Anna Ruhe

Die Duftapotheke

Das Turnier der tausend Talente

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Mount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express
Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund

Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und Illustration und arbeitete einige Jahre als Grafikdesignerin in großen und kleinen Designbüros. Spannende Geschichten hatte sie schon immer im Kopf, mit dem Schreiben begann sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin.

Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.

Für Luk & Milo

1

Jedes Talent – ganz egal, was für eines es auch ist – hat immer seine fantastische Seite, aber leider auch eine weniger fantastische.« Daan de Bruijn schritt im Zeitlupentempo an den Regalen entlang und betrachtete die Flüssigkeiten, die in ihren Flakons um die Wette funkelten. »Das Allerwichtigste ist, dass man lernt, mit beiden Seiten umzugehen, und sie im Griff behält.« Der alte Duftapotheker atmete tief ein und hielt inne. Doch schon im nächsten Moment sah er mich wieder mit seiner gewohnten Strenge an.

Wie ein bis zum Anschlag gespannter Flitzebogen stand ich neben dem Tresen der Duftapotheke und hielt ebenfalls die Luft an. Jedes einzelne Wort, das er bis jetzt von sich gegeben hatte, versuchte ich, mir einzuprägen. Schließlich hatte ich so lange auf genau diesen Moment gewartet. Fast hatte ich schon nicht mehr daran geglaubt, dass Daan de Bruijn, der Gründer der Duftapotheke, mir tatsächlich eines Tages alles beibringen würde, was er über die Duftapotheke und ihre unzähligen Flakons wusste. Nicht ein Wort wollte ich verpassen – jetzt, da es tatsächlich passierte. Wer wusste schon, ob Daan seine Meinung morgen nicht änderte und mir sein duftendes Erbe unter der Villa Evie wieder ohne seine Unterstützung überlassen würde? Raushalten konnte Daan sich schließlich besser als jeder andere, den ich kannte. Darin war er bislang einsame Spitze gewesen.

Um nichts zu verpassen, verfolgten meine Augen jede seiner Bewegungen. Daan hatte sich wieder den Flakons zugewendet, nahm verschiedene Düfte aus den Regalen und reihte sie auf dem Tresen auf. Er lächelte mir durch seine aus feinem Silber umrundeten Brillengläser zu und schob die Hände in die Taschen des Tweedanzugs, den er trug. Unter Daans kurz geschnittenem weißem Haar hoben sich die Augenbrauen, während ich versuchte zu verstehen, was er vorhatte.

»Ah!« Daan schien noch etwas eingefallen zu sein. Er ging hinaus in den Flur und kam nach einem Klappern wieder zurück. Dann legte er einen der goldenen Bilderahmen, die im Flur aufgereiht hingen, vor mir auf den Tresen. Auf dem verblichenen Schwarz-Weiß-Foto erkannte ich ihn selbst. Er war unzählige Jahre jünger und offensichtlich gerade auf einer seiner Expeditionen.

»Das ist genau das Richtige für den Einstieg!« Daan schmunzelte und zeigte auf das Messingschild am unteren Rand des Bilderrahmens.

1867 stand dort eingraviert. Und darunter: Amazonas.

Verdattert sah ich ihn an. »Und jetzt?«

Er zeigte auf die von ihm ausgewählten Flakons. »Such dir zuerst einen Duft aus.«

Ich betrachtete also die Duftfläschchen und las die Aufschriften der Etiketten. »Genüsslicher Duft«, »Kritisches Odeur«, »Traumhafte Brise«, die »Zeitlose Note« und »Langweiligster Duft der Welt«. In meinem Kopf ging ich noch mal alle Wirkungsweisen durch und versuchte abzuwägen, von welchem ich besser die Finger ließ. Aber im Grunde waren sie alle harmlos. Also griff ich mir einfach die »Zeitlose Note« und hielt sie Daan hin.

