Flora, Frodo
und
Ritter Grille

Prinzessin Flora und das Geheimnis im Garten

Prinzessin Flora schaut hinaus in den Garten. Sie sieht nicht viel, denn es ist noch dunkel. Schon ganz früh ist sie heute aufgewacht, denn sie hat ein Geräusch gehört, das sehr seltsam klang. So, wie der Klageton einer kranken Seemöwe. Oder der Ruf einer einsamen Wildgans vielleicht? Auf jeden Fall will sie erst einmal mit ihren Freunden darüber reden, womöglich haben die dieses seltsame Geräusch ja auch gehört. Sie steht in ihrem Nachthemd und den weichen rosafarbenen Pantoffeln in der offenen Tür, an der Schlosstreppe, die zum Garten führt. Aber irgendwie traut sie sich nicht, laut in den Garten hinaus zu rufen, weil sie fürchtet, ihre Eltern und auch alle anderen im Haus aufzuwecken. Mama und Papa schlafen viel zu gern aus, zumindest einmal am Wochenende, wenn die Geschäfte nicht ganz so dringend sind. Und ihr großer

Bruder Leo, nun ja, der lacht nur über ihre Freunde. Seine Freunde sind groß und stark. Während Floras Freunde klein und flink sind. Immerhin leben sie im Garten, zwischen den Gräsern, in den Blumen, am Teich. Viele von ihnen sind Insekten und nennen sich die Ritter der Käferrunde, und wie Ritter sehen sie auch aus mit ihren schillernden Panzern und mit ihren scharfen Mandibeln. Flora ist stolz darauf, dass sie sich dieses schwierige Wort merken kann. Mandibeln, erklärte ihr Ritter Grille, seien so scharf wie richtige Schwerter und deshalb können er und seine Ritterfreunde sich durch den dichtesten Graswald beißen. Und selbstverständlich im Zweikampf jeden Feind besiegen. Ja, Flora hat sehr coole Freunde. Dazu gehört auch eine ganze Flotte von Libellen, die Familie Schneck, der Frosch Frodo, die Ameisen und die Honigbienen. Die Königin des Bienenvolkes Bianka allerdings verläßt ihren Thron niemals, und weil Flora nicht zu ihr in den Bienenstock hinein gehen kann, tauschten sie ihre Freundlichkeiten und Grüße über den Kurierdienst aus. Den übernehmen die Arbeiterinnen, die so fleißig den Blütenstaub für den Honig sammeln. Da fällt Flora ein, dass die fleißigen Bienchen nicht nur hier im Garten herum fliegen, sondern weit herum kommen. Die müssten doch dieses seltsame Geräusch kennen, denkt sie. Doch so zeitig früh, wenn es noch dunkel ist, traurige Ratschen, als ob der Turteltaube zum Heulen zumute wäre. Nun hält es Prinzessin Flora nicht mehr aus. So laut sie leise sprechen kann, ruft sie hinaus in den dunklen Garten: „Hallo, wacht auf! Ritter der Käferrunde, wacht auf! Ihr fleißigen Bienchen, wacht auf!“ Dann lauscht Flora angestrengt. Sie legt eine Hand hinter das rechte Ohr und mit der anderen beschirmt sie ihr Gesicht, so als müsste sie es vor der Sonne schützen. Doch die Sonne schläft auch noch, es ist ja eben erst vier Uhr in der Frühe. Fast wäre die kleine Prinzessin entmutigt zurück in ihr kuscheliges Bett gegangen, da fällt ihr ein, dass sie doch jemanden kennt, der ganz bestimmt schon wach ist. Dieser Jemand ist Frodo. Manchmal ist er recht hochnäsig, denn er hat einen sehr berühmten Cousin, der einmal einer anderen Prinzessin geholfen hatte: er holte ihre goldene Kugel vom Boden eines tiefen Brunnens herauf. Jedenfalls erzählt man sich das. Frodo, der Frosch, kann ihr sicher helfen, das traurige Entlein zu finden, das dieses seltsame Geräusch macht. Aber um zu Frodo zu gelangen, muss Flora erst einmal ihre Gummistiefel anziehen, um durch das taufeuchte Gras hinüber zum kleinen Teich zu stapfen. Natürlich weiß sie, dass sie das nicht darf. Nicht im Dunkeln und nicht allein. Jeder weiß das, aber hier ist ja niemand, der sie aufhalten kann. Papa Eberhard und Mama Annalinde haben Angst, dass Flora in den Teich hineinfallen könnte, wenn sie mit den Libellen um die Wette „Blätter über das Wasser pusten“ spielt. Doch die beiden schlafen noch und Flora hat nur vor, Frodo zu rufen und mit ihm zu plaudern. Also schleicht sie die

