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Santiago

Lange

mit Nicolás Cassese

Wind

Meine Triumphe, meine Gedanken, mein Leben

Aus dem Spanischen von Lela Weigt

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2021 Pantauro bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Metafora

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: wir sind artisten, Salzburg

Covermotiv: © Gustavo Cherro, Francisco Vignale

Fotos: Santiago Lange Familienarchiv, Gustavo Fazio, Gustavo Cherro, Matías Capizzano, Roman Hagara-Archiv, Carlo Borlenghi, Sailingshots by María Muiña

ISBN: 978-3-7105-0029-9

eISBN: 978-3-7105-5009-6

Für meine Kinder
Yago, Theo, Borja und Klaus

Inhalt

Einleitung. Unter Christus’ ausgebreiteten Armen

1.Disziplin zu Hause, Freiheit auf dem Fluss

2.Mein unbesiegbarer Freund

3.Vom Río de la Plata nach Southampton

4.Das ist für dich, alter Herr

5.Unternehmerträume

6.Die olympische Fackel wird entzündet

7.Der Beginn einer Methode

8.Die Maschine zur Erzeugung glücklicher Bilder

9.Den Wind einfangen

10.Warum haben wir in Athen nicht gewonnen?

11.Boote sind Lebewesen

12.Er ist nicht von uns gegangen, sondern ruht auf der See

13.Und wenn wir zusammen segeln?

14.Ein unerwarteter Wind

15.Ein verwundeter Löwe

16.Ein geheilter Löwe

17.Zauber für uns, alter Herr!

Epilog

Danksagung

Einleitung

Unter Christus’ ausgebreiteten Armen

Heute wird ein heißer Tag werden. Doch noch ist es früh am Morgen, und ich schwitze kaum, als ich an der Küste von Rio de Janeiro gemächlich durch den Flamengo Park radle. Obwohl ich die Strecke regelmäßig fahre, staune ich noch immer über die Vielfalt der Menschen, die mir hier jeden Tag begegnen. An mir vorbei joggt ein Mann, der mit Stolz seinen im Fitnessstudio gestählten Körper präsentiert. Leichtfüßig weicht er einem amerikanischen Pärchen aus, das sich nach allen Seiten hin umdreht, offenbar verängstigt von dem, was hier über die mangelnde Sicherheit berichtet wird. Ein Betrunkener, der auf einem der Fitnessgeräte sein Bier trinkt, scheint diese Befürchtungen zu bestätigen. Gleich daneben zeigt ihnen ein faltiger älterer Herr, der in seiner knappen Badehose ein Sonnenbad nimmt und dabei Musik hört, die andere, freie und ungehemmte Seite dieser wundervollen Stadt. Instinktiv stimme ich ein Lied von Mercedes Sosa an: »Danke an das Leben, das mir so viel gegeben hat / Es gab mir das Lachen und es gab mir das Weinen / So kann ich das Glück vom Leid unterscheiden / Die beiden Stoffe, die mein Lied formen«.

Ich werde mir des Privilegs bewusst, diesen Augenblick erleben zu dürfen. Der Einsatz ist hoch. Doch es ist genau dieser Druck, der mich glücklich macht, der mir das Gefühl gibt, lebendig zu sein, und der mich zu Höchstleistungen antreibt. Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, es sind meine sechsten Olympischen Spiele und an diesem Morgen des 16. August 2016 radle ich zu der Regatta, die darüber entscheiden wird, ob ich das erreiche, was ich seit fast drei Jahrzehnten verfolge: die Goldmedaille.

In Kürze wird sich auch Cecilia Carranza auf ihr Fahrrad schwingen und zum Yachthafen fahren. Dort liegt unser Boot, der Katamaran Nacra 17, der bei diesen Spielen seine Premiere als gemischte Olympiaklasse feiert. Auf Cecis Handy läuft die argentinische Hymne in der Coverversion von Los Piojos, einer Rockband ihrer Generation. Sie hört die Liveaufnahme in Dauerschleife, und sobald der Fanchor am Anfang des Liedes einsetzt, fühlt sie sich stark und verbunden mit dem Ziel, das uns hierher gebracht hat. Während unserer gemeinsamen Zeit auf dem Segelboot hat Ceci eine enorme Entwicklung durchgemacht. Heute Morgen beim Frühstück habe ich die Zuversicht in ihren Augen gesehen. Dabei haben wir weder viel geredet noch uns gegenseitig Mut zugesprochen. Das braucht es nicht mehr.

Gestern war unser freier Tag vor dem Wettkampffinale, und ihr Neffe Berna kam uns besuchen. »Tante«, sagte er, »ich weiß, ich sollte es dir nicht sagen, aber meine Nerven liegen blank!«

Ceci hatte gelacht und ihm erklärt, dass wir trainiert hätten, um für diese letzte Etappe bestmöglich vorbereitet zu sein. Nun würden wir gewinnen oder verlieren, aber in jedem Fall hätten wir alles geben. Sie hatte recht. Der Weg bis hierher war lang und schwer. Beispielsweise war ich noch nie zuvor mit einer Frau gesegelt, wie es in dieser Bootsklasse vorgeschrieben ist. Darüber hinaus brachten wir unterschiedliche Erfahrungen ein, was zu Unausgeglichenheit und vielen Spannungen führte. »Meinen Ton gegenüber Ceci verbessern. Nie wieder die Stimme erheben oder sie unter Druck setzen« habe ich am Ende eines anstrengenden Tages in meinem roten Notizbuch vermerkt. Ich weiß nicht, ob am Ende dieses Nachmittags eine Medaille um meinen Hals hängen wird, aber mit Sicherheit werde ich Rio mit einem Diplom in »Wie verhalte ich mich gegenüber einer sechsundzwanzig Jahre jüngeren Frau« verlassen. Ceci und ich machen Witze darüber, dass ich nach diesen Spielen bereit für die nächste Ehe bin.

Ich nehme seit fast einem halben Jahrhundert an Wettkämpfen teil und weiß, dass wir das Wichtigste bereits geschafft haben. Jetzt müssen wir nur noch umsetzen, was wir so oft trainiert haben. Ich fühle mich entspannt, und die Szenerie tut ihr Übriges. Vor mir erstreckt sich die imposante Bucht von Guanabara. Eingerahmt von der Christusstatue und den üppig begrünten Hügeln ist dieses Gewässer seit neun Monaten das Zentrum unseres Lebens. Voller Ungewissheit und mit dem Training weit im Rückstand beschlossen wir damals, dass ein umgehender Umzug nach Rio unsere einzige Chance auf eine Medaille sein würde. Und genau das haben wir getan. Wir machten uns mit der Umgebung vertraut, indem wir so lange segelten, bis wir die Geheimnisse und Launen dieser tückischen Region durchschaut hatten. Heute sind wir Experten für jede einzelne der vielen Strömungen und unzähligen Winde, die für die Bucht typisch sind.

