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Gefährten der
Hoffnung

Eriks Suche

Jörg Krämer

Fantasy-Roman

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Auch wenn mich die Muse nicht
geküsst hat, so hat sie doch meine Finger
gelenkt, der Geschichte eine andere
Wendung zu geben, als sie sich mein
Kopf ausgedacht hat.

Inhaltsverzeichnis

Die Entführung

Die Armeezeit

Beginn der Verfolgung

Der Anfang vom Ende

Giada

Odin

Zwiespalt

Der Meister

Die Alpen

Das Schwert

Die Berge

Irinskat

Graz

Neuanfang

Ostia

Epilog

Dramatis Personae

Über den Autor

Buchempfehlungen

Die Entführung

Seit nur noch wenige Menschen in diesem Gebiet lebten, war die Luft viel klarer und das Grün der Pflanzen viel intensiver geworden. Ich konnte daran nichts Schlimmes finden.

Wenn man genau hinsah, erkannte man meine Silhouette unter dem silbern schimmernden Mond.

Es war eine laue Sommernacht.

Die warme Luft unter meinen Flügeln ließ mich mein knappes Pfund Gewicht kaum spüren. Ich genoss die Freiheit. Nichts störte meinen Flug.

Langsam glitt ich über Wittens größtes zusammenhängendes Waldgebiet: mein Revier.

In der Ferne hörte ich eine Maus fiepen. Lautlos näherte ich mich meiner Beute. Nur ein Waldkauz wie ich konnte sich derart leise bewegen. Die Maus hatte keine Chance.

Meine messerscharfen Krallen schlugen in ihr Genick. Mit dem Kopf im Nacken schluckte ich den noch warmen, blutigen Körper in einem Stück herunter.

Befriedigt bewegte ich mich wieder in die Luft. Nahrung gab es für mich in Hülle und Fülle.

Seit die Seuche vor einigen Jahren die meisten Menschen und viele der großen Säugetiere dahingerafft hatte, vermehrten sich die kleinen Nager massenhaft. Und nur ein alter Habicht machte mir Konkurrenz bei der Jagd.

In Durchholz, einem beschaulichen Vorort von Witten, wo ich im Giebel eines verlassenen Bauernhofs meinen Unterschlupf hatte, gab es schon vor der Katastrophe nur wenige Menschen. Jetzt lebte nur noch eine Familie hier. Erik, seine Frau Irinskat und ihre kleine Tochter Nanuk.

Das große Haus, in dem sie wohnten, war ein kleines Paradies. Das Paar hatte die schönsten Sachen, die im ausgestorbenen Durchholz zu finden waren, zusammengetragen. Im Garten gab es Klettergerüste und einen großen Schwimmteich für Nanuk. Das Gelände war mit einer großen Bruchsteinmauer abgesichert. Auf der Mauer wand sich meterweise S-Draht.

Der Garten war Nanuks Reich. Hier tobte sie den ganzen Tag herum. Wenn ich in der Dämmerung zu ihr flog, kreischte sie immer und tat so, als würde sie sich vor mir erschrecken. Dann lachte sie laut los.

Das Spiel war schon zum Ritual geworden.

Manchmal saß sie aber auch nur ganz ruhig am Pool und schaute traurig ins Leere. »Mom, warum gibt es hier keine anderen Kinder zum Spielen?«, fragte sie dann, und Irinskat nahm sie nur stumm in den Arm.

Erik, der fast zwei Meter große Menschenmann, war heute Morgen an mir vorbei Richtung Stadt gelaufen. Die rhythmischen Bewegungen seiner geschmeidigen Muskeln ließen die langen braunen Haare wild um seinen Kopf fliegen. Trotz seiner abgewetzten Kleider machte er, mit dem über den Rücken gebundenem Schwert, einen imposanten Eindruck.

An seiner Seite der große Germanische Bärenhund Odin, siebzig Kilo Muskeln. Sein Kopf war riesig. Die großen Pfoten würden mich komplett unter sich begraben.

Meistens betrachtete er die Welt ein bisschen schläfrig, und niemand wäre auf den Gedanken kommen, dass sich dieses Tier schnell bewegen könnte.

