Über das Buch

»Musik ist die Luft, die ich atme.« Clara Schumann.

Leipzig, 1835: Die sechzehnjährige Pianistin Clara spielt vor ausverkauften Häusern. Fünf Monate lang ist sie mit ihrem Vater auf Tournee. Was wie ein harmonisches Miteinander wirkt, ist in Wirklichkeit die reinste Hölle. Die beiden sind heillos zerstritten. Der Grund: Clara ist verliebt. Ihr Vater ist dagegen, dass sie sich jetzt schon bindet. Und schon gar nicht an diesen zwar hochbegabten, aber absolut lebensuntüchtigen Robert Schumann. Doch Clara, die nicht nur die musikalische Begabung, sondern auch den Eigensinn ihres Vaters geerbt hat, wehrt sich und kämpft für ihre Liebe.

Die Geschichte einer der bedeutendsten Virtuosinnen unserer Zeit – kenntnisreich und hochemotional erzählt.

Über Beate Rygiert

Beate Rygiert wurde in Tübingen geboren und wuchs im Nordschwarzwald auf. Mit zwölf schrieb sie in ihr Tagebuch: »Eigentlich möchte ich Schriftstellerin werden!« Diesen Traum verwirklichte sie nach dem Studium der Musik- und Theaterwissenschaft und der italienischen Literatur in München und Florenz und nach einigen Jahren als Operndramaturgin an verschiedenen deutschen Bühnen. Heute lebt sie mit ihrem Mann im Schwarzwald, in Andalusien und immer wieder in Frankreich.

Im Aufbau Taschenbuch erschien bereits ihr Roman »George Sand und die Sprache der Liebe«.

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Beate Rygiert

Die Pianistin

Clara Schumann und die Musik der Liebe

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Zweiter Teil

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Dritter Teil

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Epilog

Nachwort

Impressum

Wir sind getrennt

Wie zwei Sterne am Firmament:

Der eine folgt dem andern nach

Bei Nacht und bei Tag.

ROBERT AN CLARA,
WIEN AM 1. DEZEMBER 1838

Ich möchte die Musik mit der Liebe vergleichen!

Ist sie gar zu schön, macht sie Schmerzen.

Das Herz möchte mir springen manchmal dabei.

CLARA IN IHREM TAGEBUCH,
BERLIN AM 20. SEPTEMBER 1839

Erster Teil

… ich fühlte es längst »es muss werden«.
Nichts in der Welt soll mich irre machen.
Und dem Vater will ich zeigen, dass ein jugendliches Herz
standhaft sein kann!

CLARA AN ROBERT,
15. AUGUST 1837

Schnoerkel_fmt1.tif1. Kapitel Schnoerkel_fmt.tif

Hamburg: Anfang April 1835

Der Saal vibrierte vor Erwartung.

Clara stand hinter dem Bühnenvorhang, durch den die Geräusche aus dem Zuschauerraum gedämpft zu ihr drangen. Leises Geplauder, vereinzeltes Lachen und Hüsteln, das Rascheln von Kleidern und Programmzetteln – all das erfüllte die Fünfzehnjährige mit jener Mischung aus Nervosität und Erregung, die sie so liebte, seit sie vor vier Jahren in ihrer Heimatstadt Leipzig zum ersten Mal öffentlich aufgetreten war. Dies war Hamburg, eine weitere Station auf der nun schon fünf Monate dauernden Konzertreise durch Norddeutschland, und sie war gespannt, ob man sie hier ebenso lieben würde wie vor drei Jahren in Paris, wo sie Chopin kennengelernt hatte. Oder wie in Hannover, wo sie vor Kurzem noch bei Hofe gefeiert worden war wie eine kleine Königin.

»Bist du bereit?« Ihr Vater stellte sich neben sie und lugte durch einen Spalt im Vorhang. »Ausverkauft«, murmelte er erleichtert. Wie immer hatte Friedrich Wieck den Saal selbst gemietet und das Kammerorchester engagiert. Er veranstaltete das Konzert auf eigene Rechnung und trug das gesamte finanzielle Risiko.

»Wollen wir?« Der Inspizient schob seinen Kautabak von einer Backentasche in die andere, die Hand schon am Seil, um den Vorhang aufzuziehen. Friedrich Wieck sah auf die Taschenuhr, die er seit einer Viertelstunde nicht mehr aus der Hand gelegt hatte.

»Gib auf die Tempi acht«, raunte er seiner Tochter zu. »Nicht, dass dir die Läufe wieder so schnell geraten wie neulich in Hannover.«

Clara wandte sich ab. Sie war wütend auf ihren Vater. Nicht wegen der ständigen Maßregelungen. Immer hatte er etwas zu beanstanden, auch wenn sie noch so gut spielte. Die Tempi, der Anschlag, die Haltung, einen Akzent hier oder dort. Sie nahm ihm das nicht übel, so war er schließlich immer gewesen, und im Grunde wusste sie, dass sie nur deshalb so weit gekommen war, weil er sich nicht zufriedengab, mit nichts. Übel nahm sie ihm, dass er ihr Roberts Briefe vorenthielt und ihre eigenen Zeilen an ihn las. Und jeden ihrer Schritte kontrollierte. Erst am Nachmittag hatten sie einen erbitterten Streit darüber geführt, warum Clara Robert Schumann nicht einen Abzug von der hübschen Radierung schicken durfte, die der Lithograph Julius Giere in Hannover von ihr angefertigt hatte, und die im Foyer verkauft wurden. Warum konnte alle Welt sie haben und Robert nicht?

»Du bist eitel«, hatte ihr Vater sie getadelt.

Wäre sie eitel, würde sie es sich nicht gefallen lassen, schon seit Wochen im selben Kleid zu konzertieren. Nein, eitel war sie bestimmt nicht. Aber verliebt …

Der Vorhang öffnete sich. Im Zuschauerraum erloschen die Lichter. Claras Herz machte einen kleinen Sprung, und diese wunderbar prickelnde Spannung stieg in ihr auf, wie damals, als sie heimlich am Champagnerglas ihres Vaters genippt hatte. Dies war der Moment. Ihr Moment. Und dann geschah es wieder, das, was Robert »das Magische« nannte. Von der kleinen Zehe bis zu ihrem kunstvoll gescheitelten und am Hinterkopf festgestecktem Haar begann eine Energie sie zu durchfluten, für die sie keine Worte hatte.

Sie trat ins Licht und verbeugte sich. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich das Publikum erst an ihre Erscheinung gewöhnen musste. Sie konnte das Staunen der Hamburger Konzertbesucher förmlich fühlen: So ein zartes Kind will einen ganzen Abend bestreiten? Sie trug das hellgelbe Kleid, das ihr am Busen langsam zu eng wurde, und dessen bauschige Gigot-Ärmel beim Klavierspielen eigentlich ein wenig störten, was sie allerdings nie und nimmer zugegeben hätte. Ihr Vater wäre imstande, sie in einem altmodischen Empirekleid auftreten zu lassen, wenn er das wüsste. Das Dekolleté ließ der Mode entsprechend die Schultern frei, geraffte Stoffbahnen quer über ihre Brust betonten ihre erblühende Weiblichkeit. Auch wenn sie Abend für Abend dasselbe Kleid trug, das tagsüber sorgfältig ausgelüftet wurde – es entsprach der allerneuesten Mode.

