sondern dass man nie beginnen wird zu leben.

 

Marc Aurel

An die grellen Lampen hat er sich längst gewöhnt.

Ja, sie üben inzwischen eine gewisse Beruhigung auf ihn aus.

Seit Jahren geht das nun schon so. Erst kommt die Dunkelheit, dann das Licht, und immer hofft Loosi aufs Paradies. Doch jedes Mal ist es nur die ernüchternde Neonröhre einer Krankenhausbeleuchtung.

Die der Uniklinik mag er am liebsten. Sonnengleich blenden die summenden Dinger hier von der Zimmerdecke. Darin ist Loosi mittlerweile Experte. Im Lichtreigen. Wie im Nichtfühlen. Sein Gefährte: Zaranoff. Aber ohne den gewohnten Pegel fällt das heute schwer.

Sie haben ihm den Magen ausgepumpt. Wieder ist er im Krankenwagen aufgewacht. Wieder haben sie ihn mit Blaulicht durch die Stadt gefahren. Danach das übliche Prozedere. Jetzt fallen ihm in immer kürzeren Abständen die Augen zu. Bilder und Wörter blitzen auf, vor allem solche, die er längst vergessen hatte oder seit Ewigkeiten zu vergessen sucht oder spätestens heute endlich vergessen will. Für keins davon lohnt es, nicht zu saufen, aber weil das gerade nicht geht, versucht Loosi, die Mitte zu finden. Von rechts nach links, von oben nach unten, mit gleichem Abstand zu allen Seiten die Mitte suchen, bloß nicht denken. Wenn er denkt, fühlt er, wenn er fühlt, Schmerz. Also besser die Mitte, die Mitte von was?

»Ich sehe Ihre zu siebzig Prozent zerstörte Leber bereits zum vierten Mal.«

Der Arzt pfeffert ihm Bilder in den Schoß.

»Ich gucke sie mir kein fünftes Mal mehr an, weil es kein fünftes Mal mehr geben wird. Sie ahnen nicht im Ansatz, was für ein Glück Sie hatten, dass man Sie rechtzeitig gefunden hat.«

Um seinen Standpunkt deutlich zu machen, schlägt der Arzt mit einer Wucht auf das oberste Bild, als gäbe er Loosi eine schallende Ohrfeige, und Loosi kann ihn verstehen. Hat der Arme doch vor wahrscheinlich dreißig Jahren feierlich seinen Eid geschworen, dass er um jeden Preis Leben rettet, und nun wird ihm wiederholt ein Loser gebracht, der nicht zu retten ist, ja der sich die Diagnose selbst kein fünftes Mal anhören will. Seit Jahren sind die schwarzen Flecke vertraute Freunde, Loosi kennt sie alle, und er sieht keinen Grund, sich weiter mit ihnen zu beschäftigen. Er schaut dem Arzt einfach nur ins Gesicht, ein Pager piepst, und die Fata Morgana in Weiß eilt so schnell aus dem Zimmer, wie sie erschienen war, während ihre Worte ihr nachwehen:

»Wenn Sie nicht sofort aufhören zu trinken, gebe ich Ihnen höchstens noch zwei Monate.«

So lange noch?

Der Mund des fremden Mannes öffnet und schließt sich wie eine freundliche Auster. Michi folgt jeder seiner Lippenbewegungen, versucht, seine Codes zu entschlüsseln, aber was herauskommt, macht keinen Sinn.

»Um sechs Uhr gibt es Frühstück, um dreizehn Uhr Mittagessen, um achtzehn Uhr Abendessen, ab einundzwanzig Uhr ist Bettruhe.«

Schock, haben die Polizisten geflüstert, Trauma und so, und Michi hat getan, als verstünde er alles, er ist schließlich fast fünfzehn, aber in Wahrheit versteht er nichts. Die Wörter, die einzelnen, kennt er, aber zusammengenommen strömen sie einfach nur durch seinen Gehörgang, klopfen irgendwo an, keiner macht auf, und schwups, weg sind sie.

Wieso sitzt er überhaupt hier? Auf dieser Couch? In diesem kackbraunen Büro?

Er traut sich kaum, zu Xandra zu gucken. Ihr kleiner Körper schüttelt sich etwas weniger unter den Tränen als noch am Bahnhof. Sie sitzt unverändert am anderen Ende der Couch. Sie weint schon die gesamten zwei Tage. Er selbst ist seitdem still. Keine Regung. Kein Wort. Als hätte man ihn anästhesiert. Trauma und so. Theoretisch könnte er seine Hand ausstrecken und Xandras nehmen, vielleicht würde sie das trösten. Aber die Hand gehorcht ihm nicht. Er hat es schon ein paarmal probiert. Er würde

Zweiundzwanzig Streifen zählt Michi auf der Vorderseite. Also bis zu den Nähten an der Seite. Das heißt vierundvierzig Streifen rundherum. Vierundvierzig, wie das Alter von Papa. Beide Hosenbeine zusammen also fast das Alter von Papa plus Mama. Der Mann trägt Socken in dem gleichen Hellbraun wie sein Pullover. Es passt gut zu seinem bereits ergrauten Haar. Hoppla, die Auster bewegt sich nicht mehr. Und der Mann guckt ihn erwartungsvoll an. Hat er was verpasst?

