hauch von Blau, als habe das Gemälde einen Abdruck hinterlassen. Mein Vincent. Erneut stieg die Wut wie ein Granatfeuer in ihm hoch. Er schnellte herum und trat gegen den niedrigen Hocker hinter ihm, der polternd umfiel. Neben dem Lehnsessel standen eine Lampe und ein Stapel Bücher. Er schmetterte die Lampe gegen die Wand, dann auch die Bücher, bündelweise und so heftig er konnte, aber die Wut loderte immer weiter, dröhnte ihm in den Ohren, sodass er auch noch aus den Regalen die Bücher herausriss und zu Boden warf. Seine Arme bewegten sich wie Kolben, mechanisch und brachial. Wie von Sinnen drehte er sich zum Kamin um. Die Rosso-Büste starrte ihn vom Sims mit leeren, teilnahmslosen Augen an.

»Sie ähnelt mir«, hatte Luisa einmal gesagt. Damals hatte er das nicht gesehen. Aber jetzt erkannte er es. Ihr leises Lächeln war voller Spott. Noch nie hatte er jemanden so abgrundtief gehasst. Er packte die Skulptur und schmetterte sie gegen das Fenster. Das Glas zerbarst.

Es war weniger ein Wort, vielmehr ein Atemholen. Julius drehte sich um, die Arme von sich gestreckt. Fräulein Grüber stand in der Tür. Neben ihr ein junger Mann. Schlank, feingliedrig, mit blasser Haut und kupferfarbenem Haar. Unter dem Arm trug er ein in braunes Packpapier eingewickeltes Gemälde. Einen verwirrten, unwahrscheinlichen Augenblick lang hielt Julius das Bild für seinen van Gogh, den sie ihm zurückgeschickt hatte. Der junge Mann betrachtete das zerborstene Fenster, die Lampe und die Bücher, die aufgeklappt und zerrissen auf dem Boden lagen.

»Ich – äh, bitte entschuldigen Sie«, stammelte die Stenotypistin. »Wir, äh, ich komme später noch einmal.«

Sie sah betroffen drein, während sie nach der Klinke tastete. Der junge Mann blieb stumm, blickte Julius aber unverwandt an. Dann verbeugte er sich kurz und verließ rückwärtsgehend das Zimmer. Die Tür schloss sich. Julius sah auf seine blutverschmierten leeren Hände. Eine kalte Brise wehte durch das kaputte Fenster herein und brachte die Seiten der Bücher zum Rascheln.

Später kamen ihm diese Augen wieder in den Sinn, ihr außergewöhnliches milchiges Grün, wie Meerglas.

Wie gewöhnlich veranlasste Frau Lang alles Nötige. Der Glaser kam gleich am nächsten Morgen, bevor Julius sein Frühstück beendet hatte. Die Haushälterin führte ihn hinaus in den Garten, damit er den Schaden begutachten konnte. Ihre Stimmen drangen durch das Fenster ins Speisezimmer. Diese Strolche heutzutage, sagte der Glaser, die werden uns alle noch im Bett erschlagen, ehe man sichs versieht. Auf dem Pflaster des Gartenwegs lagen noch Glassplitter. Sie funkelten im Morgenlicht.

Julius hatte die Rosso-Büste unter einem Pfaffenhütchenstrauch gefunden, halb verdeckt wie ein verschossener Fußball. Ihr Gesicht war unversehrt. Die Skulptur starrte ihm entgegen, als er in die Hocke ging, um nach ihr zu greifen. Verschmierte Erde auf einer der bleichen Wangen, das leise Lächeln immer noch auf den Lippen. Erst als er sie hochhob, bemerkte er, dass die Rückseite des Kopfs zertrümmert war. Das fein bearbeitete Wachs hatte einen Riss, unter dem der Gipsabdruck zum Vorschein kam. Reumütig und bekümmert dachte Julius an Rosso in seinem Atelier, dessen Finger die Büste scheinbar aus Luft und Licht erschaffen hatten. Mutwillig ein Kunstwerk zu zerstören, es zerstören zu wollen – zu einer solchen Gefühllosigkeit fähig zu sein, hätte er sich niemals vorstellen können. Er hielt den Kopf behutsam in der Hand, die

Seit dem Vorfall war seine Scham größer geworden, sie drückte ihm wie ein Stein auf die Kehle. Er konnte kaum schlucken. Julius schob seine Kaffeetasse beiseite. In der Eingangshalle schimpfte Frau Lang leise vor sich hin, als sie ihm Hut und Mantel reichte.

