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Doch!

Erziehen kann leicht sein

Uta Allgaier

Hilfreiche Geschichten
und Tipps aus der Familie
einer Elterntrainerin

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Inhalt

Vorwort

Fundament für das Glück: Bindung

Die kleine Meckerziege

Wenn der Zwerg das Sagen hat

Vom Thron gestoßen

Das Pokerface-Baby

Stressfrei mit Kleinkindern

Gestörte Logopädin in Elternzeit

Sich nicht in Grenzen verbeißen

Die Gähnattacke

Engelchen flieg

Mehr Frieden in der Familie

Das Ende des Geschwisterstreits

Ungerechte Eltern

Strafe oder logische Konsequenz?

Kleines Fragezeichen in Perpignan

Chatten unter Omas Kaffeetafel

„Fröhlich sei das Abendessen …“

Der kleine Neophobiker

Viehtrieb und Familienessen

Spargel mit Vernunftsoße

Morgenröte

Reifen dürfen

Der eingebaute Entwicklungsmotor

Das Kann-Kind

Jungs verstehen

Ein Klumpen Zutrauen

Die Schule leichter nehmen

Nicht mehr bei der Hausaufgaben-Polizei

Der Elternabend

Das Nicht-gut-genug-Gefühl

E-Mail an die Lehrerin

Sich versöhnen mit den Medien

Die Internet-Schleuse

Mit dem Tablet ins Baumhaus

Mission Maus

„Nerd“-Nachhilfe

Das Leben mit Teenagern genießen

Einzahlungen auf dem Beziehungskonto

Statt Kreuzverhör

Die Schattenmänner

Geträufeltes Gift

Mädchen stärken

Tütü und Treckingsandale

Zickologie

Von der Leichtigkeit des Eltern-Seins

Aufklärung in Brandenburg

Die Sache mit den Fußstapfen

Die wilden Kerle verstehen

Die Federmäppchen-Splitterbombe

Machos im Frauenreservat Schule

Brief an meinen Mann

Wie Basti sich innerlich „abrackert“

Hilfe im Haushalt

Fette Fusselratten

Wellensittich im Gefrierschrank

Erzwungene Hilfsbereitschaft

Vom Chillen ausruhen

Unechte Fragen

Sich locker gut benehmen

Feindliche Übernahme in der Sandkiste

Wie heißt das Zauberwort?

Mitteleuropäischer Standard

Die Zwangs-Beglückung

Für ein starkes Selbstgefühl

Respekt beim Bäcker

Das Federkleid

Daumen rauf, Daumen runter

Die Reitstunde

Ein guter Mensch reicht

Zeit für das Wesentliche

Yoga in den Stundenplan

Ausgeliebt?

Die dicken Steine zuerst

Mit Prinzessin und den Meisen

Buch-Empfehlungen

Anmerkungen

Die Autorin

Impressum

Für meinen Mann,
der mich wie kein anderer darin unterstützt hat,
meinen Blog und dieses Buch zu schreiben.

Für meine Kinder,
die immer großzügig absegnen,
was ich über sie veröffentliche.

Vorwort

Deutschland hat inzwischen die niedrigste Geburtenrate weltweit. Diese Nachricht ging durch alle Medien. Sie verwundert mich nicht. Denn wenn man hierzulande Menschen nach ihren Kindern fragt, hört es sich an, als werde die nächste Generation als Belastung, nicht als Bereicherung empfunden. „Unser Carl ist jetzt 15 und in der Pubertät. Mehr ist dazu nicht zu sagen“, seufzte eine Bekannte, die ich nach Jahren wiedertraf, und rollte beim Thema „Sohn“ nur die Augen.

Solche Sätze höre ich immer wieder. Und genau deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. „Kleine Kinder – kleine Sorgen. Große Kinder – große Sorgen“, das ist so ein Spruch, der meinen Widerstand herausfordert. Als wäre es von Anfang an schwierig mit seinem Nachwuchs und würde von Jahr zu Jahr sogar noch schlimmer.

Wenn ich erzähle oder schreibe, dass mein Mann und ich es sehr genießen, Kinder zu haben, kommt häufig Widerspruch. „Ja, ihr habt ja auch Glück.“ – „Unter den Umständen würde ich es auch genießen.“ – „Eure sind ja auch anders als unser Philipp, unser Carl, Leo, unsere Anna, Rebecca, Paula …“

Könnte es nicht auch sein, dass wir so eine gute Zeit erleben, weil wir diese positive Haltung ihnen gegenüber haben?

