Impressum

 

Titelbild: Théodule Augustin Ribot (1823–1891), Die leere Flasche (1876–81)

Mit freundlicher Genehmigung: Städel Museum – ARTOTHEK

 

© Jost Wunderlich, 2019

Erstveröffentlichung der Originalausgabe 1898

Übersetzt aus dem Französischen

Automatischer Vorübersetzer: DeepL

Übersetzer: Jost Wunderlich

Anmerkungen und Kommentare: Jost Wunderlich

Durchgesehen von: Dr. Rolf Eraßme

 

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg

 

ISBN

Paperback

978-3-7497-5879-1

Hardcover

978-3-7497-5880-7

e-Book

978-3-7497-5881-4

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

Inhalt

Einleitung

Psychologie des Sozialismus

Vorwort zur dritten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

I.      Die sozialistischen Theorien und ihre Anhänger

A.      Die unterschiedlichen Gesichter des Sozialismus

1.      Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung

2.      Die verschiedenen Aspekte des Sozialismus

B.      Entstehung des Sozialismus und Ursachen seiner gegenwärtigen Entwicklung

1.      Frühgeschichte des Sozialismus

2.      Ursachen der heutigen Entwicklung des Sozialismus

3.      Bewertung sozialer Phänomene durch die Methode des prozentualen Anteils

C.      Die Theorien der Sozialisten

1.      Grundprinzipien sozialistischer Theorien

2.      Der Individualismus

3.      Der Kollektivismus

4.      Sozialistische Ideen sind, wie verschiedene Institutionen der Völker, Folge ihrer Rasse

D.      Die Anhänger des Sozialismus und ihre geistige Disposition

1.      Klassifizierung der Anhänger des Sozialismus

2.      Die Arbeiterklasse

3.      Die herrschende Klasse

4.      Halbwissende und Doktrinäre

II.      Sozialismus als Glaube

A.      Die Grundlagen unseres Glaubens

1.      Ursprünge unserer Glaubensrichtungen

2.      Die Rolle des Glaubens in unseren Ideen und Überlegungen Psychologie des Missverständnisses

3.      Bildung angestammter Moralvorstellungen

B.      Rolle der Tradition in verschiedenen Elementen einer Zivilisation und Grenzen der Variabilität angestammter Vorstellungen

1.      Einfluss der Tradition auf das Leben der Völker

2.      Grenzen der Variabilität der angestammten Seele

3.      Der Konflikt zwischen traditionellen Überzeugungen und modernen Anforderungen sowie die gegenwärtige Beweglichkeit von Meinungen

C.      Entwicklung des Sozialismus zu einer religiösen Form

1.      Aktuelle Tendenzen des Sozialismus, alte Überzeugungen zu ersetzen

2.      Verbreitung eines Glaubens: Die Apostel

3.      Verbreitung einer Überzeugung unter den Massen

III.      Sozialismus und Einfluss der Rasse

A.      Der Sozialismus in Deutschland

1.      Theoretische Grundlagen des Sozialismus in Deutschland

2.      Gegenwärtige Entwicklung des Sozialismus in Deutschland

B.      Der Sozialismus in England und Amerika

1.      Die angelsächsischen Staats- und Bildungsvorstellungen

2.      Die gesellschaftlichen Vorstellungen angelsächsischer Arbeiter

C.      Psychologie der lateinischen Völker

1.      Wie das tatsächliche politische System eines Volkes bestimmt wird

2.      Der geistige Zustand lateinischer Völker

D.      Das lateinische Staatskonzept

1.      Wie die Vorstellungen eines Volkes geprägt werden

2.      Das lateinische Staatskonzept und warum die Fortschritte des Sozialismus das natürliche Ergebnis der Entwicklung dieses Konzepts sind

E.      Die lateinischen Vorstellungen von Erziehung, Unterricht und Religion

1.      Die lateinischen Vorstellungen von Erziehung und Unterricht

2.      Die lateinischen Vorstellungen von Religion

3.      Wie lateinische Vorstellungen alle Elemente der Zivilisation geprägt haben

F.      Entstehung des Sozialismus bei lateinischen Völkern

1.      Absorption durch den Staat

2.      Folgen der Ausweitung von Aufgaben des Staates

3.      Der kollektivistische Staat

G.      Der momentane Zustand der lateinischen Völker

1.      Die Schwäche der lateinischen Völker

2.      Die lateinischen Republiken von Amerika, Spanien und Portugal

3.      Italien und Frankreich

4.      Folgen der Übernahme lateinischer Vorstellungen durch andere Völker

5.      Die Zukunft, die die lateinischen Völker bedroht

IV.      Der Konflikt zwischen den Erfordernissen der Wirtschaft und den Bestrebungen der Sozialisten

A.      Die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung der Gegenwart

1.      Neue Faktoren in der Entwicklung von Gesellschaften, die durch moderne Entdeckungen entstehen

2.      Auswirkungen heutiger Entdeckungen auf die Lebensbedingungen von Gesellschaften

B.      Die wirtschaftlichen Konflikte zwischen Orient und Okzident

1.      Der wirtschaftliche Wettbewerb

2.      Gegenmaßnahmen

C.      Die wirtschaftlichen Konflikte zwischen den Völkern des Okzidents

1.      Die Folgen der erblichen Fähigkeiten der Völker

2.      Die industrielle und kommerzielle Situation der lateinischen Völker

3.      Ursachen der deutschen Überlegenheit in Wirtschaft und Industrie

D.      Wirtschaftliche Zwänge und Bevölkerungswachstum

1.      Aktuelle Bevölkerungsentwicklung in verschiedenen Ländern und ihre Ursachen

2.      Folgen eines Bevölkerungswachstums oder -rückgangs in verschiedenen Ländern

V.      Der Konflikt zwischen Gesetzen der Entwicklung, demokratischen Vorstellungen und sozialistischen Bestrebungen

A.      Gesetze der Entwicklung, demokratische Vorstellungen und sozialistische Bestrebungen

1.      Beziehungen der Menschen zu ihrer Umwelt

2.      Der Konflikt zwischen Naturgesetzen der Entwicklung und demokratischen Vorstellungen

3.      Der Konflikt zwischen demokratischen Vorstellungen und sozialistischen Bestrebungen

B.      Der Konflikt der Völker und Klassen

1.      Der natürliche Kampf von Individuen und Arten

2.      Das Ringen der Völker

3.      Der Kampf der Klassen

4.      Zukünftige soziale Kämpfe

C.      Das grundlegende Problem des Sozialismus: Die Außenseiter

1.      Die Vervielfachung der Außenseiter

2.      Außenseiter durch Degeneration

3.      Die künstliche Generierung von Außenseitern

D.      Einsatz der Außenseiter

1.      Der kommende Angriff der Außenseiter

2.      Einsatz der Außenseiter

VI.      Die Entwicklung einer gesellschaftlichen Organisation

A.      Quellen und Verteilung des Reichtums: Intelligenz, Kapital und Arbeit

1.      Intelligenz

2.      Kapital

3.      Arbeit

4.      Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Arbeitgeber und Arbeiter