»Der Glaser nagelt jetzt das Fenster zu«, sagte sie. »Obwohl ich ihm gesagt habe, er soll das lassen, Sie könnten derart eingesperrt unmöglich arbeiten, aber er meint, es geht nicht anders. Die Scheibe ist zu groß, sie muss erst bestellt werden.«

Julius ließ sich mit dem Taxi zur Kanzlei seines Anwalts bringen. Langsame Handkarren behinderten den Verkehr, und die Schaufenster der Geschäfte leuchteten im Sonnenlicht. Als er in der Invalidenstraße eintraf, spürte er erneut den Hass in sich. Er wehrte Böhms Höflichkeitsfloskeln ab und drückte ihm umstandslos Luisas Brief in die Hand. Nachdem der Anwalt ihn gelesen hatte, sah er Julius über seine Brille hinweg stirnrunzelnd an.

»Also gehört ihr das Bild gar nicht?«, fragte er. »Sie haben es ihr nicht geschenkt?«

»Natürlich nicht«, gab Julius wütend zurück. »Warum auch? Sie hat es gehasst.«

Böhm beschwichtigte ihn. Eine Ehefrau dürfe nicht einfach das Eigentum ihres Mannes an sich nehmen. Ein scharf formulierter Brief an Luisas Anwälte würde genügen, um das Gemälde sicher zurückzubringen. Und falls nicht, könne man rechtliche Schritte einleiten.

»Und was die Scheidung betrifft, würde ich dazu raten, jegliche Entscheidung aufzuschieben, bis die Sache mit

»Nicht wenn ich es verhindern kann.«

»Wie dem auch sei. Mit Provokationen ist nichts gewonnen.«

Widerstrebend ließ Julius sich überzeugen. Luisa war impulsiv und unberechenbar, Gott allein wusste, was sie unternehmen würde, nur um ihn zu ärgern. Im Aufzug, während der livrierte Fahrstuhlführer seine Hebel bediente, lehnte sich Julius erschöpft an das Messinggeländer. Ihn quälte der Gedanke, sein Gemälde in dem überheizten Haus seines Schwiegervaters achtlos in der Ecke stehen zu wissen, ausrangiert zwischen den hässlichen braunen, mittelalterlich anmutenden Möbeln, dem geschmacklosen Nippes, der allüberall die Räume verunstaltete. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah Julius das Gemälde so lebhaft vor sich, als würde er davorstehen, Vincent im Dreiviertelprofil, eine Pose, die an Rembrandts große Selbstbildnisse erinnerte, mit Palette und Pinseln in der Hand, die Augen stechend im ausgemergelten Gesicht, während um seinen Kopf herum die Leinwand in einer rasenden Kakophonie violettblauer Wirbel und Striche geradezu surrte. Der Künstler und der Verrückte, die einander in die Seele blicken.

Der Aufzug hielt ruckend an. Von allen Selbstporträts, hatte Vincent an seinen Bruder Theo geschrieben, sei dieses das einzige, das seinen wahren Charakter erfasse. In den dreißig Jahren, seit Julius es besaß, hatte er Dutzende andere Bilder gekauft und verkauft. Er verabscheute die neuerliche Tendenz, Kunstwerke auf Vorrat zu lagern, als wären sie Rohmetall oder Erdöl, und sie in Lagerhäusern auf künftige Wertsteigerungen hin zu horten. Julius behielt ein Bild so lange, bis er beim Betrachten nichts Neues

 