Doch anstatt ihn mir abzunehmen, nickte er nur in Richtung Fotografie und rieb seine Handflächen aneinander, als könnte er es kaum erwarten. »Ein Tropfen müsste genügen. Aber pass auf, dass der Tropfen auch die Fotografie trifft, sonst verfehlt die heutige Übung ihren Sinn.«

Mit einem Plopp zog ich den Korken aus dem Flakon und ließ einen winzigen Tropfen mitten auf die Fotografie fallen. Gebannt beobachtete ich, wie der Tropfen in das Papier sank und es unter sich kreisrund aufweichte. Rötlicher Dunst bildete sich und stieg in orangenen Schwaden aus dem feuchten Fleck auf, um in hellgelben Wolken über unseren Köpfen an der Decke zu schweben. Ich roch Zitronengras, Bergamotte und etwas Sandelholz. Gleichzeitig fingen meine Gedanken an, sich auf die Fotografie zu konzentrieren. Mein Blick wanderte an dem jungen Daan entlang, der in einer Tropenausrüstung durch den Dschungel des Amazonas stiefelte. Er lachte dem Fotografen entgegen und ich zuckte zusammen, als dieses Lachen plötzlich in meinem Kopf zu hören war. Daans Gesichtsausdruck schien lebendig zu werden, obwohl sich das Bild natürlich nicht bewegte. Aber vor meinem inneren Auge begann alles, wie ein Film abzulaufen. Ich hörte Daans Lachen, ich spürte die feuchte Luft des Dschungels auf meiner Haut und glaubte, das Rascheln der Blätter wahrnehmen zu können. In mir breitete sich die gleiche Freude aus, die Daan auf dem Bild ausstrahlte. Aber noch etwas spürte ich.

Es war … Anstrengung. Und mit einem Mal fühlte ich mich unendlich erschöpft. Doch gleichzeitig breitete sich auch eine Gewissheit in mir aus, genau das geschafft zu haben, was ich hatte schaffen wollen. Es war ein Gefühl völligen Glücks.

Irritiert blickte ich durch die Duftschwaden hinüber zum echten und viel älteren Daan.

»Und?«, fragte er und sah zufrieden aus. »Was empfindest du beim Anblick des Bildes?«

»Erfolg«, antwortete ich, ohne dass ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. »Ich spüre Glück, weil etwas gelungen ist, das viel Anstrengung gekostet hat.«

»Dann kannst du es! Wunderbar.« Daan lächelte mich noch breiter an. »Genau das war mein damaliges Gefühl in diesem Moment. Ich war überglücklich über den Erfolg meiner Dschungelexpedition.«

»Aber … wie geht das?«, fragte ich. »Wie kann ich etwas empfinden, das bereits so lange vergangen ist und das überhaupt nichts mit mir zu tun hat? Es hat sich wirklich angefühlt, als hätte ich es selbst erlebt.«

»Die Gefühle der Menschen verstecken sich an den verborgensten Stellen«, erklärte Daan. »Wie du siehst, lassen sie sich sogar in so alten Dingen entdecken wie dieser Fotografie.« Daan lächelte mich an. »Das ist es, wozu dich die Duftapotheke zusammen mit deinem Sentifleurtalent befähigt. Mithilfe eines Duftapothekenduftes, ganz egal, welcher es auch ist, lässt dich dein Talent die Gefühle der Menschen um dich herum erkennen. Du kannst sowohl vergangene als auch gegenwärtige Emotionen erlebbar machen. Mit dieser Fähigkeit bist du in der Lage, die Gefühle und somit auch die Gedanken der Menschen wahrzunehmen.«

»Aber … wie?«, wiederholte ich und starrte auf das Foto vor mir.

»Tja.« Daan räusperte sich. »Wenn ich nur wüsste, wie es genau funktioniert, würde ich es dir erklären. Leider habe ich diese Fähigkeit erst sehr spät an mir entdeckt. Und mir blieb nicht genug Zeit, sie richtig zu erforschen. Ich weiß nicht, wie man es bewusst steuern kann und ob überhaupt. Ich fürchte, diesen Teil wirst du statt meiner in Zukunft erforschen müssen.« Daan warf mir einen ernsten Blick zu. »Wenn du dein Sentifleurtalent weitertrainierst, wirst du den Menschen irgendwann sehr leicht anmerken, ob sie wirklich das sagen, was sie auch denken und fühlen. Niemand wird dir jemals mehr etwas vormachen können. Du wirst ihre Angst, Scham, Liebe, sogar ihren Hass wahrnehmen können. Du kannst in ihre Seelen schauen. Nirgends wirst du mehr Wahrheit finden als dort.«

