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Frei lebende Wölfe auf einem Waldweg in Deutschland, fotografiert von Heiko Anders. – Vorhergehende Seite: Der Wolf im Wisentgehege Springe schaut interessiert. Aufgenommen von Thomas Henning

ANDREAS HOPPE

DIE HOFFNUNG UND DER

WOLF

Wollen wir mit unseren neuen Nachbarn leben?

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INHALT

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DIE WIDMUNG

EINLEITUNG

DIE ENTDECKUNG

VISION 1

MEIN ERSTES TREFFEN

MEIN BESUCH IM MINISTERIUM

ZU GAST IM DIEBZIGER FORST

ZUM GESETZENTWURF

MEIN BESUCH IN DER ORANIENBAUMER HEIDE

UNTER WÖLFEN

VISION 2

DER KARPATENWOLF

Mit einem Beitrag von Christoph Promberger

DER WOLF VON GUBBIO

Mit einem Beitrag von Prof. P. Dr. Ludger Ägidius Schulte

DIE SEHNSUCHT

EPILOG

DER GESANG DES WOLFES

WÖLFE WERFEN FRAGEN AUF

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»Ein Meer von Wald« im Jahre 2000 in den kanadischen Northwest Territories. Die Aufnahme von Michael Duftschmid entstand an einem Novembertag während der Suche nach frei lebenden Waldbisons für einen Dokumentarfilm – bei minus 35 Grad Celsius.

DIE WIDMUNG

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Ein Rudel Wölfe im Spiel vertieft. Aufgenommen von Thomas Henning im Wisentgehege Springe. Thomas Henning ist der Leiter des Tierparks und Tierfotograf.

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Für ein Ökosystem sind alle Tiere notwendig. Ob klein, ob groß, eins baut auf das andere auf. Das wird uns beim aktuellen Insektensterben schmerzlich bewusst. Gesehen von Christian Emmerich.

GEWIDMET MEINER BESTEN FREUNDIN

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Dieses Buch widme ich Dir! Danke für unsere langjährige Freundschaft, dass wir uns jetzt schon so viele Jahre begleiten und mit Rat und Tat, Zuneigung und Respekt zur Seite stehen. Uns war keine Vision zu groß, und keine Auseinandersetzung konnte uns schrecken bzw. abschrecken. Wir sind immer hindurch, durch das Zentrum des Sturms.

Egal was es gekostet hat, eine Ungerechtigkeit, ein Zweifel, ein Fehler, wenn ein Lebewesen Hilfe oder Unterstützung braucht, egal ob Mensch oder Tier. Wir haben gestritten und miteinander gerungen in den Zeiten unserer Beziehung, aber wir haben nie den Respekt und unsere tiefe Zuneigung zueinander verloren.

Deine Empathie und Liebe zur Natur und den Tieren ist einzigartig. Ich habe erlebt, wie Du in kürzester Zeit Kontakt zu Tieren aufnehmen kannst. Mal war es ein Rabe, der anfing sich mit Dir zu »unterhalten«, oder dieser kleine wunderbare Vogel, den es nur in Kanada gibt und den wir auf unserer ersten Reise erleben durften. Dieser kleine Vogel, der uns während der ganzen Reise durch Kanada begleitete und sich immer anhörte, als ob ein kleiner Junge, hinter einem Baum versteckt, seine ersten Pfeifversuche unternimmt. An dem ich heute noch erkenne, ob ein Film in den USA oder in Kanada gedreht wurde, weil er im Hintergrund zu hören ist. Irgendwann standest Du vor einem Baum, mit Blick in die Krone, dort, bei der kleinen Blockhütte in dem nördlichsten Nationalpark in Quebec, und hast seinen Gesang versucht zu imitieren. Es dauerte nicht lange und Ihr wart in ein zwar stockendes, aber doch eben in eine Art des »Gesprächs« vertieft.

Unzählige Bilder tauchen aus den Tiefen meiner Erinnerung auf. An unsere Zeit in Kanada, als die Elchkuh im Sonnenuntergang mit ihrem Kalb den Fluss passierte auf unserem Heimweg mit dem Kanu und wir endlich wieder wussten, wo es langgeht – Karte verloren im Sturm unserer ersten Kanutour, und den Rückweg nicht mehr findend, in der Wildnis des Réserve faunique La Vérendrye.