Von der Invalidenstraße ging er direkt zum Hotel Adlon. Auf dem Pariser Platz flanierten Menschen im Sonnenschein. Die übliche Plage ausländischer Spekulanten. Nachdem die Mark auf dem Börsenmarkt immer tiefer gesunken war, fielen sie wie Heuschrecken in die Stadt ein. Hoch über den Säulen des Brandenburger Tors gab die Siegesgöttin Viktoria ihren Pferden die Peitsche, in Seladongrün vor einem hellblauen Himmel. An diesem Vormittag wünschte sich Julius nichts weniger, als den jungen Mann zu treffen, den Salazin geschickt hatte, aber er wusste, es ließ sich nicht umgehen. Der Gesichtsausdruck des Händlers, als Fräulein Grüber die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet hatte, war ihm nicht entgangen, sein ebenso schockierter wie faszinierter Blick, das Funkeln in seinen Augen, das vielleicht Berechnung verriet oder auch einfach nur Belustigung. Heutzutage kannten Händler keine Skrupel. Rachmann war Salazins Kreatur. Er würde keinem von beiden den Eindruck gönnen, sie hätten ihn in der Hand.

Er hätte Rachmann erneut in die Meierstraße einladen können, es gab dort genügend Räume mit intakten Fenstern, aber Julius wollte nicht, dass ihm der Bursche noch einmal auf die Pelle rückte und ihn an Unangenehmes erinnerte. Das Musikzimmer im Adlon war für bevorzugte

Julius bestellte beim Ober Kaffee und drückte ihm einen Geldschein in seine diskret aufgehaltene Hand. »Wenn mein Gast eintrifft, tragen Sie ihm bitte auf zu warten. Ich werde ihn um zwölf empfangen.«

Das Treffen war für halb zwölf vereinbart. Julius ließ sich am Tisch nieder und breitete um sich herum Bücher und Schriftstücke aus. Er trank Kaffee, erst aus der einen, dann aus der anderen Tasse. Kurz nach zwölf geleitete der Ober Rachmann herein. Mit stirnrunzelndem Blick über seine Brille hinweg hob Julius einen Finger und fuhr fort, etwas aufzuschreiben. Es vergingen mehrere Minuten. Als er schließlich seinen Füllfederhalter zuschraubte, stellte Rachmann das Bild, das er bei sich trug, auf den Boden. Dann legte er erst beide Hände auf sein Herz, um sie schließlich wie zur Entschuldigung und Bitte zugleich Julius entgegenzustrecken. Bei der zarten Anmut dieser Geste dachte Julius an Degas.

»Ich habe Sie warten lassen«, sagte der junge Mann, »das tut mir leid.« Seine Stimme war klar und leise, die verschliffenen Konsonanten verrieten einen leichten, aber eindeutigen Düsseldorfer Akzent. Julius blickte auf die goldbronzefarbene Kaminuhr.

»Ich war pünktlich da, aber man hat mich nicht zu Ihnen durchgelassen. Man hat mir wohl nicht geglaubt, als ich sagte, dass Sie mich erwarten. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich selbst es mir geglaubt hätte.« Sein Lächeln war warm und ungeheuchelt. »Ich bewundere Sie schon sehr lange. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.«

Im Lauf der Jahre hatte sich Julius an die Schmeicheleien gewöhnt, die solche Begegnungen begleiteten. Seine Expertise konnte den Wert eines Gemäldes um mehrere Nullen steigern. Aber an diesem Jungen war etwas anderes, fand er, weniger kriecherische Berechnung als eine Art schutzlose Offenheit. Er würde härter werden müssen, wenn er als Händler überleben wollte. Ein Mann ohne Tricks würde in Berlin nicht lange bestehen.