Vertrauen wir ihnen, weil es so gut läuft? Oder – wie ich behaupten würde – läuft es so gut, weil wir ihnen vertrauen und uns so an ihnen freuen?

Wie viel sich in der Familie bewegen kann, wenn wir Eltern die Einstellung zu unserem Kind verändern und uns selbst weiterentwickeln, darum geht es in diesem Buch und auf meinem Blog „Wer ist eigentlich dran mit Katzenklo?“.

Meine Geschichten handeln von Erlebnissen mit Kindern. Ein Großteil stammt aus unserem Alltag mit „Kronprinz“ und „Prinzessin“, unseren Kindern. Diese Bezeichnungen sind Code-Namen. Denn da es hier um tatsächliche Begebenheiten geht, sollte nicht jedem aus unserem Umfeld sofort entgegenspringen, um wen es sich handelt.

„Kronprinz“ und „Prinzessin“ – das klingt nach Märchen, nach rosa Röckchen, Tüll, Spitze und Zauberstab. Es sind aber keine Märchen, sondern Alltagsgeschichten mit handfesten Tipps am Ende jeder Episode.

Natürlich ist das Leben weder Schlossgarten noch Ponyhof, natürlich gibt es echte Sorgenkinder und Eltern, die all ihre Kraft aufbringen müssen, um ihr Kind einigermaßen gut aufwachsen zu lassen. Natürlich gibt es Kummer, der sich mit Geschichten und Tipps nicht einfach in Luft auflöst. Ich behaupte aber, dass ein wesentlicher Teil der Probleme, die Eltern mit Kindern haben, hausgemacht ist. Um diese Art „Problem“ und seine Lösung geht es in diesem Buch.

Ich wünsche Ihnen einen neuen Blick auf Ihre Kinder und dass Sie sich nach dem Lesen meiner Geschichten mit mehr Gelassenheit, Freude und Leichtigkeit wieder in Ihr Familienleben stürzen.

Ihre Uta Allgaier

Fundament für das Glück: Bindung

Die kleine Meckerziege

In der Kinderkleider-Abteilung eines Kaufhauses stand ich in der Schlange an der Kasse. Vor mir eine Mutter mit einem Mädchen, das vielleicht knapp ein Jahr alt war. Es konnte gerade laufen, wankte von dem Bein der Mutter einen halben Meter zum Buggy und wieder zurück. Vier- oder fünfmal. Dann wurde die Kleine müde und fing an zu weinen. „Du alte Meckerziege“, sagte die Mutter und nahm sie unsanft an die Hand. „Du alte Meckerziege?“ Hatte ich richtig gehört? Meinte sie diesen kleinen Menschen mit den wasserblauen Augen und dem Nacken voller Locken? Alte Meckerziege?

Okay, mein Mann nennt unseren Sohn auch gern „Spacken“. Aber der kann seit mindestens acht Jahren Ironie verstehen.

Aber dieses kleine Mädchen? Es konnte nur Tage her sein, dass es das erste Mal ganz allein auf seinen eigenen wackeligen Beinen stand. In dem Alter ist das die Kategorie „Mondlandung“. Man richtet sich auf, sackt wieder zusammen, rappelt sich auf, hat diesen völlig neuen Ausblick. Und dann plumpst sie wieder weg, die neue Welt. Alles beginnt von vorn. Das ist aufregend und anstrengend. Da wird man doch mal müde sein dürfen!

Das Mädchen hörte nicht auf, vor sich hin zu meckern. Es war kein Schreien, kein Weinen. Eher so ein beleidigtes Blubbern wie von unserem Wasserkocher. Die Mutter schob den Buggy mit einem Stapel Kleider ein paar Zentimeter weiter. Die Kleine verlor das Gleichgewicht, der Körper umkreiselte Mutters Bein und landete auf dem Po. Mutter zog sie am Ärmchen wieder hoch. „Du alte Meckerziege!“

Ich wollte schon anbieten, dass ich mal an dem anderen Ärmchen zerren könnte. Nur so zum Ausgleich.