Aber nicht, dass es uns geschreckt hätte! Klar hatten wir zwischenzeitlich Sorge, denn wir waren da draußen auf uns alleine gestellt. Der Wind ließ uns manchmal kaum vorwärtskommen, geschweige denn über die riesigen kanadischen Seen kreuzen. Aber schließlich fanden wir den Weg mithilfe dieses liebevollen, hilfsbereiten und unerschrockenen älteren Ehepaars, das uns dann mit selbst gebackenen frischen Blaubeermuffins versorgte und uns in the middle of nowhere den Heimweg erklärte, freundlich und gelassen.

Wir fanden zurück, erschöpft, aber glücklich, und selten haben wir nach unserer Rückkehr in die »Zivilisation« so gut gegessen wie in dieser letzten Fernfahrerkneipe am Trans-Canada Highway.

Am nächsten Tag war unsere Begeisterung gemeinsam mit uns wiedererwacht und unsere Neugier ungebrochen. Einen Kaffee, und auf los geht’s los!

Keine meiner folgenden Kanadareisen waren je ohne Dich. Ich hab mir immer vorgestellt, wie Du begeistert und erfreut mit mir die Erlebnisse, Sehenswürdigkeiten und Abenteuer teilen würdest.

Zum Beispiel meine Tage mit Randy, dem chief der Mocreebec, oben an der James Bay, der mich eingeladen hatte, ein paar Tage in der Ecolodge seines Stammes zu wohnen und mir stolz die Ausstattung seines Hotels mit deutscher Umwelttechnik präsentierte. Dort habe ich das erste Mal warmen Apfeltee mit Cranberries getrunken, in diesem ökologischen Vollblockhaushotel direkt am Moose River, am Eingang zur James Bay.

Und erinnerst Du Dich, als wir die verrückte Idee hatten, einen Dokumentarfilm über die letzten frei lebenden, reinrassigen und infektionsfreien Waldbisons bei den Cree-Indianern zu drehen? Wie Du mit Deiner unglaublichen Kraft für dieses Projekt gearbeitet hast, unermüdlich, weil Du begeistert warst, das war einzigartig.

Als wir dann mit dem Haus auf dem Land angefangen haben, in Vorpommern, mit all den zu treffenden Entscheidungen. Dazu Dein Studium, das Du gerade begonnen hattest, alles lief parallel und natürlich nicht immer ohne Schwierigkeiten. Dennoch haben wir das alles »gewuppt«. Es war trotz aller Anstrengung immer ein Ort der Freude, der Hoffnung und der Sehnsucht. Wie alles wuchs! Und auch verlogene Architekten konnten uns nicht kleinkriegen. Wir mussten Freunde aufgeben, aber es kamen auch neue dazu. Dabei ging es im Wesentlichen um Freiheit, Hoffnung und Geborgenheit, die Suche nach einer Heimat und die Suche nach einem Leben mit Entwicklung und Harmonie.

Als wir dann die Ponys übernommen und uns unsere lieben Nachbarn dabei unterstützt haben, da hast Du mich wieder erstaunt, mit Deinem Verständnis für Pferde, Deinem Wissen und Deiner Liebe im Umgang mit Tieren und Deiner Kraft, Deinem enormen Einsatz. Du hast mir gezeigt, wie man Tieren erneut Vertrauen schenkt, oder besser wie man es schafft, dass traumatisierte Lebewesen uns wieder Vertrauen schenken. Hast mich nachhaltig begeistert, eine einmalige Erfahrung, danke dafür, ein Geschenk, das mein Leben und meine Beziehung zu Tieren und unserer Umwelt verändert hat.

Und es war immer Platz für Feste und Freunde. Dabei haben wir den Garten und das Grundstück gepflegt und aufgebaut, was ohne Deine Unterstützung nicht möglich gewesen und niemals so schön geworden wäre. Am Anfang haben wir beide das vermüllte und verwucherte Grundstück mit Sichel und Sense bearbeitet. Vorsichtig, um nichts zu übersehen und möglichst wenigen »Mitbewohnern« dort ihren Lebensraum zu nehmen und um sie nicht zu verletzen. Es war uns wichtig, einen Ort zu schaffen, den wir mit anderen Lebewesen teilen konnten.

