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Inhalt

Geht es Ihnen auch so?

Alles dreht sich ums Craving

Die Craving-Analyse

Anti-Craving-Tipps

Der Kampf mit dem Suchtteufelchen

Was soll ich jetzt eigentlich essen?

Der, der nicht genannt werden darf

Startklar? Aber wollen Sie das überhaupt?

Flugplanung

Es geht los

Nach 28 Tagen

Anhang

WICHTIGER HINWEIS

Dieses Buch erklärt Ihnen nicht, wie viel, was und wann Sie essen sollen. Es zeigt Ihnen vielmehr, wie Sie die Diät, für die Sie sich entschieden haben, durchhalten können. Wie Sie Kontrolle über Ihr Essverhalten gewinnen können. Wie Sie selbst bestimmen können, wie viel, was und wann Sie essen wollen.

Dr. Shird Schindler
Dr. Iris Zachenhofer

GEHT ES IHNEN AUCH SO?

Was viele Menschen über ihre Beziehung zum Essen verschweigen und wie wir helfen können.

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, ist Ihr Gewicht wahrscheinlich ein großes Thema für Sie.

Vielleicht haben Sie sich vom Titel angezogen gefühlt, weil er Neues verspricht und weil er wieder Hoffnungen in Ihnen weckte, endlich doch schlank zu werden. Hoffnungen, die vielleicht schon tief in Ihnen vergraben sind, die Sie aber doch nie ganz aufgegeben haben.

Vielleicht haben Sie schon einige Bücher zum Thema gelesen und waren bei mehreren Diät-Trends dabei. Vielleicht haben Sie nur acht Stunden am Tag oder nur jeden zweiten Tag gegessen. Vielleicht haben Sie Kohlenhydrate gestrichen, Zucker gestrichen, Fette gestrichen, das Abendessen gestrichen, feste Mahlzeiten gestrichen. Vielleicht haben Sie basisch oder nach Ihrer Blutgruppe gekocht, Ihre Darmflora erneuert und sich selbst mental gecoacht oder sogar hypnotisiert. Vielleicht haben Sie auch Erfahrung mit diversen Appetitzüglern gemacht.

Wahrscheinlich haben Sie sich für neue Ernährungsprogramme voller Motivation mit sogenannten „gesunden“ Lebensmitteln eingedeckt, Berge an Obst und Nüssen gekauft, um irgendwann, nachdem Sie den jeweiligen Plan schon mehrfach sabotiert hatten, alles auf einmal zu essen. Weil Sie sowieso schon zu oft geschummelt hatten und es Ihrer Meinung nach ohnehin nicht mehr darauf ankam, an einem dieser unglücklichen Tage.

Wenn Sie bei Ihren Versuchen überhaupt Ergebnisse erzielt haben, waren sie mäßig oder nur von kurzer Dauer. Deshalb haben Sie wahrscheinlich Kleidung in unterschiedlichen Größen im Schrank und Ihre Stimmung hängt sehr davon ab, welche Größe gerade Ihre aktuelle ist.

Sie lieben und Sie hassen das Essen

Sie lieben das Essen selbst, hassen aber den Einfluss, den es auf Sie hat, den Platz, den es in Ihrem Leben einnimmt. Sie hassen es, wie das Essen oder Ihre Gedanken daran Ihr Leben ausfüllen.

Vielleicht denken Sie jeden Tag am Heimweg nach der Arbeit bereits an nichts anderes mehr als an den Inhalt Ihres Kühlschranks. Oder Sie essen immer wieder tagsüber, ohne richtig satt zu werden.

Sie wären so gerne so wie diese Menschen, die mit zwei Reihen dunkler Schokolade oder einem großen Salat glücklich sind, denen Sport Spaß macht und die angeblich sogar gelegentlich auf das Essen vergessen.