Da nahm Mutter die Kleider vom Buggy und stopfte das Kind unter den Bügel in den Sitz. Jetzt weinte es richtig. Die Kassenschlange kam auch nicht richtig voran. Also Schnuller in den Mund gestopft. Die Kleine spuckte ihn wieder aus, drückte sich mit durchgebogenem Rücken aus dem Sitz. „Setzt du dich wohl hin, du alte Meckerziege.“ Mutter stopfte sie zurück, stopfte den Schnuller wieder rein, hielt diesmal die Hand davor, damit er nicht gleich wieder rausflog.

Es wurde gestopft, gedrückt, geschoben, gar nicht richtig hingeguckt, die Kleider auf den Arm genommen statt das Kind. Was fehlte, war ein Gefühl für das Mädchen, das eine Dosis Nähe brauchte nach all den Aufregungen in dieser glitzernden Kaufhauswelt, nach all dem Ausbalancieren auf den krummen Beinen.

Der Pädagoge Wolfgang Bergmann beschreibt in seinem Vortrag „Wie Kinder Gefühle lernen“1 eine ähnliche Situation und formuliert, wie ein noch sehr auf Mutter oder Vater bezogenes Kleinkind sich fühlt in so einer Kaufhaussituation: „Ich bin ganz allein, Mama schaut mich nicht an, ich weiß nicht mehr, wer ich bin, ich erfasse die Welt nicht mehr.“

Die Frau in der Schlange hätte ich am liebsten zur Rede gestellt. Ich weiß, das ist unfair. Ich habe Kinder, die so groß sind, dass ich sie allein zu Hause lassen kann. Ich kann in Ruhe bummeln gehen, die Szenerie beobachten und mich über eine Frau erheben, die vielleicht seit Tagen kaum geschlafen hat, weil die Kleine zahnt, Durchfall hat, Papa nicht hört, wenn sie nachts weint, Schwiegermutter findet, dass sie sowieso alles falsch macht … Vielleicht regt es mich auch auf, weil ich oft ähnlich reagiert habe, als die Kinder klein waren, weil ich überfordert war und auch nicht wusste, was in solch einer Situation hilft. Dabei wird es wirklich leichter, wenn man ein paar Dinge beachtet.

Tipps

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Schauen Sie genau hin, versetzen Sie sich in das Kind hinein und machen Sie sich klar, wie viele Reize in so einer Kaufhauswelt oder in vergleichbaren Situationen für ein Kleinkind zu verarbeiten sind: viele fremde Menschen, Musik, jede Menge Spiegel, Rolltreppen, Aufzüge, Schaufensterpuppen …

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Nennen Sie das Kind beim Namen oder benutzen Sie eine liebevollere Koseform als „alte Meckerziege“.

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Lassen Sie die Kleider auf dem Buggy, nehmen Sie lieber das Kind auf den Arm oder bauen Sie anders Körperkontakt auf, indem Sie zum Beispiel in die Knie gehen und es umarmen oder über den Kopf streichen.

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Sagen Sie Dinge wie: „Ich sehe, du bist müde von der ganzen Lauferei, oder?“ Versuchen Sie, die Gefühle des Kindes zu verstehen und in Worte zu fassen. Durch das „Spiegeln“, wie Pädagogen das nennen, fühlt es sich nicht nur verstanden und kann sich schneller beruhigen, sondern lernt auch, sein inneres Erleben in Sprache auszudrücken. So werden Kinder selbstsicher.

Wenn der Zwerg das Sagen hat

Mir war von Anfang an wichtig, Kinder nicht zu behandeln, als wären sie unfertige Halbmenschen, die es zu disziplinieren und zu formen gilt. Jahre später habe ich erkannt: Diese Überzeugung darf nicht dazu führen, dass man vor lauter Ehrfurcht vor diesem neuen Menschen in eine Verantwortungsstarre fällt und der Zwerg das Sagen hat, kaum dass er die ersten Worte sprechen kann.

Wenn man Eltern wird, muss man bereit sein zu führen.

Ich war das anfangs nicht.

Ich war so begeistert von dieser Schöpfung mit den Speckbeinchen und den braunen Smarties-Augen, dass ich meinen ganzen Tag nach dem kleinen Kronprinzen ausrichtete, meine eigenen Bedürfnisse total zurückstellte und sofort am Bettchen stand, wenn er auch nur einen Muckser von sich gab.