All Dein fachliches Wissen aus dem Studium hat sehr dabei geholfen, unsere ökologische Insel zwischen den Agrarbrachen zu erschaffen.

Wir freuten uns über Erdkröten und Schlangen, Fledermäuse, Singvögel und die Kraniche, die mit ihrem legendären Ruf die Jahreszeiten einleiteten, wenn sie sich auf dem Feld neben dem Grundstück sammelten und oben am Himmel zu Hunderten ihre Flugübungen für die lange Reise in den Süden absolvierten. Durch das veränderte Klima bleiben einige Vögel mittlerweile hier und überwintern vor Ort.

Als ich Dich kurz vor Ende Deines Praktikums in Białowieża, einem Dorf im Powiat Hajnowski, der Woiwodschaft Podlachien in Polen, besucht habe, was war das für ein Erlebnis! Ich bin durch ganz Polen mit der Bahn gefahren, von West nach Ost, und Du hast mir vorher alle Bahnhöfe und Umsteigestationen aufgeschrieben, damit ich mich nicht verfahre. Und wie wir uns über unser Wiedersehen gefreut haben, im leichten Schneetreiben.

Ein Abenteuer, ein Dorf kurz vor der weißrussischen Grenze, wo die alten Jagdreviere der russischen Zaren liegen. Der Białowieża-Urwald ist eines der letzten verbliebenen Urwaldgebiete Europas. Ein halbes Jahr warst Du dort und hast von Deiner Arbeit am Institut, dem Land und den Leuten geschwärmt. Dörfer, die aussahen wie in den alten russischen Märchenfilmen, und eine legendäre Natur und Landschaft. Wie aus der Zeit gefallen wanderten wir an der Narewka entlang, in den Wäldern, in denen Du täglich Deine Touren mit GIS-Gerät und Fernglas gemacht und Daten für das Fischotter- und Bibermonitoring gesammelt hast. Stundenlang habe ich Dich begleitet, und wir sahen Wisente, Elche, Rotwild und Wildschweine. Losungen und Spuren von Wölfen und Luchsen haben uns auf den Touren begleitet. Einmal haben wir abends ein Rudel Wölfe heulen gehört. Wir saßen auf dem Balkon unserer Unterkunft, und das ganze Dorf schien kurz eingetaucht in ihren Gesang.

An einen weiteren wunderschönen Abend erinnere ich mit großer Freude, und es war ein Geschenk, ihn mit Dir zu teilen. Wir saßen in einer sehr rustikalen und gemütlichen Kneipe mit all Deinen Kollegen vom Institut. Wir saßen beim Bier mit Menschen aus Tschechien, Polen, Deutschland, Frankreich, Portugal, Spanien, England und Irland, ein europäisches Treffen und ein sehr lebendiger und unvergesslicher Abend mit tollen Gesprächen, eine echte »europäische Gemeinschaft«. Wir waren sehr glücklich, weil wir immer die Liebe für Geselligkeit, andere Kulturen, Länder und Menschen teilen und genießen konnten.

Wie Du für Dein Studium gearbeitet hast, Tag und Nacht, weil Du überzeugt und begeistert warst, weil Du wusstest warum und wofür.

Ich war so stolz, wie Du all die Albtraumfächer wie Biochemie, Mathe oder Betriebswirtschaft mit Bravour bewältigt und später einen grandiosen Abschluss gemacht hast. Mit enormem Arbeitseinsatz und Engagement hast Du Dich immer weiter entwickelt und bist zu einer echten Spezialistin Deines Fachs geworden.

Liebe Freundin! Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen, und ich gelobe, dass ich Dich zum Lachen bringen werde, wenn Du wieder einmal das Gefühl hast, gegen Windmühlen anzukämpfen, meine »Kriegerin des Lichts«!

Möge Dein Licht strahlen und mögen wir endlich unsere tollen Reisen machen.