„Mit mir stimmt etwas nicht.“

Das denken Sie regelmäßig. Denn egal was Sie machen, Ihre Gedanken kreisen immer ums Essen. In Ihrem Leben muss irgendetwas falsch laufen, denken Sie, denn es gibt kaum etwas, das Sie mehr fesselt als diese Gedanken.

Das Übergewicht begleitet Sie schon länger. Möglicherweise geht es gar nicht mehr nur um die gute Figur für den Strand im nächsten Sommer, sondern Sie haben auch schon gesundheitliche Probleme. Ihre Cholesterin- und Blutzuckerwerte sind vielleicht zu hoch, ihr Blutdruck ebenso.

Vielleicht schmerzen Ihre Gelenke bereits und manche Sportarten kommen gar nicht mehr in Frage für Sie. Sie fühlen sich älter als Sie sind oder Sie fühlen sich gefangen in einem Körper, in dem Sie sich nicht wohl fühlen. Beim Sex haben Sie wegen Ihrer Rundungen Hemmungen. Sie können sich nur schwer fallen lassen oder vielleicht haben Sie auch gar keinen Sex mehr.

Vielleicht haben Sie auch Rückenschmerzen oder kommen leicht aus der Puste, wenn andere etwas schneller gehen oder mal die Rolltreppe ausgefallen ist.

Ihr körperlicher Zustand nervt Sie daher insgesamt und manchmal sind Sie sogar regelrecht wütend auf sich, weil Sie dennoch nie eine Diät durchhalten können. Oder Sie sind einfach resigniert.

Die schlimmen Vorbilder

Besonders schlimm ist es, wenn Sie sehen, wie es andere machen. Sie selbst halten nach Ihren Diäten das reduzierte Gewicht im besten Fall ein paar Wochen oder überhaupt nur ein paar Tage, und kurz nach der Diät ist Ihr Gewicht womöglich noch höher als davor. Gleichzeitig müssen Sie zusehen, wie Ihre Schwägerin mit Intervallfasten zehn Kilo abnimmt, wie Ihre Studienkollegin nach der Schwangerschaft rasch ihre Kilos wieder los ist und wie Ihre Freundin ihre Model-Figur schon lange hält beziehungsweise durch diverse Fitnesstechniken weiter perfektioniert. Anscheinend macht ihr das sogar Spaß.

Richtig mitfreuen konnten Sie sich nie. Vielleicht waren Sie auch ziemlich neidisch, haben über die Falten der Schwägerin, den schlaffen Bauch der Studienkollegin und die Genussfeindlichkeit der Freundin gelästert und sich dabei wegen Ihrer negativen Gefühle gleich noch schlechter gefühlt.

Wie kann es sein, fragen Sie sich, dass es mir so schwer fällt abzunehmen? Kann ich nach den vielen vergeblichen Versuchen überhaupt noch schlank werden? Oder bin ich ein hoffnungsloser Fall?

Unser Buch ist für alle da, die es bisher noch nicht geschafft haben, schlank zu werden und zu bleiben. Für die, die theoretisch schon eine Menge über das Abnehmen wissen, ohne dass es ihnen bisher viel gebracht hätte. Für die, deren Gedanken ständig ums Essen kreisen und die sich oft mit nichts anderem beschäftigen als mit ihrem Bedürfnis danach. Für die, die sich von ihrem beharrlichen Ringen um eine schlanke Figur erschöpft fühlen, in denen aber zumindest noch ein Rest von Hoffnung lebt, dass es etwas geben könnte, das ihnen hilft.

Machen Sie sich manchmal über Ihre mangelnde Disziplin Gedanken, darüber, dass gerade Sie es nie schaffen, längerfristig weniger zu essen, Mahlzeiten auszulassen oder gar tageweise gar nichts zu essen, was bei so vielen anderen mühelos zu klappen scheint? Glauben Sie manchmal, Sie seien regelrecht süchtig nach Essen?