»Kaffee?«, fragte er. »Wir lassen eine neue Tasse bringen.«

»Danke. Und danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Ihnen so dankbar. Wirklich. Und so beeindruckt, ehrlich. Als Herr Salazin vorschlug – ich rede zu viel. Das passiert mir immer, wenn ich nervös bin, entschuldigen Sie. Und jetzt rede ich immer noch. Bitte sagen Sie, dass ich den Mund halten soll.«

Julius lächelte und läutete nach dem Ober. »Warum zeigen Sie mir nicht, was Sie mitgebracht haben«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht bin ich dann ebenfalls dankbar.«

Das Gemälde war ein impressionistisches Stillleben mit Blumen und Äpfeln – unverkennbar ein Schuch, die gedämpften Farben mit den für den Künstler charakteristischen groben Pinselstrichen aufgetragen. Recht hübsch, doch wie viele von Schuchs Werken etwas zu bemüht. Als Julius die Zuordnung bestätigte, lächelte der junge Mann

»Stimmt es, dass Schuch wie van Gogh zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft hat?«, fragte Rachmann, während Julius das Echtheitszertifikat ausfertigte.

»Das stimmt, allerdings wollte Schuch, anders als van Gogh, gar keines verkaufen. Er verachtete diesen ganzen Zirkus, sagte er, und außerdem stammte er aus wohlhabenden Kreisen und konnte sich ein wenig Dünkel leisten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Rachmann. »Vielleicht war es gerade Schuchs Dünkel, der seine Farben so eingetrübt hat. Vielleicht hätte ihm ein bisschen Armut und Leidenschaft ganz gutgetan, wie Fou-Feu.«

Erstaunt sah Julius den jungen Mann an. Fou-Feu, verrücktes Feuer, war der Spitzname, den Julius sich für van Gogh ausgedacht hatte, für dessen Zeit bei den Huren von Arles. Die hochnäsigen Kritiker des Buchs hatten solche Einfälle als unlauter abgekanzelt, als Hirngespinste von Julius’ übersteigerter Phantasie, aber was waren dann Vincents violette Felder, seine gelben Himmel? Was ich tue, mag eine Art Lüge sein, hatte Vincent an seinen Bruder Theo geschrieben, aber nur, weil es die Wahrheit deutlicher zeigt.

Rachmann lächelte verlegen. »›Der Sturm in seiner Brust und die wilde Sonne in seinem Herzen.‹ Ihr Buch, ich – es hat alles für mich verändert. Wie Sie über van Goghs Leben geschrieben haben, über seine Werke. Es ist das erste Buch, das beschreibt, was ich selbst beim Betrachten der Bilder empfinde. Und ich habe geglaubt, dass

Schweigen. Julius hätte nie gedacht, dass sein Vincent ein solcher Erfolg werden würde. Er hatte in dem Buch einfach nur versucht, so zu schreiben, wie van Gogh malte, er hatte die alten Regeln über Bord geworfen und stattdessen ausgesprochen, was ihm wie die Wahrheit vorkam, intensiv und in einem Rausch von Farben. Natürlich hatte der Kunstbetrieb das Buch als trivial und unwissenschaftlich abgetan, als »vulgäres Melodram«. Die Kunstszene bevorzugte akademische Abhandlungen, knochentrockene Texte, die ihren Gegenstand so sicher erstickten, als würden sie einem Menschen ein Kissen aufs Gesicht pressen, aber für diese Leute hatte Julius nicht geschrieben. Er hatte für die Rachmanns geschrieben, so wie van Gogh für die gewöhnlichen Menschen gemalt hatte, um ihnen Augen und Herzen zu öffnen. Um die Bilder tanzen zu lassen.

»Danke«, sagte er einfach, und als er seine Unterschrift aufs Papier setzte, berührte etwas sein Inneres.

 

In den darauffolgenden Wochen dachte Julius oft an Rachmann. Eines Abends, er verließ gerade die Philharmonie, meinte er, ihn an der Ecke zur Potsdamer Straße zu sehen. Er hatte bereits ein Lächeln auf den Lippen, als sich der junge Mann umdrehte – und Julius sah, dass es überhaupt kein Mann war, sondern eine junge Frau mit Bob in einem Männeranzug, das steifkragige Hemd aufgeknöpft bis zum Brustbein, der Mund ein leuchtend scharlachroter Schlitz. Während er davoneilte, steckte sie zwei Finger in