Mir klappte die Kinnlade runter und ich versuchte zu verstehen, was Daan mir gerade sagte. »Wirklich …?«, stotterte ich. »Aber … das klingt ja, als ob ich so was wie Gedanken lesen kann!«

Daan kniff die Lippen aufeinander. »So könnte man das auch sagen. Sentifleurs sind dazu fähig, Düfte gezielt für oder gegen jemanden anzuwenden, weil sie dadurch geradewegs hinter die Fassaden der Menschen schauen können.«

Ich machte vor Freude einen Hopser und fiel dem alten Duftapotheker einfach um den Hals. Das war ja der Wahnsinn!

Daan tätschelte mir die Schulter, doch ich löste die etwas steife Umarmung schnell wieder. Mir fiel auf, wie verbittert er plötzlich wirkte.

Aber warum? Ich war jedenfalls kurz davor, vor Begeisterung auszuflippen. Mich würde niemand mehr anlügen können, ohne dass ich es merkte? Wie obergenial und unglaublich unfassbar war das denn bitte? »Ist das nicht der Wahnsinn?«, fragte ich deshalb.

»Sicherlich.« Daan seufzte. »In jedem Fall denke ich, dass es wichtig ist, dass du dein Talent weiterschulst. Elodie de Richemont ist eine hervorragende Sentifleur. Ich vermute, sie hat ausgiebig trainiert, die Gefühle anderer zu lesen. Das macht sie besonders gefährlich. Ich weiß, dass sie ihren Vater sehr geliebt hat, und garantiert wird sie mithilfe dieser Fähigkeit versuchen, die Ziele der Ewigen weiter voranzutreiben. Dem musst du gewachsen sein, wenn du die Duftapotheke übernimmst, Luzie. Um dich gegen mögliche Angriffe wehren zu können.«

Bei der Vorstellung, dass Elodie wirklich Gedanken lesen konnte, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Nun wusste ich, wie Elodie in Paris so schnell alles Mögliche über mich erfahren haben konnte. Und das musste sie brühwarm an ihren Vater weitergegeben haben – an Syrell de Richemont, den Anführer der Ewigen.

Trotzdem! Ich konnte nicht anders, als mich zu freuen. Denn was bitte war daran nicht fantastisch, dass auch ich diese Fähigkeit beherrschte?

Allein bei dem Gedanken, was ich damit machen könnte, kribbelte alles in mir.

2

Beginnen wir mit der zweiten Übung.« Daan griff in seinen Aktenkoffer. Seit er hier war, trug er jeden Tag diesen abgeschabten Lederkoffer mit sich herum. Der Taschenverschluss klackte und Daan zog eins seiner genauso abgeschabten Expeditionsbücher heraus, schlug es auf und legte es neben die Flakons auf den Tresen.

Ich ging einen Schritt näher heran. Diesmal wählte er selbst einen der Duftflakons aus, öffnete ihn und ließ einen Tropfen der »Traumhaften Brise« auf das Tagebuch fallen. Nachdem Daan den Flakon wieder verschlossen hatte, faltete er die Hände vor seinem Bauch und nickte mir erneut zu. »Lass den Duft mit allen Sinnen auf dich wirken.«

Langsam bückte ich mich zu den Seiten hinunter und betrachtete die zartrosa Duftwolke, die immer kräftiger aus dem Papier emporstieg und sich ausbreitete. Im ersten Moment roch alles süß, warm und angenehm. In mir breitete sich ein entspanntes Gefühl aus, eins, das sich nach Zufriedenheit anfühlte und mich innerlich zum Strahlen brachte. Das Glücksgefühl wirbelte in mir herum und tanzte in meinem Bauch Walzer.

Doch schon im nächsten Moment drängte sich eine bittere Duftnote in den Vordergrund und schien mit voller Wucht das glückliche Gefühl unter sich vergraben zu wollen.

