ANNA MÜHLHAUSE

Für Oma Hilde

VORWORT

Behindert sein oder behindert werden? Eine Frage, die sich mir momentan immer häufiger aufdrängt. Egal, was ich mache, alles wird in irgendeiner Weise immer mit meiner Behinderung in Verbindung gebracht und gerechtfertigt. Gerade in der Schule fällt mir das ziemlich häufig auf. Klar, ich unterscheide mich von anderen Schülern. Um diese Tatsache festzustellen, bedarf es nur eines kurzen Blickes in meine Richtung. Allerdings nicht nur in dem Punkt, dass ich die meiste Zeit des Tages vier Räder unterm Hintern habe und für Dinge, die für andere Menschen alltäglich sind, ungefähr doppelt so viel Kraft und Zeit benötige.

Nein! Auch auf anderer Ebene bin ich komplett anders. Während sich meine Mitschüler während der Stunde um ihre abgebrochenen Fingernägel, eine nicht sitzende Frisur oder die optimale Länge ihrer Augenbrauen kümmern, versuche ich, mich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren, um ein gutes Abitur abzulegen.

Doch in einer Gesellschaft, in der gute Noten auf das Vorhandensein einer Behinderung und den damit verbundenen Behindi-Bonus zurückgeführt werden, ist das manchmal alles andere als einfach.

Ich sitze jetzt seit über 20 Jahren im Rollstuhl, mein ganzes Leben also. Eine lange Zeit, in der sich viele positive und lustige, aber auch einige dramatische Situationen ereignet haben. In diesem Buch erzähle ich eben von diesen Ereignissen aus der etwas anderen Perspektive, meiner Perspektive. Es ist mir ein sehr großes Anliegen, dabei zu zeigen, dass auch ein Leben im Rollstuhl verdammt nochmal wahnsinnig lebenswert, lustig und aufregend sein kann. Ein Leben im Rollstuhl ist keinesfalls gleichbedeutend mit dem Ende der Welt.

Das Einzige, was mich als Rollifahrer von einem »Normalo» unterscheidet, ist der Blick auf die Welt und das Denken. Ich habe oft das Gefühl, viele meiner Ansichten sind fast schon ein bisschen zu erwachsen. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Vielleicht daran, dass ich ziemlich konservativ erzogen wurde. Ich hatte zwar eine tolle, unbeschwerte Kindheit aber eventuell musste ich dann doch etwas schneller reif werden, als unter normalen Umständen. Möglicherweise ist auch das ein Grund dafür, dass ich mich unter gleichaltrigen, nichtbehinderten Menschen selten wohlfühle.

Ich bin und war schon immer ein Mensch, der mit seinem »Schicksal«, seiner »Andersartigkeit«, seiner Behinderung, seinem Handicap oder wie auch immer man es nennen mag, sehr offen und positiv umgegangen ist. Ich mache Witze über mich selber, die zum Teil nicht schwärzer sein könnten. Die meisten Menschen in meiner Umgebung haben damit kein Problem und wissen, dass sie mich nicht mit Samthandschuhen anfassen oder sich für jede, für normale Menschen unerhört anmutende Bemerkung, entschuldigen müssen. Natürlich stoße ich mit der offenen Art, mit meiner Behinderung umzugehen, nicht überall auf absolut heiße Gegenliebe. Damit aber kann ich umgehen.

Auch in meiner Art, darüber zu sprechen, bin ich oft ein bisschen rabiat. Das werdet ihr später noch merken. Diese feinen Umschreibungen, die sich zur Betitelung von Einschränkungen aller Art über die Zeit hinweg innerhalb der Gesellschaft manifestiert haben, benutze ich nur sehr ungern. Ich benenne die Dinge viel lieber so wie sie sind und bin deshalb auch kein großer Freund von der » Mensch-vor-der-Diagnose-Methode«. Warum muss man dazu unbedingt Kind, Frau oder Mann mit Behinderung sagen, wenn doch eigentlich alles auf dasselbe hinausläuft? Alle Menschen, egal mit welcher Einschränkung, sind auf unterschiedlichste Art behindert. Deswegen sage ich auch zu mir selber nicht junge Frau mit Behinderung, sondern ganz einfach und kurz Behinderte. Ein Wort, welches die ganze Sache klar und unmissverständlich auf den Punkt bringt. Das meine ich nicht abwertend. Aber wozu hunderte, unterschiedlicher netter Umschreibungen für etwas benutzen, das sich mit nur einem Wort auf den Punkt bringen lässt?!