B.      Solidarität

1.      Solidarität und Wohltätigkeit

2.      Moderne Formen der Solidarität

3.      Gewerkschaften

4.      Kommunal geführte Branchen und kommunaler Sozialismus

C.      Produktionssyndikate

1.      Ausweitung der Gesetzgebung zur Zusammenlegung ähnlicher Interessen

2.      Amerikanische Trusts

3.      Produktionssyndikate in Deutschland

4.      Produktionssyndikate in Frankreich

5.      Die Zukunft der industriellen Produktionssyndikate

VII.      Die Zukunft des Sozialismus

A.      Grenzen historischer Prognosen

1.      Der Begriff der Notwendigkeit im Verständnis historischer Phänomene

2.      Vorhersage sozialer Phänomene

B.      Zukunft des Sozialismus

1.      Der aktuelle Stand des Sozialismus

2.      Was der Erfolg des Sozialismus für ein Volk bedeutet, in dem er triumphieren wird

3.      Wie der Sozialismus die Regierung eines Landes übernehmen könnte

4.      Wie der Sozialismus bekämpft werden kann

Nachwort und Kommentar

Literatur

Anhang

1.      Étienne-Gabriel Morelly: Gesetzbuch der Natur oder der wahre Geist der Gesetze

2.      Henry Deku: Rot und Braun

3.      Rembrand Förster: Das Umfeld des aufkommenden Sozialismus im 19. Jahrhundert und seine Folgen

Schlusswort

 

Abkürzungen

[Anm. d. Ü.]: Anmerkung des Übersetzers

[Anm. RF]: Anmerkung Rembrand Förster

[Anm. JW]: Anmerkung Jost Wunderlich

[Fn. d. Ü.]: Fußnote des Übersetzers

(Übersetzung JW): Übersetzung Jost Wunderlich

 

 

Verweise

In Klammern stehende Verweise geben mit der ersten Zahl das Buch an, mit dem Buchstaben das Kapitel und mit der hinteren Zahl den Abschnitt. Beispielsweise steht der Verweis (I C 2) für Buch I, Kapitel C, Abschnitt 2.

 

 

Hinweis zu den Ausgaben

Le Bon veröffentlichte die erste Ausgabe und erste Auflage 1898. Es folgten die zweite Auflage und dann im Jahre 1902 die dritte Auflage, aber zweite Ausgabe. Insgesamt existieren also zwei Ausgaben (1898 und 1902), aber bis heute etliche Auflagen, meistens auf Grundlage der zweiten Ausgabe, die auch dieser Übersetzung zugrunde liegt.

 

 

Hinweise zum Stil Le Bons

Le Bon beginnt einen Satz in einem Absatz oft mit einem Substantiv und ersetzt dieses Substantiv dann im weiteren Verlauf des Absatzes durch ein Possessivpronomen:

„Man führt Massen wann man will und wie man will. Die gegensätzlichsten Regime und unerträglichsten Despoten wurden immer gefeiert, sobald diese verstanden haben, sich durchzusetzen. Sie befürworten Marat, Robespierre, die Bourbonen, Napoleon, die Republik und alle Abenteurer so einfach wie große Menschen. Sie akzeptieren Freiheit mit der gleichen Ergebenheit wie Knechtschaft.“

Dieser zitierte Absatz handelt von Menschenmassen und im weiteren Verlauf werden diese Massen durch „Sie“ ersetzt.

Oftmals erwähnt Le Bon Zahlen, Summen oder Einnahmen und Ausgaben ohne Währungsangabe. Ich habe dann versucht – soweit dies möglich war – diese fehlenden Währungsangaben aus den Originalquellen zu erschließen.

Ebenso oft sind fehlende Quellangaben bei Zitaten zu finden. Ich habe diese fehlenden Quellangaben recherchiert und – falls auffindbar – in einer Fußnote ergänzt.

 

 

Kontext der Entstehung

Um die Brücke von der heutigen Zeit in die Epoche Le Bons zu schlagen, habe ich viel mit Erklärungen und Lexikonartikeln in Fußnoten gearbeitet. Hierbei stand die Verständlichkeit für den Leser eindeutig im Vordergrund vor einer eventuellen „Zitierunfähigkeit“ von gewissen Quellen.

 

 

Einleitung

Als Gustave Le Bon (1841–1931) im Jahre 1898 dieses Buch veröffentlichte, ging es ihm wie jedem Schriftsteller: Er war Kind seiner Zeit und benutzte deshalb einige Wörter, deren Bedeutung sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. Als einer der wenigen Wissenschaftler überhaupt wusste er um diesen Zusammenhang und hat deshalb alle notwenigen Erklärungen und Definitionen, wenn auch nicht alle in diesem Werk, so doch in anderen, hinterlassen. Zum besseren Verständnis der »Psychologie des Sozialismus« habe ich diese Erläuterungen hier noch einmal zusammengetragen.

 

  1. Ein oft verwendeter Begriff ist derjenige der Rasse. Le Bon weiß schon damals um den Unsinn einer Einteilung von Menschenrassen nach Abstammung, wehrt sich geradezu dagegen und schreibt in der »Psychologie des Sozialismus« (III C 2): „Den Begriff der Rasse verstehe ich überhaupt nicht im anthropologischen Sinne, da seit langem, außer bei Naturvölkern, reine Rassen fast verschwunden sind. Bei zivilisierten Völkern gibt es jetzt nur noch das, was ich an anderer Stelle als »historische Rasse« bezeichnet habe, also jene Rasse, die vollständig durch historische Ereignisse geprägt ist.1 Solche Rassen entstehen, wenn ein Volk, das manchmal aus Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft besteht, seit Jahrhunderten ähnliche Lebensbedingungen und Lebensweisen, gemeinsame Institutionen und Überzeugungen sowie eine einheitliche Bildung tradierte. Solange die beteiligten Bevölkerungsgruppen nicht zu unterschiedliche Ursprünge haben, wie die Iren unter englischer Herrschaft und die heterogenen Rassen unter österreichischer Herrschaft, verschmelzen sie und erhalten eine nationale Seele, d.h. ähnliche Gefühle, Interessen und Denkweisen. Ein solches Werk wird nicht an einem Tag vollbracht, denn ein Volk wird nicht gebildet, eine Zivilisation nicht gegründet und eine historische Rasse nicht festgelegt, bis die Erschaffung einer nationalen Seele abgeschlossen ist. Erst wenn sie abgeschlossen ist, bildet ein Konglomerat von Individuen ohne Zusammenhalt, vereint durch die Gefahren von Eroberungen, Invasionen oder Annexionen, ein homogenes Volk. Seine Stärke wird dann zunehmen, weil es ein gemeinsames Ideal und einen gemeinsamen Willen hat und so zu großen gemeinsamen Anstrengungen fähig ist. Alle so vereinten Menschen einer Rasse bestimmen sich dann in ihrem Handeln nach ähnlichen Prinzipien. In allen wichtigen religiösen oder politischen Fragen werden sie ähnliche Ansichten vertreten. In der Art und Weise, wie sie mit jeder Angelegenheit umgehen, ob kommerziell, diplomatisch oder industriell, wird sich die Seele ihrer Rasse umgehend manifestieren.“ Eine Rasse entsteht also für Le Bon wenn ein Volk, das aus Menschen verschiedener Herkunft besteht, während langer Zeiträume gemeinsame Lebensweisen und Lebensbedingungen sowie gemeinsame Institutionen und Überzeugungen entwickelt. Wie sich die Merkmale einer Rasse, ihre Mentalität vererbt, lässt er – zumindest in diesem Werk – offen.