Mit Odin verband mich etwas. Ich verstand es nicht, aber es war da. Er bemerkte sofort, wenn ich in seine Nähe kam. Dann stahl sich immer ein belustigtes Leuchten in seine Augen. Ich fühlte dabei so etwas wie eine leichte Berührung in meinem Kopf.

Es machte mir Angst!

Aus purer Langeweile begleitete ich die beiden durch den friedlich wirkenden Wald bis zur Stadtgrenze. Dann wurde ich ein wenig durch Lea, einem niedlichen Waldkauzmädchen, abgelenkt. Lea war das heißeste Käuzchen der Gegend. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und unter meinem Gefieder wurde mir ganz warm. Ich versuchte alles, um sie in mein Nest zu locken.

Heute brachte ich ihr die fetteste Maus, die je von einem Kauz gefangen wurde.

Ich zeigte die halsbrecherischsten Flugmanöver, die ein Waldkauz vollbringen kann. Es half alles nichts, sie ließ mich abblitzen.

Wie immer.

Nach diesem Desaster zog ich frustriert meine Kreise im Wald.

Erst die kleine Zwischenmahlzeit besserte meine Stimmung wieder auf.

Im Wald war es jetzt unnatürlich still. Kein Laut war zu hören. Beunruhigt schraubte ich mich hoch in die Luft. Irgendwas stimmte hier nicht.

Da sah ich Erik wie einen Irrwisch durch den Wald jagen. Den großen Hund lautlos rennend an seiner Seite. Ich schraubte mich höher in die Luft. Nun sah ich den Grund für Eriks Eile: Ein Dutzend Roks, die über eine Lichtung eilten. Mutanten, die kaum noch menschliche Züge hatten. Entstellt von der Seuche. Kahle Schädel, mit Zähnen wie Raubtiere, und Händen, die an Klauen erinnerten.

Am ganzen Körper behaart, trugen sie nur Shorts. Alle waren bewaffnet. Rostige Schwerter, schartige Messer und schwere Äxte waren zu erkennen.

Roks töteten alles, was ihnen begegnete. Sie wurden von einem unbändigen Hass auf alle Lebewesen getrieben. Einige von ihnen fraßen auch Menschenfleisch.

Diese Mutantenmeute bewegte sich zielstrebig auf Eriks Haus zu. Dabei waren sie erstaunlich leise. Ich hoffte, Erik würde sie rechtzeitig stoppen.

Als würde er meine Gedanken lesen, schaute mich der große Hund mitten im Laufen an.

Ich kreischte auf. Irgendetwas berührte meinen Geist. Fester und intensiver als sonst.

Der Hund blickte seinen Herrn an.

»Okay!« Nur dieses eine Wort, und Odin schoss los. Sekundenschnell holte er die Mutanten ein.

Ich flog tiefer, um besser sehen zu können.

Da lagen bereits zwei der Roks mit zerfetzter Kehle im Dreck. Der Rest der Meute bildete einen Kreis, damit der Hund sie nicht einzeln angreifen konnte.

Wütend schwangen sie ihre Waffen.

In diesem Augenblick kam der Mann über sie.

Sie mussten erleben, dass die größte Gefahr nicht von dem Hund ausging. Der war der Harmlose des Duos. Erik hatte sein antikes Samurai-Schwert in der Hand. Die zarten Runen im Griff glühten. Die gleichen Runen, die auf Eriks Schulter tätowiert waren.

Bevor der erste Mutant reagieren konnte, tränkte bereits das Blut dreier seiner Brüder den Waldboden. Während Erik einem weiteren Gegner mit gewaltiger Kraft den Körper zerteilte, schwang der Anführer der Meute seine Äxte gegen Eriks Kopf.

Erik tauchte ab.

Die Äxte zerteilten nur noch die Luft. Der Rok fauchte wütend.

Erik tauchte hinter ihm auf und zerfetzte ihm die Sehnen der Kniekehlen. Das schmerzerfüllte Gebrüll ihres Anführers jagte den Rest der Meute in die Flucht. Erik erlöste den Mutanten von seinen Schmerzen.