Die Mühe hat sich gelohnt. Nach zwölf Regatten starten wir an diesem letzten Spieltag der Olympischen Spiele an erster Position und liegen fünf Punkte vor dem zweiten Platz. Unser Sport ist erbarmungslos. Jede Regatta zählt so viel wie der erreichte Platz, nur das Wettkampffinale, das Medaillenrennen, wird doppelt gewertet. Das Team mit den wenigsten Punkten gewinnt den Wettkampf. Es läuft gut für uns, aber wenn wir heute einen schlechten Tag haben, verlieren wir jede Chance auf eine Medaille.

Ich bin etwas früher losgefahren, um in Ruhe das Meer zu beobachten. Ich suche nach Anzeichen, die die Vorhersagen unserer Meteorologin Elena Cristofori bestätigen können.

Dass sich das Regattafeld durch Wind und Strömung ständig verändert, liebe ich besonders am Segeln. So entwickelt sich ein unvorhersehbares Spiel. Ein Schachspiel mit einem dynamischen Brett. Als Segler kombiniert man die Daten der Meteorologen mit großer Aufmerksamkeit, um den Wind während der Regatta lesen zu können. Es ist eine Kunst, die mich fasziniert. Doch der Wind ist widerspenstig und behält stets etwas für sich. Dabei geht es nicht nur darum zu wissen, was im Augenblick, sondern auch, was in den nächsten fünf Minuten geschehen wird. Wir sammeln Informationen über die Form der Wolken, die Farbe des Wassers, die Flaggen am Ufer oder die Bewegungen der gegnerischen Boote. Doch die Hauptrolle spielt die Intuition.

Darüber hinaus braucht man Erfahrung, um die Manöver auszuführen, und Taktik, um sich dem Vorgehen der Gegner entsprechend zu verhalten. In der letzten Regatta, die in wenigen Stunden starten wird, werden die ersten zehn Teams um die bestmögliche Kombination dieser Variablen kämpfen, während man, im Trapez hängend, das Gleichgewicht halten muss, was auf einem schnellen und schwankenden Boot eine äußerst wackelige Angelegenheit ist.

Es ist dunkel, und ich liege auf dem Bett, während ich mich den heilenden Händen unserer Kinesiologin Eva Alvarez anvertraue und ihr einen Teil meiner Geschichte erzähle. Bei einer der ersten Sitzungen hat sie meine Narbe entdeckt. Sie ist klein und gut verheilt und befindet sich in der Mitte des Brustkorbs auf der Höhe der Rippen. Auf den ersten Blick sieht man sie nicht, doch ihr ist sie aufgefallen, und sie behandelt sie behutsam, um die Elastizität der Haut wiederherzustellen. Ich habe ihr von der Herkunft der Narbe erzählt, dem Krebs, der mich den gesamten Oberlappen meiner linken Lunge gekostet hat. Nach der Operation hatte ich keine Stimme mehr und war außerstande, auch nur die geringste Anstrengung zu unternehmen. »Einzylinder« nannten mich meine Freunde.

Mir wurden etwa dreißig Prozent meiner Lunge entfernt. Mit der Zeit hat sich der übrige Teil des Organs ausgedehnt, um den leeren Raum zu füllen, doch anfangs konnte ich nur schwer atmen. Die Operation fand vor weniger als einem Jahr statt, und heute werde ich beim Regattafinale der Spiele antreten. Was für eine Ironie, dass das Internationale Olympische Komitee mit dem Nacra ein schnelles und wendiges Boot für junge Leute einführen wollte und ich nun hier bin, der älteste aller teilnehmenden Segler in Rio, der sich gerade erst vom Krebs erholt hat.

Ich radle durch einen kurzen Tunnel, der unter einer Allee entlangläuft. Als ich wieder ans Tageslicht des Parkes gelange, muss ich an die epischen Radrennen denken, mit denen meine Genesung in Cabrera de Mar begann. Das spanische Bergdorf, das siebenundzwanzig Kilometer von Barcelona entfernt liegt, ist mein zweites Zuhause. Ich sehe meine beiden Zwillingssöhne Theo und Borja vor mir, die mich nach der Operation und während der gesamten Zeit der Regeneration unterstützt haben. Die Zwillinge segeln nicht und haben auch meine Leidenschaft für den Sport nicht geerbt. Auch wenn beide körperlich aktiv sind, hat sich bei ihnen vor allem eine künstlerische Veranlagung durchgesetzt, die sie ihrer Mutter Silvina verdanken. Dennoch ist es uns gelungen, in einem Monat vierhundertfünfzig Kilometer zu radeln. Mit ihnen zusammen wieder zu Kräften zu kommen, war die Gelegenheit, um sie besser kennenzulernen. Beide teilen eine unverkrampfte Einstellung zum Leben, und jedes Konkurrenzdenken ist ihnen fremd. Mich hatte das immer etwas beunruhigt, doch in diesen Tagen habe ich es erstmals nachvollziehen und wertschätzen können. Während ich in die Pedale trete, treiben mich die Bilder jener Tage an.

Yago und Klaus sind meine beiden anderen Söhne. Sie segeln zusammen im 49er, eine der dynamischsten und explosivsten olympischen Klassen. Beide sind Sportler und doch sehr unterschiedlich. Mit Yago teile ich die Begeisterung für Planung und Methode. Er ist der Älteste, und vermutlich hat er am meisten darunter gelitten, als Silvina und ich uns trennten, ich mich fürs Segeln entschied und lange Zeit im Ausland verbrachte. Klaus, der Jüngere, ist sehr sensibel. Wir verbringen viel Zeit zusammen, er ist warmherzig und begrüßt mich jedes Mal mit einer überschwänglichen Umarmung, wenn wir uns am Hafen treffen. Beide sind in Rio, um an ihren ersten Olympischen Spielen teilzunehmen. Vor knapp einer Woche liefen wir drei mit Cecilia zusammen bei der Eröffnungsfeier ein. Der Augenblick, als wir das von Athleten voll besetzte Olympiastadion betraten, war wertvoller als meine beiden Bronzemedaillen aus vorherigen Spielen. In einer Welt voller Konflikte ist die Eröffnung der Spiele ein Beweis dafür, dass die verschiedenen Völker und Kulturen in Frieden miteinander leben können. Diese Botschaft ist für mich noch wichtiger als der Sport selbst.