Als der Applaus verebbte, trat sie zum Hocker, rückte ihn zurecht, breitete den weiten Rock aus und nahm Platz. Sie hob die Hände über die Tasten. Im Saal war es so still geworden, man hätte eine Stecknadel fallen gehört. Einen Moment lang genoss sie die Spannung. Dann begann sie zu spielen.

Wie immer eröffnete sie mit einem Bravourstück, die Leute sollten von Anfang an wissen, mit welcher Virtuosin sie es zu tun hatten. Nichts war dazu geeigneter als die Variations brillantes von Henri Herz. Ihr Spiel ließ vergessen, dass es bessere Instrumente gab als diesen Flügel, den ihr Vater vom Konservatorium ausgeliehen hatte. Clara hatte während der vergangenen Tage täglich auf ihm geübt. Sie kannte ihn nun bis hin zum letzten leicht klemmenden Dämpfer und hatte ihn sich zum Freund gemacht. In Paris vor zwei Jahren hatte sie auf viel schlimmeren Kästen brillieren müssen.

Niemals war sie so glücklich, als wenn sie spielte. Pianoforte zu üben war ihr Trost und Zuflucht, so lange sie denken konnte. Und das einzige Mittel, ihren Vater dazu zu bringen, sie zu lieben. Obgleich er es nicht zeigen konnte und sie, statt zu loben, mit Geld belohnte, wenn sie in seinen Augen etwas gut gemacht hatte. Sie und ihre beiden jüngeren Brüder mussten sich ihr Taschengeld ebenso wie seine Zuneigung erspielen. Wobei sie immer die Glücklichere war und oft genug die Süßigkeiten, die sie von diesem Geld kaufte, mit ihnen teilte. Ach, wie sie ihre Geschwister vermisste!

»Du bist etwas Besonderes, Clara«, hatte ihr Vater so oft gesagt. Vor allem, nachdem er streng zu ihr gewesen war und mitunter vor lauter Wut die Noten zerrissen hatte, wenn sie seiner Meinung nach nicht ordentlich spielte, sie zwang, tagelang nur Tonleitern und Kadenzen zu üben, ehe er ihr wieder erlaubte, etwas Richtiges unter die Finger zu nehmen. »Du bist dazu geboren, es ganz nach oben zu schaffen, dorthin, wo die Meister thronen. Clara, die Helle, die Leuchtende. Was glaubst du, warum ich dir diesen Namen gegeben habe?«

Sie beendete Herz’ Variationen mit der schier unspielbaren, rauschenden Kadenz so perlend und leicht, als gäbe es nichts Leichteres. Die Stille danach war ein Loch, in das man sich fallen lassen konnte. Bis der Applaus sie auffing und zurück in die Wirklichkeit holte.

Als Nächstes stand Chopin auf dem Programm. Darum hatte sie mit ihrem Vater kämpfen müssen. Er war der Meinung gewesen, dass das Hamburger Publikum zu konservativ für diese Art von neuer Musik war. Die Welt befand sich an einem musikalischen Wendepunkt: Die einen ließen nur das Alte gelten – Mozart, Haydn, Hummel, Scarlatti, selbst Beethoven war vielen schon zu revolutionär. Sie und Robert waren jedoch davon überzeugt, dass die Zukunft den »Neuen« gehörte: Liszt, Chopin, Berlioz, Mendelssohn – und Schumann. Musik, in der sich Virtuosität und Ausdruck der Empfindung die Waage hielten. Musik, die in der Lage war, Gefühle auszudrücken, für die es keine Worte gab. Ohnehin misstraute Clara Worten mehr als allem anderen. Vielleicht hatte sie deswegen bis zu ihrem vierten Lebensjahr geschwiegen, so dass alle dachten, sie sei taub und stumm?

Sie hatte keine Erinnerung mehr an diese frühen Kindheitstage, sondern wusste davon nur das, was ihr Vater ihr erzählte. Auch wie es gewesen war, als ihre richtige Mutter noch bei ihnen lebte, lag hinter einem dichten Schleier aus Vergessenheit verborgen, gemeinsam mit dem Schmerz, den sie damals empfunden haben musste. Ihr Vater sprach stets nur abfällig über Mariane, die inzwischen mit ihrem zweiten Mann in Berlin lebte. Eine Frau, die Mann und Kinder verlässt, war etwas absolut Verwerfliches. Seit der Scheidung hatte Clara sie nicht mehr gesehen, sie schrieben sich hin und wieder Briefe, die ihr Vater natürlich kontrollierte. Doch je älter Clara wurde, desto besser verstand sie ihre Mutter. Friedrich Wieck war ein schwieriger, jähzorniger und herrschsüchtiger Mann, der sich in alles einmischte und keinen Widerspruch duldete. Vielleicht hatte Mariane jene Stärke gefehlt, die man brauchte, um neben einem solchen Mann zu bestehen? Stark genug, um wegzugehen, war sie jedenfalls gewesen. Nun würden sie sich nach so langer Zeit endlich wiedersehen, falls ihr Vater es sich nicht im letzten Moment anders überlegte. Denn ihre nächste Station hieß Berlin.

Nach Chopins Nocturne Nr. 2 in E-Dur opus 9, bei dem sie das Instrument geradezu zum Singen brachte, verblüffte sie ihre Zuhörer mit zwei Préludes des Exilpolen in C- und F-Dur, die virtuoser nicht hätten sein könnten. Um so etwas spielen zu können, benötigte man Kraft, und wenn man es ihr auch nicht ansah, so hatte sie eine Menge davon. Das kam von den täglichen Wanderungen, die ihr Vater ihr von klein auf verordnet hatte. Drei Stunden täglich draußen an der frischen Luft in strammem Tempo unterwegs sein. Drei Stunden üben. In der restlichen Zeit erhielt sie Gesangsunterricht und spielte Geige. Wurde von ihrem Vater in Musikgeschichte und Rechenwesen unterwiesen. Außerdem legte Wieck Wert darauf, dass sie Fremdsprachen lernte. Als er vor drei Jahren in Paris versucht hatte, Clara in die Salons einzuführen, war ihm der Mangel seiner Sprachkenntnisse schmerzlich bewusst geworden. Außer Französisch lernte Clara Englisch, unterrichtet wurde sie von Emilie List, die mit ihrer Familie eine Zeit lang in Amerika gelebt hatte. Denn Friedrich Wieck hatte große Pläne mit seiner Tochter: Er wollte mit ihr die Welt erobern, und auf den internationalen Tourneen, die er plante, musste sie sich verständigen können.