»Was nimmst du wahr?« Daan de Bruijns Stimme drang nur schwach durch die Duftschwaden und mein Gefühlswirrwarr zu mir.

Ich schloss die Augen und beugte mich noch tiefer zu den Buchseiten hinunter. Das hier war Daans altes Tagebuch, sagte ich mir. Ich roch also etwas aus seiner Vergangenheit. Etwas, das ihm vor langer Zeit ziemlich zu schaffen gemacht hatte.

»Ein bittersüßes Gefühl«, antwortete ich. »Ich rieche Triumph, der mich eigentlich glücklich stimmen sollte, es aber nicht tut.« Ich sah durch den zartrosa Dunst zu Daan. »Irgendetwas überschattet das Glück.«

Daan hielt immer noch die Hände vor seinem Bauch gefaltet und wartete auf etwas. Und genau in diesem Moment wurde mir klar, was ich roch. Es war Reue, bittersüße Reue, die alles zunichtemachte und einen glauben ließ, dass alles, was gewesen war, besser niemals geschehen wäre.

»Du denkst, diese Fähigkeit, Gedanken und Gefühle anderer erkennen zu können, sei großartig«, unterbrach Daan meine Gedanken. »Und natürlich hast du einerseits recht damit. Es ist der Wahnsinn, wie du es so schön gesagt hast. Es verleiht dir eine ungeheure Macht, der sich kaum jemand entgegenstellen kann.« Daan seufzte. »Aber natürlich – wie bei allem im Leben – hat diese Macht auch eine Schattenseite. Eine, die mir mein Leben zur Hölle gemacht hat, das kann ich dir versichern.«

Jetzt kniff ich meine Lippen aufeinander, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was an alldem so schrecklich sein sollte.

»Bislang hast du diese Seite deines Sentifleurtalents nur an vergangenen Emotionen geübt. An Erlebnissen, die nichts mit dir persönlich zu tun hatten.« Daan legte seine Stirn in Falten. »Du wirst merken, alles wird anders sein, wenn du die Gedanken oder Gefühle erfährst, die dich und die Menschen, die du liebst, betreffen. Wenn du beispielsweise den Zweifel anderer an dir nachempfinden kannst. Mal angenommen, du könntest tatsächlich meine früheren Zweifel an dir fühlen oder meine damalige Angst, dass du dieser Bürde, die ich dir auferlegt habe, nicht gewachsen bist. Stell dir nur einmal vor, wie das wäre.« Daan legte eine Hand auf meine Schulter und die Sorge in seinem Blick war unübersehbar. »Es ist überhaupt nicht leicht, immer und jederzeit die Wahrheit zu kennen. Es ist sogar ungeheuer schwer, die höflichen Fassaden der Menschen durchschauen zu müssen. Es kann schmerzhaft sein zu wissen, was andere in Wirklichkeit über dich denken, und es kann einen sehr einsam und misstrauisch werden lassen. So zumindest ist es mir ergangen und ich habe mir die längste Zeit meines Lebens gewünscht, kein Sentifleur zu sein.« Daan nahm seine Brille ab und strich sich über das Gesicht. »Du wirst nicht nur Glück und Freude, sondern auch Trauer, Angst und Unglück doppelt und dreifach empfinden müssen. Es wird so vieles geben, das dir wehtun und dich verletzen wird. Sei dir immer im Klaren darüber und lerne, damit umzugehen! Sonst wirst du es, so wie ich, nicht aushalten können. Das Sentifleurtalent ist Glück und Fluch gleichermaßen.«

»Aber gehören nicht auch die traurigen Gefühle zum Leben dazu?«, fragte ich, weil ich gut genug wusste, dass das Leben natürlich nie nur schön sein konnte. So klein war ich nun wirklich nicht mehr. Es war naiv zu hoffen, dass man immer nur glücklich sein würde.