Qwatslama Andreas

Danke an dieser Stelle allen, die sich trotz aller Schwierigkeiten und immer wiederkehrender Rückschläge für den Natur- und Artenschutz einsetzen und ihre Kraft, ihr Wissen und ihren Enthusiasmus unermüdlich für eine bessere Welt einsetzen!

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Ein legendärer Sonnenuntergang in Alberta, Kanada. Aufgenommen von Michael Duftschmid am Rande der Dreharbeiten für den besagten Dokumentarfilm 2000.

EINLEITUNG

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Ein aufmerksamer Wolf im Winter, aufgenommen von Thomas Henning im Wisentgehege Springe.

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Ein Hase in der Oranienbaumer Heide in Sachsen-Anhalt lässt sich nicht stören. Aufgenommen von Christian Emmerich.

SEHR GEEHRTES PUBLIKUM, LIEBE LESERINNEN UND LESER!

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Willkommen zu einer weiteren »Show« zum Thema »die zurückkehrenden Wölfe in unserer Heimat«.

Dieses Buch ist aus meinem tiefen Bedürfnis entstanden, Ihre Aufmerksamkeit auf das polarisierende Thema »Wölfe in Deutschland« zu richten. Kurz vor der im Herbst 2019 vorgesehenen Änderung des bundesdeutschen Naturschutzgesetzes – die sich unmittelbar auch auf unsere heimischen Wölfe auswirken wird – möchte ich den komplexen Zusammenhängen zur Rückkehr dieser Tiere (und unserem Umgang mit ihnen) den Raum geben, den sie brauchen. Wölfe polarisieren. Aber so einfach, wie man es sich oftmals macht, ist das Thema nicht.

Es geht um eines unserer archaischsten, wenn nicht gar um das archaischste Tier unseres Landes. Das, wie ich glaube, stellvertretend steht für unseren Umgang mit der Natur, unserer Erde und der erweiterten und vom Menschen weitgehend unbeeinflussten Natur, der Wildnis. Als Wildnis begreife ich Natur, die einen erweiterten Freiraum innehat, die für sich selbst autonom und gleichberechtigt steht, auf Augenhöhe zur vom Menschen gestalteten Kulturlandschaft und seiner Einteilung der Lebewesen und Pflanzen in »nützlich« oder »unnütz«. So ist es seit Jahrhunderten, und daraus erwachsen ist das sechste große Artensterben – aber diesmal von Menschenhand verursacht: Keine Eiszeit, kein Vulkanausbruch, kein Meteoriteneinschlag sind die Auslöser, sondern unser unachtsamer und respektloser Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Für mich war deshalb das Unter-Schutz-Stellen des Wolfes im Rahmen der Wiedervereinigung ein Versprechen und eine Vision, eine Chance und eine Hoffnung – auf einen verantwortungsvollen Umgang mit einer erweiterten, autonomen Natur in unserer Heimat. Eine Entwicklung hin zu einer Balance der Natur und ihrer Kräfte, getragen von Respekt und Hoffnung. Deshalb lautet auch der Titel dieses Buches »Die Hoffnung und der Wolf«.

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Ein frei lebender Wolf in Deutschland zieht seines Weges. Den gut versteckten und getarnten Fotografen Heiko Anders hat er nicht bemerkt.

Eine Hoffnung auf eine Natur im Gleichgewicht. Dafür steht für mich der Wolf, ein Tier, das seit Jahrhunderten gehasst, gejagt, verachtet und gequält wurde wie kein anderes Lebewesen in unserer angeblich so zivilisierten Welt. Für mich ist es die Hoffnung auf eine Abkehr vom Benutzen und Auswählen, vom Missachten hin zum Respektieren, zum Entdecken und Erkennen der natürlichen Gegebenheiten, ihrer Möglichkeiten und Vorteile und dem tieferen Sinn. Heute, im Oktober 2019, sieht es so aus, als ob der Schutz der Wölfe nun mittels einer Änderung des deutschen Naturschutzgesetzes aufgeweicht werden soll. Wir stehen am Scheideweg: Es droht eine Entscheidung aus Unwissenheit und Angst hin zum Eliminieren, statt zum Suchen nach einer hoffnungsvollen und langfristigen Lösung.