Der erste Teil des Konzerts war zu Ende. Clara erhob sich, trat an die Rampe und machte einen tiefen Knicks. Verharrte in demütiger Haltung und sog doch voller Stolz den Applaus in sich ein, bis in die letzte Pore. Richtete sich auf, verbeugte sich wieder, und ging von der Bühne ab.

Dreimal wurde sie zurückgerufen, dann schloss sich der Vorhang für den Orchesterumbau. Denn im zweiten Teil würde sie nicht nur Friedrich Kalkbrenners Klavierkonzert in D-Moll spielen, sondern als Krönung ihr eigenes Konzertstück, das einmal ein ausgewachsenes Klavierkonzert werden sollte. Wenn sich das Orchester nur einigermaßen Mühe gäbe, würde dieser Abend gelingen.

»Du bist nicht bei der Sache«, blaffte ihr Vater sie an, als sie in die Kammer kam, die als Garderobe diente. »Ich möchte zu gern wissen, wo du mit deinen Gedanken bist. Du kannst besser spielen.«

Sie sah sich im Spiegel vor Zorn erbleichen. Dennoch schwieg sie. Schweigen war schon immer ein probates Mittel gewesen, sich ihrem Vater zu widersetzen. Er ging ihr so unsäglich auf die Nerven. Wenn sie nur endlich ein Zeichen von Robert bekäme. Sie war sich sicher, dass er längst geschrieben hatte, auch wenn ihr Vater es tausendmal verneinte.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und schloss die Augen. Am Flügel mochte es wirken, als tanzten ihre Hände nur zum Spaß über die Tasten, und doch war jedes Konzert ein Kraftakt. Sie lockerte ihre Schultern, trank von dem Malventee, um den sie gebeten hatte. Er war lauwarm geworden und sauer, man hatte vergessen, Zucker hineinzutun. Sie sah ihren Part des Klavierkonzerts durch, den sie gleich auswendig spielen würde, nicht, weil sie fürchtete, hängen zu bleiben, sondern um in ihren Gedanken nicht gestört zu werden. Als ihr Vater die Garderobe verließ, um den Flügel nachzustimmen und mit dem Kapellmeister an der ersten Geige die letzten Absprachen zu treffen, atmete Clara auf. Robert, dachte sie. Wenn du doch nur hier sein könntest. Und dann malte sie sich aus, wie es wäre, wenn er ihr tatsächlich heimlich hinterhergereist wäre und unerkannt mitten im Publikum säße …

Die Glocke ertönte und riss sie aus ihren Träumereien. Sie hörte die vielen Schritte, die an ihrer Kammer vorübereilten. Herr, mein Gott, lass das Orchester gut spielen heute Abend, betete sie. Die Probe am Nachmittag war mühsam gewesen, wie immer würde sich am Ende alles fügen. Hoffentlich.

Die Musiker hatten bereits ihre Plätze eingenommen, als sie die Bühne betrat, sich verbeugte und an den Flügel setzte. Der Kapellmeister hob seinen Geigenbogen, und auf sein Zeichen ging es los. Wie von einer Spieluhr nudelten die Musiker das Thema herunter. Zum Glück stimmte wenigstens das Tempo einigermaßen. Ihr Einsatz kam. Wie eine Guillotine ließ sie ihre Hände in Oktaven auf das Instrument hinabsausen und sorgte dafür, dass ihre brausenden Akkordläufe alle Zweifel daran beseitigten, dass es sich hier um erstklassige Konzertliteratur handelte und nicht um Jahrmarktsmusik. Ihr Elan übertrug sich, Clara riss sie mit, das Orchester und ihr Publikum, von dem sie spüren konnte, wie schwerfällig es war. Im langsamen zweiten Satz gaben sogar die Bläser ihr Bestes, und im Finalsatz überraschten die Musiker sich ganz offensichtlich selbst damit, wie viel Freude es doch machen konnte, ein Konzert nicht einfach nur herunterzufideln, sondern dabei auch zu glänzen.

Und dann kam der Höhepunkt des Abends – ihre erste eigene Komposition von Bedeutung. Sie hatte zwar bereits mit neun Jahren Klavierstücke geschrieben und später im Unterricht bei Musikdirektor Dorn, bei dem sie Kontrapunkt und Harmonielehre studierte, noch weitere Werke – für sie zählte allerdings nur ihr Konzertsatz, bei dem ihr niemand anderes als Robert bei der Orchesterinstrumentierung geholfen hatte. Robert Schumann. Der Mann, den sie liebte, seit er vor Jahren im Haus ihres Vaters zwei Zimmer bezogen hatte, um bei Friedrich Wieck das zu werden, was er im Grunde schon war: ein Genie.

Der Beifall war nicht so tosend wie in Hannover, aber dennoch beachtlich. Fünfmal musste sie vor den Vorhang treten und am Ende wurde nach kurzem, heftigem Wortwechsel mit dem Kapellmeister Claras Konzertsatz wiederholt. Sie gab alles, so wie immer, löste sich in den Klängen, Akkorden, Trillern und Modulationen auf, und spätestens, als sie die Kadenz so frei und ungewöhnlich wie noch nie improvisierte, vergaß sie die Mühen der Reise, die ermüdenden Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, das schlechte Essen, die unbequeme Herberge. All das zählte nicht mehr angesichts des Glücks, mit so vielen Menschen ihre Musik zu teilen.

»In welchem Alter haben Sie denn angefangen, Klavier zu spielen?«

»Mit fünf Jahren«, antwortete Clara und zog im Geiste eine Grimasse. Würde sie immer und ewig dieselben uninteressanten Fragen beantworten müssen?

»Tun Ihnen denn nicht die Finger weh?«

Im Foyer drängten sich die Neugierigen um sie und bestaunten sie wie ein Tier im Zoo.

»Spielen Sie eigentlich nichts von Hummel, Mozart oder Haydn?«

»Wie lange müssen Sie eigentlich täglich üben, Sie armes Kind?«

Hier mischte sich ihr Vater ein.

»Meine Tochter ist kein armes Kind«, erklärte er ungehalten, und Clara warf ein: »Ich habe in meinem ganzen Leben nie mehr als drei bis vier Stunden am Tag geübt. Und das tue ich wirklich gern.«

»Vergangenes Jahr war die Belleville hier in Hamburg. Sie spielt ja so wunderschön. Haben Sie die schon gehört?«

Es fiel Clara schwer, freundlich zu bleiben. Anna Caroline de Belleville war elf Jahre älter als sie, und alle Welt pries sie als das Klavierwunder schlechthin. Robert hatte über sie geschrieben und mit ihrem Spiel verglichen, und sie wusste bis heute nicht, ob er sie ärgern wollte oder ob sie geschmeichelt sein sollte. Das Spiel der Belleville ist bei weitem technisch-schöner; bei ihr erscheint jede Passage als ein Kunstwerk aus dem Ganzen, bis ins feinste ausgearbeitet. Das hatte gesessen. Das Spiel der Belleville sei technisch schöner? Auf der Stelle hatte sie an ihrer Technik gefeilt und sich an dem aufrecht gehalten, was Robert danach geschrieben hatte: Der Ton der Belleville schmeichelt dem Ohre, ohne mehr in Anspruch zu nehmen, der der Clara senkt sich ins Herz und spricht zum Gemüt. Jene ist dichtend, diese das Gedicht. Eines Tages würde Clara sie vom Sockel fegen, das hatte sie sich geschworen.