Mit ihnen diese Erfahrung in Rio teilen zu dürfen, entschädigt für all die Mühen, die ich meinem Körper abverlange. Ich habe immer trainiert und hatte kaum Verletzungen während meiner Karriere. Mit Yago und Klaus spiele ich Squash, und das sind Partien auf Augenhöhe. Doch meine Schwachstelle sind die Knie. Beide wurden am Meniskus operiert und bereiteten mir große Schmerzen, als ich den Nacra zu segeln begann. Allein mich zu bücken, was eine übliche Bewegung auf dem Katamaran ist, kam einer Tortur gleich. Ich litt, und Ceci beobachtete mich voller Sorge. Vor den Spielen war ich nach Brasilia gereist, um am Red Bull World Run teilzunehmen, und musste nach nur hundert Metern anhalten. Ich wärmte mich auf und konnte weiterlaufen, aber als Trainingssystem bevorzuge ich dennoch das Fahrrad. Mit diesem Scott Rennrad, auf dem ich zum Olympiahafen radle, habe ich während all der Monate den Aufstieg zum Christus auf dem Gipfel des Corcovado erklommen.

Nicht nur meine Knie mussten den Preis für meinen Lebensstil zahlen. Mir ist klar, dass die Entscheidungen, die ich getroffen habe, meine Beziehungen beeinträchtigt haben. Es gab Zeiten, in denen ich neun Monate im Jahr durch die Welt reiste, um an Wettkämpfen teilzunehmen. Ich weiß, wie schwierig es ist, bei diesem Rhythmus eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Ich bin schon eine Weile allein, und es ist nicht so, dass ich mir das ausgesucht habe.

Es gab Zeiten, in denen ich meine Berufung infrage gestellt habe. Wozu sollte man so viel Mühe für etwas aufbringen, das offensichtlich bedeutungslos war? Ich verglich mich mit meinem Onkel Wolfgang, der als Arzt Leben rettete und sich um die Gesundheit seiner Patienten kümmerte. Was mache ich hingegen? Ich habe Jahrzehnte damit zugebracht, so schnell wie möglich mit meinem Boot um ein paar Bojen herumzufahren. Und welchen Sinn hat das? Welchen Beitrag für die Gesellschaft leiste ich mit meiner täglichen Arbeit?

Angekommen am Hafen bereiten wir unseren Katamaran vor, bevor wir in den Kampf ziehen. In wenigen Stunden startet die letzte Regatta, und wir behalten unsere Routine bei. Wir sind auf dem ersten Platz am letzten Tag eines olympischen Wettkampfes. Das ist kaum der Moment für Neuerungen, und jeder von uns weiß, was er zu tun hat. Das Boot hat drei Segel. Ich kümmere mich um das Großsegel und Ceci um die anderen beiden, die Fock und den Gennaker. Unser Team hilft uns zwar, aber jeder weiß, dass Ceci und ich die Leinen, Bolzen, Schrauben und alle anderen Vorrichtungen gern selbst überprüfen, genauso wie wir alle Segellatten präzise einsetzen und den Segeln die erforderliche Spannung geben. So können wir sichergehen, dass weder Verschleiß noch das Risiko für Brüche existieren. Das Aufriggen umfasst auch die Entscheidung über die Materialien, die von den zu erwartenden Windbedingungen abhängen. Unsere Trainer Mariano Parada und Mateo Majdalani haben gestern die aufwendigsten Wartungsarbeiten am Boot durchgeführt, darunter die finale Politur des Rumpfes, damit dieser dem Wasser den geringstmöglichen Widerstand bietet. Es ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken, dass wir hier mit einer ernsthaften Chance auf Gold antreten. Cole, wie wir Mariano nennen, ist ein guter Freund und ein äußerst erfahrener Segler. Wir sind bereits in verschiedenen Klassen zusammen gesegelt, darunter bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney und zwei Weltmeisterschaften in der Snipe-Klasse, die wir gewinnen konnten. Vor einem Jahr holten wir ihn ins Team, um mit seiner Expertise ein Gegengewicht zu Mateos Jugend zu schaffen.

Mit seinen zweiundzwanzig Jahren ist Mateo ein Wunderkind. Er ist ein guter Freund meines jüngsten Sohnes Klaus. Die beiden sind zusammen in der Jugendklasse gefahren, und schon damals konnte ich sein enormes Talent erahnen. Kaum hatten wir die Kampagne für die Olympischen Spiele auf die Beine gestellt, riefen wir ihn an. Doch bevor ich ihm ein Angebot machen konnte, musste ich die Zustimmung seines Vaters einholen. Er hatte noch nie zuvor als Trainer gearbeitet, geschweige denn eine Kampagne für Olympia durchgeführt. Wir hatten bereits in vorangegangenen Spielen mit jungen und aufstrebenden Seglern gearbeitet, da sie ein Garant für Begeisterung und Engagement waren. Darüber hinaus konnten wir auf diese Weise unsere Arbeitsmethoden an die folgenden Generationen weitergeben. Dank Mateo wurden unsere Ergebnisse überragend. Er ist ernsthaft, fokussiert, methodisch, fleißig und vor allem intelligent, was eine Schlüsselkompetenz in einem Sport mit derart vielen Variablen ist. Seine berufliche Entwicklung wird eine der großen Errungenschaften unseres Abenteuers sein.

Am Yachthafen befinden wir uns auf engstem Raum mit unseren Gegnern, und die Anspannung ist förmlich spürbar. Wir haben uns unserer Qualifizierung entsprechend angeordnet und stehen an erster Stelle. Neben uns befinden sich die Italiener und danach kommen die Österreicher und die Australier, die drei gefährlichsten Herausforderer im Kampf um die Medaillen. Nun kann man anhand der Ergebnisse darüber spekulieren, welche endgültige Position auf die eine oder andere Weise möglich ist. Wir haben gestern Abend Berechnungen angestellt, aber ich weiß nur noch, dass wir unter den drei ersten Plätzen sein müssen, um Gold zu gewinnen. Und wenn wir auf einem der ersten sechs Plätze landen, ist uns eine Medaille sicher. Die übrigen Kombinationsmöglichkeiten hat Ceci im Kopf.

»Es muss gut laufen, das war’s«, meinte ich. Nicht, dass es mir egal wäre. Ich will die Goldmedaille. Die Relevanz dieser Kalkulationen ist mir durchaus bewusst, aber ich weiß auch, dass man auf einem Nacra nicht gleichzeitig segeln und rechnen kann. Wenn ich mich entscheiden muss, wähle ich Ersteres. Für alle Fälle haben Cole und Mateo ein Blatt mit den Kombinationsmöglichkeiten aller Positionen ausgedruckt, laminiert und ins Boot geklebt.

Der Katamaran ist bereit, und wir wollen als Erste aufs Wasser gehen. Doch der Wind ist unstet, und der Start der Regatta verzögert sich. In einem solchen Fall ist es wichtig, Ruhe zu bewahren. Wenn ich etwas in den letzten Jahren gelernt habe, dann dass es keinen Sinn macht, nervös zu werden. Einfach ist das allerdings nicht. Man hat sich auf einen bestimmten Zeitplan eingestellt, und plötzlich stoppt die Uhr bis auf Weiteres, und es ist unklar, wann man die optimale Wettkampfstimmung wiedererlangen muss. Ich ziehe mich in unseren Bereich unter dem Baum zurück, wo eine Kiste mit Werkzeug, ein paar Stühle, Taschen und Ersatzausrüstung stehen. Wir haben diesen Ort gewählt, da er etwas abgelegener ist. Um mich zu konzentrieren, brauche ich einen Rückzugsort. Ich bin gelassen und lege mich mit einer Kappe als Sonnenschutz auf den Rasen, nehme die Embryonalstellung ein und lasse die Zeit verstreichen.