Schnell guckt Michi zu Xandra. Auch sie hat den Blick gehoben und schaut den Mann mit ihren roten Augen an. Wenn er sich nur konzentrieren könnte. Blut in die Hände kneten. Gedanken greifen. Er ist ihr großer Bruder, verdammt.

»Wie lange bleiben wir hier?«, ist das Erste, was ihm einfällt. Es ist das Erste, was er sagt, seit dem Schwarz.

Der Mann scheint erleichtert. »Das weiß man nicht genau. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht mehrere Monate.«

»Wir schlafen nicht im selben Zimmer?«

Jetzt findet auch Xandra ihre Stimme wieder. Sie klingt dumpf, als dringe sie durch eine Wand. Und in Xandras Augen steht die Hoffnung, dass der fremde Mann mit seiner nächsten Antwort ihre Eltern hereinholt in dieses Hattersheimer Übergangsding und ihnen auf magische Weise schlagende Herzen einpflanzt. Die Hoffnung, dass alles nur ein Traum ist. Ein böser Traum. Mein Gott,

»Die Mädchen wohnen im oberen Trakt, die Jungen im Souterrain.«

»Aber wir können weiter in die Taunusschule gehen?«

Das ist sein zweiter Satz.

Genau genommen die zweite Frage.

Fühlt sich komisch an.

Aber alles fühlt sich komisch an, seitdem die Sanitäter sie aus dem Auto gezerrt und ihre Eltern in große Planen verpackt haben.

Zuerst haben die die Beine verschluckt. Dann die Hüfte, die Hände, die irgendwo lagen, neben den Oberschenkeln, auf dem Bauch, er weiß es nicht mehr, dann die Brust, den blassen Hals von Mama, den blutigen von Papa, sein Kinn, ihre Nase, die geschlossenen Augen, die rot und nass verklebten Haare. Dann alles nur noch Planen. Zwei dunkle Säcke. Hellschwarz. Oder Dunkelgrau?

Wie unter einer Glocke, denkt er.

Wie unter einer Glocke.

Trauma?

Oder so.

Wieso starrt er die ganze Zeit nur so blöd vor sich hin?

Der Mann lächelt. »Wir geben unser Bestes.«

Das Lächeln soll wohl der Fels in der Brandung sein.

Plötzlich würde Michi ihm am liebsten sein Scheißlächeln aus dem Gesicht schlagen. Er wollte Xandra und sich beruhigen mit der Frage nach der Schule. Und jetzt das hier. Dass das Beste nie gut genug ist, versteht selbst

Erwartet man eigentlich auch von ihm, dass er weint?

 

Michi fährt hoch.

Der Junge im Bett neben ihm schnarcht.

Das helle Licht des Mondes fällt auf die Wand neben seinem Bett. Michi fühlt, wie sein Herz rast, und hört sich keuchen. Er hat wieder von dem Unfall geträumt. Ins Licht der Scheinwerfer gestarrt, die auf sie zugerast sind. Den Aufprall auf die Tunnelwand gespürt.

Auch als sich sein Atem beruhigt hat, bleibt er kerzengerade im Bett sitzen. Bloß nicht wieder einschlafen. Wenn seine Mutter jetzt da wäre, würde sie ihn in den Arm nehmen, wie sie es früher immer gemacht hat, wenn er schlecht geträumt hatte.

Das entfernte Läuten eines Kirchturms sagt ihm, dass er erst zwei Stunden geschlafen hat. Um sich abzulenken, überlegt er, was das Letzte ist, an das er sich erinnern kann. Vor der Fahrt. Vor dem Tag der Abreise. Vor dem Tag vor dem Tag der Abreise. Aber: nichts. Er bekommt die Bilder nicht scharf gestellt. Stattdessen wird ihm übel.

Er sieht sich um. Vier Risse durchkreuzen das Zimmer. Einer links neben ihm die Wand hinauf. Auf halber Strecke nach oben kreuzt der einen anderen. An der Stelle, an der dieser oben in die Decke übergeht, kreuzt der dritte, und der kreuzt in der Mitte der Decke den längsten. Jesus am Kreuz fällt ihm ein. Gott. Was Gott mit der ganzen Sache zu tun hat? Sein Hintern ist kalt. Die Matratze hängt durch, es fühlt sich an, als säße er direkt auf dem Rost.