Dann haben wir, mein Kollege Shird Schindler und ich, als Suchtmediziner eine gute Nachricht für Sie.

Mit Ihnen ist so weit alles in Ordnung.

Auch wenn Sie sich den ganzen Tag nur mit Essen und den Gedanken daran beschäftigen, und Ihr ständiger Hunger, Ihr anhaltender Appetit scheinbar Ihr Leben ausfüllen, ist es so.

Sie sind nicht süchtig.

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, enthält auch die sogenannten „F1“-Diagnosen, die Suchtdiagnosen. Es gibt sie für Alkohol, Opiate, Cannabis, Beruhigungsmittel, Kokain und etwa Nikotin. Allerdings gibt es keine „F1“-Diagnose für Essen, und es wird wohl auch in Zukunft keine geben.

Aber kennen Sie Oreo-Kekse? Wenn Ratten in Versuchen die Auswahl zwischen Kokain, Heroin oder Oreo-Keksen hatten, wählten sie immer die Kekse und leckten hingebungsvoll an deren weißer, süßer Füllung. Kein Wunder, denn sie löste, wie die Messungen ergaben, in ihren Gehirnen den stärksten Ausstoß von Neurotransmittern aus. Neurotransmitter sind, kurz gesagt, Botenstoffe, die Erregung von einer Nervenzelle auf andere Zellen übertragen.

In anderen Studien wählten Ratten, wenn ihnen Kokain, Heroin oder Zucker zur Auswahl standen, immer den Zucker. Auch jene Ratten, die die Wirkung von Kokain und Heroin bereits kannten.

Womit wir uns der Antwort auf die Frage annähern, warum ausgerechnet zwei Suchtmediziner ein Buch über Abnehmen schreiben, obwohl Sie eben nicht süchtig sind. Vielleicht hat Sie das ja verwundert, als Sie dieses Buch zum ersten Mal in die Hand nahmen. Eventuell befürchteten Sie sogar, hier Dinge zu lesen, mit denen Sie eigentlich nichts zu tun haben möchten, und von uns quasi in eine Kammer des Schreckens entführt zu werden.

Keine Sorge. Mit Ihnen ist, wie gesagt, alles in Ordnung. Bloß ist es durch die Diäten, die Sie bereits gemacht haben, und durch bestimmte Nahrungsmittel, die Sie gegessen haben, in Ihrem Gehirn zu Veränderungen von Nervenzellen und Neurotransmittern gekommen, die Ihr Verlangen nach Essen auslösen und verhindern, dass Sie Einschränkungen aushalten. Wir können Ihnen dabei helfen, diese Veränderungen, die Ihnen aktuell noch ziemliche Probleme bereiten, so gut wie möglich rückgängig zu machen. Ihr Verlangen nach Essen ähnelt jenem, das alkohol- oder drogenabhängige Patienten nach ihren Substanzen haben und lässt sich daher mit den gleichen Methoden bekämpfen.

Wir als Suchtmediziner arbeiten gemeinsam mit unseren Patienten gewöhnlich nicht gegen das quälende Verlangen nach Essen, sondern gegen jenes nach Alkohol, manchmal nach Nikotin und ansonsten nach meist illegalen Substanzen. Doch wir haben festgestellt, dass die Methoden, die wir dabei anwenden, die zum Teil echte Hardcore-Methoden sind, auch Ihnen helfen können. Mit diesen wissenschaftlich fundierten, teils sehr pragmatischen und jedenfalls effizienten Methoden, die wir an der Drogenabteilung bei unseren Patienten einsetzen, werden wir auch Sie unterstützen. Denn:

In Ihrem Gehirn geschieht, wenn Sie sich nach Schokolade, Chips oder einem Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln sehnen, etwas Ähnliches wie im Gehirn eines Drogenabhängigen mit Entzugsbeschwerden.
Und damit haben wir eben jede Menge Erfahrung.