»Gut gemacht, Odin.« Liebevoll kraulte der Mensch seinem großen Hund den Kopf, dann reinigte er sein Schwert von dem schmierigen Blut der Kreaturen. Weder Erik noch sein Hund atmeten schneller.

Erik wirkte völlig entspannt. Von dieser Meute ging keine Gefahr mehr aus. »Na komm, Odin! Die Mädels warten bestimmt schon auf uns. Ich hab schöne Sachen für sie in der Stadt gefunden. Die Plünderer haben einiges beim Juwelier übersehen.«

Langsam machten sich die zwei wieder auf den Weg. Inzwischen flog ich voraus zu Eriks Haus.

Manchmal legte mir Irinskat einen Leckerbissen hinaus. Doch heute war sie nicht zu sehen. Dafür stieg Rauch aus allen Fenstern. Aus der Musikanlage tönte laute Rockmusik. Ich flog tiefer und glitt durch das Dachfenster ins Haus. Die Schränke waren umgekippt, die Matratzen aufgeschnitten, alles Glas war zerschlagen, und überall waren kleine Brandherde. Aber es gab keine Spur von Leben.

Geschockt flog ich zurück und nahm widerstrebend Kontakt mit dem Hund auf. Keine Ahnung, wie Odin es schaffte, seinen Herrn zu informieren, aber die beiden rasten sofort los.

Dann näherte sich Erik vorsichtig dem Anwesen. Mit einem Stab schob er die Haustür auf. Schüsse fielen. Erik warf sich auf den Boden. Jemand hatte die Tür mit einer Selbstschussanlage gesichert. Wäre Erik durch die Tür gegangen, wäre er jetzt tot.

Das konnten keine Roks gewesen sein, denn die benutzten keine Schusswaffen, überlegte ich.

Angespannt betrat Erik das Haus und durchsuchte alle Räume. Die Gewalt, die hier gewütet hatte, ließ ihn zittern. Dann ließ er sich auf einen alten Stuhl sinken und vergrub die Hände im Gesicht. »Keine Spur von ihnen, Odin. Aber auch keine Leichen. Sie müssen sie mitgenommen haben. Das waren keine Roks, mit denen wäre Kat fertig geworden. Was sie nur mit den beiden wollen? Verdammte Ungewissheit!«

Noch während er das sagte, strafften sich seine Schultern, und auf seinem Gesicht zeigte sich eisige Entschlossenheit. »Wir müssen los, Hund. Sorg dafür, dass die Eule mitkommt!«

Nach einem mitfühlenden Blick auf seinen Herrn machte mir der Hund klar, dass ich bei der Suche dabei war. Ich würde der Kundschafter sein.

Ein leichter Schauder schüttelte meinen Körper. Wenn sie Schusswaffen haben, bin ich auch in der Luft nicht sicher. Andererseits: Stehen Mädels nicht auf Abenteurer? Lea wird mich lieben!

Aufgeregt flog ich los. Wir werden Eriks Familie retten!

Die Armeezeit

Pionierkaserne auf der Schanz (Ingolstadt).

Gelangweilt lag Erik auf seinem Bett. Nun war er bereits zwei Jahre als Einzelkämpfer bei der Truppe. Aber abgesehen von gelegentlichen Manövern verlief sein Leben ereignislos. Einzig der Abtransport des syrischen Giftgases im letzten Jahr hatte seinen monotonen Alltag unterbrochen. Der Einsatz, den er mit dem Gebirgspionierbataillon begleitet hatte, verlief ohne Zwischenfälle.

»Hajo, Lust auf ’ne Runde Sparring?« Erik gab dem Bett über sich einen Tritt.

»Nö, ist mir zu öde mit dir. Du verlierst ja doch.«

»Stimmt, aber nur, weil du mit linken Tricks arbeitest.«

»Der Zweck heiligt die Mittel. Du hast noch nie gewonnen.« Hajo sprang aus dem Bett. Mit seinen ein Meter fünfundsiebzig war er über zwanzig Zentimeter kleiner als Erik. Seine blonden Haare waren kurzgeschoren. Ein krasser Gegensatz zu Eriks langer Mähne. Sie stammten beide aus Witten. Waren schon zusammen zur Grundschule gegangen. Als sie älter wurden, fanden sie es cool, sich als Einzelkämpfer ausbilden zu lassen. Das Abenteuergefühl war inzwischen purer Langeweile gewichen.