Er weiß einfach nicht, was er Xandra sagen soll. Wie er ihr erklären soll, was jetzt passiert. Er weiß gerade nur eins: Das Bett ist zu weich. Er fühlt sich wie gefangen in einem ausgelutschten Marshmallow. Wie kann der andere Junge bloß so tief schlafen?

So leise er kann, richtet Michi sich wieder auf, sieht den Jungen an, starrt ihm für einen Augenblick direkt ins Gesicht. Er wirkt angespannt, der Mund steht offen. Was der wohl gerade träumt? Und wie lange er schon hier ist? Vielleicht sind auch seine Eltern noch in einer Kühlkammer. Bis der Rücktransport erfolgt und die Beerdigung stattfinden kann.

 

Am Morgen schleppt Michi sich irgendwie zum Frühstück. Die Tischordnung scheint nach einem bestimmten System organisiert. Nicht ausgesprochen, aber die Kinder fügen sich. Die Kleinen sitzen an einem Tisch, die Großen am nächsten, die Lauten am dritten, die Stillen am vierten. Der Schnarcher gehört zu den Stillen. Michi und Xandra haben einen Platz am fünften Tisch gefunden, dem Tisch der Neuen. Niemand beachtet sie. Hier sucht man sich seine Zugehörigkeit, oder man lässt es.

Später sitzen sie in der Mitte des Hofes auf einer Bank,

Endlich sind sie mal allein. Also, allein zu zweit. Also, zumindest will niemand was von ihnen. Ein paar andere Kinder sind zwar auch im Hof, aber die spielen oder lesen oder gucken vor sich hin, die Augen auf Halbmast oder weit aufgerissen, wie in einem festgefrorenen Überraschungsschmerz. Die Stillen halten ihre Münder geschlossen, die Lauten schreien aggressiv, und der Junge, der schnarcht, sitzt allein auf einer Schaukel.

Endlich bekommen sie auch mal nichts erklärt. Neben Schneider und einer Frau, die sich als Heimleiterin vorgestellt hat, war da gestern noch die Frau, die sie »psychologisch betreut«, wie sie gesagt hat. Ihr haben Michi und Xandra die meisten Fragen beantworten müssen. Viele, unendliche Fragen darüber, ob sie verstehen, warum sie hier sind. Was sie fühlen. Was sie denken. Wie es ihnen gefällt. Ob sie etwas brauchen. Ob sie selbst Fragen haben. Als ob die ganze Rederei irgendwas nützt.

»Wieso können wir nicht einfach nach Hause?«

Xandras Worte sind unter ihrem Schluchzen kaum zu verstehen.

Ein Häufchen Spucke füllt den Ozean weiter auf. Das warme Nass breitet sich aus. Xandras Trauer auf seiner Haut beruhigt ihn. Von irgendwoher riecht es auf einmal nach gebratenem Fleisch. Wie gern äße er jetzt Mamas Frikadellen mit dem selbst gemachten Kartoffelsalat.

»Wenn ich bloß Poppy hätte. Wenigstens Poppy.«

Poppy!

Wieso hat er daran nicht gleich gedacht?

So vorsichtig er kann, nimmt er Xandras Gesicht in seine Hände, so wie Mama das früher bei ihm gemacht hat, und spürt, wie seine Augen glänzen vor Stolz, denn das ist die beste Idee seit Langem:

»Ich hole dir Poppy!«

Xandra vergisst vor Verwirrung das Weinen.

»Lass mich hier nicht allein!«

Ihre Stimme überschlägt sich fast.

»Ich komme doch wieder.«

Immer noch hält er ihr Gesicht in seinen Händen, und er meint, was er sagt, auch wenn er sich fühlt wie in einem schlechten Film.

»Ich lasse dich nicht allein. Ich hole dir Poppy. Bis zum Abendessen bin ich wieder zurück.«

Xandra schaut ihn unentschlossen an. Er sieht, wie sie

Mit ihren verheulten Augen wirkt sie noch zerbrechlicher als sonst. Xandra war schon immer zart. Sie erkältet sich leicht, fürchtet sich vor ihren Mitschülerinnen, die sie auslachen, wegen ihrer Sommersprossen oder weil sie sich im Unterricht immer meldet, nicht einfach reinruft, wenn es ihr gerade passt, wie die anderen. Sie hat sich auch nie fürs Angeln begeistern können, weil die Fische dann sterben oder zumindest verletzt werden, selbst wenn er und Papa sie zurück ins Wasser schmeißen. Und vor Fremden macht sie den Mund nicht auf. Aber wenn sie spricht, wenn sie einmal Vertrauen fasst und ihr Kopf anfängt, ohne Hemmung zu arbeiten, kommen die klügsten Sachen raus, die niemand erwartet, zumindest nicht von einer Elfjährigen. Als Michi eingeschult wurde, hat sie angefangen, mit ihm zu lernen, sie fragte ihn die Hausaufgaben ab und wusste die Lösungen stets vor ihm. Als sie selbst in die erste Klasse kam, konnte ihr die Lehrerin nichts mehr beibringen. Michi ist stolz auf seine kleine Schwester, und jetzt will er endlich mal der große Bruder sein, den sie verdient.