Erst in der letzten Reha vor ein paar Monaten sagte der Physio-Praktikant: »Du mit deiner interessanten Geschichte und positiven Einstellung zum Leben solltest ein Buch schreiben.«

Zu diesem Zeitpunkt stand das Grundgerüst dieses Buches schon lange. Nur wusste er das nicht. Ich allerdings finde meine Geschichte gar nicht so furchtbar spannend. Mich gibt es auf dieser Welt in vermutlich zehntausendfacher Ausführung und jährlich kommen tausende Kinder mit frühgeburtlich bedingter Hirnschädigung dazu. Unter den Frühgeburten falle ich, wie viele Andere auch, schlicht und einfach in die Kategorie »Dumm gelaufen, kann nicht laufen«. Was soll also gerade an mir und meinem Leben so irre interessant sein?

Was die positive Einstellung betrifft, hatte er allerdings recht. Wir sollten uns alle als das akzeptieren, was wir eben sind. Egal, ob dick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß, behindert oder nicht behindert! Wir alle sind Menschen! Der Leitspruch meines ehemaligen Kindergartens war und ist noch bis heute: »Und weil wir alle verschieden sind, sind wir alle gleich«.

Ich finde, das trifft den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. In unserer Gesellschaft ist sowieso niemand normal. Jeder von uns hat seinen eigenen, ganz speziellen Schatten. Manchen ist er auf den ersten Blick anzusehen. Bei anderen muss man erst tiefer graben. Dass genau das aber völlig okay ist, müssen wir erst noch verstehen. Erst dann können wir endlich aufhören, unseren Mitmenschen aufgrund scheinbarer Unterschiede im Vergleich zur »Norm« eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen.

Niemand kann etwas dafür, dass bestimmte Dinge so sind, wie sie sind. Man kann nur verändern, wie man selbst damit umgeht. Deswegen: Nehmt euch so, wie ihr seid! Seht das Leben nicht zu ernst! Versucht bitte nicht immer irgendwelche netten Umschreibungen für klar auf der Hand liegende Tatsachen zu finden und ganz wichtig: Lacht über euch selber! Das macht das Leben meistens leichter.

1

FANTASTISCH SPASTISCH

Während ich hier sitze und den Anfang des Buches verfasse, liegt meine linke Hand etwas zusammengekrümmt und verkrampft neben mir. Viel machen kann ich mit ihr nicht. Ich bin praktisch das, was man im Volksmund gerne mal als »Grobmotoriker« bezeichnet. Lineal halten ist nur bedingt, mit links schreiben absolut gar nicht möglich. Ebenso ein Eis zu halten.

Wenn ich mit jemandem in eine dieser traditionellen Eisdielen einkehren möchte, muss zuerst die kleine Stufe am Eingang überwunden werden. Beim Verlassen des Ladens bin ich dann meistens diejenige, die neben meinem eigenen auch das Eis meiner Begleitung in die Hand gedrückt bekommt. Es ist zwar ein Eis to go, scheinbar aber ohne therapeutische Wirkung. So muss sie meinen Rollstuhl und mich gefahrlos diese eine Stufe wieder hinunter, raus aus dem Geschäft, transportieren. Ich sitze also da, mit meinem Eis in der rechten und dem Eis meiner Begleitung in der linken Hand und muss irgendwie versuchen, beide Eistüten in aufrechter Art und Weise da runter zu bekommen. Ein bisschen wie bei »Domino Day«. Das Unfallrisiko ist dabei ungefähr mit dem eines Autofahrers gleichzusetzen, der vor Antritt der Fahrt vier Gläser Wodka geext hat.