 

  1. Ein weiterer zu klärender Begriff ist derjenige der Institution. Eine oft von ihm gemachte Aussage, dass es überhaupt nicht auf die Regierungsform eines Volkes ankommt, um das Verhalten eines Volkes zu erklären und zu beeinflussen, sondern allein auf seine Institutionen, lässt nicht nur die Bedeutung des Begriffs erahnen, sondern auch die Folgen, die bei einem Missbrauch der Institutionen entstehen können. Dazu schreibt er in der Einleitung von „Psychologische Gesetzte der Entwicklung der Völker“ im ersten Satz: „Die Zivilisation eines Volkes basiert auf einer kleinen Anzahl von Grundgedanken. Aus diesen Ideen leiten sich seine Institutionen, seine Literatur und seine Kunst ab. Sie formen sich sehr langsam und verschwinden auch sehr langsam.“ Im Buch III desselben Werks schreibt er dann noch erläuternd in Kapitel 1: „So finden wir in den Institutionen eines Volkes sowohl die am Anfang dieses Buches erwähnten zufälligen Umstände als auch die permanenten Gesetze, die wir zu bestimmen versucht haben. Zufällige Umstände schaffen Namen, Erscheinungsbilder. Die grundlegendsten Gesetze kommen aus dem Charakter der Völker und schaffen das Schicksal der Nationen.“ Es ist jedoch nicht so, dass Institutionen den Charakter eines Volkes ausmachen, sondern sie sind Folgen dieses Charakters, werden aber ihrerseits – durch ihre Autorität – zu Ursachen. Ein „Marsch durch die Institutionen“ vermag Sekundärursachen auszuwechseln, den Charakter eines Volkes als eigentliche Ursache von Institutionen vermag er nicht zu ändern und nur unweigerlich in eine Revolution führen. Bei einem Volk, das sich in der Bildungsphase befindet, spielen Institutionen eine erhebliche Rolle, da seine Mentalität nicht fixiert ist; bei entwickelten Völkern mit stabilen Traditionen ist die Bedeutung von Institutionen aufgrund ihres Einklangs mit der Mentalität des Volkes jedoch nicht mehr dominierend.

 

  1. Die lateinische Rasse und die Lateiner. Wie schon oben erwähnt, versteht Le Bon eine Rasse nicht im anthropologischen Sinne, sondern als Volk einer gewissen Tradition. Hier schreibt er ebenfalls in »Psychologische Gesetze der Entwicklung der Völker« im dritten Buch: „Dem obigen Beispiel werden wir eine andere Rasse, die englische Rasse, gegenüberstellen, deren psychologische Konstitution sich stark von unserer unterscheidet. Allein durch diese Tatsache werden sich seine Institutionen radikal von unseren entfernen. Ob die Engländer von einem Monarchen wie in England oder von einem Präsidenten wie in den Vereinigten Staaten geführt werden, ihre Regierung wird immer die gleichen grundlegenden Merkmale aufweisen: Das Handeln des Staates wird auf ein Minimum reduziert, das des Einzelnen auf ein Maximum, was genau das Gegenteil des lateinischen Ideals ist.“ Oder in dem vorliegenden Buch auf S. 192: „»Es scheint«, schrieb H. Dépasse, »dass die Gegenspieler verschiedenen Zivilisationen oder Epochen der Geschichte angehörten. Der eine Meister seiner Möglichkeiten und er selbst durch Erziehung, der andere Sklave impulsiver Bewegungen seiner Natur.« Einer der Hauptunterschiede der angelsächsischen und der lateinischen Erziehung könnte in wenigen Zeilen nicht besser dargestellt werden.“ Le Bon unterscheidet zwischen zwei Idealen, dem angelsächsischen und dem lateinischen. Das angelsächsische Ideal besteht darin, dem Menschen Eigenverantwortung beizubringen, das lateinische Ideal darin, diese Eigenverantwortung anderen zu übertragen und beispielsweise auf den Staat abzuwälzen. Bei der Entstehung dieses Buchs gehörten Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland (als ein Land, dass lateinische Vorstellungen übernommen hat) und teilweise Deutschland zu den Lateinern. Nach Ansicht des Verfassers dieser Zeilen, der selbst Deutscher ist und in Deutschland aufgewachsen ist und lebt, sind mittlerweile ein Großteil der heutigen Deutschen diesem lateinischen Ideal zuzuordnen. Neben diesen Lateinern gibt es eine weitere Gruppe im Sinne des angelsächsischen Ideals, die am Aufbau des Deutschen Staates arbeitet, doch zurückgedrängt wurde und nun zurückkehrt und den berühmten „Riss durch Deutschland“ und die „Selbstzerfleischung der Deutschen“ klar erscheinen lässt. Inwieweit die oben erwähnten europäischen Völker noch diesem lateinischen Ideal anhängen und verstärkt zugewandt haben oder sich von diesem getrennt haben, vermag ich zu erahnen, aber nicht zu beweisen, weshalb ich hier meine Leserschaft um Unterstützung bitten möchte, um diese Erkenntnisse in die nächste Ausgabe einzubauen.