Treppe zum Keller hinunter, wo unter der vierten Stufe ihre Gummistiefel stehen. Im Dunkeln! Wenn sie Licht angeknipst hätte, wären womöglich alle aufgewacht, hätten sie ins Bett geschickt und niemand würde sich um das arme traurige Etwas da draußen kümmern. Flora ist selbst erstaunt, wie mutig sie ist. Das hätte sich nicht mal Leo gewagt! Flora findet ihre Gummistiefel, zieht sie an und geht in der Dunkelheit durch den Garten zum kleinen Teich. Dabei leuchtet sie sich mit einer kleinen Taschenlampe, die neben der Gartentür auf dem Tischchen steht. Die ist aber nicht für Floras nächtliche Ausflüge zum Garten gedacht, sondern für die Erwachsenen, die eher einmal im Dunkeln nach draußen müssen. Am Teich angekommen, ruft sie, so laut sie es leise kann: „Frodo! Frodo! Frodo!“

Einen Augenblick später macht es plitsch! platsch! plitsch! und schon kommt der manchmal recht hochnäsige Frosch ans Ufer gehüpft. „Was willst duuu denn von mir?“ fragt er erstaunt. „Du musst mir helfen, ein Rätsel zu lösen", sagt Prinzessin Flora hoheitsvoll. Der Frosch wackelt ein wenig mit dem Kopf, wenn man das bei einem Frosch so nennen kann, dann antwortet er: „Was kriege ich dafür?“ Nun wackelt Flora mit dem Kopf. Wenn man mitten in der Nacht geweckt wird, so wie Frodo, der Frosch, kann man schon mal eine Belohnung verlangen. “Ein goldenes Bonbon", sagt sie. Sie würde ihm tatsächlich eins von ihren Karamellbonbons abgeben. „Einverstanden“, quakt der Frosch, „dann erzähle mir von deinem Problem.“ Das macht die Prinzessin. Dabei steht sie in gebührendem Abstand zum Ufer des Teiches, die Gummistiefel wippen im taufeuchten Gras. Sie hält einen langen Schilfhalm in der Hand, den sie wie ein Dirigent auf und ab schwingt. „Ein schwieriges Problem“, sagt der Frosch nachdenklich. „Mach doch einmal das Geräusch nach, dass ich es hören kann.“ Prinzessin Flora versucht es. Zuerst denkt sie an die kranke Seemöwe. Kaum hat sie den Laut ausgestoßen, fühlt sie, dass er so nicht stimmt. Dann macht sie die einsame Wildgans nach. Dann die heulende Turteltaube und schließlich sagt der Frosch: „Wenn du mich fragst, klingst du wie die rostige Gartenpumpe. Ich kenne kein Tier, dass solche Geräusche macht. Aber die Pumpe, die kenne ich. Jedesmal, wenn ich sie seufzen höre, denke ich, man sollte ihr ein Tässchen feinstes Öl spendieren!“ Damit hüpft der Frosch in den Teich zurück, nicht ohne die Prinzessin naß zu spritzen und verschwindet. In diesem Moment hört Flora wieder das Geräusch und muss lachen. Es ist ganz bestimmt die alte Pumpe. Doch wer ist um diese Zeit schon draußen im Gemüsegarten, um Wasser zu holen? Schläft der Gärtner denn nicht um diese Zeit? Flora wäre beinahe dorthin gelaufen, um nachzusehen, da bemerkt sie, wie müde sie gerade wird. Also dreht sie um, geht zurück zum Schloss, um wieder in ihr warmes Himmelbett zu schlüpfen. Das Rätsel um den nächtlichen Wasserträger wird sie ein anderes Mal lösen.