Ceci hingegen ist unruhig, und Cole nimmt sie beiseite, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Geschützt vom Schatten des Segels sitzen sie gegen den Rumpf unseres Bootes gelehnt und sprechen über die Zeit nach den Spielen und ihre Pläne mit der Familie. Cole trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ceci und Santi«, und zwar in dieser Reihenfolge. Es ist ein Geschenk von Cecis Eltern, die ebenfalls in Rio sind und Ceci jedes Mal zum Strahlen bringen, wenn sie sich sehen. Außerdem hat Cole eine argentinische Flagge in seinem Rucksack für den Fall, dass es etwas zu feiern gibt. Es ist gut, sie versteckt zu halten, denn keiner von uns wagt es, über diese Möglichkeit zu sprechen oder auch nur darüber nachzudenken. Ceci nutzt die Pause für eine kurze Visualisierung mit unserem Yogalehrer und Sportpsychologen Daniel Espina.

Dani gibt Einzelsitzungen, und man braucht nicht viel mehr als eine Matratze und einen Gymnastikball. Ich hatte heute Morgen eine kurze und gestern Nachmittag eine intensivere Stunde. Ceci hat eine ähnliche Routine. Zu Beginn der Sitzung empfahl Dani ihr, sich selbst am Ufer des Paraná sitzen zu sehen, um sie von ihren Gedanken zu befreien und in einen Zustand der Ruhe zu versetzen. Der Paraná ist breit und wasserreich und der Fluss, auf dem Ceci zu segeln gelernt hat. Ihre Heimatstadt Rosario hat eine wunderschöne Uferpromenade. Ceci liebt Rosario und den Fluss. Es ist ihre Zuflucht, der Heimatort ihrer Familie. Das Bild gibt ihr daher das Gefühl, beschützt und fernab von allen Bedrohungen zu sein.

Dani war von fundamentaler Bedeutung, als Ceci und ich kritische Momente überwinden mussten. Er hörte zu und gab uns zu verstehen, dass wir nicht nur schneller segeln, sondern auch lernen mussten zusammenzuarbeiten. Das war die große Herausforderung für unser gemischtes Team, und er brachte das Beste und das Schlimmste in uns zum Vorschein. Der Altersunterschied war kein Problem, doch wir haben sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen und Persönlichkeiten. Es gab eine Zeit, in der wir nicht gut segelten und ich meine Wut oft an ihr ausließ. Für das Team war das alles andere als hilfreich. Ceci ist eine unermüdliche Arbeiterin. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit hatte sie die herausragende Fähigkeit, Informationen geradezu aufzusaugen, doch die Dynamik unserer Beziehung war oft kontraproduktiv für ihre Art von Lernbereitschaft. Irgendwann war sie frustriert und hatte Zweifel daran, diese Zumutungen weiter in Kauf nehmen zu können.

Meine Herangehensweise trug sicherlich zu ihrer schlechten Laune bei. Ich lote immer meine Grenzen aus und teste, wie weit man noch gehen kann. Ich brauche die Herausforderung und werde unruhig, wenn ich dem Wunsch danach, alles und noch mehr zu geben, nicht nachgehen kann. Für jemanden, der den Sport und das Leben auf eine andere Weise angeht, kann das Training mit mir daher anstrengend sein.

Aber es gibt noch ein weiteres Problem: Ich bin zwar Cecis Partner, aber angesichts meiner bisherigen Erfahrung auch ihr Trainer und Teamleiter. Die Überschneidung dieser Rollen hat zu Komplikationen geführt. Ceci musste wie alle anderen in Entscheidungsfindungen miteinbezogen werden. Ich habe mich bemüht und bemühe mich noch immer, mich zu zügeln, wenn ich das Wort ergreife. »Sind wir einverstanden?«, imitiert mich Dani manchmal und lacht über die Phrasen, mit denen ich nach Zustimmung für meine Ideen werbe.

Bevor wir den Wettkampf in Rio in Angriff nahmen, haben wir eine Bilanz aus den letzten Jahren der Vorbereitung gezogen. Ceci brachte es auf den Punkt. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert waren, waren enorm, aber genauso groß war auch der Wunsch, sie zu überwinden. Oftmals war sie an der Grenze ihrer körperlichen und geistigen Kräfte. Sie wachte morgens auf, hatte keine Energie, um aus dem Bett zu kommen, und wusste nicht, ob die Erschöpfung geistiger oder körperlicher Natur war. Sie fragte sich, woher sie die Kraft nehmen sollte für all das, was an diesem und an den restlichen Tagen bis Rio zu bewältigen war. Fitnessstudio, unzählige Stunden auf dem Wasser, das Boot trimmen und zu anderen Vorbereitungswettkämpfen reisen. Wie sollte sie das alles in den Griff bekommen?

Dani half Ceci dabei, den körperlichen und emotionalen Höhenflug dieser Olympiakampagne zu bewältigen. Das war es auch, was sie ihm in ihrer gestrigen Sitzung gesagt hat. Am Ende schaute Ceci ihm gerührt in die Augen und dankte ihm.

»Ich bin sicher, dass es für uns morgen, auch abgesehen vom Ergebnis, gut laufen wird und ich friedlich und ruhig sein werde«, erklärte sie und umarmte ihn schweigend.

Ceci hat sich als Letzte dem Trainingsteam angeschlossen, das wir 1993 gegründet haben. Die Methode, die wir im Laufe der Jahre entwickelt haben, umfasst Danis Arbeit mit Visualisierung und Yoga, zahlreiche Stunden auf dem Wasser und ein Trainingslager, für das wir uns in ein Haus zurückziehen. Eines der Gründungsmitglieder des KGB, so nennen wir unser Team scherzhaft, ist Daniel Bambicha, unser langjähriger Konditionstrainer. Bambi war Läufer, und während seiner aktiven Zeit reiste er nach Jugoslawien, damals Teil des sozialistischen Blockes, um mit dem Team seines Landes zu trainieren. Dort verinnerlichte er das System der eisernen Disziplin, mit dem er uns später im Fitnessstudio quälte. Er forderte uns gern bis an die Grenzen unserer Ausdauer heraus, und wir beide hatten eine Schwäche für gute Leistung. Auch wenn wir eine Meinungsverschiedenheit hatten und Bambi nicht zu den Spielen gekommen ist, ist seine Arbeit entscheidend gewesen.