»Nein, leider noch nicht«, antwortete sie und wandte sich von der Fragerin ab.

Endlich erschien eine Gruppe von Hamburger Honoratioren samt Gattinnen und Töchtern, und eine freundliche Dame, die ihr als die Ehefrau eines der wichtigeren Konsuln vorgestellt wurde, nahm sie beiseite.

»Sie sind ein Wunder«, sagte die Dame. »Wie schaffen Sie das nur? Ich meine, so ein Abend muss Ihnen doch lang werden dort vorn an dem Instrument. Sie sind ja so zart.«

»Meine Clara ist ein Wunder«, erklärte Wieck mit seinem sächsischen Akzent, dessen Clara sich seit ihrer Frankreichreise nur zu bewusst war. In Hannover hatten sie über ihren Vater gelächelt. Kaum hatte sie gespielt, war ihnen das Lachen vergangen.

»Ich werde nie wieder mein Pianoforte anrühren«, erklärte ihre Tochter, die ungefähr im gleichen Alter war wie Clara, im Brustton der Überzeugung. »Nachdem ich Sie gehört habe, werde ich es aufgeben.«

»Ach was, Henrike«, wies ihre Mutter sie zurecht. »Sagen Sie, Fräulein Wieck, haben Sie denn von unserem schönen Hamburg überhaupt schon etwas gesehen?«

»Nein, dazu war noch keine Gelegenheit.« Clara dachte an die mühseligen Vorbereitungen, die in jeder neuen Stadt auf sie und ihren Vater warteten, ehe es ihnen gelang, ein Konzert zu veranstalten. Zuerst mussten sie die wichtigen Persönlichkeiten der Stadt, deren Urteil ihnen die Türen öffnen konnten, für sich gewinnen. Ihr Vater putzte Klinken, führte Gespräche, verhandelte und warb, und Clara spielte in privaten Kreisen, unentgeltlich zunächst, für ein Abendessen oder auch nur für einen Schluck Wasser, mit dem Ziel, Verbündete zu finden. Bis sich jemand fand, der sich für ihre Pläne einsetzte und andere überzeugte, ihnen einen Konzertsaal zu vermieten, Musiker zu vermitteln und sie in der Presse anzukündigen. In Hamburg schien das Interesse groß und Wieck hatte es für angemessen gehalten, seine Tochter gleich achtmal aufs Podium zu schicken.

»Ach, Sie haben noch keine unserer Sehenswürdigkeiten besucht?« Die Konsulin schien geradezu entsetzt. »Es wäre uns ein Vergnügen, Sie morgen ein wenig herumzuführen«, schlug sie vor. »Danach könnten wir auf dem neuen Jungfernstieg eine Schokolade trinken.«

»Sehr gern«, antwortete Clara rasch, ehe ihr Vater einschreiten konnte. Und zwar aus purem Widerspruchsgeist. »Das würde mir große Freude machen.«

»Dann ist es abgemacht.« Die Konsulin strahlte. »Wäre es Ihnen um halb elf recht? Ich lasse Sie abholen und …«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen meine Tochter nun leider entführe«, unterbrach Friedrich Wieck sie mit Bestimmtheit. »Sie muss sich dringend zurückziehen und ausruhen.«

»Aber gewiss.« Die Dame lächelte Clara mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid an. »Bis morgen, Fräulein Wieck. Und schlafen Sie gut.«

»Dieser Gauner von einem Konzertmeister will tatsächlich nachverhandeln«, schimpfte Wieck auf dem Weg in die Herberge. Die Droschke rumpelte in ein Schlagloch und schleuderte sie auf den Sitzen hin und her. »Und das alles nur, weil du unbedingt deinen Konzertsatz wiederholen musstest. ›Das war nicht abgesprochen‹«, äffte er den Musiker nach. »Als ob die fünf Minuten sie umbrächten.«

»Zwölf Minuten«, warf Clara ein. »Mein Konzertsatz dauert zwölf Minuten.« Manchmal konnte sie nicht anders und war genauso pedantisch wie ihr Vater. »Und außerdem hab das nicht ich entschieden, sondern du.«

»Musst du eigentlich immer das letzte Wort haben?«

»Hat es dir denn gefallen?« Clara hasste sich für diese Frage. Wann würde sie endlich aufhören, sich nach der Anerkennung ihres Vaters zu sehnen? Robert war es, dem sie gefallen wollte. Doch Robert war nicht hier. »War es denn nicht gut?«, setzte sie nach. Plötzlich fühlte sie sich den Tränen nahe.

»Natürlich war es gut. Das ist ja wohl das Mindeste! Wozu habe ich sonst all die Jahre meines Lebens geopfert? Damit du am Ende nicht gut spielst?« Wieck betrachtete sie genauer, um herauszufinden, was in sie gefahren war. Clara wandte den Kopf ab. »Sag mal, heulst du jetzt etwa?«

»Ich heule nicht«, murmelte sie. Und das stimmte. Auch wenn ihr noch so danach war, geweint hatte sie schon seit Jahren nicht mehr.

Warum besteht das Leben nicht ausschließlich aus Konzerten? Wenn sie doch nur immerzu spielen könnte. Einfach mit den Tönen davonschweben.

»Es versteht sich ja wohl von selbst, dass du da nicht mitgehst«, sagte ihr Vater, als sie schon in den Betten lagen. »Was für eine verrückte Idee für eine Künstlerin wie dich, mit fremden Leuten Schokolade trinken zu wollen. Du wirst absagen.«

»Das werde ich nicht!«

»Dann tu ich es!« Friedrich Wieck warf sich zornig auf seiner Strohmatratze herum. »Du hast keine Zeit für einen solchen Unsinn. Schokolade kannst du zu Hause im ›Coffe Baum‹ wieder trinken. Morgen früh wirst du erst üben, danach geht’s an die frische Luft und am Nachmittag ruhst du dich aus. So wie immer. Und damit Schluss.«

»Nichts gönnst du mir!«, gab Clara zurück. »Einen einzigen Tag werde ich bestimmt ohne üben auskommen.«