Im Alter von etwa einem dreiviertel Jahr liebte es seine Durchlaucht, Treppen hoch zu krabbeln. So konnte man uns beide in dem Haus, in dem wir damals unsere erste Wohnung hatten, im Flur antreffen, beide auf allen Vieren auf der Treppe.

„Das ist gut für die motorische Entwicklung“, erklärte ich der Mülltüte, mit der ich plötzlich auf Augenhöhe war. Unser Nachbar von oben hielt sie in der Hand und betrachtete nachdenklich Mutter und Sohn, die nebeneinander auf allen Vieren die Treppe bezwangen. Der ältere Herr schien nur noch zu überlegen, ob er mich in der Psychiatrie oder lieber in der Hundeschule anmelden sollte.

Das Treppenkrabbeln bereue ich nicht. Das hat Spaß gemacht. Aber es gab Phasen, in denen wir gar nicht aus dem Haus kamen, weil ich nicht wagte einzuschreiten, wenn mein Sohn unbedingt alle seine 23 Autos in die Taschen vom Schneeanzug stopfen wollte.

Das führt zu Baby-Burn-out. Nicht beim Baby, sondern bei seiner Mutter. Meinen früheren Job als ZeitschriftenRedakteurin fand ich vergleichsweise erholsam. Dabei hätte ich es mit ein paar Kenntnissen über diese Kindheitsphase leichter haben können.

Tipps

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Akzeptieren Sie, dass Sie als Mama oder Papa eine familiäre Führungskraft sind. Bei aller Achtung vor der Autonomie des Kindes halten Sie die Fäden immer in der Hand.

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Drucken Sie den Satz „Ich bin und bleibe hier der Chef“ in den schönsten Schriften aus und hängen Sie ihn überall in der Wohnung auf. (Wahlweise auch: „Papa und ich sind hier die Chefs.“)

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Suchen Sie nach Möglichkeiten, das Baby in der Nähe zu haben und trotzdem Ihre Arbeit machen zu können. Bei den Kleinen ist Nähe, Ansprache und Einbeziehen wichtig, nicht unbedingt Bespielen und Bespaßen.

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Stellen Sie einen Korb mit Deckel in den Wohnraum und sammeln Sie darin die verschiedensten Gegenstände: Schneebesen, Holzlöffel, kleine Trommel, Schlüsselbund, ein Stück Fell, Ball, Zipfeltuch, verschiedenste Rasseln, damit immer etwas zum Entdecken und Spielen greifbar ist, aber auch schnell wieder verschwinden kann. Nehmen Sie keine verschluckbaren Teile, aber gern die verschiedensten Materialien und unbedingt Sachen, die Geräusche machen.

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Achten Sie die körperlichen Bedürfnisse des Kindes (Hunger, Schlaf, Wachsein, Wärme, Kälte) von Anfang an, drängen Sie ihm zum Beispiel kein Essen auf. Aber wann Sie den Spielplatz verlassen, ob es ein Eis gibt und welche Schuhe Sie kaufen, bestimmen Sie.

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Im Konfliktfall schadet es nicht, das schreiende Kind auf den Arm zu nehmen und stoischen Schrittes den Tatort (zum Beispiel den Laden oder Spielplatz) zu verlassen. Klare Ansagen geben Halt.

Vom Thron gestoßen

Als Kronprinz vier Jahre alt war und seine Schwester gerade laufen konnte, gingen wir in einem Park spazieren. Prinzessin hockte etwa 50 Meter hinter uns im Laub, weil sie Steine aufheben musste. Da ergriff der Vierjährige energisch meine Hand und sagte: „Komm, Mama, wir rennen weg.“

Ohne mit der Wimper zu zucken hätte er seine Schwester im Park zurückgelassen. Ein Wolfskind wäre sie geworden, irgendwann aufgegriffen vom Wildhüter mit verfilzten Locken und einer Sprache aus Grunzlauten.

Diese kleine Geschichte fiel mir ein, als ich hörte, welche Probleme eine Bekannte mit ihrem Sohn hat, seitdem der kleine Bruder geboren ist. Die Frau wunderte sich über die Wut und Aggression des Jungen und erzählte, ihr Mann und sie hätten es doch so geschickt aufgeteilt: Sie kümmere sich hauptsächlich um das Baby und er abends um den älteren Jungen.