Bambis Gegenstück ist Mariano Galarza, ein weiterer Gründungsvater. Während es Bambis Aufgabe war, uns so viel abzuverlangen, bis wir nicht mehr konnten, war es Galarza, der uns verwöhnte. Und so war es Balsam für unsere Seele, als der große und gutmütige Galarza nach Rio kam und uns den nötigen Energieschub für den Wettkampf gab. Bei den ersten Olympiakampagnen war er für unsere Marketingstrategie verantwortlich, betrieb das Sponsoring, baute die Reiselogistik auf und kümmerte sich sogar um die Angelegenheiten meiner Kinder und meiner Ex-Frau, wenn ich auf Reisen war. Und er übernahm noch eine weitere Funktion, die er bis heute erfüllt. Er kocht und sorgt dafür, dass wir uns alle wohlfühlen. Was Ersteres betrifft, so ist er ein Genie. Gestern Abend etwa gab es Schaschlik-Spieße vom Schwein mit Kartoffeln, Zucchini und Auberginen. Es war köstlich, doch am besten waren seine Geschichten, die alle am Tisch zum Lachen brachten.

Galarza stammt aus Santa Lucía, einem kleinen und heißen Dorf in der argentinischen Provinz Corrientes, das aufgrund der zahlreichen Geschichten für uns zur Legende geworden ist. Auch wenn wir nach so vielen Jahren fast alle von Galarzas Anekdoten kennen, ist es noch immer urkomisch, wenn er sie erzählt. Gestern gab er mal wieder den Klassiker aus seiner Kindheit zum Besten, als der Zirkus nach Santa Lucía kam und er mit seinen Freunden streunende Katzen einfing, um sie dem Tiger zum Mittagessen anzubieten. Uns taten die Bäuche vor Lachen weh, als wir anschließend zu Bett gingen. Entschlossenheit und Vergnügen, das ist der Sportsgeist des KGB.

Ein zentrales Element dieser Arbeitsweise ist Carlos Mauricio Espínola, ein weiteres Gründungsmitglied. Camau war mein Partner während meiner gesamten olympischen Karriere. Mit ihm habe ich gelernt, eine Kampagne zu planen und Medaillen zu gewinnen. Er ist Galarzas Schwager und ebenfalls aus Corrientes, dennoch könnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Distanziert und mürrisch wie er ist, hält er sich bei gesellschaftlichen Versammlungen zurück und kann unsympathisch wirken auf diejenigen, die ihn nicht kennen. Das gilt nicht für mich. Ich kenne und bewundere ihn, und noch immer erinnere ich mich an das erste Mal, als ich ihn im Fitnessstudio Tarek trainieren sah. Er verfügte über eine so sportliche Verfassung, wie sie fürs Segeln damals noch vollkommen unüblich war.

Der Höhepunkt unseres Erfolges waren die Olympischen Spiele 2004 in Athen, wo wir im Tornado, dem Katamaran-Vorgänger des Nacras, antraten. Auf dem Boot waren wir derart gut aufeinander abgestimmt, dass wir kaum miteinander sprachen. Jeder wusste, was der andere zu tun hatte, und vertraute darauf, dass er seine Sache richtig machen würde. Es herrschte absoluter Respekt. Zusammen gewannen wir zwei Bronze-Medaillen, doch unser Niveau hätte für Gold gereicht. Dass wir es dennoch nicht geschafft haben, konnte ich nie ganz verschmerzen.

In zwanzig Minuten werden wir die Boote zu Wasser lassen, und gemeinsam mit Dani wärme ich mich mit ein paar leichten Übungen auf. Ich ziehe meine Sportkleidung aus und den Neoprenanzug an. Ich habe kein Problem damit, mich vor irgendjemandem umzuziehen, aber da es überall Kameras gibt, ziehe ich mir einen Poncho über. Ich wähle den leichten 1,5-mm-Anzug, die kurzen Stiefel, das blau-weiße T-Shirt aus Lycra, die leichte Trapezhose, die Rettungsweste, die Kappe und zuletzt das gelbe Leibchen, das uns als Anführer des Wettkampfes ausweist. Es ist der erste Tag, an dem wir als Spitzenreiter antreten, und ich verspüre einen Druck, eine Mischung aus Stärke und Stolz, der mich beflügelt. Dieses Gefühl verfliegt schnell, und es wird Zeit, uns in Bewegung zu setzen.

Als die Rampe freigegeben wird, hält Ceci das Boot aufrecht und schiebt den Trailer zur Seite. Ich entferne die Puffer, auf denen der Rumpf aufliegt. Jetzt gibt es weder Zeit noch Raum für Ansprachen, und nichts darf unsere gewohnte Vorgehensweise beeinträchtigen. Alles liegt in der Luft und nichts muss mehr in Worte gefasst werden. Später hat mir Cole erzählt, dass er eine kleine Rede vorbereitet hatte. Ceci wollte er an die Mühen erinnern, die sie auf sich genommen hatte, um hier dabei zu sein. Mir wollte er sagen, dass nun die große Chance gekommen sei, für die ich in Tausenden von Regatten und gegen den Krebs gekämpft hatte. An diesem Tag, im Angesicht des Christus mit den ausgebreiteten Armen und meiner am Strand jubelnden Familie, sollte ich da hinausfahren und es genießen. Zum Glück sprach er mit Dani, und die beiden entschieden sich dagegen. Es gab das Übliche. Einen Klaps, eine flüchtige Umarmung, einen komplizenhaften Blick. Alles andere wäre überflüssig gewesen.

Wir beginnen zu segeln und hören das Getöse von der Tribüne, etwas vollkommen Neues in unserem Sport. Wir sind daran gewöhnt, ohne ein anderes Publikum als die übrigen Gegner und die Wettfahrtleitung zu fahren. Dieser Zuspruch, all die Fahnen und die Fußballlieder überwältigen uns. »Argentinien! Argentinien! Argentinien!« Meine Mutter, einige meiner Geschwister, meine Kinder, Cecis Familie und Hunderte von anderen Menschen, die wir nicht kennen, feiern uns, als wären wir Messi. Darunter viele Brasilianer. Wir gelten hier als locals.

Es bleibt wenig Zeit und viel zu tun, bevor die Regatta startet. Als Erstes müssen wir die Einstellungen testen, die wir für das Boot gewählt haben. Wir müssen sicherstellen, dass der Trimm stimmt. Unsere Entscheidungen hängen von den Vorhersagen des Windes und unseren Beobachtungen an Land ab. Bestätigen können wir dies allerdings erst, wenn wir auf dem Wasser sind und das Boot unter uns spüren.