Bis vor ein paar Monaten noch konnte ich mit der linken Hand nicht mal den Stinkefinger zeigen. Seit meine Schwester das aber regelmäßig mit mir trainiert, wird es stetig besser und ich laufe in Sachen »Stinkefinger zeigen mit links« praktisch zu Höchstformen auf. Sie war es auch, die vor gar nicht allzu langer Zeit einmal zu mir sagte: »Wenn du mal nach Italien fahren solltest, kannst du problemlos die typische italienische Handbewegung machen. So wird keiner bemerken, dass du eigentlich Deutsche bist.« Ich liebe diese Hand und bin auch nicht bereit, irgendwas an ihr zu ändern.

Zu verdanken habe ich meine heißgeliebte »Hundepfote«, so nenne ich meine Hand immer, der ebenso heißgeliebten Spastik. Ich bin also nicht nur ein gewöhnlicher Grobmotoriker, wie es wahrscheinlich zehntausende in unserer Gesellschaft gibt. Ich bin noch viel mehr als das! Ich bin ein waschechter Spastiker aus Fleisch und Blut und ich stehe – ähm Entschuldigung – sitze dazu! Gerade die jüngeren Leser werden jetzt wahrscheinlich schmunzelnd dieses Buch in der Hand halten oder sich vor Lachen auf dem Boden rollen und denken: Was, so etwas gibt es wirklich?! Ich dachte immer »Spasti« ist einfach nur ein lustiges Schimpfwort. Da muss ich euch enttäuschen, liebe Leute.

Auf Mediziner-Deutsch ist eine Spastik eine Bewegungsstörung, die in Folge einer infantilen Schädigung des Gehirns entsteht und mit einer Tonuserhöhung der Muskulatur einhergeht. Aber jetzt mal weg mit dem ganzen fachchinesischen Geschwafel!

Einfach formuliert: Durch Sauerstoffmangel vor der Geburt sind in meinem Gehirn bestimmte Nervenzellen abgestorben, die unter anderem für die Bewegungssteuerung zuständig sind. Dadurch wirkt mein Bewegungsmuster häufig abgehackt. Positiver Stress, also beispielsweise übermäßige Freude, lässt meine Muskulatur ebenso verkrampfen, wie Stress, Aufregung, Zeit- oder Leistungsdruck. In Verbindung mit Wahrnehmungs- und Koordinationsstörungen sowie einer Reihe von orthopädischen Begleiterkrankungen nennt sich dieses wunderschöne Gesamtpaket dann »spastische Infantile Cerebralparese« oder kurz ICP.

»Infantil« steht dabei für frühkindlich und »Cerebralparese« für Hirnschädigung oder auch vom Gehirn ausgehende Lähmung. Nach der

»Mensch-vor-der-Diagnose-Methode« bin ich also eine junge Frau mit infantiler Cerebralparese. In Spastikerkreisen nennen wir uns gegenseitig aber in der Regel nur ICP’ler oder, wenn wir uns gegenseitig aufziehen wollen, Spastis.

Aber wie bei anderen Behinderungen auch, ist ICP’ler natürlich nicht gleich ICP’ler. Nein! Mediziner unterscheiden nach Ausprägung der Lähmung in drei Formen der spastischen Cerebralparese:

Spastische Hemiparese: Es kommt zur einseitigen Lähmung in Armen und Beinen, die unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

Spastische Diparese: Es treten Lähmungen in beiden Körperhälften auf, allerdings sind die Beine und Füße oft stärker betroffen.

Spastische Tetraparese: Es treten Lähmungen in allen vier Extremitäten auf.

Ich weiß nicht genau wer, aber irgendjemand hat sich dazu noch so eine lustige Einteilungsmethode namens GMFCS einfallen lassen. Dieses System, dessen ausgeschriebene Bezeichnung kein Laie aussprechen kann, hilft bei der Beurteilung der motorischen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen. Es wird dabei in fünf Stufen unterschieden:

Stufe I: Der Betroffene kann ohne Einschränkungen gehen.

