Für dich, Papa.

Du hast mir das größte Geschenk überreicht, welches ein Kind jemals bekommen kann: den Glauben in sich selbst. Dir widme ich dieses Buch.

Für dich, Mama.

Du bist die stärkste Frau, die ich je kennenlernen durfte. Ich wünschte, ich hätte mehr von dir.

Für dich, Tim.

Es soll dich stärken, deinen Weg zu gehen. Ich werde immer an deiner Seite sein.

Für dich, A.

Du liebtest mich, als ich es selbst nicht tat.

Ohne euch wäre dieses Buch niemals entstanden.

Vielleicht geht es im Leben nicht darum, wer welchen Fehler gemacht hat.

Vielleicht geht es um das „Warum“.

Warum Dinge passieren und warum sie es nicht tun.

© Maila Bar

Kapitel 1

Kniend und flehend saß er vor mir. Ich konnte nichts sagen, konnte nichts denken und wollte am liebsten ausbrechen.

Sobald in meiner Gegenwart jemand anfing zu weinen, kam ich mir vor wie gelähmt. Wie ein kleines Kind, dass die Situation nicht richtig einschätzen konnte und statt etwas zu unternehmen, einfach gar nichts tat. Welches nur da stand und mit weit aufgerissenen Augen umher starrte.

Das Problem war nur, dass ich kein Kind mehr war, sondern eine erwachsene, eigenständige Frau. Ich musste also wissen wie das geht.

Ich schluckte hörbar und konzentrierte mich wieder.

„Du darfst nicht gehen. Es darf nicht vorbei sein“, flüsterte er und ich bemühte mich, seine Worte unter dem Schluchzen klar und deutlich zu verstehen.

Ich antwortete nicht. Mein Kopf fühlte sich leer an, wie ausgebrannt.

„Es ist allein meine Schuld, dass es ihm so schlecht geht“, durchbohrten mich die Worte.

Diese Feststellung tat weh. Sie raubte mir jede Stimme. Sie nahm mir jede Hoffnung.

Wenn ein Mensch sich seiner Fehler bewusst wurde, war es oft zu spät. Es war der Moment, in dem du realisiertest, dass etwas vorbei war, dass es kein zurück mehr gab.

Ich liebte ihn, wie ich noch nie zuvor jemanden geliebt hatte und doch blieb keine Liebe fehlerlos - unsere eingeschlossen.

Ich wollte ihm so gerne sagen, was ich empfand, aber mein Hals war wie zugeschnürt. Ich bekam kaum Luft und jede Zelle meines Körpers wollte fliehen.

Das hatte er nicht verdient. Ich musste mich zusammennehmen und etwas sagen. Doch trotz aller Bemühungen, meine Emotionen für ihn greifbar zu machen, blieb uns beiden nichts - nichts, außer mein fest verwurzelter Blick durch das Fenster in die Dunkelheit.

Ich wusste nicht, warum ich mich ausgerechnet an diesen Moment mit ihm erinnerte. Wie er da vor mir hockte, das kalte Laminat berührend und mich von unten tief und eindringlich ansah. Wie er meine Hand hielt (ganz fest) und ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, seine Tränen nicht mehr hätte zählen können.

Er weinte bitterlich und jeder Dezibel dieses schmerzvollen Geräusches traf mich mitten ins Herz. Diese Liebe, die er mir schenkte, war so unfassbar rein und ehrlich. Ich hatte so viele Fehler begangen und doch war es er, der nach Worten suchte und versuchte, uns zu retten.

Vor mir tauchte erneut das Bild eines Kindes auf - ein sehr hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren und smaragdgrünen Augen. Es brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, dass ich mich selbst sah. Dieses zarte Wesen beunruhigte mich. Es war schön, ja, doch war da noch etwas anderes an ihr. Etwas Ängstliches. Etwas Kaltes.

Ich spürte eine aufkommende Leere in mir. So viel Energie sog dieses Gefühl von mir auf.