Auf dem Weg zum abgesteckten Regattafeld spielen wir Alternativen durch und tauschen uns mit Mateo und Cole aus, die im Begleitboot neben uns herfahren. Als wir ankommen, fahren wir zum Schweizer Team, um unsere Geschwindigkeit gegenzutesten und dem Wind und der Strömung entsprechend zu bestimmen, welche Seite die passende ist. Die richtige Entscheidung ist fundamental. Denn es bringt überhaupt nichts, schnell, aber in die falsche Richtung zu segeln.

Der Wind kommt vom Zuckerhut, weshalb er böig und schwer einzuschätzen ist. Es ist eine schwierige Ausgangslage, aber uns gefällt sie gut. Dass keines der anderen neun Teams so oft an dieser Bucht gesegelt ist wie wir, gibt uns Zuversicht. Ich bin sicher, dass wir, wenn nötig, vor allen anderen merken werden, woher der siegbringende Windstoß kommt. Die Testfahrt mit den Schweizern läuft gut, und im Anschluss beraten wir uns mit unseren Trainern.

»Mir gefällt die rechte Seite«, sage ich, während ich Wasser trinke und Ceci einen Müsliriegel isst.

»Mir auch«, stimmt mir Mateo zu. »Aber hütet euch davor, es zu übertreiben und in der Windstille hängen zu bleiben.«

Er hat recht. Wenn wir zu nah an der Küste fahren, laufen wir Gefahr, dass uns der Wind ausgeht. Wir sprechen außerdem über eine andere komplizierte Stelle auf der Strecke, die erste Boje, bei der wir mit Bedacht entscheiden müssen, von welcher Seite wir sie runden sollen. Schließlich bestätigen wir noch einmal die Startstrategie, die wir am Abend zuvor konzipiert haben.

In einer kurzen Regatta wie dem Medaillenrennen ist der Start ein kritischer Moment. Es geht damit los, dass wir uns eine imaginäre Linie zwischen zwei Startschiffen vorstellen. Diese dürfen wir nicht überqueren, solange nicht das Signalhorn ertönt, das den Start ankündigt. Übertreten wir sie doch, müssen wir wieder zurückfahren, wofür man sogar disqualifiziert werden kann. Ein fünfminütiger Countdown leitet diese Startphase ein. Das Ziel ist es, sich am günstigsten Ort mit größtmöglicher Geschwindigkeit zu befinden, wenn die Stoppuhr bei null angelangt ist. Im besten Fall hat man keine störenden Gegner in unmittelbarer Nähe und ist genau an der Startlinie. Alle zehn Boote verfolgen dieses Ziel, und der Platz ist knapp.

Wir haben beschlossen, uns auf der linken Seite der Startlinie zu positionieren und auf die rechte Seite des Regattafeldes abzuzielen. Die Strategie hat mehrere Vorteile, aber ein großes Risiko. Die Regeln besagen, dass bei dem von uns gewählten Kurs alle Boote Vorfahrt haben, die von der anderen Seite kommen. Während des Startes gibt es üblicherweise viele solcher Seitenwechsel, und es empfiehlt sich, jede heikle Situation mit einem Boot, das Vorfahrt hat, zu vermeiden. Die Schiedsrichter beobachten uns von ihren Booten aus und zücken ihre Pfeife bei einem Regelverstoß. Es ist das am meisten gefürchtete Signal. Denn in diesem Fall wird man mit einer vollen Umdrehung geahndet, einem schwerfälligen Manöver, das einen weit von der Spitze abbringt.

Dieser riskante Start wird uns im besten Fall zu der Seite des Regattafeldes bringen, wo wir besseren Wind erwarten, und den weiteren Verlauf des Wettkampfes vereinfachen. Es ist eine aggressive Strategie. Wir könnten auch eine konservativere Alternative verfolgen und versuchen, eine der drei Medaillen zu ergattern, doch ich bin fest entschlossen, heute Gold zu holen.

Hinsichtlich der Aufgabenverteilung auf dem Boot bin ich für die Taktik verantwortlich. Ceci beobachtet die Bewegungen der Gegner und kümmert sich unter anderem darum, ihre Stoppuhr und die verschiedenen Flaggen am Boot der Wettfahrtleitung im Auge zu behalten, mit denen der Regattakurs und die verbleibende Zeit bis zum Start angezeigt werden. Ich hingegen habe absolut keine Ahnung von Flaggen, denn ich verfüge weder über ein gutes Gedächtnis noch habe ich Lust, sie zu studieren. Ich verlasse mich auf Ceci.

»Noch zwei Minuten«, kündigt sie an.

Mittlerweile zeigt sich, dass die Mehrheit der Boote eine ähnliche Entscheidung wie wir getroffen hat, nämlich nach rechts und ohne Vorfahrtsrecht zu starten. Wir befinden uns an der linken Seite der Startlinie auf der zweiten Position. Die ersten sind die Österreicher und die Dritten die Engländer. Wir sind bemüht, nicht weiter nach vorne zu gleiten und unsere Ausrichtung an den neben uns stehenden Booten beizubehalten. Das ist nicht einfach. Die Wellen, der Wind und die Strömung halten uns ständig in Bewegung. Wollen wir unsere Position korrigieren, müssen wir die Segel dichtholen und den Katamaran zum Segeln bringen, was uns gefährlich nahe an die Startlinie bringt, die wir nicht zu früh passieren dürfen. Wie Rennpferde werden unsere Nacras unruhig und sind kaum im Zaum zu halten. Wir halten sie an kurzen Zügeln, doch sie ringen um jeden Zentimeter.

»Eine Minute«, kündigt Ceci an.

Zu unserer Rechten entwickelt sich eine kritische Situation. Die Franzosen und Australier sind so positioniert, dass sie von der anderen Bootsseite aus starten. Sie haben Vorfahrtsrecht, und wir müssen dafür sorgen, dass sie ohne Probleme passieren können. Andernfalls riskieren wir einen Verstoß.

»Dreißig Sekunden.«

Besonders kritisch beim Start ist die Frage, wann man beschleunigen soll. Katamarane gewinnen sehr schnell an Tempo. Bewege ich das Ruder und gebe den Kurs vor, hebt bereits einer der Rümpfe an und wir jagen los. Ich muss genau den richtigen Zeitpunkt erwischen und mich mit Ceci, die die Segel führt, perfekt abstimmen. Nicht eine Sekunde zu früh, nicht eine Sekunde zu spät.

Unser Plan ist es, die Franzosen vorbeiziehen zu lassen und den Australiern geradeso auszuweichen. Die Engländer, die im Windschatten stehen, werden dasselbe tun, und stellen damit unser dringlichstes Problem dar. In den nächsten zehn Sekunden werden wir wissen, wer den besseren Start hinlegt und nach rechts vorprescht, wohin wir alle wollen.

»Zwanzig Sekunden.«

Ich bereite mich darauf vor, die Segel dichtzuholen und zu beschleunigen, während ich beobachte, was die Engländer tun und wie es bei den Booten läuft, denen wir ausweichen müssen.