 

  1. Die Barbaren stehen bei Le Bon als Synonym für triebhafte, kulturlose und unzivilisierte Menschen, Stämme, Völker oder eine Ansammlung von Menschen, die noch keine Kultur gebildet haben. Er schreibt in der »Psychologie der Massen« (Kröner, S. 153): „Aus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur geführt, dann, sobald dieser Traum seine Kraft eingebüßt hat, Niedergang und Tod – in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes“ und zuvor (S. 4): „Die Geschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewussten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbeigeführt wird.“

 

  1. Die Volksseele bezeichnet den Charakter eines Volkes, seine Mentalität, sein Verhalten als Ganzes im Gegensatz zu demjenigen einzelner Glieder. „Ob die an die Spitze des Staates gestellte Macht König, Kaiser, Präsident usw. genannt wird, spielt keine Rolle, diese Macht, wer auch immer sie ist, wird notwendigerweise das gleiche Ideal haben, und dieses Ideal ist der eigentliche Ausdruck der Seele der Rasse. Sie würde keine anderen Ideale tolerieren. […] Geschichte im weitesten Sinne kann als eine einfache Aussage über die Ergebnisse betrachtet werden, die durch die psychologische Konstitution von Rassen hervorgerufen werden. Sie ergibt sich aus dieser Konstitution, ebenso wie die Atmungsorgane der Fische an das Leben im Wasser angepasst sind. Ohne Kenntnis der geistigen Verfassung eines Volkes erscheint die Geschichte als ein Chaos von Ereignissen, die vom Zufall bestimmt werden. Wenn uns die Seele eines Volkes bekannt ist, zeigt sich hingegen, dass sein Leben die normalen oder verhängnisvollen Folgen seiner psychologischen Eigenschaften widerspiegelt. In allen Erscheinungsformen des Lebens einer Nation finden wir immer die unveränderliche Seele der Rasse, die ihr Schicksal gestaltet.“ (Beide Zitate aus: Le Bon, Psychologische Gesetze der Entwicklung der Völker, Buch III) Wenn eine Regierung seinem Volk und damit der Volksseele Vergewaltigungen aufzwingt, beispielsweise in Form eines Lebensstils, der von dieser Volksseele nicht geteilt wird, kommt es zu einer Revolution. Jede Masse, jede Organisation, ja sogar jede Partei hat nach Le Bon eine ihr eigene „Seele“, die ihr Verhalten als Gesamtorganisation ausmacht. Wo und wie diese „Seele“ gespeichert und weitergegeben wird, lässt Le Bon offen.

 

Jost Wunderlich

 

Psychologie des Sozialismus

 

Gustave Le Bon

 

Vorwort zur dritten Auflage

Die erste Auflage dieses Buches, das in wenigen Wochen vergriffen war, konnte unverändert nachgedruckt werden. Diese dritte Auflage jedoch hat große Veränderungen erfahren.

Ich halte es nicht für notwendig, auf die Kritik zu antworten, die dieses Buch in Frankreich und in den Ländern, in denen es übersetzt wurde, hervorgerufen hat. Über Fragen, die mehr in den Bereich der Gefühle als in den Bereich der Vernunft fallen, lässt sich niemand belehren. Nicht durch Bücher finden Revolutionen im Denken statt.2

Da ich keiner Schule angehöre und auch nicht ansatzweise daran gedacht habe, jemandem nach dem Mund zu reden, habe ich versucht, soziale Phänomene als physikalische Phänomene zu studieren und mich selbst dabei so wenig wie möglich zu täuschen.

Durch ihre notwendige Prägnanz wirken einige Passagen in diesem Buch etwas dogmatisch, doch das Wissen dahinter ist es nicht. Eines der letzten Kapitel zeigt, dass man in solchen Fragen nur Wahrscheinlichkeiten und niemals Gewissheiten erreichen kann.

Wenn ich manchmal den Eindruck erwecke, mein Thema zu verlassen, dann deshalb, weil es unmöglich ist, die Entstehung bestimmter Phänomene zu verstehen, ohne vorher die sie umgebenden Umstände zu studieren. In Fragen der Religion, der Moral oder der Politik hat das Studium des Textes einer Lehre überhaupt nicht die überwiegende Bedeutung, wie man glauben könnte. Was wir vor allem kennen müssen, sind die Umgebungen, in denen sich eine Lehre entwickelt, die Gefühle, auf denen sie beruht und die Natur der Geister, die sie empfangen. Zu der Zeit, als der Buddhismus und das Christentum triumphierten, wäre es für einen Philosophen wenig interessant gewesen, ihre Dogmen zu diskutieren, dagegen wäre es von großem Interesse gewesen, die Ursachen zu kennen, die es ihnen ermöglichten, sich zu etablieren, d.h. vor allem den Zustand der Geister, die sie annahmen. Ein Dogma, so absurd es in den Augen der Vernunft auch sein mag, wird sich immer aufdrängen, wenn es ihm gelungen ist, bestimmte mentale Veränderungen herbeizuführen. In diesen Veränderungen ist die Rolle eines Dogmas selbst manchmal sehr zweitrangig. Es triumphiert durch das Wirken in der Umwelt und durch den Moment, in dem es erscheint, durch die Leidenschaften, die es hervorbringt, und vor allem durch den Einfluss von Aposteln, die fähig sind, zu Menschenmengen zu sprechen und einen Glauben zu erzeugen. Nicht durch Vernunft, sondern nur durch Gefühle provozieren diese Apostel die großen Volksbewegungen, aus denen neue Götter entstehen.

Und aus diesen Gründen war ich nie überzeugt davon, mein Thema zu verlassen, indem ich einige Kapitel über die Grundlagen unseres Glaubens, die Rolle der Traditionen im Leben der Völker, die prägenden Vorstellungen der lateinischen Seele, die wirtschaftliche Entwicklung der heutigen Zeit und andere geschrieben habe. Sie sind vielleicht die wichtigsten Teile dieser Studie geworden.

Ich habe nur eine geringe Anzahl von Seiten der Darstellung sozialistischer Doktrinen gewidmet, da diese Doktrinen von einer Beweglichkeit sind, die jede Diskussion unmöglich machen. Diese Beweglichkeit stellt ein allgemeines Gesetz dar, das die Geburt aller neuen Überzeugungen einleitet. Dogmen entstehen erst, nachdem diese Überzeugungen triumphiert haben. Bis zur Stunde ihres Triumphes aber bleiben sie unsicher und flüchtig. Diese Unbestimmtheit ist eine Voraussetzung für ihren Erfolg, da sie es ihnen ermöglicht, sich an die unterschiedlichsten Bedürfnisse anzupassen und so die unendlich vielfältigen Wünsche der Legionen von Unzufriedenen in bestimmten Momenten der Geschichte zu erfüllen.