Liebe im Schichtwechsel? Da würde ich mich auch schreiend auf den Boden werfen. „Entthronung“ ist für ein Kind besser zu verkraften, wenn man die Akzente leicht verschiebt. Man drücke gelegentlich den Säugling seinem Vater, der Oma oder einer liebevollen Nachbarin in den Arm und lasse sich mit dem Erstgeborenen auf das Sofa fallen. Man sage so Dinge wie: „Wir beide haben ganz schön viel Arbeit mit dem Wurm. Geht dir das Geschrei auch auf die Nerven?“ Es folgt ein ausgelassenes Durchkitzeln, eine Kissenschlacht und eine Vorleserunde mit dem großen Kind auf dem Schoß. Danach schläft die Mutter eine halbe Stunde komatös (das hat nichts mit der Eifersucht von Kronprinzen zu tun, sondern mit dem nackten Überleben von Eltern).

Wenn irgendwann später die Kinder hoffentlich schlafen und die Wohnung so schlimm aussieht, dass es auch schon egal ist, sucht man in dem Chaos den Partner und die Erotik. Wenn man nichts findet, zusammen auf dem Sofa kuscheln und eine DVD über die Erotik anderer Menschen gucken.

Bin ich jetzt vom Thema abgewichen? Das tut mir leid, aber ich wurde einfach überflutet von der Erinnerung an diese Zeit, Erinnerung an die Anstrengung, an die perforierten Nächte, an die Frisur mit dem Abdruck vom Stillkissen, an den Brei, der nicht gegessen wird …

Die Zeit mit kleinen Kindern ist die „Rushhour“ des Lebens: die Umstellung auf Familie schaffen, den Anschluss im Job nicht verpassen, die Kita-Entscheidung fällen, die Partnerschaft und die Getreidemühle pflegen … Wie soll es da gelingen, die Bedürfnisse jedes Kindes zu sehen und allem gerecht zu werden?

Immer wieder trifft man auf das Zitat von dem „ganzen Dorf“, das es braucht, um ein Kind großzuziehen. Die amerikanische Frauenärztin Christiane Northrup schreibt: „Ich erinnere mich gut an die schönste Zeit, die ich mit meinen Kindern verbrachte, als sie klein waren (drei Monate und zwei Jahre). Ich besuchte damals meine Mutter, und meine Schwester und ihre Kinder waren gleichzeitig dort zu Besuch. Meine Schwester stillte auch gerade; wenn ich also eine Weile fortgehen wollte, stillte sie einfach Kate für mich, so wie Frauen es seit Jahrhunderten getan haben. … Unsere Kinder spielten vergnügt zusammen, und ich konnte die Gesellschaft Erwachsener genießen und mich gleichzeitig an meinen Kindern freuen.“2

Solche Bedingungen sind sicher die Ausnahme. Aber es gibt ein paar Verhaltensmuster, die einen entlasten können.

Tipps

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Nehmen Sie sich regelmäßig exklusive Zeit mit dem älteren Geschwisterkind und geben Sie lieber mal den Säugling an vertraute Menschen als immer nur den großen Bruder oder die große Schwester.

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Suchen Sie sich deshalb schon vor der Geburt des Geschwisterkindes Menschen, die den Säugling mal übernehmen können: Verwandte, eine nette Nachbarin, eine Freundin.

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Erwähnen Sie immer wieder, wie froh Sie sind, schon so ein großes Kind zu haben. Stärken Sie sein Selbstbewusstsein, indem Sie es bei den Aufgaben in der Familie helfen lassen. Sehen Sie großzügig darüber hinweg, wenn diese Hilfe noch nicht so perfekt läuft.

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Kümmern Sie sich auch um sich selbst und den Partner. Lassen Sie nicht die sogenannten Haushaltspflichten Ihr Leben bestimmen.

Das Pokerface-Baby

Einst schrieb ich für eine Schweizer Zeitung über ein kleines Mädchen, das im Trennungskrieg der Eltern von seinem Vater entführt worden war. Über viele Monate war Monique in den USA verschollen. Ein halbes Jahr später wurde das Mädchen entdeckt und der Vater verhaftet. Die Mutter, eine gebürtige Schweizerin, kehrte mit dem Kind nach Zürich zurück. Ein Schweizer Gericht aber entschied, sie müsse ihre Tochter in die USA zurückbringen. Aus Angst, ihr würde es erneut genommen, tauchte die Mutter unter und floh mit dem Mädchen quer durch Europa. Eine traurige Geschichte. Und ich hatte den Auftrag, sie zu erzählen.