Beantworten Sie bitte nun die Fragen im folgenden Arbeitsblatt, die Sie mit Ihrem Essverhalten konfrontieren und Ihnen einen Hinweis darauf geben können, ob dieses Ähnlichkeiten mit Suchterkrankungen hat (Modified Yale Food Addiction Scale 2.0 von Meule et al. 2016).

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Ein Arbeitsbuch

Sie halten ein Arbeitsbuch in Ihren Händen, mit dem wir Sie auf Ihrer Reise zu einer schlankeren Figur begleiten werden. Diese Reise wird 28 Tage dauern und Sie wird einiges für Sie verändern. Sie werden lernen…

…Ihrem Leben Struktur zu geben.

…Ihre Gedanken zu bewerten.

…Ihr Verlangen nach Essen und Ihre Gefühle insgesamt zu analysieren und dementsprechend zu handeln.

…auf bestimmte Situationen mit bestimmten Techniken zu reagieren.

…sich vom gefürchteten „Point of no return“fernzuhalten, jenem Punkt, an dem das Verlangen stärker ist als Sie und Ihr Handeln bestimmen.

Sie werden dabei erkennen, dass Disziplin nichts ist, das Sie aus bloßer Willenskraft aufbringen müssen, sondern etwas, das Sie durch das richtige Verhalten quasi in sich generieren können. Und Sie werden erfahren, wie Ihnen Gummiringe, Kerzenwachs, Musik oder eine Packung Gummibären dabei helfen.

Was brauchen wir dafür von Ihnen?

Eigentlich nichts weiter als Ihre Bereitschaft, Ihre Figur ernsthaft ändern zu wollen, und 28 Tage lang Ihre Aufmerksamkeit.

ALLES DREHT SICH UMS CRAVING

Die Suchtfaktoren beim Essen, wie sie entstehen und was sie mit uns machen.

Kennen Sie dieses Gefühl? Sie hatten die allerbesten Vorsätze, was Sie an diesem Tag noch essen werden. Sie hatten einen tollen Plan und haben dementsprechend eingekauft. In Ihrem Kühlschrank sind nur Lebensmittel, die Sie als „gesund“ einstufen, die Chipspackungen, Salzcracker und anderes Sündiges haben Sie vorsorglich schon vor Tagen beseitigt.

Doch am Heimweg von der Arbeit oder von einem Ausflug steigt dieses Gefühl in Ihnen auf, dass der Griechische Salat heute doch nicht das Richtige für Sie ist. Dass er heute irgendwie unpassend ist und kein gutes Gefühl in Ihnen auslösen würde. Zu kalt, zu gesund. Irgendetwas würde Ihnen fehlen. Eine innere Stimme flüstert:

Du hattest einen wirklich anstrengenden Tag.
Du hast dir etwas anderes verdient als fades Gemüse.

Sie werden ein bisschen unruhig, denn immerhin ist Ihr Plan gründlich überlegt. Sie fühlen sich nicht so recht wohl in Ihrer Haut. Eigentlich wäre es Unsinn, den Griechischen Salat zu essen, wenn Sie ihn gar nicht wollen, denken Sie. Vielleicht sollten Sie ihn gegen etwas anderes austauschen, so schlimm wird das wohl nicht sein.

Ihr Essensplan fällt Ihnen wieder ein, die Kalorienvorgaben, die Sie genau notiert hatten. Ihre Ziele, warum Sie diese Diät machen wollten. Der bereits gebuchte Strandurlaub.

Doch allmählich rückt das alles in den Hintergrund. Bald ist es unendlich weit weg, fast wie ein Traum, der immer mehr verblasst.

Ihre Sinne haben sich inzwischen geschärft. Der Döner-Stand an der Busstation ist Ihnen aufgefallen und der Duft aus der Bäckerei in Ihrem Viertel ist sehr verlockend.