»Was stellen wir dann an?«

»Lass uns ins Shamrock gehen. Ein bisschen Tanzen, Darten, ein oder zwei Kilkennies. Da kriegen wir den Abend schon rum.«

»Tanzen? Was sagt denn deine Frau dazu?«

»Was sie nicht weiß …«

Erik musste lachen. Hajo war ein unverbesserlicher Schürzenjäger. Aber er liebte seine Frau und seine beiden Kinder über alles. So schickte er am Ende des Abends doch jede andere Frau alleine nach Hause.

»Okay, gib mir noch ’ne halbe Stunde. Dann können wir los.«

Erik war solo. Er freute sich auf den Pub. Hier kam man nicht so oft raus. Zudem war Henry, der Chef vom Shamrock, ein netter Kerl.

Als sie loszogen, versank gerade die Sonne als glutroter Ball hinterm Horizont.

Das Shamrock war noch leer. Leise dudelte irische Musik aus den Lautsprechern. Henry polierte geschäftig die Theke.

»Zwei Kilkenny und ’ne Flasche von deinem besten Whisky!«, rief Hajo.

»Kommt sofort. Mach mir heute nicht wieder die ganzen Mädels wild, Hajo.«

»Mach ich nie«, grinste Hajo, schnappte sich die Dartpfeile und zog Erik mit zur Scheibe. »Der Verlierer zahlt.«

»Okay, hoffentlich hast du genug Geld.«

Die Zeit verging wie im Flug. Nach der ersten Flasche Whisky fanden die Darts nur noch selten ihr Ziel. Inzwischen war das Shamrock gerammelt voll. Hajo drängte sich zur Theke. »Noch ’ne Flasche, Henry!« Leicht torkelnd kämpfte Hajo sich zurück zu Erik. »Verdammt was los hier«, lallte er.

»Jau.« Erik nahm ihm die Flasche ab, goss sich das Whiskyglas voll und kippte es auf Ex weg. »Und verdammt gutes irisches Wasser.« Schief grinsend warf er die Darts.

»Dreimal Bull’s Eye? Du willst mich verarschen.« Hajos Augen fielen ihm bald aus dem Kopf.

»Alles eine Frage der Konzentration«, lallte Erik und sank auf den Boden.

»Hast gewonnen.« Hajo ließ sich neben ihn sinken.

»Auf deine Frau.« Erik machte die Gläser voll.

Nachdem sie auch die zweite Flasche vernichtet hatten, machten sie sich gutgelaunt auf den Rückweg.

Da spürte Erik einen Schlag in den Rücken. Benommen stolperte er nach vorn. »Scheiße, was soll das?«

»Bleib liegen, dann passiert dir nichts!«

Wie durch Nebel erkannte Erik, dass zwei Typen Hajo festhielten, während der Gesprächige gemächlich auf ihn einschlug.

»Du lässt die Finger von meiner Frau!« Bei jedem Wort ein Schlag ins Gesicht. Hajo sah nicht begeistert aus.

»Verdammt, lasst ihn los! Er hat’s bestimmt kapiert.« Erik kämpfte sich hoch. »Ronk.« Schon wieder sah er Sterne.

»Fresse! Du hast Pause.« Nachdem ihm der Typ die Nase gebrochen hatte, widmete er sich wieder Hajo.

Erik spürte, wie eine Flamme innerlich an ihm empor züngelte. Er stieß ein leichtes Grollen aus. Ein gelbes Leuchten stahl sich in seine Augen. Die Hitze erfasste seinen Kopf. Das Grollen wurde lauter. Im Aufstehen trat er dem Redner die Beine weg. In derselben Bewegung zertrümmerte seine Faust den Kiefer des linken Halters.

Der ging schreiend zu Boden. Das Grollen schwoll weiter an. Der dritte Mann suchte kreidebleich das Weite.

Nicht so der Redner. »Was jetzt passiert. Hast du dir selbst zuzuschreiben.« Mit wirbelnden Händen und Füßen ging er auf Erik los.