Ich ärgerte mich, dass ich ausgerechnet an diesen Abend mit ihm dachte. Es gab so viele wunderschöne Erinnerungen! Und doch fiel mir genau diese ein und zwang mich, von ihm loszukommen. Ich verbat es mir, mich noch mehr darin zu verlieren und bemühte mich stattdessen, zurück auf den Boden der Tatsachen zu gelangen.

Und hier war ich nun: Alleine in meinem Schlafzimmer, mit dem Blick auf meinem Handy.

„Arian0109“ stand da in winzig kleinen Buchstaben.

Für die Menschen da draußen war er ein Name eines Internet-Profiles, von denen es Millionen auf dieser Welt gab. Für mich war es der eine, der einzige in meinem Leben, der je eine Rolle gespielt hatte.

„Na du“, sagte eine leise Stimme hinter mir.

„Geht es dir gut?“

Ich nickte und legte das Handy (schneller, als ich es beabsichtigte) neben mir auf das Kissen und erhob mich. „Ja, alles super. Ich habe nur nachgesehen auf welchem Platz ich im Flugzeug sitzen würde.“

„Für die Notausgänge“, fügte ich rasch hinzu.

Ich versuchte, fröhlich zu klingen.

„Hast du schon deinen Reisepass? Alle anderen wichtigen Unterlagen? Hast du überhaupt schon angefangen zu packen, Maus?“

Meine Mutter stand da und ich musste schmunzeln. Sie war schon immer der Inbegriff von Planung. Alles musste stets seine Ordnung haben und wehe der Geschirrspüler wurde nicht exakt nach Beendigung seiner Aufgabe entleert.

Es konnte anstrengend sein, doch viel zu oft überwog das Gefühl der Liebe, der Fürsorge und wie wichtig es war, dass alles seinen Platz hatte.

„Meiner war immer hier“, dachte ich wehmütig und eine kleine Welle der Panik überkam mich. Ich sah mich um und wagte einen Blick durch meine Wohnung.

War ich wirklich so weit, das alles aufzugeben? Wollte ich wirklich alles zurücklassen?

Ich starrte auf mein Lieblingsbild von Kare - das konnte ich stundenlang. Kurz überfuhr mich der Gedanke, einen Rückzieher zu machen und es war erneut meine Mutter, die dafür sorgte, dass ich nicht aus geordneten Bahnen entglitt.

„Was hältst du davon, wenn ich uns etwas zu essen mache und du mir noch ein bisschen was von der Familie erzählst? Familie Tro…Tre…Tra…vis? Oder wie hießen die noch gleich? Mensch, hilf’ mir mal.“

Sie lehnte sich an den Türrahmen und schaute mich neugierig an.

„Davis, Mama.“

Ich sah wie die fünf Buchstaben vor ihren Augen tanzten und sie schon jetzt versuchte, Schlüsse daraus zu ziehen. In Gedanken katapultierte ich sie in ein forensisches Büro, in das sie 1: 1 gepasst hätte.

„Ja, sag’ ich ja. Mensch. Und du hast ein gutes Gefühl? Ja? Hattet ihr viel Kontakt?“

Das war meine Mutter. Es war eine Konversation, wie ich sie nur zu gut kannte. Es musste einfach alles, absolut alles, geklärt sein.

„Bisher ist mein Eindruck super. Sie sind allesamt sehr nett und freuen sich, dass ich bald da bin.“

„Das wird kein Zuckerschlecken, das sag’ ich dir. Es waren doch zwei Kinder, oder?“

Meiner Mutter waren ihre Sorgen sofort anzusehen. „Vielleicht traut sie es mir einfach nicht zu?“, fragte ich mich still.

„Ja, aber ich schaffe das. Ich bin alt genug“, verteidigte ich meine Gedanken laut.

„Mit dem Alter hat das nichts zutun. Ich weiß, wovon ich spreche. Milo und du habt mich immer auf Trab gehalten. Manchmal macht ihr das heute noch.“

Sie senkte ihren Blick kurz Richtung Boden und unterstrich ihren Satz mit einer ernsten Miene.