Während der Recherchen war die kleine Monique stundenweise in meiner Obhut, weil ihre Mutter Anwaltstermine hatte oder zu einer Behörde musste. Mein Mann und ich glaubten, das traumatisierte Kind würde bei uns weinen oder randalieren, weil wir ihm völlig fremd waren. Aber nichts dergleichen. Monique, damals drei Jahre alt, verhielt sich, als hätte sie schon immer bei uns gelebt. Sie spielte friedlich, kuschelte sich an uns, behandelte meine Schwiegereltern, die zu Besuch kamen, wie Oma und Opa, schmuste sogar mit ihnen.

Es war gespenstisch. Wir hatten plötzlich eine kleine Shirley Temple auf dem Schoß. Lockig, zuckersüß und ohne irgendeine Distanz zu Fremden.

Dieses Erlebnis fiel mir wieder ein, als ich Folgendes über die drei unterschiedlichen Bindungstypen las:

Typ 1, die sichere Bindung:
Das Kind weint bei einer Trennung von der
Bezugsperson, lässt sich aber bei deren Rückkehr schnell
wieder beruhigen.

Typ 2, die unsicher-vermeidende Bindung:
Das Kind zeigt kaum Regung sowohl
bei der Trennung als auch bei der Wiederkehr
der Bezugsperson.

Typ 3, die unsicher-zwiespältig-ängstliche Bindung:
Das Kind weint bei einer Trennung und lässt
sich bei Rückkehr der Bezugsperson kaum beruhigen.
Es will Trost und tritt gleichzeitig um sich.3

Monique zeigte ganz klar das Typ-2-Verhalten. Ein kleines Mädchen, das seine wahren Gefühle hinter einer einstudierten Fröhlichkeit verbarg. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch schreibt über diesen Typ: „In den Augen der Bindungspersonen selbst sind diese Kinder nach außen autonom, zufrieden und können mit Trennungen hervorragend umgehen … Aufgrund der Forschung wissen wir aber, dass diese Kinder … solche Trennungssituationen durchaus nicht stressfrei erleben. Genau das Gegenteil ist der Fall. … Der Puls schlägt schneller und sie schütten deutlich Stresshormone aus. Im Unterschied zu sicher gebundenen Kindern haben bindungsvermeidende Kinder bis zum Ende des ersten Lebensjahres aber bereits gelernt, solche … Bindungssignale nicht nach außen zu zeigen.“4

Noch kein Jahr alt und schon ein Pokerface.

Auch Monique hatte schnell gelernt, sich an die Welt der Erwachsenen anzupassen. Und diese Welt war furchtbar für sie: Monatelang war die Mutter verschwunden, dann wieder der Vater. In sieben oder acht verschiedenen Krippen oder Kindergärten musste sie sich eingewöhnen und an plötzlich auftauchende Babysitter. Die beste Strategie war für sie, schon als Baby ihre wahren Gefühle zu verbergen und pflegeleicht zu sein.

Nach dem Erscheinen meines Artikels über diesen transatlantischen Krimi hatte ich keinen Kontakt mehr zu Monique und ihrer Mutter. Deshalb weiß ich leider nicht, wie die Geschichte ausgegangen ist. Wenn Sie aber Probleme haben, Ihr Kind in einer Krippe oder an eine neue Tagesmutter zu gewöhnen, kann die Geschichte von Monique Ihre Probleme relativieren. Ihr Kind weint, wenn Sie gehen? Es beruhigt sich bald nach Ihrer Rückkehr? Dann haben Sie ein bindungssicheres Kind.

Tipps

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Wenn ich mein Kind in eine Krippe geben möchte, warte ich nach Möglichkeit, bis es mindestens ein Jahr alt ist. Fabienne Becker-Stoll, Bildungsforscherin vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in München, weist darauf hin, dass Stressüberflutung im Gehirn des Säuglings bestimmte synaptische Verbindungen nachhaltig schädigen könne und empfiehlt eine Krippenbetreuung frühestens ab dem ersten Lebensjahr.5 Je kleiner ein Kind ist, desto mehr braucht es ein feinfühliges und verlässliches Eingehen auf seine Bedürfnisse durch eine konstante Bezugsperson.6 Als Eltern darauf zu setzen, dass diese Verlässlichkeit in einer Krippe gewährleistet ist, halte ich bei Kindern, die unter einem Jahr alt sind, für zu riskant.