Was hatte man sich denn vorgestellt, oder hatte man die Rückkehr der Wölfe gar nicht ernst genommen? Dass sie gerade für Weidetierhalter eine Herausforderung sein würde, musste doch bei der Entscheidung, den Wolf unter Schutz zu stellen, jedem klar gewesen sein. Die europäischen Länder, aus denen der Wolf nie verschwunden war, machen es uns doch vor, wie es funktionieren kann.

Wie bei so vielen politischen Entscheidungen unserer Zeit bekommt man den Eindruck, dass etwas beschlossen werden soll, was aber nicht zu Ende gedacht ist. Legislaturperioden sind leider offenbar zu kurz, um nachhaltig zu sein. Hauptsache, man redet und hat eine Meinung, ohne entsprechendes Fachwissen, ohne persönliche Beziehung, ohne Engagement, nur um des Redens willen, ohne Bezug zu Fakten und Zusammenhängen.

Ich denke, es wäre vor einer Entscheidung wichtig und nötig gewesen, sich um einen wissenschaftlich fundierten Konsens hier in Deutschland zu bemühen und die Menschen im Vorfeld auf die Konsequenzen dieser Entscheidung vorzubereiten. Nach fast 200 Jahren, die letzten 20 Jahre abgerechnet, ohne große Beutegreifer in unserer Natur, bedarf es eines Lernprozesses und neben dem Schutz der Herden der Bereitschaft, sich mit den neuen Nachbarn auseinanderzusetzen. Sind diese Bereitschaft und dieser Konsens nicht vorhanden, wird das Projekt der Rückkehr scheitern und sich für mich damit auch eine weitere Hoffnung auf eine positive Entwicklung meiner Heimat zerschlagen.

Für mich ist nach wie vor eine im Gleichgewicht befindliche, artenreiche Natur mit Wildnisgebieten auch in unserem Land eine aufregende und eindrucksvolle Hoffnung und Vision. Ich dachte eigentlich, dass die Vorstellung einer ständig vom Menschen begrenzten Natur heute durch die gar nicht mehr so junge Wissenschaft der Ökologie überholt sei. Leider zeigen viele Reaktionen auf die Rückkehr der Karnivoren, dass das wohl nur ein Traum war.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze alle Tiere, ob groß oder klein, sanft oder wild, stark oder schwach. Dabei sind manchmal die kleinsten die stärksten und vollbringen wahre Heldentaten, und ohne die vollständige Kombination von allen ist der Einzelne nichts. Und wenn immer mehr Bausteine fehlen, kann das ökologische System nicht funktionieren. Tatsächlich fehlen immer mehr Bausteine, und das System wird unter diesen Bedingungen so nicht überleben. Vor allem die Kleinen, die Unsichtbaren, die Stillen und Versteckten laufen wie so häufig Gefahr, ungesehen und unbemerkt für immer von dieser Erde zu verschwinden. Leider! Wie im sonstigen Leben.

Und dann ist da der Wolf. Stark, schlau, teilweise unsichtbar, und doch nicht zu übersehen. Was für ein starkes Symbol, wenn wir bereit wären, ihm Platz zu geben und unserer Verantwortung gerecht zu werden, dem Herden- und Nutztierschutz, wie er von Fachleuten empfohlen wird, zu entsprechen.

Ich liebe Lebewesen in jeder Form und Größe, auch Schafe, Ziegen, Kühe und Pferde, um nur ein paar Herden- und Weidetiere zu nennen. Selbstverständlich geht es nicht darum, einige dieser Tiere dem Wolf zu opfern! Sie sollen und müssen geschützt werden, und die Weidetierhalter müssen bei dieser Herausforderung unterstützt werden, was auch bereits geschieht. Wölfe dürfen erst gar nicht lernen, wie einfach Weidetiere zu erbeuten sind. Auch dazu brauchen wir den Herdenschutz, um sie gar nicht erst auf den Geschmack zu bringen! Das Ganze ist aufwendig – aber unbedingt notwendig, und es funktioniert. Man muss sich halt darauf einlassen, auch wenn es mühsam ist und Veränderungen mit sich bringt.