Stufe II: Der Betroffene kann mit Einschränkungen, aber ohne die Verwendung eines Hilfsmittels gehen.

Stufe III: Der Betroffene benutzt zur Fortbewegung eine Gehhilfe.

Stufe IV: Die selbstständige Fortbewegung ist nur eingeschränkt möglich, möglicherweise wird ein Elektrorollstuhl benötigt.

Stufe V: Der Betroffene ist vollkommen auf einen Rollstuhl angewiesen.

Ich bin ein Tetra-Spastiker dritten Grades, damit praktisch fast rundum behindert. Im Gegensatz zu vielen Leidensgenossen, beschränkt es sich bei mir jedoch ausschließlich auf eine mittelschwere körperliche Behinderung. Auch epileptische Krampfanfälle machen um mich zum Glück einen großen Bogen. Zumindest bisher.

Nach dem kleinen Exkurs ins medizinische Fachchinesisch nun aber wieder zurück zum Wesentlichen.

Im Alltag ist dieses kleine Souvenir meiner Behinderung meistens ziemlich nervig, weil diese kleine Rampensau sich natürlich grundsätzlich genau dann immer unbedingt besonders präsentieren muss, wenn es eigentlich gerade gar nicht angebracht ist. Jegliche Form von Stress, Aufregung oder Freude zum Beispiel verstärkt die Spastik gefühlt um ein Hundertfaches. Entweder sitze ich dann in meinem Rollstuhl und fuchtele mit den Armen wie eine Schwalbe auf Extasy oder ich werde steif wie ein Brett. Oft sind meine Bewegungen dann noch abgehackter und unkontrollierbarer als sonst, ähneln denen eines tollwütigen Hundes.

Der Vorteil dieser Sache ist allerdings, dass ich mir wahrscheinlich zeitlebens die 3,70 € für die »BRIGITTE« sparen kann. Statt »Schlank im Schlaf«, einer Kohlsuppen- oder eben der »Brigitte-Diät« habe ich mich nämlich für die »Spastiker-Diät« entschieden. Durch die dauerhaft massiv erhöhte Muskelspannung in meinem gesamten Körper und wahrscheinlich auch, weil ich sowieso bei allen Tätigkeiten mehr Kraft benötigte, nehme ich irgendwie nicht zu. Ich kann essen, was ich will und wiege seit Jahren konstant 43 Kilogramm. Das Ganze funktioniert absolut komplikationslos und einfach. Jedenfalls für diejenigen, die eine dementsprechend hohe Muskelspannung vorzuweisen haben. Ob dieses Diätkonzept allerdings auch in vierzig Jahren noch so gut funktioniert, weiß ich natürlich nicht. Da sich meine Spastik aber in den letzten Jahren spürbar verstärkt hat, bin ich diesbezüglich ganz zuversichtlich. Ganz nach dem Motto: »Fantastisch spastischschlanker Körper garantiert ohne, dass man kollabiert!«

2

»BEI DEN ANDEREN LÄUFT’S, BEI MIR ROLLT’S!«

Den Großteil meiner Zeit verbringe ich ja, wie schon erwähnt, im Rolli. Wir, also mein grüner Grasfrosch und ich, kommen dabei sehr gut miteinander aus. Streit gibt es zwischen uns beiden eigentlich nie, naja gut, fast nie. Nur, wenn er mal einen Platten hat und ich dadurch ein echtes Problem bekomme, weil ich dann praktisch noch behinderter als behindert bin und das Haus nicht verlassen kann, muss ich ein ernstes Wörtchen mit ihm sprechen! Von »Behinderung einer Behinderten durch einen nicht funktionsfähigen Reifen« stand schließlich nichts in dem Kooperationsvertrag, den ich vor nunmehr neunzehn Jahren mit ihm abgeschlossen habe. Gott sei Dank ist dieser worst case allerdings auch erst zwei Mal in dieser gesamten Zeit eingetreten und mein Grasfrosch zeigte sich glücklicherweise ebenso verständnisvoll und einsichtig, wie reumütig, als ich ihn daraufhin wies, dass sein derzeitiges Verhalten gegen unsere partnerschaftlich getroffenen Vereinbarungen verstößt.