Der nahm zwei Schläge und lächelte. Das gelbe Licht in seinen Augen wurde stärker. Der Redner wich unsicher zurück. Normalerweise fiel jeder um, den er so traf.

»Erik, lass gut sein!«, rief Hajo, der langsam wieder auf die Füße kam.

Genauso gut hätte er mit den Bäumen reden können. Erik war wie in Trance. Lächelnd bewegte er sich auf seinen Gegner zu. Der hatte sich wieder gefasst und griff an. Statt auszuweichen, ging Erik in den Angriff rein und brach mit seinem Tritt dem Redner locker das Knie.

Noch während er zusammenbrach, zuckte Eriks Handkante gegen seinen Kehlkopf.

Einmal! Zweimal! Dreimal!

»Erik, hör auf!«

Erik lächelte immer noch. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und zerschmetterte dem Redner aus der Drehung das Genick. In diesem Augenblick warf sich Hajo auf Erik. »Verdammt, hör auf!«

»Hajo? Was tust du? Geh runter von mir!« Erik fühlte nur dumpfes Pochen in den Schläfen.

»Guck nach links, du Idiot! Was hast du dir dabei gedacht?«

Fragend drehte Erik den Kopf – und sah in die brechenden Augen des Redners. Langsam rann das Blut aus seinen Augen und Ohren auf den Asphalt. Erik riss die Augen auf. »Was ist passiert?«

»Ich dachte, das sagst du mir. Du bist völlig ausgeklinkt. Der Typ ist mausetot. Und du wolltest ihn noch weiter töten.«

»Ich …« Erik fühlte sich nur leer.

In der Ferne hörten sie die Sirene der Militärpolizei. Hajo half ihm auf die Füße. »Am besten, wir warten hier. Abhauen macht keinen Sinn. Und schließlich haben die drei uns angegriffen.«

»Okay, was immer du sagst«, flüsterte Erik. Erik kam vor das Militärgericht. Und er hatte Glück, viel Glück. Trotz Hajos Aussage wäre er für lange Zeit weggesperrt worden. Wenn nicht die Armee nach einem halben Jahr seiner Einzelhaft dringend Freiwillige für den Abbau von Biowaffen aus Syrien gebraucht hätte.

Als er aus dem Bau kam, wurde er von Hajo abgeholt. »Hier von meiner Frau.« Damit reichte er Erik einen großen, selbstgebackenen Kuchen. »Hast du schon gehört?«

»Danke. Was denn?«

»Wir gehen zusammen nach Syrien.«

»Warum?« Erik sprach seit dem Vorfall noch weniger.

»Abenteuer. Endlich passiert mal was. Da kann ich doch nicht hierbleiben. Außerdem hast du mir den Arsch gerettet. Da lass ich dich doch nicht alleine.«

»Was sagt Myrna?«

»Sie lässt mich machen. Sie kennt mich ja.«

»Also gut. Weißt du schon, wann’s losgeht?«

»Genau nicht, aber nächste Woche sollen wir schon vor Ort sein. Zeit genug, richtig Abschied zu feiern.«

»Ohne mich. Noch mal danke für den Kuchen. Wir seh’n uns später.«

Hajo sah ihm verwundert nach, zuckte die Schultern und schwenkte Richtung Shamrock ein.

Beginn der Verfolgung

Langsam zog ich immer größer werdende Kreise um Eriks Anwesen. Es dauerte kaum zehn Minuten, da sah ich sie: einen Trupp von zwei Dutzend Menschen, beritten und mit Schusswaffen ausgerüstet. Sie bewegten sich diszipliniert wie eine Armeeeinheit.

Ich flog etwas tiefer. Mein Herz pochte. Vor Schusswaffen hatte ich eine Heidenangst.

Ich flog dicht zu dem einzigen Planwagen der Kolonne. Unter der Plane konnte ich zwei gefesselte Silhouetten erkennen: Lena und Nanuk. Sie lebten.

Sofort stieg ich wieder in sichere Höhen auf und machte mich auf den Rückweg.

In Durchholz angekommen, spürte ich sofort den Kontakt mit Odin. Langsam gewöhnte ich mich daran.

Der Hund sah Erik in die Augen; ein stummes Gespräch.