»Und genau das zeigt mir, was für ein dummes Kind du noch immer bist«, schmetterte Wieck sie ab. »Will erwachsen sein mit ihren fünfzehn Jahren, und hat doch nicht für so viel Verstand. Weißt du nicht, dass du nur da oben stehst und die Leute Geld dafür bezahlen, dich spielen zu hören, weil du Spitzenleistung bringst? Der Körper ist ein faules Tier, sobald du ihm Ruhe gönnst, wird er fett und träge. Statt Schokolade zu trinken, wirst du einen strammen Marsch absolvieren, von mir aus über den Jungfernstieg oder über irgendeinen dieser Wälle hier. Nur ein starker Körper ist dem gewachsen, was du noch vor dir hast …« Clara steckte ihren Kopf unter das Kopfkissen und biss in das feste Leinen, um nicht laut loszuschreien. So konnte das noch ewig weitergehen, sie kannte jeden einzelnen dieser Sätze. Dass nur Disziplin und Ausdauer sie an die Spitze des Olymps bringen würden. Und natürlich – dass sie alles nur ihm verdankte, ihrem Vater, der ihr, seit sie fünf Jahre alt war, sein Leben gewidmet hatte. Und was war sein Dank dafür? »Eine störrische, unbesonnene und nachlässige Tochter«, schloss er seine Tirade. »Im höchsten Grade unfolgsam, eigensinnig und voller törichter Widerrede. Du wirst da morgen nicht mitgehen, das ist mein letztes Wort.«

Er schrieb der Konsulin in ihrem Namen, wie sehr sie es bedauere, aber ein Anflug von Kopfschmerzen zwinge sie leider, ihre freundliche Einladung abzusagen. »Die Kunst steht über allem«, schrieb er, und dass man die Besucher des heutigen Konzerts nicht enttäuschen dürfe. Blabla, blabla. Ihre ergebenste Clara Wieck.

Das Wetter war schön, und damit sie der Konsulin ja nicht in die Arme liefen, bezahlte Friedrich Wieck eine Droschke, die sie vor das Dammtore brachte, und gemeinsam wanderten sie einen der vielen Wälle an irgendeinem Wasser entlang, Clara hatte vergessen, ob es ein Kanal war, die Innen- oder Außenalster oder womöglich die Elbe. Und es war ihr auch einerlei.

Sie gingen schweigend, Clara hing ihren Gedanken nach. Wenn sie ehrlich war, dann bedauerte sie es kein bisschen, nicht mit der Hamburger Dame und ihrer Tochter über die Esplanade oder den Jungfernstieg zu flanieren und Konversation zu machen. Im Grunde mochte sie die täglichen Wanderungen als Ausgleich zum Sitzen in der Kutsche oder am Pianoforte, ihr Körper war daran gewöhnt, ihre Sinne wurden klar dabei und ihre Gedanken ordneten sich spätestens nach dem ersten Kilometer. Zum Glück ließ ihr Vater sie in Ruhe und hielt den Mund. Eine salzige Böe fuhr ihr unter die Schute, eine modernde Haube aus geflochtenem Stroh, die hinten genügend Raum für die Hochsteckfrisur bot und sich vorne trichterförmig öffnete. Clara band sie mithilfe der Seidenbänder unter ihrem Kinn etwas fester. Der Wind roch nach der großen, weiten Welt und jagte ein paar frühlingshafte Wolken über den stahlblauen Himmel. Eigentlich, so dachte sie resigniert, waren ihr Vater und sie sich in vielen Dingen einig. Nur nicht in der Hauptsache. Und die ging ihre Zukunft an. Diese Hauptsache hieß Robert.

Zurück in ihrer Herberge fanden sie ein Bouquet aus Veilchen vor und eine zierliche Phiole mit violettem Inhalt. Verehrtes, liebes Fräulein Wieck, stand auf der beigefügten Karte. Meine Tochter und ich sind untröstlich zu hören, dass Sie sich nicht wohl befinden. Darf ich Ihnen die Tinktur aus wilden Veilchen empfehlen? Auf die Stirn getupft, nimmt sie den Kopfschmerz alsbald hinweg, das wusste schon die Heilige Hildegard von Bingen.

Gerührt versenkte Clara kurz ihr Gesicht in das Bouquet, atmete tief den Duft der Blüten ein und fühlte einen Stich schlechten Gewissens.

»Hoffentlich erzählt das dumme Frauenzimmer die Sache nicht herum«, knurrte ihr Vater. »Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist Gerede über Migräneanfälle der berühmten Clara Wieck.«

»Hättest du diesen Unsinn eben nicht geschrieben«, gab Clara ungnädig zurück. »Ist denn sonst keine Post für mich gekommen?«

Wieck schenkte ihr einen langen, schwer zu deutenden Blick.

»Mutter hat geschrieben«, sagte er schließlich. »Zu Hause sind alle gesund. Aber das interessiert dich ja wohl nicht. Oder?«

Claras Lippen zitterten. Nein, was Clementine schrieb, ihre Stiefmutter, gerade mal elf Jahre älter als sie, interessierte sie nicht im Geringsten. Wenn sie nur mit Sicherheit wüsste, dass ihr Vater ihr Roberts Briefe vorenthielt. Dann müsste sie jetzt nicht daran zweifeln, ob er ihr vielleicht wahrhaftig nicht mehr schrieb. Hatte er sie womöglich vergessen? War etwas dran an dem Gerede, das sie vor ihrer Abreise erreicht hatte?

»Falls du Herrn Schumann meinst«, fuhr ihr Vater grausam fort, »von dem kam keine Post. Und das ist gut so. Schließlich ist er kein Umgang für dich.«

»So?« Wider besseres Wissen fuhr sie zornig herum. »Und warum nicht? Hast du nicht selbst immer wieder gesagt, was für ein ausgezeichneter Musiker er ist?«

Friedrich Wieck betrachtete seine Tochter aufmerksam und ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Ein ausgezeichneter Musiker könnte er sein, wenn er nicht so faul und aberwitzig wäre. Statt zu studieren, geht er in die Wirtshäuser und hängt mit seinen Davidsbündlern herum.« Er lachte trocken auf.

»Du bist immerhin selbst beigetreten«, wandte Clara ein. Vor einem Jahr hatte Robert die Idee zu diesem Bund gehabt, in dem sich viele Anhänger der neueren Kunstströmungen gegen das Philistertum der Konservativen zusammengetan hatten. Jeder hatte einen Phantasienamen angenommen, ihr Vater hieß »Meister Raro«, sie war »Chiarina« und Robert hatte sich gleich zwei Namen gegeben für die beiden unterschiedlichen Seiten seines Charakters: »Eusebius« und »Florestan«. Wieso schimpfte ihr Vater jetzt auf die Davidsbündler, wo er doch selbst einer von ihnen war?