Für manche Menschen in meiner Umgebung erscheinen mein Leben und der damit verbundene Alltag wahnsinnig kompliziert. Zugegeben, manchmal ist er das auch. Mein ganzer Tagesablauf ist wie der eines bestverdienenden Managers eines international bekannten Unternehmens, durchgeplant. Jedenfalls, was die Wochentage betrifft. Ich stehe morgens um 6: 30 Uhr auf und meine Mutter hilft mir bei den Vorbereitungen auf den Tag, anziehen, Haare kämmen und alles, was eben sonst noch so dazugehört. Sozusagen das all-inclusive Paket. In der Woche verzichte ich meist auf ein Frühstück. Nicht, weil die Zeit dafür nicht reichen würde, aber ich habe so früh am Morgen meistens noch keinen Hunger. Außerdem müsste ich ja dann noch früher aufstehen und dafür bin ich ehrlich gesagt zu faul.

Wenn die morgendliche Routine erledigt ist, steht in der Regel um kurz nach sieben Uhr mein Taxi vor der Tür, das mich in die Schule bringen soll. Mit dem Taxi fahre ich, seitdem ich in der fünften Klasse bin. In der 1. Klasse hat mich meine Mutter noch jeden Morgen mitgenommen. Sie ist Grundschullehrerin und arbeitet an meiner ehemaligen Grundschule. Ab der zweiten Klasse hatte ich darauf aber irgendwie keine Lust mehr. Ich habe meine Klassenkameraden, die auf Dörfern wohnten und deswegen jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt zur Schule fuhren, immer bewundert. Relativ früh war deswegen eigentlich schon klar: Ich möchte auch mit dem Bus fahren! Auch, wenn es von meinem Zuhause nur vier Stationen bis zur Grundschule waren. Hesseröderstraße • Bochumer-Straße • Birkenweg • Salza-Bahnhof • AKS (Albert-Kuntz-Schule). Drei Jahre lang war das mein Schulweg. Der Busfahrer half mir mit dem Rollstuhl in und aus dem Bus und übergab mich an der Schule an meine Integrationshelferin, heute Schulbegleitung genannt. Aber zu diesem Thema später mehr. Jedenfalls war ich stolz wie Oskar, nicht mehr mit meiner Mutter zusammen in die Schule zu fahren, sondern auch mal alleine etwas zu schaffen.

Das änderte sich mit Beginn der 5. Klasse. Direkt vor der neuen Schule gab es, anders als in der Grundschule keine Bushaltestelle und so musste ich auf ein Rollstuhltaxi zurückgreifen. Am Anfang war das ja alles noch super witzig, über eine Rampe hinten in den »Kofferraum« geschoben zu werden. Mit der Zeit aber wurde es nervig. Zum einen wurde mir klar, dass dieses kleine Stückchen, durch die Busfahrten gewonnene Freiheit und Selbstständigkeit gerade wieder Flöten ging. Zum anderen passiert es bis heute aber auch des Öfteren noch, dass das Taxi entweder zu spät oder manchmal auch gar nicht kommt. Dann stehe ich nach Unterrichtsschluss auf dem Schulhof und warte und warte, während alle meine Mitschüler, die zum Teil einen viel weiteren Heimweg haben als ich, wahrscheinlich längst schon zu Hause sind.

Wenn meine Behinderten-Limousine aber pünktlich kommt, fahre ich hier zu Hause gegen zehn vor halb acht ab und bin dann ca. fünf Minuten später in der Schule. Zum Glück habe ich es nicht weit. Wenn ich bei uns im Garten sitze, kann ich das Dach des Schulgebäudes sogar sehen. Es sind nur etwa 300-400 Meter Luftlinie dazwischen.