Der Sozialismus, der, wie wir versuchen werden zu zeigen, in die Familie der religiösen Überzeugungen eingeordnet werden kann, hat diesen unbestimmten Charakter von Dogmen, die noch nicht herrschen. Seine Lehren ändern sich von Tag zu Tag und werden immer unsicherer und schwebender. Um die von den Gründern formulierten Prinzipien mit neuen Tatsachen, die ihnen drastisch widersprechen, in Einklang zu bringen, war es notwendig, eine ähnliche Arbeit zu leisten wie Theologen, die versuchen, die Bibel und die Vernunft zu vereinbaren. Die Prinzipien auf denen Marx, der lange Zeit als Hohepriester der neuen Religion galt, den Sozialismus gründete, wurden von den Tatsachen so widerlegt, dass sogar seine treuesten Jünger sie aufgeben mussten. So wurde beispielsweise die wesentliche Theorie des Sozialismus von vor vierzig Jahren, wonach sich Kapital und Land in immer weniger Händen konzentrieren werden, von den Statistiken verschiedener Länder komplett widerlegt. Diese Statistiken zeigen, dass sich Kapital und Land, weit davon entfernt, konzentriert zu sein, mit extremer Geschwindigkeit unter einer immensen Anzahl von Individuen ausbreiten. So sehen wir in Deutschland, England und Belgien, dass die Anführer des Sozialismus zunehmend den Kollektivismus, den sie jetzt als eine trügerische Doktrin bezeichnen, die bestenfalls die Lateiner täuschen kann, aufgeben.

Aus der Sicht der Ausweitung des Sozialismus sind die Diskussionen dieser Theoretiker eigentlich ohne Bedeutung. Die Masse hört sie nicht. Was sie vom Sozialismus behalten, ist nur die Grundidee, dass der Arbeiter das Opfer einiger Ausbeuter als Folge einer schlechten sozialen Organisation ist, und dass einige gute Dekrete, auf revolutionäre Art und Weise verhängt, ausreichen würden, um diese Organisation zu verändern. Dann können sich Theoretiker entwickeln. Menschenmassen akzeptieren Lehren im Ganzen und entwickeln sich nie weiter. Ihre Überzeugungen nehmen immer eine sehr einfache Form an. Mit großer Einbildungskraft im primitiven Gehirn gepflanzt, bleiben sie lange Zeit unerschütterlich.

Abgesehen von den Träumereien der Sozialisten und meist in eklatantem Widerspruch zu diesen Träumereien befindet sich die moderne Welt in einem raschen und tiefgreifenden Wandel. Er ist die Folge der Veränderung der Lebensbedingungen, Bedürfnisse und Ideen, die durch wissenschaftliche und industrielle Entdeckungen in den letzten fünfzig Jahren hervorgerufen wurde. An diese Transformationen werden sich die Gesellschaften anpassen und nicht an die Phantasien der Theoretiker, die, ohne die Spirale der Notwendigkeiten zu sehen, glauben, dass sie eine gesellschaftliche Organisation nach Belieben umgestalten können. Die Probleme, die durch die gegenwärtigen Veränderungen in der Welt entstehen, sind weit gravierender als die der Sozialisten. Ein großer Teil dieser Arbeit wurde ihrem Studium gewidmet.

Vorwort zur ersten Auflage

Der Sozialismus besteht aus einer Synthese von Überzeugungen, Bestrebungen und Reformideen, die den Geist zutiefst ansprechen. Die Regierungen fürchten ihn, die Gesetzgeber manipulieren ihn, die Völker sehen darin den Beginn glücklicherer Schicksale.

Dieses Buch ist der Erforschung des Sozialismus gewidmet. Wir werden darin die Anwendung der Prinzipien finden, die bereits in meinen beiden letzten Werken – »Psychologische Gesetze der Entwicklung der Völker« und »Psychologie der Massen« – dargelegt sind. Indem ich die Einzelheiten der fraglichen Doktrinen rasch und nur das Wesentliche behandle, werde ich dann die Ursachen untersuchen, die den Sozialismus hervorgebracht haben, und diejenigen, die seine Verbreitung begünstigen oder verzögern.

Wir werden den Konflikt zwischen alten Ideen, die durch Vererbung fixiert sind und auf denen Gesellschaften immer noch basieren, und neuen Ideen, den Töchtern der neuen Umgebungen, die die moderne wissenschaftliche und industrielle Entwicklung geschaffen hat, zeigen. Ohne die Rechtmäßigkeit der Tendenz der meisten Menschen, ihr Los zu verbessern, in Frage zu stellen, werden wir untersuchen, ob Institutionen einen wirklichen Einfluss auf diese Verbesserung haben können oder ob unser Schicksal nicht von Bedürfnissen bestimmt wird, die völlig unabhängig von Institutionen sind, die unserer Willkür entspringen.

Dem Sozialismus fehlte es nicht an Apologeten, um seine Geschichte zu schreiben, an Ökonomen, um seine Dogmen zu diskutieren und an Aposteln, um seinen Glauben zu verbreiten. Psychologen haben seine Studie bisher verachtet, da er nur zu einem jener unpräzisen und schwer fassbaren Themen wie Theologie oder Politik gehört, die sich nur für erhitzte und unfruchtbare Diskussionen eignen und für wissenschaftliche Geister abstoßend sind.

Es scheint jedoch, dass nur eine aufmerksame Psychologie die Entstehung der neuen Lehren aufzeigen und ihren Einfluss, den sie sowohl in breiten Bevölkerungsschichten als auch bei einer bestimmten Anzahl kultivierter Geister ausüben, erklären kann. Daher ist es notwendig, zu den tiefen Wurzeln der Ereignisse hinabzusteigen, deren Verzweigungen man dort erkennt, um ihre Blüte zu verstehen.

Kein Apostel hat je an der Zukunft seines Glaubens gezweifelt. Die Sozialisten sind daher vom bevorstehenden eigenen Triumph überzeugt. Ein solcher Sieg bedeutet zwangsläufig die Zerstörung der heutigen Gesellschaft3 und ihren Wiederaufbau auf anderen Grundlagen. Nichts erscheint den Anhängern der neuen Dogmen einfacher. Es ist offensichtlich, dass wir durch Gewalt eine Gesellschaft, wie ein langsam erbautes Gebäude in wenigen Stunden durch einen Brand, zerstören können. Aber erlaubt uns unser heutiges Wissen über die Entwicklung der Dinge darüber zu urteilen, ob der Mensch nach Belieben eine zerstörte Organisation wieder aufbauen kann? Sobald man ein wenig in den Mechanismus der Zivilisationen eintritt, entdeckt man schnell, dass eine Gesellschaft mit ihren Institutionen, ihrem Glauben und ihren Künsten ein Netzwerk von Ideen, Gefühlen, Gewohnheiten und Denkweisen darstellt, die durch Vererbung festgelegt sind und deren Ganzes ihre Stärke ausmacht. Eine Gesellschaft hat nur dann Zusammenhalt, wenn dieses moralische Erbe fest verankert ist, nicht in Regeln, sondern in den Seelen. Dieser Zusammenhalt nimmt ab, sobald die Gesellschaft beginnt, sich aufzulösen. Er ist zum Verschwinden verurteilt, wenn der Zerfall abgeschlossen ist.