Berlin veränderte sich. Trotz ihrer beißenden Schnodderigkeit waren die Berliner bekannt dafür, dass sie hart arbeiteten und Zeit gleich Geld war, aber als das Geld immer wertloser wurde, erfasste eine Art Hysterie die Stadt. In Berlin hatte es schon immer private Klubs und verrauchte Kellerlokale gegeben, versteckte Orte, die verbotene Vergnügungen verhießen, doch jetzt ergoss sich das Licht der Bars und Tanzpaläste auf die Straßen und Gehsteige, auf denen es von Menschen nur so wimmelte. Es schien, als stehe plötzlich alles zum Verkauf: spindeldürre Jungs in Matrosenhosen, die Wangen mit Rouge beschmiert; Mädchen mit kaum verhüllten Brüsten in Negligés, kurzen Röckchen oder hohen Lederstiefeln. Paare, die sich unter Straßenlaternen gierig, schamlos abknutschten. Als gäbe es angesichts der Unsicherheit des Morgen nichts anderes mehr, als hemmungslos das Heute auszukosten.

Zu Hause angekommen ließ eine schläfrige Frau Lang, die ein Gähnen unterdrücken musste, Julius herein. Eine einzige schwache Lampe erleuchtete die Eingangshalle. Niemand spielte Musik in voller Lautstärke, johlte auf der Treppe oder schüttete Champagner über die Balustrade der Galerie. Luisa und ihre Freunde hatten ihre Spuren im Haus hinterlassen wie Puppen, aus deren Löchern die Füllung rieselte, ihre Wege waren markiert mit achtlos abgelegten Pelzen, leeren Gläsern und leichten Schuhen, die umgekippt wie Betrunkene herumlagen. Ohne Luisa, ohne ihre kreischenden Kumpane war die Villa zu sich selbst zurückgekehrt, dezent und makellos.

Frau Lang hatte im Arbeitszimmer das Kaminfeuer angezündet. Sie kannte seine Gewohnheiten, man musste es ihr nicht eigens auftragen. Im Schein der Flammen tanzte

Die Antwort von Luisas Anwalt war kurz. Seien Sie versichert, schrieb er, dass meine Klientin sich des Werts ihres Eigentums vollkommen bewusst ist.

Der Glaser hatte endlich die Fensterscheibe im Arbeitszimmer ersetzt. Der Widerschein der Lampe schimmerte auf dem schwarzen Glas, ein van Gogh’scher Wirbel aus gelblichem Gold. Julius starrte auf die leere weiße Wand, und die Wut, die ihn packte, war ihm wie ein tröstlicher Gefährte.

 

Es war Ende April, als Rachmann ihm schrieb und fragte, ob Julius bereit sei, sich noch einmal mit ihm zu treffen. In der Meierstraße standen die Kirschbäume in voller Blüte, Wolken aus Rosa und Weiß, und ein ehemals drei Mark teurer Laib Brot war nicht mehr unter eintausendfünfhundert Mark zu bekommen. Im Ton erlesen höflich, verhehlte der Brief nicht, wie aufgewühlt der junge Kunsthändler war. Ein mit seinem Vater befreundeter Buchhändler habe sich

Bitte entschuldigen Sie meine Unverschämtheit, schrieb er, aber hätten Sie vielleicht morgen Nachmittag Zeit?

Julius’ Terminkalender war bereits unerfreulich voll, eine Sitzung der Preisjury, der er vorstand, danach ein Treffen mit Geisheim, Redakteur bei der Tribüne, für die er regelmäßig eine Kunstkolumne verfasste. Er bat Fräulein Grüber, diese Verabredung um einen Tag zu verschieben. Zeitungsleute waren die Launen der Umstände gewohnt. Er würde sich mit Rachmann um fünf Uhr treffen.

»Im Adlon?«, fragte die Stenotypistin, aber Julius schüttelte den Kopf. Seit auch noch die Japaner dem Kaufrausch verfallen waren, war das Adlon unerträglich geworden.

»Nein, hier«, sagte er, und der Gedanke daran hob seine Stimmung.

 

Rachmann wartete bereits, als Julius von der Sitzung nach Hause kam.