Sie können nicht sagen, wann genau dieses Gefühl in Ihnen hochgekommen ist. Es kommt Ihnen auch gar nicht so sehr wie ein Gefühl oder gar wie Appetit oder Hunger vor. Vielmehr läuft in Ihnen eine rationale Diskussion ab. Sie stellen sich nun ziemlich offen die Frage, die Ihnen jedenfalls berechtigt erscheint, ob ein so mageres Abendessen für Sie heute wirklich das richtige sein kann. Ob da wirklich genügend Nährstoffe für Sie drin wären.

Sie hinterfragen Ihren Ernährungsplan und zweifeln ihn an. Es scheint Ihnen, dass er Ihr Arbeitspensum nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie den Stress, den Sie gerade haben, und dass Sie heute am Abend am Computer noch Tabellen erstellen müssen und dafür mehr Energie benötigen werden, als Ihnen so eine magere Diätmahlzeit geben könnte.

Hunger haben Sie eigentlich nicht, stellen Sie fest, aber man wird ja wohl Einwände äußern dürfen, wenn man Zweifel hat, ob der Ernährungsplan wirklich ideal ist, überlegen Sie. Eine innere Stimme flüstert:

Du wirst nicht sterben, wenn du heute normal und erst morgen weniger isst. Heute ist einfach nicht der ideale Tag für dieses Programm, und wenn du den Umweg vorbei an der McDonald’s-Filiale gehst, hast du ein bisschen mehr Bewegung. Das ist doch auch wichtig, oder?

Dieses Gefühl, dieses Verlangen nach Essen, das Ihre Gedanken so manipuliert, ist keine Willensschwäche, sondern ein Symptom mit einem medizinischen Fachausdruck:

Craving.

Unter Craving (engl. Begierde, Verlangen) verstehen wir das (beinahe) unstillbare Verlangen nach einer Substanz, in unserem Fall nach Essen, genauer gesagt meistens nach fettem, süßem oder salzigem Essen.

Craving bewirkt Symptome wie einen massiven Anstieg der inneren Anspannung und oft auch körperliche Beschwerden wie Zittern oder Schwitzen.

Es ist nur logisch, dass wir unbedingt den unangenehmen Zustand, in den uns das Craving versetzt, beenden wollen. Der einfachste Weg ist es, wieder zu der Substanz zu greifen, der es geschuldet ist, möglichst süß, möglichst fett oder möglichst salzig zu essen. Kurzfristig bessert sich dadurch unser Wohlbefinden. Längerfristig schlittern wir allerdings immer weiter in unser Problem hinein.

Der Fall Sabine

Vielleicht haben Sie jetzt Zweifel. Craving beim Essen und Craving bei Heroinsucht oder Alkoholkrankheit – ist das wirklich vergleichbar? Wird da nicht etwas dramatisiert?

Schließlich ist es normal, Hunger zu haben. Die Evolution hat dem Menschen Hungergefühle gegeben, um sein Überleben zu sichern, sonst würden wir vielleicht verhungern, ohne es zu bemerken.

Und wo genau soll nun eigentlich der Unterschied zwischen Appetit, Hunger und Craving liegen? Was wollen diese Suchtmediziner von mir?

Der Auslöser für unsere Überlegungen und für unseren Entschluss, dieses Buch zu schreiben, war eine verunglückte Ratatouille.

Was ist passiert?

Die Sache ereignete sich in Südfrankreich, wo ich mich mit meiner Kollegin Marion für mehrere Wochen zur Arbeit an einem Bericht über Missstände an den neurochirurgischen Abteilungen europäischer Krankenhäuser traf. Wir hatten, um uns konzentrieren zu können, ein abgelegenes Haus gemietet und verschanzten uns dort mit Computern, Büchern und mehreren Ordnern voller Studien. An den Markttagen gingen wir ins nächste Dorf, um einzukaufen.