Das Geheimnis Im Schuppen

Einige Tage, nachdem Prinzessin Flora das Seufzen der alten Gartenpumpe gehört hat, geht sie wieder hinaus in den Garten. Sie hat eine Einladung zum Turnier der Ritter der Käferrunde erhalten. Ein Turnier, erklärte ihr Ritter Grille, ist ein Wettstreit aller Ritter um herauszufinden, wer von ihnen der Stärkste und Mutigste ist. Diesmal braucht Flora keine Gummistiefel, die Sonne scheint schon seit Stunden und hat das Gras längst getrocknet. Weil Flora noch etwas Zeit hat, bis das Turnier beginnt, schlendert sie hinüber in den Gemüsegarten. Hier steht die Pumpe und auch ein paar Eimer. Die sind alle schon mit Wasser gefüllt und warten nur darauf, ausgeschüttet werden. Ganz oben auf der Pumpe sitzt ein Vogel. Neugierig beobachtet er Flora, und gerade, als er den Schnabel aufmachen will, vielleicht um „Guten Morgen“ zu flöten oder eine typische Vogelfrage zu fragen, wie etwa: „Was nun, grün oder blau?“,

ertönt aus der hinteren Gartenecke ein Husten. Ein heiseres Husten und ein kleines Japsen. Der Vogel vergißt seine Frage und fliegt davon. Prinzessin Flora vergißt das Turnier und geht weiter in den Gemüsegarten hinein. Im hinteren Teil des Gartens wachsen Bohnen und Brokkoli. Brokkoli sieht nett aus, wie kleine Bäumchen am Stiel, aber er schmeckt wie ein feuchter Gummistiefel, brrrr…. Hinter den Bohnen und dem Brokkoli ist die Salatfarm der Familie Schneck, eine reizende Familie. Leider haben sie immer wieder Streit mit dem alten Gärtner. Flora kennt den Gärtner schon ganz gut, er ist eigentlich ein ganz netter Kerl, nur er hat irgendwie kein so gutes Verhältnis zu den Schnecks. Zu vielen der Vogelfamilien auch nicht, aber das mag daran liegen, dass er ihre Fragen einfach nicht versteht. „Was nun, grün oder blau?“ heißt doch: „Wie schön grün das Gras leuchtet und wie blau der Himmel strahlt! Ich weiß gar nicht, was schöner ist!“ Das ist doch ganz einfach, Vögel haben nur niemals Zeit, deshalb kürzen sie alles ab. Wie die Erwachsenen, denkt Prinzessin Flora. Mama Annalinde sagt: „Acht Uhr.“ Das soll heißen: „Liebe Kinder, es ist schon spät, ihr geht jetzt bitte ins Bad und macht euch fertig zum Schlafengehen.“ Irgendwie ist das auch Vogelsprache, denkt sie. Inzwischen hat Flora die Salatfarm der Schnecks durchquert und ist an der hinteren Gartenecke angekommen. Sie steht vor dem etwas windschiefen Geräteschuppen, in dem Gärtner Rumsel sein Gartenwerkzeug aufbewahrt. Schaufel und Rechen, eine Harke und jede Menge Scheren für Äste und Blumen. Außerdem hängen an Haken an der Wand verschiedene Strohhüte, so, als hätte der Gärtner mehr als nur einen Kopf. Rumsel ist viel kleiner als Papa Eberhard, hat einen langen struppigen Bart und einen runden Bauch. Ein bisschen sieht er auch aus wie ein Pirat. Leo hat Bücher mit Geschichten darüber, daher weiß Flora, wie Piraten aussehen. Jetzt ist der Gärtner nicht hier, doch irgendjemand ist in dem Schuppen, weil Flora wieder etwas hört. Leises Husten und ein kleines Japsen. Vorsichtig will Flora die Klinke herunter drücken, da fliegt ein winziger Vogel auf ihre Hand auf der Klinke und piepst: „Was nun, schnell oder schnell!“ Soll heißen: „Lauf schnell weg! Lauf schnell weg! Das kann gefährlich werden!“ Prinzessin Flora lässt vor Schreck die Klinke los. Gefährlich? Sie ist tatsächlich ein wenig erschrocken und dreht sich um, da steht plötzlich Rumsel hinter ihr. Groß wie ein Berg sieht er aus. Sie erschrickt noch einmal ganz gewaltig. Das ist nur das schlechte Gewissen, denkt Flora, weil ich spionieren wollte. „Was spioniert du hier rum, Prinzessin?“, fragt Rumsel. Oh, erwischt, denkt Flora, doch sie sagt: „Ich hab jemanden husten hören und dachte, er braucht vielleicht Medizin.“ In diesem Moment hustet es wieder, diesmal aber ganz laut und das kleine Japsen wird zu einem großen Knall, dann plötzlich wird es hinter der Tür ganz heiß. Rumsel schnappt die Prinzessin, rennt mit ihr zur alten Gartenpumpe, stellt sie ab und sagt: „Du bleibst hier stehen.“ Kein Problem, denkt Flora, ich kann mich vor Schreck gar nicht bewegen. Rumsel schnappt sich einen der vollen Wassereimer und rennt zum Schuppen. Er öffnet die Tür und schüttet das Wasser mit einem riesengroßen Schwung hinein. Es zischt. Dann rennt er zurück und holt den nächsten. Zisch. Dann noch einen. Zisch. Nach dem letzten Zisch qualmt es nur noch. Jetzt kann sich Flora wieder bewegen und läuft vorsichtig zum etwas angekohlten Schuppen. Dort, in einem Häufchen Asche sitzt, wie ein Häufchen Unglück, ein kleiner roter Drache.