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Suchen Sie eine Krippe aus, die eine vier- bis sechswöchige Eingewöhnung anbietet. Optimal ist, wenn die Mutter oder der Vater in diesen Wochen jeden Tag einige Stunden dabei bleiben kann.

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Gerade im Alter zwischen zwölf und 20 Monaten „fremdeln“ Kinder besonders stark. Das ist angeboren. Meistens fällt der Start der Krippenbetreuung genau in diese Zeit. Umso wichtiger ist es, die Kleinen behutsam einzugewöhnen und sie erst allein dort zu lassen, wenn ihnen die Bezugspersonen vertraut sind.

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Wenn Sie bei der Eingewöhnungszeit merken, dass die Atmosphäre nicht stimmt, die Erzieher weder ihren Beruf noch ihre Schützlinge lieben, weinende Kinder nicht getröstet oder angelächelt werden, nehmen Sie Ihr Kind und suchen sich eine andere Krippe.

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Es ist nicht per se besser, wenn ein Kind zu Hause betreut wird. Genauso wenig ist es automatisch besser, wenn ein Kind in einer Krippe betreut wird. Entscheidend ist, welche Qualität von Betreuung – an welchem Ort auch immer – geboten werden kann. Qualität meint bei Babys: ein oder zwei feste Bezugspersonen, die einfühlsam auf das Kind eingehen und über Monate präsent sind. „Häufiger Wechsel der Bindungspersonen ist im ‚Bindungssystem‘ kleiner Kinder nicht vorgesehen – je jünger das Kind, desto weniger.“7

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Wenn Sie sich entschieden haben, bei Ihren Kindern zu Hause zu bleiben oder wieder in den Beruf zu gehen, lassen Sie sich von anderen nicht abwerten für diese Entscheidung, egal wie sie ausfällt.

Stressfrei mit Kleinkindern

Gestörte Logopädin in Elternzeit

Ich stand in unserer Bankfiliale hinter einem jungen Mann, der in unserem Stadtteil bekannt ist, weil er einer der wenigen Tagesväter in Hamburg ist. Von Zeit zu Zeit sehe ich ihn mit einem Bollerwagen voller Kinder durch den Park ziehen.

Heute wollte er am Bankschalter Geld abheben und hatte zwei Jungen im Alter von knapp drei Jahren bei sich, die sich sofort auf die Spielecke mit der Holzeisenbahn stürzten.

„Oh, da werden Sie Schwierigkeiten haben, die wieder loszueisen“, sagte der Bankangestellte hinter dem Schalter, als er dem Tagesvater das Geld auszahlte. „Das gibt garantiert Geschrei. Deshalb habe ich jetzt immer Gummibärchen hier.“ Er tauchte unter den Tresen.

Der Tagesvater aber steckte das Geld ein, rief „Los, Jungs!“ und verschwand. Die Kinder ließen den Holzzug auf offener Strecke stehen und rannten ihm nach.

Stille in der Bank.

Als der Mann am Schalter seine Sprache wiederfand, meinte er nur: „Na, so kann es auch gehen.“

Tage später beobachtete ich im Supermarkt eine Mutter mit einem kleinen Mädchen, das etwa eineinhalb Jahre alt war. Die Frau füllte den Einkaufswagen und schob ihn langsam in den nächsten Gang. Ihre Tochter fuhr mit ihrer Hand über die Spätzletüten im Regal. Ich sah, wie sie das Knistern genoss, ihr dann die Mutter wieder einfiel und sie ihr schnell hinterherlief.

Ich war fasziniert von diesem unaufgeregten Einkauf mit Kleinkind und folgte dezent. Das Mädchen ließ sich kurz tragen, um Nähe zu tanken, und entwand sich dann wieder dem Arm seiner Mutter. Die Frau verglich Gemüsekonserven, ihre Tochter Senfsorten. Als das Mädchen ein Glas mit Schattenmorellen aus dem Regal nahm, dachte ich: „Jetzt wird Mama einschreiten.“ Ich hielt den Atem an, war kurz davor selbst hinzuzuspringen, als das Mädchen das Glas unfallfrei zurückstellte und Mutter und Kind friedlich zur Kasse zogen.