Um kurz vor acht beginnt bei uns der Unterricht. Je nachdem, wie viele Stunden ich habe, ist mein Schultag entweder um 13: 40 Uhr oder 15: 20 Uhr beendet. Wobei Ersteres eher die Ausnahme ist. Dann werde ich von meiner Behinderten-Limousine, einem Mercedes Benz Rollstuhltaxi wieder nach Hause gebracht. Dort warten meine Eltern und ein nicht allzu kleiner Berg Hausaufgaben und Lernstoff auf mich. Montags, mittwochs und donnerstags steht außerdem noch Physiotherapie auf dem Plan.

Über die Jahre habe ich gelernt, meine Zeit effektiv zu verplanen. Deshalb nutze ich meine zwei Freistunden am Montagmorgen für die erste Physio-Einheit. Mein Vater, der hauptberuflich beim BehindertenTransportdienst »Anna-Service« angestellt ist, fungiert als Chauffeur und fährt mit mir die knapp 20 km von zu Hause in die physiotherapeutische Abteilung der Helios-Klinik Bleicherode. Dort steht ein Termin bei meinem, wie mein Vater sie liebevoll nennt, »Folterknecht« auf dem Plan. Habe ich das Bootcamp ohne Knochenbrüche oder sonstige Zwischenfälle überlebt, geht es anschließend direkt zur Schule. Hier folgt dann in der Regel noch Unterricht bis zur 8. Stunde.

Mittwochs läuft die ganze Geschichte genau anders herum ab. Ich komme aus der Schule, habe kurz noch Zeit, um noch einmal durchzuatmen und fahre dann zur Physio. Das Beste kommt zum Schluss wie man so schön sagt, denn Donnerstagabend bin ich für gewöhnlich zur Therapie im Bewegungsbad. Vielleicht sollte ich mir demnächst eine Hängematte mitbringen, um die Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag zu überbrücken.

Hausaufgaben und sonstiger Lernstoff werden da auch schon mal auf der Autobahn erledigt. Aber diese Umstände nehme ich gerne in Kauf und das ganze Schulzeug erledigt sich währenddessen auch noch irgendwie. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich am Ende eines Tages manchmal selbst frage, wie ich das heute wieder geschafft habe. Hin und wieder wäre ein 30 oder 35 Stunden-Tag doch ganz von Vorteil.

Gestatten, ein ganz normaler Tag im Leben einer ziemlich behinderten Schülerin auf dem Weg zum Abitur. Das ist Alltag aus der Hinternperspektive.

3

»ICH BIN BEHINDERT, HOLT' MICH HIER RAUS!«

Wenn ein Behinderter auf Reisen geht, kann es manchmal ziemlich lustig werden. Und nein, ich war nicht im Dschungel, ist ja auch überhaupt gar nicht barrierefrei dort, aber diese Geschichte ist einfach so bühnenreif, dass sie ein eigenes Kapitel verdient hat. Vorher aber noch kurz dringend benötigtes Hintergrundwissen zu meinen familiären Verhältnissen: Mein Vater arbeitete früher im Rahmen eines Austauschprogrammes für elf Jahre in Budapest bei einem ungarischen Bushersteller. Dort hat er dann irgendwann auch eine Frau kennengelernt, geheiratet und mit ihr zwei Kinder bekommen. Meine Halbschwestern also. Ich mag diesen Ausdruck gar nicht. Für mich ist Schwester gleich Schwester bzw. Bruder gleich Bruder. Aber das nur mal so nebenbei bemerkt. Mitte der achtziger Jahre haben die beiden sich dann jedenfalls scheiden lassen, mein Vater kam zurück nach Deutschland, lernte meine Mutter kennen und später ist meine älteste Schwester auch hierher gezogen.