»Eine halbe Stunde zu früh«, sagte Frau Lang missbilligend. »Ich habe ihn zum Warten in den Morgensalon geschickt. Hoffentlich hat er nicht Fräulein Grüber von ihrer Arbeit abgelenkt.«

Sie führte Rachmann ins Arbeitszimmer. Julius beobachtete den jungen Mann dabei, wie er sich umsah, den Pissaro mit seinen schimmernden Silberbirken betrachtete, die Munch-Zeichnungen in ihrem schwarzen Rahmen, die kleine Figur von Claudel, die er als Ersatz für die Rosso-Büste auf dem Kaminsims aus seinem Schlafzimmer geholt hatte.

Deshalb hast du mich doch ausgesucht, als weiteres Ausstellungsstück für dein verdammtes Museum! Luisas Stimme dröhnte ihm so schrill in den Ohren, als habe sich in der Zeit ein Riss aufgetan. Ein wenig unbehaglich zumute, bedeutete er dem jungen Mann, die Zeichnungen auf den Schreibtisch zu legen, aber Rachmann hatte sich zur nackten Wand gedreht und bemerkte Julius’ Geste nicht.

»Sagen Sie mir, dass Sie es immer noch sehen«, murmelte Rachmann, und Julius hatte das Gefühl, durch den Schock wie ins Weltall geraten zu sein, in ein Nichts, wo eigentlich fester Boden sein sollte. Julius starrte den jungen Mann an, der lächelte, als sei nichts dabei, jemandem den Schädel zu öffnen und hineinzublicken. »Sagen Sie mir, dass Sie das Sehen nicht vergessen und dieses Zimmer Sie nach wie vor jeden Tag anrührt.«

Julius zuckte die Achseln. Er hätte wissen müssen, dass der junge Mann nur die Werke meinte, die er hier vor Augen hatte. Er fühlte sich töricht und war zugleich ein wenig enttäuscht. »Aber ja, ich sehe sie noch«, erwiderte er, und Rachmann nickte mit einem Ausdruck amüsierter Skepsis. Erneut hatte Julius das verstörende Gefühl, der junge Mann könnte seine Gedanken lesen. »Allerdings vielleicht nicht so oft, wie ich es sollte«, räumte er ein.

Rachmanns Lächeln wurde sanfter. »Da bin ich aber froh, dass Sie manchmal nicht hinsehen. Denn andernfalls kämen Sie nie zum Schreiben.«

 

Julius ließ Rachmann die mitgebrachten Zeichnungen auf dem Schreibtisch ausbreiten. Die meisten waren unbedeutend. Doch eine unsignierte Rötelzeichnung ließ sein Herz schneller schlagen. Ein männlicher Akt in

»Ein Marées«, sagte er, unfähig, seine Freude zu verbergen. »Ohne jeden Zweifel. Eine Vorstudie zu den Hesperiden. Ein wenig mangelhaft, da ist es überzeichnet, haben Sie gesehen? Er schien sich des Winkels nicht sicher zu sein. Aber ansonsten sehr schön, wirklich sehr schön.«

Rachmann atmete tief aus, die Fingerknöchel an die Lippen gepresst. »Gott sei Dank.«

»Hatten Sie es vermutet?«

»Ich habe es gehofft. Frau Schmidt musste so viel durchmachen.«

Julius betrachtete die Zeichnung, die vorzügliche, sparsame Linienführung, und dachte an die Witwe in Düsseldorf, an ihren Mann, ihren Laden und dass alles jetzt mit einem Schlag verloren war. Die Inflation verhöhnte geradezu das beharrliche Vorsorgeverhalten der deutschen Mittelschicht, verwandelte ihr lebenslang gewissenhaft in die Rentenkasse eingezahltes Geld in eine Handvoll Staub. Es hieß, in Berlin würde jeden Tag ein Mensch Selbstmord begehen.