»Ja, weil ich dachte, da käme etwas Vernünftiges bei heraus«, erklärte Friedrich Wieck. »Inzwischen weiß ich aber, dass das Wirrköpfe sind, die den Davidsbund nur zum Vorwand nehmen, um sich bis tief in die Nacht hinein nicht nur an ihren Reden, sondern vor allem am Bier zu berauschen, statt etwas Ordentliches für die Sache zu leisten. Und ich muss leider sagen, dass Robert Schumann da ganz vorne mit dabei ist. Nein, Clara, es sieht ganz so aus, als hätte der liebe Gott seine Gaben an diesen Menschen vollkommen unnütz verschenkt. Beharrliches Arbeiten scheint Herrn Schumann nicht zu liegen. Und glaube mir, liebes Clärchen, selbst ein Genie hat Ausdauer und Fleiß bitter nötig. Also sieh zu, dass du in den Konzertsaal zum Üben kommst. Und schlag dir diese Schumann-Flausen aus dem Kopf. Denk lieber an heute Abend. An dein Publikum. Und dass eins klar ist: Heute Abend spielst du eine deiner Phantasien als Zugabe. Oder sonst irgendein Solostück. Sonst bleiben am Ende deiner acht Konzerte kaum fünfzig Thaler übrig.«

Der prächtige Saal lag im Dämmerlicht, als sie auf die verwaiste Bühne trat, sich an den Flügel setzte, und ihn mit ein paar Geläufigkeitsübungen zum Leben erweckte. Sie gönnte sich den Luxus einiger ihrer Lieblingsstücke, dann ging sie das Konzertprogramm durch. Überlegte, welche ihrer Kompositionen sie als Zugabe vorbereiten sollte.

Ihr Blick glitt über die leeren Stuhlreihen des Zuschauerraums. Sie dachte so fest an Robert, dass ihr auf einmal war, als säße er dort hinten im Halbdunkeln, ganz allein, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf leicht geneigt …

Natürlich bildete sie sich das nur ein. Aber auf einmal kam ihr eine Idee. Sie würde Roberts Toccata opus 7 spielen, die ihr Vater wegen seiner gewagten Harmoniefolgen so verabscheute. Dieses Stück war von einer geradezu aberwitzigen technischen Schwierigkeit, knapp fünf Minuten lang und genau das Richtige, um dem Publikum den letzten Stoß zu versetzen. Und ihren Vater grenzenlos zu ärgern. Ja, genau das würde sie tun.

»Du bist eine ausgesprochen dumme Gans«, tobte Wieck. »Statt dich dem Publikum bei jeder Gelegenheit als Komponistin zu präsentieren, knallst du ihm diesen Unsinn um die Ohren. Ein vollkommen unausgegorenes Stück, das wie kein anderes beweist, was für ein Wirrkopf dieser Robert Schumann ist.«

Zu allem Überfluss war am Ende eine Bassseite des Flügels gerissen, und Friedrich Wieck konnte zusehen, wie er das Instrument bis zum nächsten Abend wieder flottkriegte. Für solche Fälle führte er stets ein Köfferchen mit Spezialwerkzeugen mit sich, man konnte schließlich nicht wissen, ob man vor Ort ein anständiges Instrument antreffen würde oder eine halbe Ruine, die man erst restaurieren musste. Da Wieck in Leipzig eine Musikalienhandlung betrieb und auch mit Flügeln handelte, ließ er sich an die wichtigeren Orte einen von zu Hause nachschicken oder bereits im Voraus in eine bestimmte Stadt liefern, in der berechtigten Hoffnung, das Instrument vor Ort zu einem guten Preis verkaufen zu können, nachdem Clara darauf brilliert hatte. In Hamburg hatte er jedoch die Kosten gescheut und einen abgenudelten Flügel vom Konservatorium ausgeliehen. Friedrich Wieck bereute es bereits und hoffte, dass kein weiterer Schaden entstehen würde.

»Den Leuten hat’s gefallen.« Clara war so vergnügt wie lange nicht mehr. Es war ein Triumph gewesen. Und zwar für Robert und für sie.

Sie hörte nicht mehr zu, was ihr Vater alles zu bemängeln hatte. Wenn er zornig war, wurde er ungerecht. Clara wusste seit Langem selbst, wo sie geglänzt hatte und was sie hätte besser machen können. Sie war keineswegs eine dumme Gans, sondern kannte ihre Stärken und Schwächen ganz genau. Ihr Vater brauchte sie nicht anzuspornen, niemand brauchte das, denn es gab für sie nichts Schöneres, nichts Größeres, als Musik in ihrer Reinform. Schon früh hatte sie ein inneres Bild oder besser einen inneren Klang von dem gehabt, was andere Menschen Perfektion nannten. Damals hatten die Menschen um sie herum noch geglaubt, sie wäre taub. Aber das war sie nicht. Sie hörte sehr gut, zu gut. Sie hörte Vaters Geschrei, das Weinen ihrer Geschwister, wenn sie Prügel erhielten, bis sie lernte, das alles auszublenden, ihre Ohren einfach davor zu verschließen. Dann drang nur noch die Musik, die das Wiecksche Haus von morgens bis abends erfüllte, zu ihr durch. Klänge, Harmonien, Zusammenhänge, die sie intuitiv erfasste, und so kam es, dass sie früher Klavier spielen lernte als sprechen. Ihr Vater hatte sie angeleitet, unterstützt, vorangetrieben, hatte ihr inneres Klangbild geschult, bestätigt, korrigiert, und deshalb wusste sie einfach, wann es richtig tönte. Und natürlich ebenso, wann es noch besser werden konnte.

»Heute Abend spielst du diesen Unsinn nicht.«

Doch, sie tat es, an jedem einzelnen der folgenden Abende. Die Hamburger, so spröde sie waren und ihrem Vater viele Schwierigkeiten bereiteten – wenn sie spielte, lagen sie ihr zu Füßen, schienen geradezu auf diesen fulminanten Abschluss zu warten. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Überraschendste zuletzt kommen würde, und da Abend für Abend der Saal bis auf den letzten Platz besetzt war, gingen Friedrich Wieck die Argumente aus.

Als sie in der Postkutsche nach Berlin saßen, lag ein triumphales Abschiedskonzert mit anschließendem Empfang bei Senator Heinrich Merck hinter ihnen, zu dem die Crème de la Crème der Hamburger Pfeffersäcke, wie Friedrich Wieck sie bezeichnete, versammelt gewesen war. Sie hatten dort die freundliche Konsulin mit ihrer Tochter Henrike wieder getroffen und Clara hatte Gelegenheit gehabt, sich für das Kopfwehmittel zu bedanken.

»Wir waren noch zweimal im Konzert«, gestand die Konsulin. »Ich kann mich an Ihrem Spiel nicht satthören. Schade nur, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns ein wenig näher kennenzulernen.« Sie warf Friedrich Wieck einen nachdenklichen Blick zu. »Ein junges Mädchen wie Ihr Fräulein Tochter sollte wohl ein wenig mit Gleichaltrigen zusammenkommen können, meinen Sie nicht?«

Wieck setzte sein charmantestes Lächeln auf.

»Ein Genie hat nun mal andere Pflichten, Gnädigste. Und?«, wandte er sich freundlich an Henrike, »was üben Sie gerade am Pianoforte?«

»Ich hab versucht, mir die Noten von diesem Robert Schumann zu bestellen«, gestand das Mädchen und warf Clara einen scheuen Blick zu. »Aber sie scheinen vergriffen.«

»Wenn Sie es wünschen«, schlug Clara freundschaftlich vor, »erkundige ich mich beim Komponisten, ob er Ihnen eine Kopie zukommen lässt.«

Ein Strahlen lief über Henrikes Gesicht.