»Ich hole Poppy und bin um sechs wieder hier.«

»Um sechs?«

»Um sechs.«

Sanft krallt Xandra ihre Finger in seine Hand und nickt, als wäre ihr großer Bruder ihre letzte Hoffnung, und wahrscheinlich ist er das für sie, und vielleicht ist sie das für ihn, und er ist dankbar, so dankbar, dass er für ein paar Stunden weiß, was zu tun ist.

 

Der Gedanke an die neue Freiheit schnürt ihm die Kehle zu. Sie hat nichts von dem Abenteuer, wie sie Coca-Cola und Marlboro versprechen, nichts von der ersehnten Selbstbestimmtheit eines lonesome cowboys, dem das Leben allen Widrigkeiten zum Trotz wohlgesinnt ist. Nein. Im Gegenteil. Michi fühlt sich wie das letzte, vergessene Kind. Nichts, absolut nichts wird für ihn und Xandra je wieder so sein wie bisher. Und das, was stattdessen kommt, fühlt sich dunkel an, düster, schwarz. Und schon geht alles wieder von vorne los. Die gleiche Scheiße wie in den letzten Tagen. Sein Hirn beginnt Amok zu laufen.

Der Tunnel.

Ihr Lied.

»Wenn wir reinfahren, wird’s dunkel …«

Die grellen Scheinwerfer, Mamas erschrockener Blick zu Papa, ihr Griff ins Lenkrad.

Wumms!

Papas Blut auf der Windschutzscheibe.

Xandras letztes, verstummendes: »… hell.«

Hör einfach auf zu denken und: lauf!

Nur einen weiteren Schritt.

Und noch einen.

Und noch einen.

Immer nur den nächsten Schritt.

 

Nach einer Stunde kommt er nass geschwitzt zu Hause an. Der Schlüssel liegt unter dem Stein, die Nachbarin hat ihn noch nicht geholt. Umständlich steckt er ihn ins Schloss, dreht ihn langsam und lauscht in die Mittagshitze. Kurz hält er inne, dann schiebt er die Haustür auf. Drinnen umfängt ihn die freundliche Stille des Hauses, in dem er aufgewachsen ist. Und wenn er genau hinhört, ist es, als spräche es mit ihm.

Hallo, flüstert es.

»Hallo?«, antwortet er leise.

Er will nicht stören. Die Stille beruhigt ihn.

»Hallo, liebes Haus.«

Michi lauscht dem kurzen Echo im Treppenhaus.

Und hört ein Geräusch.

Ja, da war etwas. Ganz sicher.

»Hallo?!«

Michi horcht in das Schweigen des Hauses, und ja:

Da klopft doch jemand.

Das ist ein Klopfen!

Ein regelmäßiges Klopfen.

Von oben.

Aus dem Schlafzimmer der Eltern.

»Mama?«

Michis Herz fällt ein paar Stockwerke hinunter.

Dem Geräusch folgend, hastet Michi durch den Flur, die Treppe hinauf, um die Ecke, Endspurt durch den oberen Flur direkt ins Schlafzimmer der Eltern.

»Papa?!«

Ein Eichhörnchen kratzt am Fenster. Versteht nicht, wieso es nicht weitergeht am Ende des Astes.

Wieso es nicht weitergeht. Am Ende.

Als es Michi sieht, husch, fort ist es.

Mindestens fünf Minuten starrt Michi auf das Fenster und glaubt, dass er nun verrückt wird. Denn, nein, es gibt keine Wunder.

Zumindest nicht hier.

Zumindest nicht jetzt.

Zumindest nicht für ihn.

Wie kann er so blöd sein und auch nur für eine Sekunde glauben, dass Mama und Papa tatsächlich hier sind? Benommen sackt er aufs Bett und merkt plötzlich, wie erschöpft er ist. Klar, er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Ob er sich kurz hinlegen kann? Ein bisschen ausruhen?