Eine solche Auffassung hat die lateinischen Schriftsteller und Staatsmänner nie beeinflusst. Überzeugt davon, dass die natürlichen Notwendigkeiten vor ihrem Ideal der Nivellierung, Vorschriftsmäßigkeit und Justiz ausgelöscht werden können, glauben sie, dass es ausreicht, sich gelehrte Verfassungen und Gesetze auf der Grundlage der Vernunft zu erdenken, um die Welt neu zu gestalten. Sie haben immer noch die Illusionen dieser heroischen Ära der Revolution, als Philosophen und Gesetzgeber es für sicher hielten, dass eine Gesellschaft etwas Künstliches ist, das wohltätige Diktatoren vollständig wieder aufbauen können. Solche Theorien scheinen heute unhaltbar zu sein. Aber wir dürfen sie nicht ignorieren. Sie stellen Handlungsmotive dar, die sehr destruktiv und damit sehr beeindruckend sind. Die schöpferische Kraft ruht in der Zeit und bleibt außerhalb der unmittelbaren Reichweite unserer Verfügung. Dagegen liegt die zerstörerische Fähigkeit in unserer direkten Reichweite. Die Zerstörung einer Gesellschaft kann sehr schnell erfolgen, aber ihre Wiederherstellung geschieht immer sehr langsam. Manchmal braucht der Mensch Jahrhunderte der Anstrengung, um das, was er an einem Tag zerstört hat, mühsam wieder aufzubauen.

Wenn wir den starken Einfluss des modernen Sozialismus verstehen wollen, dürfen wir nicht seine Dogmen untersuchen. Wenn wir nach den Ursachen seines Erfolgs suchen, stellen wir fest, dass dieser Erfolg weder aus den Theorien, die seine Dogmen implizieren, noch aus den Ablehnungen, die sie hervorrufen, kommen kann. Wie Religionen, deren Gangart er immer mehr aufnimmt, verbreitet sich der Sozialismus aus allem anderen denn aus Gründen. Sehr schwach, wenn er versucht zu diskutieren und sich auf wirtschaftliche Argumente zu verlassen, wird er sehr stark, wenn er im Bereich von Behauptungen, Tagträumen und trügerischen Versprechungen bleibt. Er wäre noch fürchterlicher, wenn er dort nicht herauskäme.

Dank seiner Verheißungen der Erneuerung und dank der Hoffnung, die er allen Enterbten des Lebens gibt, gelingt es dem Sozialismus, einen Glauben zu einer religiösen Form zu erheben, die weit mehr als eine Doktrin ist. Die große Kraft von Überzeugungen, wenn sie dazu neigen, diese religiöse Form anzunehmen, deren Mechanismus wir anderswo studiert haben, ist, dass ihre Verbreitung unabhängig von dem Anteil an Wahrheit oder Irrtum ist, den sie enthalten können.

Sobald ein Glaube in den Seelen fixiert ist, erscheint seine Absurdität nicht mehr, die Vernunft erreicht ihn nicht mehr. Nur die Zeit kann ihn ermüden. Die mächtigsten Denker der Menschheit, ein Leibniz, ein Descartes, ein Newton, verbeugten sich ohne Murren vor religiösen Dogmen, deren Schwächen ihre Vernunft schnell entdeckt hätte, wenn sie in der Lage gewesen wären, sie der Kontrolle der Kritik zu unterwerfen. Aber was in den Bereich des Gefühls vorgedrungen ist, kann von einer Diskussion nicht mehr erreicht werden. Religionen, die nur auf Gefühlen aufbauen, können nicht durch Argumente erschüttert werden und deshalb ist ihre Macht über Seelen immer so absolut gewesen.

Die Moderne stellt eine jener Übergangszeiten dar, in denen alte Überzeugungen ihr Reich verloren haben und diejenigen, die sie ersetzen müssen, nicht etabliert sind. Bisher ist es dem Menschen nicht gelungen, ohne Gottheiten zu leben. Sie fallen manchmal von ihren Thronen, aber dieser Thron ist nie leer geblieben. Neue Geister tauchen bald aus dem Staub der toten Götter auf.

Die Wissenschaft, die stets mit den Göttern gerungen hat, war nie in der Lage, ihr gewaltiges Reich zu bestreiten. Keine Zivilisation konnte ohne sie gegründet werden oder wachsen. Die blühendsten Zivilisationen haben sich immer auf religiöse Dogmen verlassen, die aus der Sicht der Vernunft keinen Anschein von Logik, Wahrheit oder gar gesundem Menschenverstand hatten. Logik und Vernunft waren nie echte Führer der Völker. Das Irrationale war schon immer eines der mächtigsten Handlungsmotive, das die Menschheit je gekannt hat.

Die Welt ist nie durch Glanz der Vernunft verwandelt worden. Während solche Religionen, die auf Schimären4 basieren, ihre unzerstörbare Prägung aller Elemente der Zivilisationen markiert haben und weiterhin die überwiegende Mehrheit der Menschen unter ihren Gesetzen halten, haben philosophische Systeme, die auf Vernunft aufgebaut sind, nur eine unbedeutende Rolle im Leben der Völker gespielt und eine flüchtige Existenz gehabt. Sie bieten der Menge lediglich Argumente, während die menschliche Seele nach Hoffnungen fragt.

Es sind Hoffnungen, die die Religionen immer geschenkt haben zusammen mit einem Ideal, das fähig ist, Seelen zu faszinieren und zu erheben. Mit ihrem Zauberstab wurden die mächtigsten Reiche geschaffen; Wunderwerke der Literatur und Künste, die den gemeinsamen Schatz einer Zivilisation bilden, entstanden aus dem Nichts.

Diese Hoffnungen, die auch der Sozialismus bietet, machen ihn stark. Die Überzeugungen, die er lehrt, sind sehr trügerisch und scheinen nur geringe Möglichkeiten zu haben, sich zu verbreiten. Doch sie breiten sich aus. Der Mensch hat die wunderbare Fähigkeit, Dinge nach seinen Wünschen zu formen, sie nur durch dieses magische Prisma des Denkens und Fühlens zu betrachten, das die Welt so zeigt, wie er sie haben will. Jeder sieht nach seinen Träumen, Ambitionen und Wünschen im Sozialismus das, was die Gründer des neuen Glaubens nie dachten, in ihn zu setzen. Der Priester entdeckt in ihm eine umfassende Erweiterung der Wohltätigkeit und träumt von ihr indem er den Altar vergisst. Der Unglückliche, unter seiner harten Arbeit gebeugt, erahnt mit ihm verschwommen das leuchtende Paradies, in dem ein Überfluss an Gütern zu finden ist. Die immense Legion der Unzufriedenen, und wer gehört heute nicht dazu, hofft, dass sein Triumph die Verbesserung ihres Schicksals sein wird. Es ist die Verbindung all dieser Träume, all dieser Unzufriedenheiten, all dieser Hoffnungen, die dem neuen Glauben seine unbestreitbare Kraft verleiht.