Daan ging ein paar Schritte in der Duftapotheke umher, bis er sich in einen der zwei Sessel fallen ließ, die etwas vom Tresen entfernt standen. »Natürlich«, seufzte er. »Doch wenn all diese Gedanken und Gefühle der Menschen um dich herum sichtbar werden, wird es für dich überaus schwierig sein, dich davon nicht einnehmen zu lassen. All das kann dich schnell überwältigen.« Daan rieb sich über die Schläfen, als müsse er erst eine Erinnerung aus seinem Kopf verbannen, um weitersprechen zu können. »Und das ist die eigentliche Kunst, die wir Sentifleurs üben müssen. Sich trotz der vielen fremden Gedanken, die uns entgegenströmen, zu vergegenwärtigen, dass dies keine Wahrheiten sind. Du musst lernen, auf deine eigenen Gefühle zu hören. Mehr als auf alle anderen um dich herum. Sonst verlierst du dich selbst und das ist die allergrößte Gefahr.«

Ich lehnte mich an den Tresen. »Wissen Sie, was? Als ich in Paris in der Ewigen Residenz der Richemonts war, hat Elodie etwas zu mir gesagt, was ich bis heute nicht wirklich verstanden habe. Sie meinte, dass sich die Düfte ihr anpassen würden und nicht sie sich den Düften. Das war zumindest ihre Antwort auf meine Frage, warum sie nicht nach dem ›Duft der Ewigkeit‹ riecht. Können Sie mir erklären, was sie damit gemeint hat?«

»Tja.« Daan setzte sich seine Brille wieder auf. »Elodie kann scheinbar Dinge, mit denen ich mich nie beschäftigt habe. Sie sieht zwar sehr jung aus, aber sie muss älter sein, als wir denken. Und in dieser Zeit hat sie ihr Sentifleurtalent, im wahrsten Sinne des Wortes, eine halbe Ewigkeit trainiert und erkundet. Du darfst Elodie de Richemont niemals unterschätzen.«

»Stimmt es denn wirklich …?«, begann ich. »Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie Ihr Sentifleurtalent verloren haben. Damals sagten Sie, es hätte etwas mit dem Ewigkeitsduft zu tun gehabt und dass Sie damals, als Sie ihn entwickelt haben, einfach zu viel davon eingeatmet haben. Aber ich frage mich, wieso Elodie dann nicht ihr Talent verloren hat? Auch sie ist doch eine Ewige und …«

»Dir entgeht wirklich nichts, Luzie Alvenstein«, unterbrach mich Daan. »Es ist richtig, ich habe mein Sentifleurtalent tatsächlich vor langer Zeit verloren. Nur … meine Erklärung, dass dies am zu intensiven Gebrauch des Ewigkeitsduftes lag, war … nun ja … nicht ganz ehrlich. Genau genommen, war es sogar eine Lüge.«

Ich zog scharf die Luft ein bei diesen Worten und auch Daan selbst stockte kurz.

»Ich wollte dir damals nichts von all den Dingen erzählen und hatte gehofft, dass dein Sentifleurtalent sich nicht weiterentwickeln wird. Aber das war unklug von mir.« Daan sah zur Seite. »Die Wahrheit ist: Ich habe alles dafür getan, mein Talent zu verlieren, nachdem ich die Villa Evie mit ihren schmerzhaften Erinnerungen an meine verstorbene Frau Eveline verlassen hatte. Alles Mögliche habe ich ausprobiert: jede Kombination von Duftapothekendüften, Giften oder Gegengiften. Ich habe mir die gefährlichsten Duftapothekenmischungen verabreicht, bis all das irgendwann mein Sentifleurtalent abtötete.«

Daan erhob sich aus dem Sessel und räumte einen Flakon nach dem anderen von der Theke zurück ins Regal. »Für heute hast du mehr als genug gelernt«, meinte er und räusperte sich.

Ein klares Zeichen dafür, dass unsere Unterrichtsstunde vorbei war.

Ich schluckte und suchte verzweifelt nach Worten, nach irgendetwas, das ich noch zu Daan sagen könnte. Aber die Vorstellung, was er sich selbst angetan hatte, fegte mir mein Hirn leer und ließ mich unter Schock zurück. Bei dem Versuch, mir auszumalen, wie es wohl für mich wäre, wenn ich mein Sentifleurtalent verlieren würde, zog sich eine Gänsehaut über meine Arme. »Das tut mir wirklich schrecklich leid«, brachte ich endlich doch hervor.