Was habe ich mich dagegen früher gestresst! Zwar habe ich Kronprinz auch im Supermarkt laufen lassen, aber als hochnervöse Mutter des Typs „Ich-mache-mein-Kind-zum-Lebensprojekt“ war ich ihm immer auf den Fersen. Mit meinem Atem im Nacken musste er gar nicht selbst darauf achten, dass er Anschluss hielt.

Wenn er nach den Nudeln im Regal griff, war ich sofort auf Augenhöhe und sagte: „Ja, das sind Torrr-te-lini. Die können wir auch mal kochen“ – sanft natürlich und voller Verständnis.

Ich erschloss mit dem Kind die Lebenswelt „Einkauf“ gemeinsam und nannte die Produkte überdeutlich beim Namen, weil ich in einem Erziehungsratgeber gelesen hatte, man solle das Kind „in Sprache baden“. Auf diese Weise würde es einen größeren Wortschatz entwickeln.

So rannte ich hinter meinem Erstgeborenen durch den Supermarkt, eine Frau, die verhindern musste, dass der Kleine Konserventürme umstürzte, und die dabei überdeutlich Worte formte. Wahrscheinlich hielten die Leute mich für eine gestörte Logopädin in Elternzeit.

Da der kleine Prinz keine Verantwortung dafür übernehmen musste, mich nicht zu verlieren (eine Fähigkeit, die jedem Kind angeboren ist, weil sie früher überlebenswichtig war), hatte er jede Menge Zeit, Blödsinn zu machen und zu testen, wann ich mit dem pädagogischen Getue aufhören und die Fassung verlieren würde. Und ich hatte gar keine Zeit mehr, richtig einzukaufen, nahm den falschen Blätterteig, vergaß die Sahne.

Warum es bei mir nicht funktionierte mit dem lässigen Einkauf, habe ich erst verstanden, als mir meine Freundin das Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff schenkte. Auf ihren Expeditionen zu den Yequana-Indianern im Dschungel Venezuelas hatte Liedloff insgesamt zweieinhalb Jahre bei diesem Stamm gelebt, um herauszufinden, warum sie so offenkundig glücklich waren. Dabei richtete Liedloff ihr Augenmerk besonders auf den Umgang mit Kindern. Sie schreibt: „Ein Kleinkind der Yequana würde es sich nicht im Traum einfallen lassen, sich auf einem Waldweg von seiner Mutter zu entfernen, denn die Mutter blickt nicht um sich, um festzustellen, ob es wohl folgt, sie gibt ihm nicht zu verstehen, dass es eine mögliche Wahl gebe oder dass es ihre Aufgabe sei, sie zusammenzuhalten; sie verlangsamt lediglich ihren Schritt so weit, dass es mithalten kann.“8

Die Yequana, so die Forscherin, würden die Fähigkeit zur sozialen Kooperation schon bei den Kleinsten als gegeben voraussetzen. Kinder so zu betüddeln, wie es in westlichen Zivilisationen üblich sei, käme ihnen wie eine Beleidigung der angeborenen Stärke von Kindern vor. Gleichwohl bieten die Yequana ihrem Nachwuchs immer Nähe und Schutz, allerdings nur, wenn die Kinder danach verlangen.

Klar, dass wir nicht an der vierspurigen Hauptstraße die Yequana-Überlebens-Nummer machen, aber ein paar Dinge kann man beachten.

Tipps

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Überlegen Sie sich, welche Arbeit Sie mit dem Kleinkind machen können, dabei sind eher Alltagsverrichtungen gemeint als die Doktorarbeit. Lassen Sie das Kind dabei möglichst auch etwas „arbeiten“.

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Nehmen Sie sich Zeit für diese Arbeit und richten Sie sich mehr auf das Tun als auf das Ergebnis aus.

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Geben Sie dem Kind beiläufig Nähe, wenn es sie braucht, und lassen Sie es in Ruhe, wenn es kein Bedürfnis danach signalisiert.

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Gehen Sie als Eltern oder Betreuer im Park, im Wald oder auch im Supermarkt ihren eigenen Weg.

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Behalten Sie das Kind aus dem Augenwinkel im Blick, aber seien Sie ihm nicht ständig auf den Fersen.

Sich nicht in Grenzen verbeißen