Ein kaltes Lächeln stahl sich in Eriks Gesicht. Er griff seinen Rucksack, band seine Waffen um und marschierte los.

Ich schraubte mich wieder in die Höhe.

Odin hielt jetzt ständig den Kontakt zu mir.

Mit den beiden Bodenbewohnern im Schlepp brauchte ich fast eine Stunde bis zum Lager.

Es war leer! Odins Enttäuschung war für mich fast körperlich zu spüren.

Erik zog sein Schwert und suchte aufmerksam den Lagerplatz ab.

Ich hörte eine Maus. Lautlos glitt ich tiefer. Ich konnte das frische Blut fast schon schmecken. »Au!« Odin hatte fest nach meinem Geist gegriffen. Ich geriet ins Trudeln. Erst kurz vor dem Boden konnte ich mich wieder fangen. Ich hatte verstanden. Okay, dann eben kein Essen.

Ob Lea wohl ahnte, was ich alles durchmachte, um für sie ein Held zu sein?

Ich flog wieder höher und kreiste über dem verlassenen Lager.

»Odin, sie bewegen sich in Richtung der alten Sauerlandlinie.«

Der Hund sah den Menschen an.

»Kommt, sofort weiter!« Erik wollte keine Sekunde verlieren.

In Höhe der Baumwipfel flog ich in Richtung der alten Autobahn. Früher hatte ich hier mal gejagt. Auf dem Asphalt hatten die Nager keine Chance. Ich musste aber nach kurzer Zeit flüchten. Ein alter Uhu hatte die Bahn als sein Revier bestimmt. Beinahe hätte er mich zerfetzt. Ein paar Narben unter meinem Bauch zeugen von dem Angriff.

Vorsichtig näherte ich mich der Autobahn. Hier musste ich auf zwei sehr unterschiedliche Feinde aufpassen. Die Plünderer konnte ich schon hören; kein Problem. Der Uhu aber konnte sich genauso lautlos bewegen wie ich.

Vorsichtig näherte ich mich den Plünderern. Es gab jede Menge Deckung. Ich kam ganz nahe heran, nahm all meinen Mut zusammen und flog zu dem Wagen, in dem Irinskat und Nanuk eingesperrt waren.

Nanuk erkannte mich sofort, aber sie zuckte nicht einmal. Braves Mädchen.

Ich flog zurück in die Deckung der Büsche. Dort hockte ich mich auf einen Ast. Ich war mir sicher, der Hund hatte den Kontakt nicht abgebrochen.

Langsam entspannte ich mich.

Da ließ mich ein Gefühl umdrehen. Ein scharfer Schmerz fraß sich in mein Auge. Ich ließ mich fallen und glitt in die untersten Büsche.

Der Uhu!

Hätte ich mich nicht umgedreht, wäre mein Kopf jetzt Matsche und ich Uhu-Futter.

Auf der Flucht vor der großen Eule kroch ich durchs Unterholz. Mein Kopf zuckte ständig in alle Richtungen. Meine Brust bebte vor Angst. Die alte Eule konnte vollkommen geräuschlos fliegen. Ich würde sie erst bemerken, wenn sich ihre Krallen in meinen Körper bohrten.

Zu fliegen wagte ich nicht. Der Uhu war weitaus stärker als ich. Zudem war er schneller und fast genauso ausdauernd. Einzig meine geringe Größe konnte mich retten. Ich war im Unterholz fast unsichtbar. Mit dem Blut floss auch meine Kraft langsam aus mir hinaus.

»Kiep!« Direkt vor mir tauchten zwei riesige Augen auf; Odin! Der Hund bewegte sich noch lautloser als der Uhu.

Du dämliches Vieh! Willst du mich umbringen?, dachte ich.

An dem leichten Hochziehen der Lefzen erkannte ich, dass er mich ganz genau verstanden hatte; verfluchte Telepathie.

Odin gab mir zu verstehen, auf seinen Rücken zu klettern.

Okay, ich krallte mich in seinem Fell fest.

Los ging’s! In vollem Tempo Richtung Erik.

Da tauchte der Uhu im Tiefflug vor uns auf, die tödlichen Krallen voran.