Er stellt den Rucksack ab, zieht die Schuhe aus und legt sich auf Mamas Seite. Auf dem Nachttisch steht ein Foto, das ihn und Xandra auf einem Schlauchboot in den Armen ihrer Eltern zeigt. Vier lachende Gesichter ziehen Grimassen, dicht beieinander, der Kamera zugewandt. Papa schaut der Schalk aus den Augen. Mamas Mund ist am weitesten aufgerissen. In dem Moment, als der Auslöser gedrückt wurde, hat Papa ihr in die Taille gepikst. Mama schrie, noch während sie lachte, boxte Papa und küsste ihn direkt auf den Mund.

Michi greift nach dem Foto und drückt es an seine Brust.

»Bitte«, flüstert er.

Kommt zurück.

Die Sache mit Jana ist kompliziert. Obwohl, eigentlich nicht. Jeder will Jana, und jede will den King. Sie wären das perfekte Paar, und jeder schnallt es, nur Jana nicht.

Sie hat sich stattdessen Mekki geangelt, ausgerechnet das Itaker-Arsch. Wahrscheinlich glaubt sie, dass nur er, der angebliche »Boss«, sie vor der Ausweisung bewahren kann, und jetzt steht sie mit ihm Seite an Seite vor der großen Glaswand am anderen Ende des Büros. Wenigstens bewundert sie das Kingdom, während Mekki sich nur kurz dem Ausblick widmet, um dann seine beiden Schergen zu instruieren, sich zu postieren.

Der King hat den Club in den letzten Wochen nämlich in eine funkelnde Landschaft aus Schnee verwandeln lassen, Kunstschnee natürlich, alles sollte so rein sein wie seine Ware, mit weißen Wänden und glitzernden Bänken, einem Boden aus Glas über schimmerndem Wasser, und über allem, hinter einer verspiegelten Scheibe: sein Reich. Kings Reich. Von hier oben hört man nur dumpf, wie unten der Beat pumpt, sieht durch die riesige Glaswand nur schemenhaft, wie das Stroboskop hämmert und der Pöbel sich im neuen Winter Wonderland beim ersten inoffiziellen Testlauf nach der Umgestaltung die Langeweile vom Arsch zappelt. Aber das alles interessiert Mekki eh nicht. Der okkupiert nur

Wie dem King das auf den Sack geht. Er kann es nicht mehr ertragen. Ok, im Grunde genommen gehört das Büro noch Mekki, ja, gehört ihm noch der ganze Club. Noch ist der King nur der Geschäftsführer. Aber scheiß drauf. Er hat das Kingdom zu dem gemacht, was es ist: der erfolgreichste Laden der ganzen Stadt. Der perfekte Waschsalon für Mekkis dreckige Kohle. Und wer nett ist, bekommt auch was ab von Kings reinstem Koks. Auch wenn Mekki dagegen ist, schon immer dagegen war, dass der King den Stoff direkt im Club vertickt, geschweige denn verschenkt. Mekki will das schön getrennt haben. Und ja, der King hätte die Neugestaltung mit Mekki absprechen können. Aber: Deal ist Deal. Es war abgesprochen, dass King den Club jetzt übernimmt. Kann der Alte ihn also nicht einfach mal machen lassen, ohne gleich diese Paten-Nummer abzuziehen und mit seinen beiden Pitbulls aufzukreuzen, die jetzt die Tür flankieren und den King einschüchtern sollen? Aber komm, drauf geschissen, was soll’s? Der King lässt sich nicht beirren. Auch nicht von Horror-Harry und Tiger-Tonio. Er weiß, was zu tun ist. Er weiß immer, was zu tun ist. Vorerst: deeskalieren. Die offizielle Einweihungsparty am Samstag darf auf keinen Fall gefährdet werden. Schließlich ist die Clubübernahme nur der Anfang. Der King hat noch viel mehr vor. Also setzt er sein echtestes Lächeln auf und flötet:

»Mekki, was für eine Ehre! Was treibt dich hier her?!«

Dann lässt er sich betont easy auf seinen Thron fallen, während er die Füße auf den Schreibtisch aus Adlerholz

»King«, Mekki dreht sich zu ihm. »Ich bin stolz auf dich.«

Der King muss fast losprusten, so falsch klingt das.

»Du hast was aus dem Laden gemacht.«

Mekki mustert ihn von Kopf bis Fuß. Weder Tonfall noch Musterung gefallen dem King. Also grinst er Mekki so breit an, wie er kann, und sagt:

»Mein Volk zu meinen Füßen, die schönste Frau Deutschlands in meinem Büro und in vier Tagen ein Re-Opening, so fett, wie die Stadt es noch nicht gesehen hat. Was will man mehr?«

Mekkis Augen funkeln dem King eiskalt entgegen, aber sein Gesicht wirkt tiefenentspannt. Als sein Blick an Kings Füßen hängen bleibt, bemerkt der, dass sein linkes Bein auf und ab hüpft. Nur mit massivem Druck auf den Unterschenkel kann er es ruhigstellen. Mit großer Geste bittet der King Mekki, Platz zu nehmen. Endlich dreht sich auch Jana um, und verdammt, da fällt ihm mal wieder auf, wie schön sie ist!