»Sie sollten sogar jetzt noch einen anständigen Preis dafür bekommen«, sagte er. »Dass die Zeichnung eine Vorstudie zu einer höchst geschätzten Arbeit ist, wird ihren Wert beträchtlich steigern.«

»Ein wunderbares Bild, nicht? Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, es selbst zu kaufen. Der Gedanke, es wegzugeben …« Rachmann schüttelte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, für einen Händler habe ich die ganz falsche Begabung.«

Automatisch blickte Julius von der Zeichnung auf die Stelle an der weißen Wand, auf die die Nachmittagssonne fiel, und einen Augenblick lang sah er es, Vincents gequältes, quälendes Gesicht, das ihn unverwandt anstarrte. Dann wechselte das Licht, und das Bild war verschwunden. Julius wandte sich wieder der Zeichnung zu. Die nackte Figur stand breitbeinig, die Füße im rechten Winkel, den nackten Körper mit all der unbekümmerten Zuversicht der Jugend den Blicken darbietend, doch das Gesicht war abgewandt, die Augen geschlossen und die Arme angewinkelt, als wäre das Gefühl, das sie ergriffen hatte, einfach zu stark, um es zu bändigen. Im Garten sang ein Vogel, ein hastiges Trällern.

»Sind Sie mit Charles Blanc vertraut?«, fragte er. »Nach der Februarrevolution war er Direktor der École des Beaux-Arts in Paris. Seiner Ansicht nach ist das Zeichnen die männliche Seite der Kunst und das Malen die weibliche. Die Zeichnung könne uns zeigen, was im Geist vor sich geht, während das Gemälde die Geheimnisse des Herzens offenbart. Ich hätte ihm nur diese eine Arbeit hier präsentieren müssen, und seine These hätte sich in Luft aufgelöst.«

»Du fühlst es also auch.«

Im plötzlichen Wechsel zum vertraulichen Du lag nichts Anmaßendes. Er sprach ruhig, arglos, wie vielleicht ein Sohn mit seinem Vater spricht. Julius lächelte.

»Wie könnte ich nicht?«, sagte er.

 

Julius kaufte den Marées. Er zahlte das Fünffache dessen, was er tatsächlich wert war. Als er Rachmann den Scheck überreichte, sah er ihn nicht an, so wie er auch die Bettler

So hatte sich das niemand vorgestellt. Den Kriegsausbruch hatten sie begeistert begrüßt, die Künstler und Schriftsteller, die Dichter und Musiker. Sie hatten sich eine große Läuterung versprochen, die rückhaltlose Säuberung einer verdorbenen, philisterhaften Welt, aus deren Asche sich ein neues, reineres Deutschland erheben würde. Ein natürliches Kunstwerk, wie Karl Scheffler es genannt hatte. Da Julius für den Einsatz an der Front zu alt war, hatte er sich freiwillig als Sanitätsfahrer verpflichtet, als Soldat in einem heiligen Kampf, durch den die Welt – wie er glaubte – einen neuen Stand der Gnade erlangen würde. Die Schrecken des Krieges hatten seine Ansichten grundlegend verändert, aber nicht völlig jene Hoffnung ausgelöscht. Krank vor Angst und Erschöpfung, die Kleidung steif vom geronnenen Blut anderer Männer, hatte Julius in endlos langen Monaten oft an Dostojewski gedacht, diesen widerwilligen Soldaten, der begriffen hatte, was alle Soldaten einmal begreifen: dass Menschen keine Götter sind und für jeden die einzige Hoffnung auf Erlösung darin besteht, den eigenen Anteil an Schuld, Scham und dem Schrecken des Lebens auf sich zu nehmen und gemeinsam zu ertragen, als eine Geistesgemeinschaft, geeint durch

Ein fataler Irrtum. Fünf Jahre später war das neue Deutschland verdorbener denn je, eine gespaltene Nation von Schmarotzern und Blutsaugern: Ladenbesitzer, die ihre Waren unter der Theke gegen ausländische Währung verkauften; Schwarzhändler, die mit der einen Hand Polizisten schmierten und sich mit der anderen ihren Profit in die Tasche stopften; pelzbehangene Bauersfrauen, die sich in den Cafés am Kurfürstendamm die Sahne von den Fingern leckten, während draußen halb verhungerte Kinder die Abfalleimer nach Essbarem durchwühlten.

Und Julius war einer von ihnen.

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