Odin schaute kurz hoch. Die Temperatur schien zu sinken. Der Uhu stürzte fast ab, fing sich gerade noch und suchte das Weite.

Wir hetzten weiter durchs Gestrüpp, zurück zu Erik. Bereits nach wenigen Minuten tauchte er vor uns auf. Im schnellen Trab hatte er schon fast zu uns aufgeschlossen.

Besorgt schaute Erik mich an.

Vorsichtig tastete er mich ab. »Hm, nichts gebrochen.« Er reinigte und desinfizierte meine Wunden. »Versuch mal zu fliegen«, meinte er.

Vorsichtig streckte ich meine Flügel aus und flatterte langsam los. Es tat höllisch weh, aber es funktionierte.

»Dann weiter«, befahl Erik, »aber leise. Vielleicht können wir die Plünderer überraschen.«

Odin lief vor und gab die Richtung an. Ich krallte mich auf Eriks Schulter fest. Mir tat alles weh. Der verdammte Uhu hätte mich fast geschafft!

Wir näherten uns dem Lager. Hektische Betriebsamkeit war zu hören. Da stimmte etwas nicht. Um diese Zeit müssten eigentlich alle schlafen.

»Zach, hoch mit dir!«

Odins mentaler Befehl riss mich hoch. Ich flatterte versuchsweise mit den Flügeln, fiepte jämmerlich, konnte aber kein Mitleid heischen. Ich fügte mich in mein Schicksal und schraubte meinen Körper lautlos in die Luft. Auf Höhe der Baumwipfel glitt ich über das Lager, begleitet von ständiger Angst vor dem alten Uhu. Aber Odin hatte ganze Arbeit geleistet, die alte Eule blieb verschwunden.

Nicht so Odins mentaler Griff.

Das Lager war in Aufruhr. Eriks früherer Kumpel Hajo bellte Kommandos. Seine Leute bauten Barrikaden auf und entzündeten rund um das Lager große Feuer.

Ich flog tiefer, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Dabei näherte ich mich dem Gefangenentransporter, der jetzt unbewacht war.

Da hörte ich eine Maus fiepen, ganz nah beim Transporter.

Beim Gedanken an eine frische, zuckende Mahlzeit lief mir das Wasser im Schnabel zusammen. Ich nahm Maß. Die Beute sollte keine Chance haben. Noch eine Sekunde.

Ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen Kopf. Ich geriet ins Trudeln. Blitzschnell war die Maus verschwunden. Kurz vor dem Boden fing ich mich wieder – Odin hatte mich unmissverständlich an meine Aufgabe erinnert.

Ich flog noch eine Runde über das Lager, dann kehrte ich zu meinen Gefährten zurück.

Erik runzelte die Stirn. Er hatte alles, was ich beobachtet hatte, durch Odin übermittelt bekommen.

»Hmm, sie sind nicht bewacht. Aber durch die ganzen Feuer kommen wir nicht nah an sie ran.«

Odin sah seinem Herrn in die Augen. Erik hatte den Schwertgriff gefasst. Seine Knöchel stachen weiß hervor. Einen Augenblick dachte ich, dass wir die ganze Meute angreifen würden. Doch Erik zuckte die Achseln. »Wir werden wohl warten müssen.«

Dann hörten wir es. Hunderte von Körpern, die durch das Unterholz brachen. Aus allen Richtungen bewegten sich Roks auf das Lager zu.

Erik fluchte: »Verdammt, wenn wir uns nicht so auf die Plünderer konzentriert hätten, wären wir jetzt nicht so überrascht worden.«

Schnell zogen wir uns in die Finsternis zurück. Die nächtliche Stille wurde gestört durch das Kampfgebrüll aus Dutzenden fauligen Mäulern.

Uns hatten sie bisher nicht bemerkt. Ihr wütender Ansturm galt allein den Plünderern.

Ich flog los, damit Odin den Kampf durch meine Augen sehen konnte. Die zwei Dutzend Söldner hätten eigentlich vor Furcht erstarren müssen, doch sie waren absolut diszipliniert. Als die ersten Roks die Feuer passierten, wurden sie von den Kugeln der Söldner niedergemäht. Präzise mit einer Kugel pro Rok. Hajos Männer waren perfekt eingespielt.