Riesige Tränen kullern aus seinen großen runden Augen. Rumsel sitzt daneben und tröstet ihn. Dann sehen die beiden Prinzessin Flora und Rumsel hält den Zeigefinger vor die Lippen. „Das ist ein Geheimnis.“ Flora nickt. "Wo kommt er denn her? Wohnt er bei dir? Wie heißt er denn?“ Der Gärtner nickt. „Er heißt Zumsus. Das stand auf dem Zettel dort, den er mitgebracht hat. Aber ihm bekommt das Essen nicht immer. Vor allem nicht der Brokkoli. Davon bekommt er Schluckauf und dann muss er husten, und dann….“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf die verbrannte Schuppentür. „Warum muss er denn Brokkoli essen, wenn er ihn nicht mag?“, fragt sie. Wenn die Antwort gut ist, dann werde ich es der Köchin weitersagen, wenn es wieder Brokkoli gibt, denkt Flora. „Ganz einfach, mein Kind“, sagt der Gärtner, „davon ist immer genug da und es wächst immer genug nach. Mit vielem anderen ist das schwieriger. Aber ich habe verstanden, dass Brokkoli einfach das falsche Essen für ihn ist. Vielleicht kann ich ihm Kartoffeln kochen, ach, ich weiß einfach nicht, was so ein Drache isst…“ Plötzlich wird Flora einiges klar. Rumsel hatte vor einigen Tagen schon einmal das Schluckauf-Husten-und-Feuer-Problem mit Zumsus. Deshalb musste er um vier Uhr in der Früh vier Eimer Wasser von der rostigen Gartenpumpe holen und den armen kleinen Drachen löschen. Flora mochte sich das gar nicht vorstellen, so traurig ist das. Und alles nur wegen Brokkoli. Da hat sie plötzlich eine Idee. Sie streckt die Hand aus und streicht Zumsus liebevoll über den zackigen Kamm auf dem Kopf. Sie wischt ihm eine dicke Träne aus dem Gesicht und sagt: „Du musst nie wieder Brokkoli essen, Zumsus.“ Dann steht sie auf, verabschiedet sich artig, wie es eine Prinzessin tut, und läuft davon. Ein paar Schritte weiter steht sie bei Familie Schneck und erzählt ihnen von der wunderbaren Brokkoliplantage, die niemandem gehört. Das ist natürlich eine Notlüge. Aber Flora meint damit niemandem mit mehr oder weniger als zwei Beinen. Die Schnecks waren begeistert. Und Flora? Die freut sich, dass sie wieder einmal ein Problem gelöst hat, sogar ohne die Hilfe von Frodo, dem manchmal hochnäsigen Frosch. Und dann fällt ihr ein, dass sie das Turnier verpasst hat. Oh ja, da wird sie sich entschuldigen müssen. Aber sie hat eine gute Geschichte, die sie ihren Freunden erzählen kann. Ritter lieben gute Geschichten, und diese ist sogar wahr. Das beste aber ist, dass sie ein Geheimnis beinhaltet, das noch nicht gelöst ist. Denn wo der kleine Drache herkommt, weiß sie noch nicht. Wie die Vögel sagen würden: „Was nun, hier oder dort?“