Daan drehte sich mit einem Lächeln zu mir um. »Das braucht es nicht, Luzie. Es ist, wie es ist.« Schweigend räumte er die letzten Flakons zurück, bis er sich schließlich von mir verabschiedete.

3

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, musste ich gleich wieder über meine erste Unterrichtsstunde nachdenken. Nichts hatte ich mir in den letzten Monaten mehr gewünscht, als dass Daan mir alles erklären würde, worüber ich mir seit unserem Einzug in die Villa Evie den Kopf zerbrach. Ich hoffte so sehr auf ein paar Antworten, die mir mehr über den Zauber der Duftapothekendüfte verrieten und mir gleichzeitig halfen, mit meinem Sentifleurtalent umzugehen.

Daan hatte mir mehr verraten, als ich erwartet hatte. Doch es steckten noch so viele Geheimnisse und Überraschungen in den Düften!

Und mein Sentifleurtalent … ehrlicherweise musste ich zugeben, dass ich mir trotz Daans Warnungen zutraute, es im Griff zu behalten. Ich würde das schon schaffen, auch wenn es schwierig war. Jedenfalls wollte ich alles dafür geben.

Ich pellte mich aus dem Bett und zog mir Jeans und einen frischen Pullover über, dann lief ich zu meinem Schreibtisch und öffnete die Schublade. So hatte ich es in den letzten Wochen beinahe jeden Tag gemacht, inzwischen war es wie ein allmorgendliches Ritual.

Denn worüber ich mir wirklich Sorgen machte, war nicht mein Sentifleurtalent, sondern der Brief, der nach unserer Rückkehr aus Paris in der Duftapotheke auf mich gewartet hatte.

Es war ein Brief, der von niemandem unterschrieben worden war, nicht einmal ein Absender stand auf dem Umschlag. Doch am wenigsten verstand ich, wie der Brief in die Duftapotheke gekommen war. Die Person, die diese Zeilen geschrieben hatte, musste nicht nur gewusst haben, wo unsere Duftapotheke versteckt lag, sondern auch noch unbemerkt hineingekommen sein. Schließlich war weder ein Schloss aufgebrochen worden noch sonst etwas zerstört.

Vorsichtig griff ich in die Schublade und nahm den Brief heraus. Ich strich das Papier glatt und las die Zeilen zum gefühlt tausendsten Mal.

Unschlüssig faltete ich den Brief wieder zusammen und legte ihn zurück. Die Nachricht war in schnörkeligen Buchstaben und mit Tinte geschrieben worden, aber ich erkannte die Handschrift nicht.

Das alles war nun schon fast zwei Monate her, aber passiert war rein gar nichts. Niemand hatte sich bei mir gemeldet oder versucht, mich unter neuen Umständen kennenzulernen. Nicht mal Daan oder Willem hatten eine Erklärung, woher dieser Brief gekommen war.

Die Bessergeborenen – das waren all diejenigen, die in irgendeiner Form zum Stammbaum der de Richemonts gehörten. Diejenigen, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie einem alten Adelsgeschlecht angehörten und sich deshalb für besonders wichtig hielten. Nicht alle von ihnen gehörten auch zu den Ewigen, dem geheimen Verbund, den Syrell de Richemont gegründet hatte, aber trotzdem bewegten sie sich alle im selben Dunstkreis.

Beim ersten Lesen der Zeilen hatte ich natürlich sofort an Elodie gedacht. Nur wie hätte sie noch vor uns den Brief hierherbringen können? Schließlich war sie zu dieser Zeit auf der Polizeiwache gewesen und hatte sich für alles rechtfertigen müssen, was bei Éternité, dem Duftkonzern ihres Vaters, schiefgegangen war. Dafür hatte Syrell de Richemonts frühere Assistentin Camille gesorgt.

In Gedanken ging ich noch mal all die Leute durch, die wussten, wo ich wohnte oder genauer: wo die Duftapotheke versteckt lag. Also alle, die theoretisch den Brief hätten hineinschmuggeln können. Viele kamen dafür nicht infrage und die wenigen, die es taten, denen vertraute ich zu sehr, als dass ich sie ernsthaft hätte verdächtigen können.