Der Wolf soll seine natürlichen Beutetiere jagen, denn davon gibt es bei uns zu viele, und der Schaden, den sie anrichten, ist enorm. Wie Renée Askins 2002 in »Der Ruf der Wolfsfrau« schrieb:

»DER RUF DER WOLFSFRAU«

von René Askins, 2002

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Wir brauchen ein anderes, ein vernünftigeres und vielleicht mystischeres Verständnis für Tiere. Der Natur entfremdet und abhängig von hoch entwickelter Technologie, betrachten wir Tiere durch das Brennglas unserer Wissenschaft, sehen eine Feder stark vergrößert und das Bild verzerrt. Wir bedauern sie wegen ihrer Unvollkommenheit, wegen ihres tragischen Schicksals, uns, der Krone der Schöpfung, weit unterlegen zu sein. Doch darin irren wir, irren wir sehr. Tiere lassen sich nicht am Maßstab der Menschen messen. Sie bewegen sich perfekt in einer Welt, die älter und ausgereifter ist als unsere, erbringen Sinnesleistungen, die wir verloren oder nie entwickelt haben, und dürfen auf Stimmen vertrauen, die wir nie hören werden. Sie sind uns weder Geschwister noch Diener, sie gehören anderen Völkern an, sind mit uns jedoch verstrickt im Netz aus Sein und Zeit, sind Mitgefangene auf dieser prächtigen und leidvollen Erde.

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In diesem Buch möchte ich noch einmal den Weg verfolgen, auf dem ich zu meinem Verständnis für Natur gefunden habe, zu meiner Sichtweise, die ich aber auch mit anderen teile. Mich faszinieren diese schlauen, geschmeidigen, anpassungsfähigen, sozial orientierten Tiere, seit ich von ihrer Existenz weiß – und vor allem hat es mich gefreut, dass sie an vielen Plätzen dieser Welt noch immer vorhanden sind, dass sie überlebt haben. Ich träume von all den archaischen Geschichten, die sie erzählen könnten, und von der alten Allianz zwischen Mensch und Wolf, zwei Lebewesen, die sich so ähnlich sind. Einer Allianz, die erst durch den erweiterten Expansionsanspruch des Menschen zerbrach und zu Entfremdung und später sogar zu Hass führte. Dabei möchte ich gerne viele von denen erwähnen und zu Wort kommen lassen, die mir Informationen und Nahrung für meine Sehnsucht und Hoffnung geschenkt haben.

Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich in das World Wolf Center in Ely im US-Bundesstaat Minnesota gereist und hätte mich dort mit dem Gründer des Zentrums, David Mech, getroffen. Der Verhaltensbiologe hat das Verhalten frei lebender Wölfe erforscht und wichtige Erkenntnisse darüber gesammelt. Hätte mich mit ihm über sein Buch »Der weiße Wolf« unterhalten, unter anderem über die Erfahrungen mit den Wölfen auf Ellesmere Island. Darüber gibt es meines Wissens nach auch einen Dokumentarfilm. Aber da die Zeit wegen der Gesetzesänderung drängte, habe ich diese Wünsche hintangestellt und mich mit Experten und Betroffenen getroffen, die dem Wolf hier bei uns begegnen und das nun auch schon seit fast zwanzig Jahren.

Für den Dokumentarfilm »Schüsse in der Wolfsheide« hatte ich 2016 die große Freude, Christoph Promberger kennenzulernen. An den drei Tagen, die wir in Rumänien drehten, fuhr ich viele Stunden mit Christoph im Auto, und wir sprachen den ganzen Tag über den Yukon, kalte Winter in Kanada und seine interessanten Reisen und Forschungsergebnisse zu frei lebenden Wölfen. Was für ein tolles Treffen, denn einer der ersten Dokumentarfilme, die ich je gesehen habe, war von ihm. Auch die Filme des italienischen Wissenschaftlers Luigi Boitani, der zum Thema Ökologie und Lebensweise frei lebender Wölfe forscht und Managementpläne zum Schutz von Wölfen erstellt hat, dürfen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.