»Sie kennen ihn?« Und als Clara bescheiden nickte, fuhr sie fort: »Oh, das wäre einfach wunderbar.«

»Das wäre grober Unfug«, widersprach Friedrich Wieck. Und mit einem fachmännischen Blick auf Henrikes Hände fügte er hinzu: »Einmal davon abgesehen, dass dieses tollkühne Stück für Sie gänzlich unspielbar wäre.«

Henrike wurde über und über rot, Clara konnte nicht sagen, ob vor Scham, oder weil die Worte des Leipziger Klavierpädagogen so überheblich klangen. Natürlich würde Henrike die rasend schnellen Oktaven und Dezimen nicht greifen können, dazu brauchte man große Hände mit einer enormen Spannweite. Clara, wenn auch sonst von zierlicherer Gestalt, besaß solche Hände, sie waren von klein auf sanft gedehnt und trainiert worden, und glücklicherweise waren ihre Finger ungewöhnlich lang. Henrikes Hände hingegen waren zierlich und schmal. Warum jedoch dem freundlichen Mädchen auf diese Weise den Abend verderben?

»Ich werde Herrn Schumann trotzdem fragen«, sagte sie, nachdem ihr Vater sich jemand anderem zugewandt hatte. »Und wenn Sie die Oktaven einfach weglassen …«

»Ich glaube, es ist besser, ich probier es erst gar nicht«, unterbrach Henrike sie entmutigt.

»Von meinem Vater darf man sich nicht einschüchtern lassen«, hatte Clara zu trösten versucht. »Hauptsache ist doch, die Musik macht Ihnen Freude.«

Es wird Zeit, mich von ihm freizumachen, dachte sie, als sie nun nach Berlin fuhren. Dort würde sie endlich ihre Mutter wiedersehen, nicht Clementine, die in Leipzig die Kinderschar hütete, sondern Mariane Bargiel, wie sie nach ihrer zweiten Heirat hieß, die Sängerin und Pianistin, die Mutige, der es gelungen war, sich Friedrich Wieck zu entziehen. Es hatte langer Verhandlungen bedurft, bis Claras Vater endlich eingewilligt hatte, dass seine Tochter sie besuchen durfte. Was war ihre richtige Mutter wohl für ein Mensch? In ihren Briefen hatte sie stets freundlich und liebevoll geschrieben. Ob sie sich ihr womöglich anvertrauen und von ihrer Liebe erzählen könnte?

Denn dass sie eines Tages Robert Schumann heiraten würde, das wusste sie, seit er mit zerzaustem Haar und blitzblauen Augen in ihr Leben gestürmt war. Damals war sie elf und er zwanzig Jahre alt gewesen, strahlend und voller Tatendrang. Er war von Heidelberg, wo er Jura studiert hatte, nach Leipzig gekommen, um von ihrem Vater unterrichtet zu werden, und hatte Freude und Leichtigkeit ins Haus gebracht, Spiele und Gelächter und vor allem Geschichten. Abend für Abend hatte er ihr und ihren jüngeren Brüdern Märchen erzählt, Sagen, wahre Geschichten und Erfundenes, und häufig war von Gespenstern die Rede gewesen, bis sie und ihre Geschwister sich dermaßen gegruselt hatten, dass sie eng aneinander geklammert in ihren Betten lagen und nicht wagten, die Köpfe unter den Decken hervorzustrecken. Damals hatte sie beschlossen, dass sie ihn nie wieder ziehen lassen würde, denn er war ihr Prinz und sie die Prinzessin, die vorläufig noch in einem hässlichen kleinen Entlein schlummerte. Oder in einem Schwan, der erlöst werden wollte. Sie hatte immer gewusst, dass sie und Robert füreinander bestimmt waren, schon allein der Musik wegen, die sie verband, die sie einander nahe brachte, einander verpflichtete. Denn wer schrieb wundersamere Stücke als er, und wer spielte sie meisterhafter als sie? Das alles würde sie ihrer Mutter erzählen und sie zu ihrer Verbündeten machen, denn ihren Vater zu überzeugen, das war noch ein langer Weg.

Sie spähte zu ihm hinüber. Vor ihrer Abreise hatte er einen Stapel Briefe beim Postamt abgeholt, die sah er jetzt durch. Clara versuchte zu erkennen, ob einer dieser Umschläge einen Liebesbrief an sie enthielt, doch natürlich war das unmöglich. Das Schreiben, das er gerade überflog, stammte vom Musikdirektor der Leipziger Oper Heinrich Dorn, ihrem Lehrer in Musiktheorie, sie hatte die Schrift sogleich erkannt. Aber warum grinste ihr Vater auf einmal so breit? Warum warf er ihr triumphierende Blicke zu? Welche Neuigkeiten aus Leipzig konnten ihn dermaßen zufrieden aussehen lassen wie schon lange nicht mehr, nicht einmal nach ihrem Hamburger Erfolg?

Unruhe befiel sie. Diese Neuigkeit schien irgendetwas mit ihr zu tun zu haben, sonst würde ihr Vater sie nicht so ansehen. Eine wichtige Einladung, womöglich an den Dresdner Hof? Aber die würde bestimmt nicht über Dorn ausgesprochen werden. Und wieso wirkte ihr Vater so schadenfroh?

Clara lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie würde es noch früh genug erfahren. Sie wusste aus Erfahrung, dass ihr Vater Neugierde nicht schätzte. Zeigte sie die, war er imstande, ihr die Nachricht einen ganzen Tag lang vorzuenthalten, um sie zu disziplinieren.

»Hier«, sagte ihr Vater schließlich und reichte ihr den Brief. »Lies.« Überrascht griff Clara nach dem knisternden Briefpapier und strich es auf ihrem Schoß glatt. »Die erste Seite kannst du überspringen, das langweilt dich nur. Geh ruhig gleich zur Rückseite.«

Ihr Herz begann zu rasen, als sie das höhnische Aufblitzen in den Augen ihres Vaters sah. Ein Gefühl von sich nahendem Unheil stieg in ihr auf.

Hastig überflog sie die Zeilen auf der zweiten Seite des Briefs. Da ging es um einen Posten, der neu besetzt werden musste und wobei man Friedrich Wieck um Rat fragte. Das konnte es nicht sein. Der Name Robert Schumann fiel ihr ins Auge, drei Zeilen tiefer. Einen Moment lang verschwamm die ordentliche Schrift des Musikdirektors vor ihren Augen, sie blinzelte, dann sah sie wieder klar.