Nach allem Grübeln blieb jedes Mal immer nur Elodie als einzig logische Verdächtige. Doch genauso blieb auch die Tatsache, dass weder sie noch irgendeiner ihrer vielen Angestellten hier vor uns hätten eintreffen können. Rein zeitlich wäre das einfach unmöglich gewesen.

Dasselbe galt für Daan de Bruijn, Willem, Bonsky oder auch dessen Tochter Helene und Edgar, Willems Enkel. Auch sie waren zwar alle bei unserer Ankunft in der Villa Evie gewesen, aber keiner von ihnen hätte mir heimlich diese seltsame Nachricht hinterlassen. Zudem wussten Helene und Edgar ja nicht mal etwas von der versteckten Duftapotheke unter unserer Villa Evie.

Wer kam also noch infrage? Am wahrscheinlichsten war es, dass es jemand der Ewigen war. Die Baronin von Schönblom wusste noch von früher, wo sich die Duftapotheke befand, und war bereits ein paar Mal mit Willem dort gewesen. Ich vermutete also, dass auch andere Ewige davon wussten. Nur bezweifelte ich, dass mir einer von ihnen einen solchen Brief schrieb und plötzlich alles, woran die Bessergeborenen glaubten, über Bord warf. Das kam mir so wahrscheinlich vor wie ein Eissturm in der Südsee.

Aber wer konnte es dann gewesen sein? In meinem Kopf drehte diese Frage seit zwei Monaten unaufhörlich ihre Runden. Und mit Sicherheit fand ich auch heute keine Antwort darauf.

Also schlurfte ich ins Bad über den Flur und putzte mir erst mal die Zähne, kämmte meine dunkelblonden Haare und spritzte mir zum Abschluss noch ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht, um mich wacher zu fühlen. Danach lugte ich in Bennos Zimmer, aber mein kleiner Bruder war wie immer längst aufgestanden.

Die Schlafzimmertür meiner Eltern war noch geschlossen und aus der Küche im Erdgeschoss hörte ich keinen Mucks. Ich tippte darauf, dass mein Langschläfer-Pa noch im Bett vor sich hin schnarchte und meine Frühaufsteher-Ma sich bereits um Benno kümmerte.

Schwerfällig, wie man sich an einem Samstagmorgen halt so bewegte, trottete ich die knarzenden Holzstufen unserer Treppe nach unten und schlurfte in die Küche. Aber niemand saß mehr dort. Bennos Müslischale und Mas Kaffeetasse standen genauso leer und verlassen auf dem Tisch, wie alles in unserem Haus an diesem Morgen leer und verlassen wirkte. Weil ich noch keinen Hunger hatte, schlurfte ich wieder aus der Küche hinaus und blieb unschlüssig in der Diele stehen. Wie immer, wenn ich dort auf dem Parkett mit seinen breiten und unregelmäßigen Rillen stand, sog ich den Duftmischmasch ein, der von darunter hinauf ins Haus zog.

Darunter … das war der Ort, an dem sich unsere Duftapotheke versteckte und sich nur für Kenner dadurch verriet, dass sich ihre Düfte durch die Ritzen im Holz ihren Weg hierher bahnten und unsere alte Villa Evie mit immer neuen und wechselnden Düften erfüllte.

Ich überlegte, was ich als Nächstes machen sollte. Ausnahmsweise hatte ich mir für heute nichts vorgenommen. Nach dem ausführlichen Unterricht mit Daan gestern Nachmittag hatte ich nämlich beschlossen, heute mal nicht in die Duftapotheke zu gehen, wie ich es am Wochenende sonst meistens als Erstes tat. Eigentlich hatte Daan mir das eher aufgetragen, als dass ich es selbst beschlossen hätte. Er meinte nämlich, dass es hilfreich war, ein bisschen Abstand nach den Unterrichtseinheiten zu gewinnen, um sich einen frischen Blick auf alles bewahren zu können.

Na gut, Daan wusste schon, wieso er mir das riet. Also griff ich mir Jacke und Hausschlüssel und beschloss, Mats zu wecken. Ich hatte nämlich schon eine Ahnung, wo er sein könnte.