Damit der moderne Sozialismus so schnell diese religiöse Form, die das Geheimnis seiner Macht darstellt, annehmen konnte, musste er in einem jener seltenen Momente in der Geschichte erscheinen, in denen die Menschen müde von ihren Göttern sind, die alten Religionen ihr Reich verlieren und nur überleben, während sie auf einen neuen Glauben warten, der ihnen folgen wird. Der Sozialismus kommt genau in dem Moment, in dem die Macht der alten Gottheiten erheblich nachgelassen hat; er bietet den Menschen ebenso Glücksträume und tendiert natürlich dazu, ihren Platz einzunehmen.

Es gibt nichts, was zeigen könnte, dass ihm dies nicht gelingen wird. Es zeigt jedoch alles, dass er diesen Platz nicht lange halten wird.

  1. Die sozialistischen Theorien und ihre Anhänger
  1. Die unterschiedlichen Gesichter des Sozialismus
  1. Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung

Zivilisationen basieren seit jeher auf einer kleinen Anzahl von Leitgedanken. Wenn diese Ideen, nachdem sie allmählich verblasst sind, ihre Kraft völlig verloren haben, sind die Zivilisationen, die sich auf sie gestützt haben, dazu verdammt, sich zu verändern.

Heute erleben wir eine dieser in der Weltgeschichte so seltenen Phasen der Transformation. Es ist nicht vielen Philosophen im Laufe der Zeit gegeben worden, genau in dem Moment zu leben, in dem eine neue Idee entstand, und wie heute in der Lage zu sein, die aufeinanderfolgenden Grade ihrer Kristallisation zu studieren.

Im gegenwärtigen Zustand der Dinge ist die Entwicklung von Gesellschaften drei Faktoren unterworfen: einem politischen, einem ökonomischen und einem psychologischen. Diese gab es in jeder Epoche, aber ihre jeweilige Bedeutung variierte mit dem Alter einer Nation.

Politische Faktoren umfassen Gesetze und Institutionen. Theoretiker aller Parteien, insbesondere die modernen Sozialisten, messen ihnen generell große Bedeutung bei. Alle sind überzeugt, dass das Glück eines Volkes von seinen Institutionen abhängt, und dass es ausreicht, sie zu verändern, um gleichzeitig sein Schicksal zu ändern. Einige Denker hingegen glauben, dass Institutionen nur einen sehr schwachen Einfluss ausüben und das Schicksal von Völkern allein durch ihren Charakter, das heißt durch die Seele ihrer Rasse bestimmt wird. Damit könnte man erklären, dass Nationen mit ähnlichen Institutionen und identischen Umgebungen, sehr verschiedene Stufen auf dem Maßstab der Zivilisation einnehmen. Wirtschaftliche Faktoren haben heute einen immensen Einfluss. Von sehr geringer Bedeutung in einer Zeit, in der die Menschen isoliert lebten und sich die verschiedenen Wirtschaftszweige von Jahrhundert zu Jahrhundert kaum unterschieden, haben diese Faktoren eine dominierende Macht eingenommen. Wissenschaftliche und industrielle Erkenntnisse haben unsere gesamten Lebensbedingungen verändert. Eine einfache chemische Formel – gefunden in einem Labor – ruiniert ein Land und bereichert ein anderes. Der Anbau von Getreide am Fuße Asiens zwingt ganze Provinzen Europas zur Aufgabe der Landwirtschaft. Die Verbesserung der Maschinen revolutioniert das Leben eines bedeutenden Teils der zivilisierten Völker.

Auch psychologische Faktoren wie Rasse, Glaube und Meinung sind von erheblicher Bedeutung. Bis vor nicht allzu langer Zeit war ihr Einfluss sogar vorherrschend, heute jedoch dominieren wirtschaftliche Faktoren.

Vor allem durch diese Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Bereichen, die der Motivation unterliegen, unterscheiden sich die modernen von den alten Gesellschaften. Früher hauptsächlich von Überzeugungen dominiert, werden sie heute zunehmend durch wirtschaftliche Bedürfnisse gelenkt. Psychologische Faktoren haben jedoch noch lange nicht ihren Einfluss verloren. Die Grenzen, innerhalb derer der Mensch der Tyrannei der wirtschaftlichen Faktoren entkommt, hängen von seiner geistigen Konstitution ab, das heißt von seiner Rasse, und deshalb sehen wir, wie einige Nationen diese wirtschaftlichen Gegebenheiten ihren Bedürfnissen unterwerfen, während andere sich immer mehr von ihnen versklaven lassen und versuchen, nur durch Schutzgesetze zu reagieren, die jedoch nicht in der Lage sind, sie gegen die gewaltigen Notwendigkeiten zu verteidigen, die sie beherrschen.

Dies sind die wesentlichen Motoren der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie zu ignorieren oder als unbedeutend zu betrachten, reicht nicht aus, ihre Auswirkungen zu verhindern. Naturgesetze funktionieren mit der blinden Regelmäßigkeit eines Getriebes und wer mit ihnen kollidiert, wird immer eines Besseren belehrt.

  1. Die verschiedenen Aspekte des Sozialismus

Der Sozialismus hat daher verschiedene Gesichter, die es sukzessive zu untersuchen gilt. Er muss als politisches Konzept, als ökonomisches Konzept, als philosophisches Konzept und als Glaube studiert werden. Es gilt ebenfalls den Konflikt zwischen diesen verschiedenen Konzepten und den sozialen Realitäten zu berücksichtigen, das heißt, zwischen noch abstrakten Ideen und unvermeidlichen Naturgesetzen, die der Mensch nicht ändern kann.

Die wirtschaftliche Seite des Sozialismus ist diejenige, die sich am besten zur Analyse eignet. Wir finden uns hier vor ganz klaren Problemen. Wie wird Wohlstand geschaffen und verteilt? Welche Rolle spielen Arbeit, Kapital und Intelligenz? Welchen Einfluss haben ökonomische Fakten und innerhalb welcher Grenzen bestimmen sie die gesellschaftliche Entwicklung?