Dabei ist sie keine Schönheit im klassischen Sinn. Die Nase zu platt, die Wangen zu breit, das Gebiss zu weit vorn. Aber auf ihre Weise ist alles an seinem Platz, ordnet sich zu einer eleganten Formation: Die klaren Kanten des Kiefers, die weichen, vollen Lippen, die geschwungenen Augenbrauen. Und vor allem: Janas Augen, eine Dunkelheit, von der du nicht mal eine Ahnung hattest, dass es sie gibt, bis du in Janas Augen blickst, die dich am

»Nàdurra, Liebes.«

Mekkis Worte reißen King aus seinen Gedanken.

Wie immer befiehlt Mekki mehr, als dass er Jana bittet, bevor er sich in den Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs setzt.

»Wenn ich daran denke …«, in Vorbereitung einer seiner Standpauken schiebt Mekki seinen massigen Körper tief in den Sessel, weil er meint, das verleihe ihm Autorität, und das tut es: »… was du für ein Küken warst, damals, als ich dich aufgesammelt habe – ich meine, ehrlich, guckt euch um!«

Während Mekki seinen Blick vom Adlerholztisch über die Bar zur Tanzfläche schweifen lässt, hat der King Zeit nachzuspüren, wie ihn bei dem Wort Küken ein Blitz durchzuckt und bei dem Wort aufgesammelt ein Donner erschüttert.

»Vor vierzehn Jahren warst du noch ein kleiner Pusher, jetzt bist du der Chef des Imports, und bald wirst du meinen besten Laden übernehmen. Wie hast du mich nur so weichklopfen können?«

Mekki lacht gönnerhaft.

Er drückt den Rücken durch und blickt Mekki direkt in die Augen. Einen Moment starren sie sich unverwandt an. Dann sagt der King, so ruhig er kann:

»Ich will ab jetzt fünfzig Prozent.«

Jana, die ihren Hintern inzwischen neben Mekkis Kopf auf die Sessellehne platziert hat, fällt fast das Whiskyglas aus der Hand, Glenlivet 16 Nàdurra.

Die Pitbulls wachen auf.

Kurz hält Mekki Kings Blick stand. Erstaunt. Dann wendet er sich ab und bricht in schallendes Gelächter aus.

Mekki kneift Jana in die rechte Backe und nimmt einen großen Schluck, nachdem er sein Lachen so künstlich wieder beruhigt hat, wie er es begonnen hatte. Genüsslich zieht er den Nàdurra durch die Zähne, betrachtet den im Glas verbliebenen Rest im Gegenlicht des von der Tanzfläche heraufflackernden Stroboskops und schweigt. Jetzt wäre der letzte Moment für einen Rückzieher. Aber der King meint es ernst, und sein nächster Satz knallt in der Stille wie eine Ohrfeige:

»Der Bengel ist erwachsen.«

Jana schaut dem King ins Gesicht und versteht, wie ernst es ihm ist. Sicherheitshalber nimmt sie Mekki das Glas aus der Hand, bevor der King die Bombe platzen lässt.

»Hör zu, Mekki. Ich wäre ohne dich nicht hier, das stimmt, aber …«, und jetzt kommt die Einsicht, die er schon viel zu lange mit sich herumträgt, »… du wärst auch nicht da, wo du bist – ohne mich.«

Noch atmen alle.

Gut.

»Nicht du, sondern ich habe den Club zum größten der Stadt gemacht. Und ehrlich, mir geht’s auf den Sack, dass du immer so tust, als seist du allein der Chef. Hast du vergessen, dass ich die ganzen Leute rangeschleppt habe? Dass ich die Deals schließe, ich die Kontakte zu den Lieferanten pflege, ich die Wege kenne? Ohne mich läuft hier nichts. Das weißt du. Und genau deshalb will ich ab jetzt meinen gerechten Anteil.«

Mekki guckt den King an. Sprachlos.

Zum ersten Mal in vierzehn Jahren.

»Jetzt hörst du mir gut zu«, Mekki hat seine Sprache wiedergefunden. »Der Bengel, den ich einst kennengelernt habe, hat mit großen Augen in die Welt geguckt, war dankbar, wollte lernen. Und ich habe mich um ihn gekümmert wie um einen Sohn. Ich habe ihn sogar zu meinem besten Mann gemacht.« Mekkis Stimme durchfährt ein leichtes Beben. »Und jetzt spielst du hier Meuterei auf der Bounty?«

Mekki wirkt tatsächlich, als würden Wut und Enttäuschung ihn zerreißen. Nichts von dem kann den King beeindrucken. Er durchschaut das Theater. Die Nummer kennt er aus dem Effeff. Aber Mekki ist noch nicht fertig.