Wir kochten uns quer durch die südfranzösische Küche, um uns selbst wenigstens kulinarisch zu verwöhnen, wenn wir schon in der Sommerhitze arbeiten mussten. Wir kochten Muscheln mit Roséwein, Ratatouille, Fisch in Salzkruste, Crêpes mit Feigenmarmelade, Olivenkuchen, Huhn mit Fenchel, Aioli und Gemüseauflauf mit Ziegenkäse und ernährten uns sonst von Honigmelonen, Tomatensalat, Nizza-Salat und frischen Feigen.

Streber, denken Sie sich wahrscheinlich jetzt, was für superschlaue Weiber. Vielleicht kommen jetzt noch ein paar abgedroschene Tipps, um wieviel gesünder Biogemüse ist als normales, dass regionale Zutaten besser sind als eingeflogene und bla bla bla…

Und Sie sind schon knapp davor, auch dieses Buch wieder in die Ecke zu werfen oder sich einen Rücksendeschein auszudrucken. Denn Sie haben genug von den vielen Ernährungs- und Fitnessbüchern mit neumalklugen Ratschlägen, Rezepten, Übungen und vielleicht noch Bildern von gestylten Bloggerinnen, die sich im Sportdress bei Sonnenaufgang am Strand räkeln und Yoga-Übungen machen. Sie können es einfach nicht mehr hören und lesen, wie gesund Tomatensalat mit Schaf-, Ziegen- oder sonst welchem Käse ist.

Ich muss zu unserer Verteidigung sagen, dass Marion und ich diese Mahlzeiten einfach nur deshalb wählten, weil sie leicht verfügbar und unkompliziert zuzubereiten waren, und weil sie zum damaligen Zeitpunkt, mitten im Sommer, einfach am bekömmlichsten waren. Für Kalorien- oder Nährwertezählen hätten wir weder Zeit noch Lust gehabt.

Joghurt mit süßen, reifen Feigen aus dem Garten, Brombeeren, die neben der Bushaltestelle wuchsen und Trauben von den benachbarten Weingärten, das war das Allerbeste – so gut, dass sich aufwändige Zubereitungsmethoden erübrigten. Unsere intensive Arbeit, unsere täglichen kurzen Ausflüge an den Strand und unsere ausführlichen Gespräche sorgten dafür, dass wir darüber hinaus kaum ans Essen dachten.

Dass es auch Menschen gibt, die das ganz anders erleben konnten, wurde uns erst klar, als uns Sabine, eine ehemalige Kollegin, die wir beide sehr mochten, besuchte.

Sabine war etwas übergewichtig und ernährte sich daheim in Wien in erster Linie von allem, was sich liefern ließ. Wenn sie selbst kochte, musste es schnell gehen, deshalb verfügte sie immer über große Vorräte an Fertigprodukten aller Art. Sie wird glücklich sein, bei uns in Frankreich einmal etwas anderes als ihr industriell hergestelltes Zeug zu kriegen, dachte ich.

Da hatte ich mich getäuscht. Zu Beginn dachte ich noch, Sabine würde an einer leichten Verstimmung oder Reisekrankheit leiden, doch diese Symptome – vor allem ein leichter Unmut – steigerten sich binnen kurzer Zeit zu einer ständig üblen Laune, wobei sich ihre Kritik vor allem auf das Essen konzentrierte. Sabine entwickelte klassisches Craving mit allen Begleitsymptomen.

Es war Marion, die mich am dritten Tag von Sabines Besuch darauf aufmerksam machte. „Sie hat einen Entzug“, sagte sie. „Schau, wie sie ständig nach etwas Essbarem sucht. Die wirkt wie eine Drogensüchtige.“

Sabine konnte sich nie für die Feigen, Melonen, Marillen, Holzofenbaguettes, Oliven und Käsespezialitäten begeistern, die wir vom Markt mitbrachten. Sie brauchte immer etwas aus Plastikflaschen, Alubeuteln oder Konservendosen.