»Zehn Sekunden.«

Gefahr! Die Engländer sind zu früh gestartet und versuchen, sich von den Australiern abzusetzen. Es ist eine schlechte Entscheidung und wird geahndet werden, aber das ist ihr Problem. Unseres ist ein anderes: Die Australier werden ausweichen müssen und könnten dabei mit uns zusammenstoßen.

»Neun, acht.«

Der schlimmste aller Fälle tritt ein. Die Australier haben ihren Kurs drastisch verändert, und wir bewegen uns mit voller Kraft auf eine desaströse Frontalkollision zu. Ceci hört auf, die Sekunden zu zählen. Jetzt geht es nur noch darum, einen Zusammenstoß zu verhindern. Dem australischen Steuermann steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Uns geht es nicht anders. Wenn wir in entgegengesetzte Richtungen segeln und dabei kollidieren, wird sich das Boot verkeilen und zu Bruch gehen. Das wäre der Abschied von der Regatta und den Medaillen.

Die Australier fahren sehr dicht an uns vorbei. Wir weichen aus und segeln los. Es ist nicht der Start, den wir geplant haben, aber wir sind im Rennen.

Dann ertönt die Pfeife.

Ich drehe mich um und kann es nicht glauben. Der Schiedsrichter zeigt mit seiner Flagge auf uns. Er ahndet uns. Das ist nicht fair. Der Verstoß lag bei den Engländern, und wir haben alles getan, um den von ihnen verursachten Fehler abzuwenden. Aber ich verschwende keine Zeit für Hypothesen. Wir müssen eine volle Umdrehung machen, um die Regatta fortsetzen zu können. Das Manöver ist komplex, und wir haben es nie trainiert. Während der Vorbereitungen hatten wir derart viel zu tun, und das gehörte nicht zu unseren Prioritäten. Wir führen die Umdrehung langsam und holprig aus, und der Katamaran kippt uns fast zur Seite.

Als wir das Manöver endlich ausgeführt haben und lossegeln, hebe ich den Kopf und muss erkennen, dass wir die Letzten sind und weit hinter dem Regattafeld liegen. Da vorne entwischt mir mal wieder die Goldmedaille. Doch ich rege mich nicht auf. Die Regatta ist zwar kurz, aber es wird sich die Chance ergeben, wieder aufzuholen. Das Wichtigste ist jetzt, nicht durchzudrehen. Ruhe und Vertrauen bewahren. Das ist der neue Plan, der einzig mögliche. Wir werden um unsere Wiederauferstehung kämpfen und das Feld von hinten aufräumen.

Kapitel 1

Disziplin zu Hause, Freiheit auf dem Fluss

Alles begann als ein Spiel. Ein Spiel, das uns frei und glücklich machte zu einer Zeit, als wir die Bedeutung dieser Worte nicht einmal kannten.

Der Hort unserer Abenteuer begann dort, wo der baumgesäumte Park des Yacht Club Argentino sich über dem Fluss von San Fernando, einem Vorort von Buenos Aires, erhebt und reichte bis in die Unendlichkeit, wenn wir einmal unsere kleinen Boote bestiegen hatten. Mit nur sieben Jahren segelten wir auf dem Luján und danach auf der Flussmündung des riesigen und unüberschaubaren Río de la Plata, der sich etwa zwei Kilometer nach dem Club eröffnete. An genau der Stelle aufzuwachsen, wo sich ein gewaltiger Mündungstrichter aus erdfarbenem Süßwasser zu einem Delta von Inseln, Eilanden, Flüssen und Bächen verästelt, eröffnete mir einen außergewöhnlichen Zugang zu dem, was seit jeher meine große Leidenschaft ist: das Segeln.

Vor dem Fluss und dem Meer erstreckte sich die Bucht des Clubs vor uns, die durch zwei Bojen markiert war. Das war die Grenze, die uns unsere Eltern gesetzt hatten. Stundenlang fuhren wir Rennen – von Regatten zu sprechen wäre anmaßend – zwischen einer dieser Bojen und der Rampe, wo wir unsere Boote zu Wasser ließen. Die Segelboote, die in der Bucht vor Anker lagen, waren Hindernisse, die es zu überwinden galt. Die Wettkämpfe waren unser Leben, und während der Rennen begannen wir, die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln. Um als Erster ins Ziel zu gelangen, musste man erahnen, aus welcher Richtung mehr Wind kam, und schnell reagieren, sobald er sich drehte. Es gelang uns intuitiv, ohne es wahrzunehmen.

Im Fieber des Wettkampfes kollidierten wir manchmal mit den Rümpfen der festgemachten Boote oder verfingen uns in deren Ankerseilen. Normalerweise war niemand an Bord, und wir machten uns schnell davon, um das Ungeschick zu vertuschen. Aber manchmal stießen wir gegen das Boot von jemandem, der vom Wiegen des Wassers in seiner Hängematte eingedöst war und lautstark protestierte, wenn es ihn traf. Waren wir es leid, Rennen zu fahren, spielten wir Verstecken auf dem Wasser. Einer von uns zählte mit geschlossenen Augen bis fünfzig und der Rest begann hinter die verankerten Segelboote zu rennen, den Mast hinunterzulassen und sich unter den Segeln zu verstecken.

Auch Fußball, der argentinische Nationalsport, wurde im Club gespielt. Ich spielte genau wie alle anderen, aber hatte im Gegensatz zum Segeln kaum Spaß daran. Mein schmächtiger, großer und schlaksiger Körperbau war auch keine besondere Hilfe. Darüber hinaus trug ich eine Brille. Noch immer erinnert mich eine Narbe an den Hieb, den ich mir selbst versetzt habe, als ich mit zehn Jahren ohne meine Gläser zu spielen versuchte.

»Pass auf, du Blindschleiche, du wirst dir noch wehtun«, hatte mich Martín Billoch an diesem Tag verhöhnt.

Schnell, ziemlich klein und mit einem Seitenscheitel, der seine üppigen blonden Haare bändigte, war Martín zwei Jahre älter und ging mit dem Ball viel geschickter um als ich. Auch beim Segeln war er schneller. Während mir der Fußball egal war, raubte mir seine Überlegenheit auf dem Boot den Schlaf. Kaum lag ich im Bett, suchte ich nach einer Antwort auf die Frage, die mich seit jener Zeit wachhält: Wie kann ich besser segeln?

Es gab noch mehr Kinder, mit denen ich an Land spielte und Abenteuer auf dem Wasser erlebte. Dazu gehörten auch Mädchen. Beim Segeln ergab sich das fast immer ganz natürlich und mit wenigen geschlechtsspezifischen Unterschieden. Nur wenige der Mädchen teilten jedoch unseren Fanatismus. Martín und ich waren nicht nur Konkurrenten, sondern auch Freunde. Er war mein erster Freund auf dem Wasser, wo ich schon immer die besten Stunden meines Lebens verbracht habe.