Des Weiteren vernahm man, dass sich Robert Schumann verlobt habe und zwar mit Ihrer Schülerin Ernestine von Fricken. Man sagt, er habe dem Mädchen einen Ring geschenkt und sich zu ihrem Vater begeben, um bei ihm um ihre Hand anzuhalten. Wovon er allerdings mit seiner zukünftigen Frau zu leben gedenkt, ist uns allen ein Rätsel …

»Das war’s dann wohl mit deinem Robert Schumann«, höhnte ihr Vater. »Ich weiß wirklich nicht, was ihr jungen Weiber an dem Hallodri findet.«

Schnoerkel_fmt1.tif2. Kapitel Schnoerkel_fmt.tif

Berlin und Leipzig: April bis Juli 1835

Nie zuvor waren Clara die Reisetage länger und mühseliger erschienen. Sie hielt es kaum aus in der rumpelnden Kiste, und wann immer die Pferde ihr Tempo wegen eines Hindernisses oder eines schlechten Wegabschnitts drosseln mussten, stieg sie aus und ging neben der Kutsche her. Ihr war es egal, wenn sie im Matsch versank und dicke Erdklumpen zurück in die Kutsche schleppte. Es war April und um sie herum erwachte die Natur, in ihr war jedoch alles düster.

Ausgerechnet ihre Freundin Ernestine, Tine, wie sie alle nannten. Drei Jahre älter und bildhübsch, erst vor einem Jahr war sie nach Leipzig gekommen, hatte Roberts frei gewordene Zimmer bezogen, nachdem er eine eigene Wohnung gefunden hatte. Sie spielte vorzüglich Klavier und sollte bei ihrem Vater zur Pianistin ausgebildet werden. Ach, wie dumm Clara gewesen war. Vollkommen arglos hatte sie Tine von Robert Schumann vorgeschwärmt, hatte sie überhaupt erst auf ihn aufmerksam und die beiden miteinander bekannt gemacht. Und jetzt das.

»Zieh die an«, kommandierte ihr Vater und streckte ihr die Glacéhandschuhe aus der Kutsche heraus.

»Mir ist nicht kalt.«

»Es ist mir egal, ob dir kalt ist oder nicht. Deine Hände müssen geschont werden.«

Sie stöhnte und griff nach den Handschuhen, streifte sie über, dann machte sie, dass sie außer Hörweite ihres Vaters kam. Denn sie konnte ihn einfach nicht ertragen.

So fühlte sich also Liebeskummer an? Als würde ein Tier einem an den Eingeweiden nagen? Als würde das Herz in kleine Stücke geschnitten? Als müsste man immerzu schreien und mit einem Stock auf irgendetwas einschlagen?

Die Straße lag frisch gepflastert vor ihnen, der Kutscher lenkte das schwere Gefährt umsichtig um die letzten Schlaglöcher herum.

»Komm gefälligst wieder rein, es geht weiter.« Ihr Vater musste den Kopf weit zum Kutschenfenster herausstrecken. Er hatte sich ein großes Taschentuch um die Stirn gebunden, denn er litt an neuralgischen Kopfschmerzen, während sie vor Gesundheit nur so strotzte. Nur diese tiefsitzende Wut, dieser Schmerz brachte sie beinahe um. Aber nein. So schnell gab Clara nicht auf.

Mühsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter, der sie zu ersticken drohte. Das Ganze musste ein Irrtum sein, Robert hatte sich nicht mit Ernestine verlobt, das war einfach unmöglich. Sie dachte an die Briefe, die er ihr vor ihrer Abreise aus seiner neuen Wohnung im Leipziger Stadtteil Connewitz geschrieben hatte. Als er sie darum gebeten hatte, zu einer bestimmten Stunde zeitgleich mit ihm dasselbe Stück von Chopin zu spielen, so dass sich ihre Seelen in der Mitte, also ungefähr über dem Thomaspförtchen treffen könnten. Hatte das denn gar nichts zu bedeuten gehabt? Sie hatte ihm ihre Romanze op. 3 gewidmet, wie konnte er das vergessen? Auf einmal fielen ihr Begebenheiten ein, Blicke zwischen ihm und Ernestine, ein scherzhaftes Wort, das vielleicht ernst gemeint gewesen war, Gesten, Hände, die sich einen Augenblick zu lange festgehalten hatten. Sie hatte das alles für Freundschaft gehalten, war sich ihrer Sonderstellung sicher gewesen. Clara. Mein Clärchen … Hatte ihr Vater womöglich recht, war Robert Schumann ein schwankendes Rohr im Wind?

Ihre Gedanken jedenfalls drehten sich wie die Windmühlen in dieser endlosen, flachen Landschaft, sie drehten und drehten und kamen zu keinem Schluss.

»Geht es dir denn gut?«

Mariane Bargiel musterte ihre Tochter von der Seite. Endlich hatten sie Gelegenheit, ein paar Stunden allein miteinander zu verbringen. Seit sie in Berlin angekommen waren, hatte sich Friedrich Wieck misstrauisch zwischen sie gedrängt. An diesem Vormittag hatte er jedoch beschlossen, einen Arzt aufzusuchen, vielleicht konnte der ihn ja von seinen Gesichtsschmerzen befreien.

Mariane war mit ihrer ältesten Tochter in den Tiergarten gegangen, der gerade von dem Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné umgestaltet wurde. Einige Bereiche fanden sie deswegen abgesperrt vor, aber die Anlage war noch immer groß genug, um sich darin müde laufen zu können. Clara merkte, dass es ihrer hochschwangeren Mutter schwerfiel, mit ihr Schritt zu halten, und verlangsamte ihr Tempo auf eine normale Spaziergeschwindigkeit.

»Ja«, antwortete sie zögerlich. »Es geht mir gut, Frau Mutter.«

»Ach, lass doch die Förmlichkeiten«, bat Mariane. »Musst du ihn etwa mit ›Herrn Vater‹ ansprechen?« Sie schnaubte, als sie Clara nicken sah. »Zu mir darfst du Mama sagen«, fügte sie liebevoll hinzu. Dann wurde sie wieder ernst. »Du wirkst bedrückt«, fuhr sie fort. »Hast du Kummer?«

Clara zögerte. Ihre Mutter machte den Eindruck, als hätte sie selbst genügend Probleme. Die Klavierschule, die sie gemeinsam mit Adolph Bargiel aufgebaut hatte, war wegen der Choleraepidemie vor einigen Jahren in finanzielle Nöte geraten und schließlich aufgelöst worden. In wenigen Wochen würde Mariane ihr viertes Kind aus dieser zweiten Ehe zur Welt bringen, insgesamt ihre neunte Geburt. Unter den Linden 27, wo die Bargiels lebten, war zwar eine gute Adresse, gleich um die Ecke befand sich die Komische Oper, die Wohnung selbst war aber schrecklich beengt. Dass ihre Mutter eine vorzügliche Pianistin und Sängerin war, davon hatte sich Clara am Vortag überzeugen können, als Mariane bei der Aufführung einer Kantate das Sopransolo gesungen hatte, für ein Taschengeld, wie sie herausgehört hatte. Unermüdlich gaben Mariane und ihr Mann Stunden, und dennoch schien das Geld immer knapp.