Ich konnte tatsächlich nicht leugnen, dass mich ihr Verhalten nun auch an unsere Patienten im Zentrum für Suchterkrankungen am Wiener Otto-Wagner-Spital erinnerte, die auf der Entzugsstation oder in der Ambulanz auf ihre Entzugsmedikation warteten. Sie waren nervös, unruhig, gereizt, schlecht gelaunt und ausschließlich auf ihren Entzug beziehungsweise ihre Entzugsmedikation fokussiert.

Marion ließ die Sache keine Ruhe. „Ist dir aufgefallen, was sie gestern zum Apero gegessen hat? Statt die Holzofenbaguettes vom Markt zu probieren, hat sie sich auf die Cracker aus dem Plastiksack gestürzt, die von den Vormietern noch da waren. Und alle aufgegessen.“

Ein richtiger Apero, die französische Version der kleinen Häppchen vor dem Essen, war das nicht mehr.

Ich dachte, Sabine würde ihre Leidenschaft für unser Essen erst noch entwickeln und würzte für sie extra intensiv. Doch es war schwierig. Egal, wie gut die Lebensmittel waren, die wir ihr servierten, Sabine schien immer auf der Suche nach etwas Verpacktem, industriell Hergestelltem, Bearbeitetem zu sein, das sie dem Essen unterrühren, dazu mischen, drüberstreuen oder notfalls extra essen konnte.

Es fing mit Dosenpfirsichen an, die sie zum Obstsalat aus Feigen, Pfirsichen, Trauben und Minze aß und reichte bis zur Mayonnaise aus der Tube, die sie zum Aperitif mit der Oliven-Tapenade kombinierte.

In einen Nizza-Salat, den Marion zubereitet hatte, einem einfachen Gericht mit Tomaten, Paprika, Zwiebel, harten Eiern, Oliven und Sardellen, kippte sie Mais und Bohnenschoten aus der Dose. Andere Salate, die wir nur mit Olivenöl und Zitronensaft anmachten, „verfeinerte“ sie mit „French-Dressing“ aus einem Fünf-Liter-Kanister.

Wir kauften Avocados, Zitronen, Knoblauch und Petersilie, um Guacamole für den Apero zuzubereiten. Sie kam uns zuvor, pürierte die Avocados und vermischte sie mit Ketchup und ebenfalls Mayonnaise. „Das schmeckt doch viel intensiver“, meinte sie dazu.

In der provenzalischen Tomatensuppe schwammen auf einmal Würstchen aus dem Glas, und unsere gefüllten Auberginen ertränkte sie in Fertig-Sahnesauce aus der Packung.

Dann kam die Sache mit der Ratatouille. Als wir einmal abends vom Strand zurückkamen, wunderten wir uns, weil in der Küche ein Topf am Herd stand. Wir hatten am Vormittag Ratatouille gekocht, die als Beilage zum Fisch am Abend dienen sollte.

Ich stellte die Badetasche ab und ging in die Küche. Wahrscheinlich hatte Sabine Hunger und wollte sich die Ratatouille schon einmal aufwärmen, dachte ich. Doch was einmal ein bunter, südfranzösischer Gemüseeintopf aus Tomaten, Zucchini und Auberginen gewesen war, stand nun als dunkelrote, schäumende Brühe vor mir.

„Oh du meine Güte“, sagte ich leise.

„Ich war kreativ“, flötete Sabine. „Ich habe das Gemüse etwas aufgepeppt.“

Es stellte sich heraus, dass Sabine nicht nur Bohnen aus der Dose, sondern auch die Flüssigkeit der Bohnen ergänzt hatte, was den Schaum erklärte. „Das schmeckt doch viel besser“, meinte sie und erzählte, dass sie auch gleich eine Konservendose Ratatouille dazu gegeben hatte. Einmal mehr, „damit der Geschmack intensiver ist“.