Das Wochenende begann früh bei uns zu Hause in San Isidro, einem Vorort mit Dorfcharakter, den etwa dreißig Kilometer von der hektischen Metropole von Buenos Aires trennen. Freitags übernachtete Martín bei uns, und nach dem Frühstück am nächsten Morgen liefen wir mit unseren gepackten Taschen los, um den Bus zum Club zu nehmen. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt stiegen wir auf einer menschenleeren Allee aus und begannen einen ewigen Fußmarsch bis zur Einfahrt, die ein Clubangestellter in seinem Kontrollhäuschen bewachte. Mit Vorfreude und beglückt von dem neuen Morgen begaben wir uns endlich auf die Wasserseite des Lebens, wo die Regeln an Land ihre Gültigkeit verloren. Dies war unser geheimer Garten, voll von Geschichten, die niemand außer uns kannte. In der Schule mag ich wie ein schüchterner und eher zurückhaltender Junge gewirkt haben, und zu Hause war ich das jüngste von fünf Geschwistern, die unter der harten Hand eines strengen Vaters aufwuchsen. Doch all das löste sich in Luft auf, sobald wir die Schwelle zum Club überschritten und die Anwesenheit des Flusses spürten.

Der Yachtclub erstreckt sich über die Hälfte einer Halbinsel, die schmal beginnt und zum Ende hin breiter wird. Während wir zu den Schuppen gingen, wo unsere Boote lagerten, konnten wir auf der rechten Seite einige der besten Segelboote bestaunen, die auf dem Río de la Plata fuhren. Wir träumten davon, sie eines Tages zu steuern. Alle ihre Namen kannten wir auswendig und stellten uns epische Regatten, Ozeane und weit entfernte Häfen vor, die wir bald – es war nur eine Frage der Zeit – entdecken würden.

Martín und ich waren zwei Kinder in einem Club von Erwachsenen, der stolz darauf war, einer der ältesten und traditionellsten in Argentinien zu sein. Trotz der Hitze im Sommer gab es damals noch keine Swimmingpools, denn das hätte gegen die Prinzipien verstoßen: Der Segelsport war der einzige und wahre Zweck des Clubs. Das Ausmaß an Respekt, den die Mitglieder des Clubs untereinander pflegten, prallte auf unseren kindlichen Elan. Immer mal wieder beanstandete einer der Erwachsenen, wir sollten aufhören, zu schreien oder zu rennen, oder erinnerte uns daran, dass wir die Bar nicht in Badebekleidung zu betreten hätten. Doch all dies ereignete sich während des Tages, wenn der Club voll von Menschen war. Wenn wir samstags, wie üblich, auf dem Boot einer unserer Eltern übernachteten, gehörten die Nacht und der verlassene Club uns allein. Wir machten die Boote startklar, und wenn niemand mehr wach war, unternahmen wir im Dämmerlicht unsere Spritztouren durch die Bucht. Inmitten der Stille lauschten wir, wie der Rumpf auf das ruhige Wasser schlug, während wir uns auf dem Rücken des Flusses dahingleiten ließen. Das Mondlicht fügte unseren Abenteuern eine geheimnisvolle Prise hinzu.

Bald waren wir die Lieblinge der Clubangestellten, denen wir ein wenig Abwechslung in ihrem sonst so getakteten Arbeitsumfeld bescherten. Sie kümmerten sich um uns und verfolgten aufmerksam die Ergebnisse unserer ersten Regatten. Aber das Beste daran war, dass sie uns nicht mit elterlichen Vorschriften begegneten. Ich erinnere mich an Giménez, der im Segellager arbeitete und uns mit Segeln und Rettungswesten versah. Oder an Ávalos und Urrel, die uns mit den Motorbooten des Clubs schleppten, als wir anfingen, Regatten zu fahren. Und da war die Segellehrerin Ana María, eine Frau von starkem Charakter, mit der wir oft Diskussionen hatten. Sie gehörte zur alten Schule und war bemüht, uns die Bojen-Codes und Schifffahrtskarten beizubringen, theoretische Fragen, die uns kaum interessierten. Das Einzige, was Martín und ich wollten, war zu segeln, den Fluss zu erkunden, und das hatten wir uns selbst beigebracht. Abgesehen von der allgemeinen Hilfsbereitschaft der Clubangestellten gab uns niemand eine besondere Einweisung, als wir anfingen. Eines Tages stiegen wir auf ein Boot und lernten auf dem Wasser, wo wir in Wahrheit hin wollten. Auf diese Weise absolvierten wir, ohne es zu merken, Hunderte von Übungsstunden. Den Mangel an formellem Wissen machten wir durch die Unverfrorenheit echter Abenteuerkinder wett. Wir werden uns viele Male geängstigt haben und sicherlich auch in Gefahr geraten sein, denn der Fluss kann heimtückisch sein. Doch was mir von diesen Tagen vor allem in Erinnerung geblieben ist, ist die Freude am Segeln. Während dieser Jahre hatten wir weder einen Trainer noch folgten wir offiziellen Regeln, und so lernten wir das Segeln ohne Angst vor Fehlern. Dieser ehrwürdige und entlegene Club schenkte uns, ohne es zu wissen, die Möglichkeit, unseren eigenen Rhythmus zu finden.

Die Freiheit, die ich auf dem Fluss erfuhr, stand im krassen Gegensatz zu der Disziplin, die mein Vater Enrique Jorge Lange zu Hause ausübte. Er war ein Ordnungsfanatiker. Bevor wir zu Bett gingen, mussten wir unsere Schränke aufräumen und die Kleidung für den nächsten Tag auf einem Stuhl neben dem Bett zurechtlegen, was er regelmäßig überprüfte. Einmal warf er den Inhalt unserer Kleiderschränke auf den Boden und zwang uns, alles erneut zu ordnen. Das Abendessen war ein feierlicher Akt. Die Familie wartete, bis mein alter Herr von der Arbeit kam und wir alle zusammen an einem großen und perfekt hergerichteten Tisch aßen. Bevor wir uns setzten, überprüfte er unser Haar und unsere Hände, und wer hier durchfiel, musste ins Bad, um nachzubessern. Sein Mittagsschlaf war heilig. Wenn er schlief, war es uns Kindern verboten, im Garten zu spielen. Im Sommer durften wir den Swimmingpool – den meine älteren Geschwister zu Beginn der Saison abgespachtelt und gestrichen hatten – erst benutzen, wenn er aufgestanden war. Meine Freunde hatten Angst vor ihm. Martín erinnert sich noch immer an jene Nächte, in denen er mit dem Bus nach Hause fahren musste, obwohl abgemacht war, dass er bei uns übernachten würde. Das war die Strafe meines Vaters dafür, dass wir uns schlecht benommen hatten.