»Weißt du, King, wie sie dich nennen?«

Der King grinst wieder, klar weiß er das, und es gefällt ihm.

»Den Snow-King.«

Der King grinst noch breiter.

»Du sollst das scheiß Zeug verkaufen, aber du bist immer tiefer eingetaucht in dein Schneeparadies, und langsam …«, wieder macht Mekki eine seiner rhetorischen Pausen, die seinen Worten Nachdruck verleihen sollen, und es funktioniert, »… friert dein Hirn ein.«

Mit großer Geste dreht sich Mekki zu Harry und Tony um.

»Was meint ihr? Wie lange bleibt der noch bei Verstand?«

Die beiden feixen und zucken mit den Schultern. Mekki wendet sich wieder an den King und wartet, dass seine Provokation Wirkung zeigt. Er wartet auf eine Antwort.

»Ok«, sagt Mekki schließlich. »Ich vergesse, was du eben gefordert hast, und halte mich an unsere Vereinbarung. Du kriegst den Club, und ansonsten gilt: Du kennst die Regeln.«

Klar kennt er die.

Regel Nummer 1: Der King macht die Drecksarbeit, und der Boss kriegt die Kohle.

Er pfeift auf die Regeln.

Aber Mekki setzt noch einen drauf.

»Werd clean. Kein eigener Konsum mehr. Weder hier noch sonst wo.«

Bitte was?

Was bildet der sich ein?!

Glaubt der tatsächlich, dass er ihm noch Vorschriften machen kann? Und dann so eine!

Dem King reicht es endgültig, es ist Zeit für Plan B. Demonstrativ zieht er die oberste Schublade seines Schreibtischs auf. Mekkis Kopf wird in tausend Einzelteile zerfetzt. Blut spritzt auf die Scheibe zur Tanzfläche. Die Gäste dahinter zappeln weiter zwischen Lichtflackern und roten Schlieren, Jana springt kreischend auf, um sich in Kings Arme zu stürzen und ihm ins Ohr zu hauchen: »Danke, mein Erlöser!«

Der King kichert leise bei dieser Vorstellung, während er seine Lieblingsdose aus der Schublade holt – die, die beim Öffnen Cocaine singt. Ein Witz, den sich Jingo erlaubt hat. Er stellt die Dose auf den Tisch, öffnet sie und lässt die Melodie erklingen. Dann schüttet er seelenruhig ein Häufchen weißes Pulver auf den Tisch, macht

Kurz hat Mekki seine Gesichtszüge nicht im Griff, sie versteinern in einer Mischung aus Wut und Trauer. Dann fängt er sich, steht auf und sagt bloß noch: »Bis du clean bist, bleibt Jana während der Öffnungszeiten hier.«

Er küsst Jana auf ihre vollen Lippen.

Winkt seinen Pitbulls.

Und verschwindet im Flackern des Stroboskops.

 

Wu-Tang Clan Ain’t Nuttin ta Fuck Wit, dröhnt es ein paar Sekunden später durch die offene Tür, und der King hängt an seinem Schreibtisch und weiß kurz nicht, was er tun muss. Das ist der einzige Nachteil der Wunderdroge – dass er manchmal den Faden verliert. Vielleicht hat Mekki doch einen Punkt: weniger Koks intus gleich mehr Hirn extus.

Er rappelt sich aus seinem Thron hoch und grinst Jana an, die es sich inzwischen auf dem Sofa bequem gemacht hat und sowohl die laute Musik als auch den King einfach ignoriert. Aber bald liegt die Unberührbare ihm zu Füßen. Er wird es ihr zeigen, wie er es allen zeigen wird. Denn jetzt erinnert er sich wieder: Mekki hat seine letzte Chance bekommen. Er will keinen fairen Schnitt, ok. Sein Problem. Und was Mekki übersieht, im Übrigen schon immer übersehen hat, ist, dass der King tatsächlich dafür gesorgt hat, dass ohne ihn nichts mehr läuft. Heimlich und im Verborgenen hat er seine Fäden gesponnen, und heute ist der Tag gekommen, an dem er sie zusammenziehen wird. Schön einzeln, bis das Netz fertig ist und er endlich bekommt, was ihm zusteht. Der fucking falsche

Größenwahnsinnig?

Fuck yeah!