Meine Idee zu diesem Buch beruht also auf meinem Bedürfnis, mehr über den notwendigen Herdenschutz zu sprechen und dafür einzutreten, dass Weidetierhalter dabei unterstützt werden. Die Bereitschaft zur Umsetzung vor Ort muss allerdings von jedem Einzelnen kommen. Wenn dieser Wille da ist, dann sehe ich eigentlich in der »Rückkehr der Wölfe« noch immer eine Chance. Ich hoffe, Ihnen mit diesem Buch Denkanstöße geben zu können – und Fakten aus erster Hand, von Menschen, die wirklich mit Wölfen zu tun haben. Ich fände es falsch, wenn der Schutzstatus der Wölfe in Deutschland tatsächlich zurückgestuft und der Abschuss der Tiere nicht nur erleichtert, sondern im Rahmen einer Bejagung sogar zum Normalfall würden. Der Wolf fordert unseren Einsatz für die Natur, und es wäre schön, wenn ich mit diesen Zeilen meinen Beitrag dazu leisten könnte.

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Ihr Andreas Hoppe

DIE ENTDECKUNG

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Ausblick auf den Pazifik in British Columbia. Während einer Recherchereise zum Thema »Gefahren des Ölsandabbaus und der möglichen Bedrohung für die Natur« aufgenommen von Konstantin Muffert.

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Blick auf den großen Athabasca Lake. Ein See, der wie ein Ozean erscheint. Leider ist dieser Naturschatz vermutlich durch den Ölsandabbau vergiftet. Die Bewohner nutzen das Wasser seit hunderten von Jahren. Heute werden sie davon krank. Ich hatte die Ehre, ganz in der Nähe bei einer indianischen Totenfeier zwischen den Stammesältesten sitzen zu dürfen. Fotografie von Konstantin Muffert.

ALS DIE AUTOTÜR ZUKLAPPTE …

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… und sich das Auto in Bewegung setzte, wurde es mir schlagartig klar: Jetzt wird es ernst, wir müssen diese kanadische Wildnis nach vier im wahrsten Wortsinn wunderbaren Wochen wieder verlassen. Das Kanu war auf dem Dach vertäut, wir waren erschöpft, aber glücklich. Die Bilder der vergangenen Tage sollten mir für lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich war erfüllt von kindlicher Freude und Abenteuerlust, auch wenn jetzt eine Pause nötig war. Diese monumentale Kraft der Natur, ihre Freiheit, ihre Ursprünglichkeit hatten mich, das wusste ich, ein für alle Mal verändert. Ein zurück in den Andreas »davor« gab es nicht.

Ich hatte erlebt, im Moment, ohne Gestern, ohne Morgen, einfach im Jetzt und Hier glücklich zu sein, nichts zu vermissen oder zu brauchen. Tagelang in der Natur unterwegs zu sein, zu wandern, zu schauen, Kanu zu fahren, Tiere zu entdecken und zu beobachten und diese Kraft zu spüren. Wir hatten auf unserer Reise Elche, Adler, Fischotter, Biber, Vielfraße, Bären und Wölfe gesehen, gehört und gerochen. Das alles empfand ich wie ein Nachhausekommen. Es fühlte sich an, als ob ich in eine Welt zurückkehrte, die es schon lange vor uns Menschen gab, ursprünglich und frei, mit ihrer wundervollen Flora und Fauna, diesen riesigen alten Bäumen und den gigantischen Seen.

Wir waren tagelang unterwegs gewesen, ohne einen Menschen zu treffen, und ich hatte nichts vermisst. Ich spürte eine Träne auf meiner Wange, die sich langsam ihren Weg auf meinem Gesicht bahnte. Als wir dann mit unserem Gefährt aus dem Waldweg auftauchten, war es dunkel geworden. Das Dickicht gab noch ein letztes Mal den Blick auf den kleinen See frei, der jetzt bei Nacht den Vollmond reflektierte und die Insel mit dem verdorrten Baum silbrig glänzen ließ. Die Silhouetten der Vögel, die den Baum als Aussichts- und Schlafplatz nutzten, setzten sich dunkel vom Licht ab, und am linken Bildrand suchte sich die alte, verlassene Blockhütte ihren Weg in den frame.