Wir hatten gerade Sommerferien. Normalerweise bin ich zu dieser Zeit immer für eine Woche zu meiner noch in Ungarn lebenden Schwester Zsuzsi geflogen. In diesem Jahr sollte ich aber an der Hüfte operiert werden und deswegen kam sie zu uns nach Deutschland. Wir hatten uns schon einige Tage vorher die Autostadt Wolfsburg, mit anschließendem Besuch auf der Phaeno, ausgesucht und starteten an diesem Vormittag in die ca. zweieinhalbstündige Autofahrt.

Kurz vor dem Ziel mussten wir alle mal auf die Toilette, weshalb mein Vater auf den letztmöglichen Rastplatz fuhr und mir auf das Behindertenklo in einem mit Graffiti bunt besprühtem Container half, dann zwecks Privatsphäre den Raum verließ und die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. Wir hatten ja den Universalschlüssel für alle Behindertentoiletten auf Autobahnen in ganz Europa mit dabei. Es sollte also absolut kein Problem sein, mich auch wieder von der Schüssel herunter zu bekommen. Dachte ich jedenfalls. Denn als mein Vater wieder hereinkommen wollte, bekam er die Tür mit dem Schlüssel nicht mehr auf. Irgendwie schien das Schloss zu klemmen. Zuerst dachte ich, er würde sich einen Spaß daraus machen und nur so tun, als ob er nicht reinkäme und lachte mich schlapp. Als sich die Tür aber auch nach zehn Minuten nicht öffnen ließ, verstand ich, dass es kein Witz war. Ich saß also drinnen auf dem Klo und lachte mich immer noch halbtot, während mein Vater und meine Schwester auf der anderen Seite der Tür standen. Zsuzsis Lachen hörte ich von innen fast lauter als mein Eigenes.

Mein Vater hingegen, der mittlerweile eine absolute Krise bekommen hatte und das alles gar nicht lustig fand, versuchte krampfhaft, jemanden von der Hotline zu erreichen, deren Nummer an der Toilettentür stand. Doch dort meldete sich lediglich der Anrufbeantworter. »Bitte rufen Sie innerhalb unserer Geschäftszeiten erneut an«, ertönte es am anderen Ende der Leitung. Na klasse! Muss die Zentrale dort nicht auch samstags und sonntags besetzt sein? Ich sah mich das Wochenende schon auf der Kloschüssel verbringen, inmitten einer Menge Klopapierrollen und diesem typischen Autobahntoillettengeruch. Trotzdem fand ich die gesamte Situation immer noch wahnsinnig amüsant. Ich stellte mir vor, wie mein Vater wahrscheinlich gleich die Feuerwehr anrufen müsste und die mit Brechstange und hydraulischer Rettungsschere die Tür aufbrechen würde. Morgen stünde dann wahrscheinlich auf der Titelseite der BILD »Behindertes Mädchen (15) auf Autobahntoilette eingeschlossen. Feuerwehr muss Tür aufbrechen«.

Doch plötzlich rüttelte es erneut an der Tür und ich wurde aus meinen urkomischen Gedanken gerissen. Nur wenige Sekunden später blitzte ein schmaler Lichtstrahl in den Raum hinein und die Tür öffnete sich. Vor mir stand allerdings kein Mensch in Feuerwehruniform, sondern neben meinem krebsroten, offenbar sehr angespannten Vater und meiner sich immer noch vor Lachen krümmenden Schwester, ein älterer Mann mit Schlüssel, blauem Eimer und Putzlappen in der Hand. Der Putzmann der Toilettenfirma. Das Problem war schnell gefunden: Eine defekte Schließanlage. Nun aber musste ich hier irgendwie erst mal rausgebracht werden, denn seit gefühlt einer Stunde bekam ich einen Lachanfall nach dem anderen und konnte mich deswegen kaum auf den Beinen halten, geschweige denn laufen. Irgendwie schafften mein Vater und meine Schwester es aber doch, mich zum Auto zu schleifen und der Klobesuch mit Hindernissen hatte nach einer Dreiviertelstunde endlich ein Ende.