Er stellt sich an die offene Tür und grölt mit seinem Pöbel mit: »Wu-Tang Clan Ain’t Nuttin ta Fuck Wit!«

Im Takt der Bass Drum schlägt er die Faust in die Luft, einmal, zweimal – als jäh, direkt auf dem Beat, die Musik verstummt, seine Faust irritiert am höchsten Punkt der Bewegung stehen bleibt, während das Stroboskop erlischt und das Arbeitslicht des Kingdom Hunderte von Nachtschwärmern in grelles Halogen taucht. Was ist denn jetzt schon wieder los?

»Das ist eine Razzia. Wenn Sie nett zu uns sind, sind wir auch nett zu Ihnen.«

Michi fährt aus dem Schlaf hoch und wundert sich, dass er vollständig angezogen im Bett seiner Eltern liegt. Wieder hat er von einem Unfall geträumt. Kurz ist er erleichtert, dass er aufgewacht ist. Dann erinnert er sich. Sieht seine Mutter und seinen Vater, die zwischen den Autositzen und einer Tunnelwand kleben. Aus diesem Albtraum wacht er nie mehr auf.

Draußen ist es dunkel.

Er muss mindestens acht Stunden geschlafen haben. Um zehn geht die Sonne unter. Oder ist schon der nächste Abend? Er fühlt sich wie in einer wabernden Zwischenwelt. Sein Magen knurrt erbärmlich. Vielleicht hat der ihn geweckt.

Xandra …

Poppy!

Schwerfällig schält er seine Glieder aus dem Bett, steckt das Foto in seinen Rucksack und geht in Xandras Zimmer. Poppy sitzt auf dem Bett, Xandras kleines Äffchen, wegen dem es im Auto sogar kurz Streit gegeben hatte, weil Xandra ihn vergessen hatte und Papa nicht umdrehen wollte. Bisher hat Michi sie nicht verstehen können, Xandras anhaltende Begeisterung für dieses Stück Stoff. Aber jetzt, wie das Ding da friedlich lehnt und ihn anstarrt, mit seinen großen Augen, den langen Wimpern, der Stupsnase, den schlaksigen Armen und zehn

Behutsam packt er auch Poppy in seinen Rucksack, schnappt noch die ersten Ausgaben von Hanni und Nanni und Dick und Dalli und die Ponys. Zuletzt nimmt er eins von Xandras Pferdepostern von der Wand, dann wagt er sich in sein Zimmer.

Die Musikanlage sticht ihm sofort ins Auge. Sie ist ausgeschaltet. Normalerweise leuchtet sie. Über dem Fernseher hängt ein Tuch. Die Rollos sind halb heruntergelassen. Die Comichefte sind ordentlich gestapelt. Alles Zeichen ihrer geplanten Abwesenheit, die sich nun von sechs Wochen auf ewig verlängert hat.

»Ewig heißt, es gibt kein Ende«, hatte Papa Xandra mal erklärt.

»Das geht nicht«, hatte Xandra erwidert. »Sie lebten glücklich für immer und ewig, das schreiben die in den Märchen. Aber der Mensch stirbt, hast du gesagt. Und dass Sterben das Ende vom Leben ist. Dann kann ewig nicht kein Ende heißen.«

Verwirrt ist sie neben Papa spaziert, ihre Hand fest in seiner, während er mit vielen Veranschaulichungen zu erklären versuchte, dass Märchen nicht die Realität sind, was Realität überhaupt ist – natürlich hatte Xandra auch das hinterfragt – und dass das Universum endlos ist. Denn von ewig kamen sie auf endlos und von dem sterblichen Menschen auf die nicht sterbliche Physik. Xandra kam immer vom Hölzchen aufs Stöckchen, und nach zwei Stunden, inzwischen waren sie wieder zu Hause, hatten

Auch Michi hatte nichts verstanden. Es war einfach unvorstellbar: das mit dem Tod des Einzelnen, aber dem ewigen Leben der Menschheit auf der Erde, in einem endlosen Gesamtwerk. Irgendwie ist es das immer noch, und Michi würde seine Plattensammlung verwetten, dass Xandra gerade wieder darüber grübelt, ob sie die Eltern irgendwann irgendwo wiedersieht. Vielleicht, überlegt sie wahrscheinlich, leben sie ewig, wie im Märchen, oder, wenn der Mensch doch stirbt, aber es das Leben an sich auf Erden ewig gibt, vielleicht leben sie in einer anderen Form weiter, und vielleicht sogar an einem anderen Ort in der Endlosigkeit des Kosmos.

Apropos Plattensammlung, was passiert eigentlich mit seinen ganzen Sachen?

Und denen von Xandra?

Und von Mama und Papa?

Wer kümmert sich jetzt um das Haus?

Kriegt das jetzt alles der Staat?