Wenn wir den Sozialismus als Glaube betrachten, das heißt, wenn wir seinen moralischen Anspruch und Überzeugungen sowie Hingabe, die er hervorruft, suchen, ist eine andere Sichtweise erforderlich, da das Problem sein Erscheinungsbild ändert. Wir dürfen uns dann nicht mehr mit dem theoretischen Wert des Sozialismus als Doktrin oder den ökonomischen Unmöglichkeiten, mit denen er konfrontiert ist, auseinandersetzen, sondern müssen den neuen Glauben in seiner Entstehung sowie seinen moralischen Fortschritt und die psychologischen Auswirkungen, die er hervorrufen kann, berücksichtigen. Diese Studie ist unerlässlich, um die Nutzlosigkeit jeder Diskussion mit den Verteidigern der neuen Dogmen verstehen zu können. Wenn Ökonomen überrascht sind, dass unbestreitbare Beweise komplett wirkungslos auf Zuhörer sind, bleibt nur, sie aus ihrem Erstaunen herauszuholen, um sie auf die Geschichte aller Glaubenssysteme und das Studium der Massenpsychologie zu verweisen. Man triumphiert nicht über eine Doktrin, indem man ihre doppeldeutigen Seiten zeigt. Nicht mit Argumenten werden Träume bekämpft.

Um die gegenwärtige Stärke des Sozialismus zu verstehen, muss er vor allem als Glaube betrachtet werden, damit wir erkennen können, dass er auf sehr starken psychologischen Grundlagen steht. Für seinen unmittelbaren Erfolg ist es irrelevant, ob seine Dogmen der Vernunft widersprechen. Die Geschichte aller Überzeugungen, insbesondere religiöser Überzeugungen, zeigt hinreichend, dass ihr Erfolg meist unabhängig von dem Anteil an Wahrheit oder Irrtum war, den sie enthielten.

Nachdem der Sozialismus als Glaube studiert wurde, muss er auch als philosophisches Konzept betrachtet werden. Diese neue Seite ist diejenige, die ihre Anhänger am meisten vernachlässigt haben und die sie am besten verteidigen können. Sie betrachten die Verwirklichung ihrer Lehren als die erzwungene Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, wobei gerade diese Entwicklung das größte Hindernis darstellt. Aus rein philosophischer Sicht, d.h. abgesehen von psychologischen und ökonomischen Notwendigkeiten, sind einige ihrer Theorien jedoch durchaus vertretbar.

Was ist, philosophisch gesprochen, der Sozialismus oder zumindest seine am weitesten verbreitete Form, der Kollektivismus? Er ist eine Reaktion des Kollektiven auf die Übergriffe des Individuellen. Wenn wir nun die Interessen der Intelligenz und den möglicherweise immensen Nutzen, diese Interessen für den Fortschritt der Zivilisation zu nutzen, beiseitelassen, dann ist es unbestreitbar, dass Kollektivität – allein durch ihre Verbreitung zum großen Credo der modernen Demokratien geworden – als Grundlage betrachtet werden kann, um das Individuum, das aus ihrem Schoß hervorkam, dieser Kollektivität, ohne die es nichts wäre, zu unterwerfen.

Aus philosophischer Sicht ist der Sozialismus also sicherlich eine Reaktion der Gemeinschaft gegen das Individuum: eine Rückkehr in die Vergangenheit. Individualismus und Kollektivismus sind im Wesentlichen zwei gegensätzliche Kräfte, die dazu neigen, sich gegenseitig zu lähmen, wenn nicht gar zu vernichten. In diesem Kampf zwischen den normalerweise widersprüchlichen Interessen von Individuen und denen der Gemeinschaft finden wir das wahre philosophische Problem des Sozialismus. Der Einzelne, stark genug, um fast ausschließlich auf seine eigene Initiative und Intelligenz vertrauen zu können und der deshalb in hohem Maße in der Lage ist, Fortschritte zu machen, findet sich mit den Massen konfrontiert, schwach in der Initiative und Intelligenz, denen aber die hohe Anzahl der Zugehörigen eine Macht zur Durchsetzung des Rechts gibt. Die Interessen dieser beiden gegensätzlichen Parteien sind widersprüchlich. Das Problem besteht darin, herauszufinden, ob sie bestehen können, ohne sich selbst um den Preis gegenseitiger Zugeständnisse zu zerstören. Bisher war es den Religionen gelungen, den Einzelnen davon zu überzeugen, seine persönlichen Interessen denen seiner Mitmenschen zu unterwerfen, um den individuellen Egoismus durch den kollektiven Egoismus zu ersetzen. Aber die alten Religionen sind auf dem Weg des Sterbens und diejenigen, die sie ersetzen werden, sind noch ungeboren. Bei der Untersuchung der Entwicklung der gesellschaftlichen Solidarität werden wir uns überlegen, inwieweit eine Versöhnung zwischen den beiden widersprüchlichen Prinzipien durch wirtschaftliche Zwänge möglich ist. Wie Léon Bourgeois5 in einer seiner Reden zu Recht bemerkte: „Wir können nichts gegen die Naturgesetze ausrichten, das versteht sich von selbst, aber sie müssen erforscht und genutzt werden, um die Entstehung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit unter den Menschen zu verringern.“6

Um unsere Untersuchung der verschiedenen Aspekte des Sozialismus zu vervollständigen, müssen wir seine Unterschiede in Bezug auf Rassen berücksichtigen. Wenn diese Grundsätze, die wir in einer früheren Arbeit über die tiefgreifenden Veränderungen beim Übergang von einem Volk zum anderen dargelegt haben, zutreffen und die alle Elemente einer Zivilisation – Institutionen, Religionen, Künste, Überzeugungen usw. – durchlaufen haben, dann können wir schon jetzt prophezeien, dass wir unter den oft ähnlichen Formulierungen, die dazu dienen, die Vorstellungen der verschiedenen Völker von der eigentlichen Rolle des Staates zu bezeichnen, sehr unterschiedliche Realitäten finden werden. Wir werden sehen, dass dies auch so ist.

Unter den kraftvollen und tatkräftigen Rassen, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht haben, beobachten wir sowohl bei republikanischen als auch bei monarchischen Institutionen die erhebliche Ausweitung dessen, was der Eigeninitiative anvertraut ist, und die schrittweise Reduzierung dessen, was dem Staat überlassen wird. Das ist genau das Gegenteil derjenigen Rolle, die dem Staat bei Völkern zukommt, in denen der Einzelne einen Grad an geistiger Abnutzung7 erreicht hat, der es ihm nicht mehr erlaubt, sich allein auf seine eigenen Kräfte zu verlassen. Für solche Menschen und wie auch immer ihre Institutionen heißen mögen, ist die Regierung stets eine allumfassende Macht, die alles herstellt und jede Kleinigkeit des Lebens der Bürger steuert. Der Sozialismus ist nur die Erweiterung dieser Vorstellung. Er wäre eine unpersönliche Diktatur, aber absolut. Wir sehen jetzt die Komplexität der Probleme, die wir angehen müssen, aber auch, wie viel einfacher sie werden, wenn wir sie einzeln betrachten.

 

 

  1. Entstehung des Sozialismus und Ursachen seiner gegenwärtigen Entwicklung
  1. Frühgeschichte des Sozialismus