„Mama! Das kannst du nicht vergleichen. Diese Familie ist reich. Sorgenlos. Sie haben Geld ohne Ende. Sie spielen Tennis! Und Klavier! Da gibt es keine Wurstabschnitte von Aldi.“

Ich übertrieb häufig, wenn ich mich in Rage redete.

„Da hast du dich damals aber ganz schön drüber hergemacht!“

Wir lachten herzhaft und es dauerte einen Moment, bis die Endorphine uns wieder verließen.

„Nein, du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Pete und Mary sind liebevolle Eltern und sie werden mich bestimmt gut aufnehmen.“

„Das hoffe ich für sie. Sonst komm’ ich da rüber.“

Sie nahm mich in den Arm und jede Sekunde dieser Berührung rückte unseren bevorstehenden Abschied näher. Als wir uns lösten, konnten wir beide unsere Tränen nicht verbergen.

„Du ziehst das also durch?“, fragte sie mich leise.

Anstatt zu antworten, nickte ich kurz.

„Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Und ja, ich hatte einen wirklich tollen Job hier. Aber ich kann nicht ewig Make-Up-Fläschchen und Puderdosen verkaufen. Und vor allem kann ich nicht ewig hier bleiben. Das verstehst du doch, oder?“

Der letzte Satz klang verzweifelter, als ich es beabsichtigt hatte, aber es war schon zu spät.

„Du bist dann allein’. Auf einem anderen Kontinent. Es ist deine Entscheidung, doch das letzte Mal…ich weiß noch wie das ausging.“

Und schon fühlte ich mich in die Ecke gedrängt. Es geschah jedes Mal, wenn jemand Kritik an mir ausübte. Ein Charakterzug, auf den ich nicht besonders stolz war. Zumal er mich auch mental extrem forderte und ich versuchen musste mich zu beherrschen.

„Das letzte Mal war ich 17 und ehrlich gesagt rannte ich damals nur von einer Trennung weg.“

Als ich es laut aussprach, wurde mir klar, dass es jetzt nicht anders sein würde, aber meine Mutter ging zu meiner Erleichterung nicht näher darauf ein.

Ich glaubte, dass sie es irgendwie ahnte, aber sie war zu höflich, es mir vorzuhalten.

„Ich hoffe sehr, dass du glücklich wirst, mein Engel“, sagte sie schließlich mit dieser weichen, liebevollen Stimme, die einen verstummen ließ.

„Ich weiß, Mama und das werde ich, versprochen“, erwiderte ich mühsam - immer noch das Bild von dem kleinen Mädchen in meinem Kopf.

Dass ich es ihr schuldete, die verlorene Wärme zurückzuerlangen. Dass es meine Aufgabe war, sie wieder glücklich zu machen.

Ich merkte einen Kloß in mir aufsteigen und wollte auf keinen Fall weiter in dieser Situation verharren.

„Ich kümmere mich um das Essen“, bemerkte ich mich rufen und ging mit schnellen Schritten Richtung Küche.

Wir schwiegen, während wir aßen und ich bemerkte ein flaues Gefühl im Magen, welches ich nicht dem Essen zuschreiben konnte. Ich vermutete stattdessen die Aufregung vor morgen und den damit verbundenen Konsequenzen. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass hier nach Sonnenaufgang jemand anderes lebte und meine heiligen Hallen ausfüllte. So sehr hing ich an diesen vier Wänden. Es war das mit Abstand schönste Zuhause, was ich je hatte und Lübeck hatte mich mit seinem Charme fest eingeschlossen. Die Menschen waren freundlich und trotz der nicht umbedeutsamen Größe dieses Ortes, kannte fast jeder jeden. Ich brauchte weniger als einen Monat, um mich vollends wohl zu fühlen und dieser zunächst unbekannten Stadt, den Titel „neue Heimat“ zu geben. Das war nun fünf Jahre her.

Inzwischen war es weit mehr als das. Diese winzige Metropole bestimmte mein Leben. Es war der Dreh- und Angelpunkt aller Handlungen und Taten und ich wünschte mir, dass die kommenden Aussichten, diesem Status gerecht werden konnten.

„Möchtest du Nachtisch?“, fragte derweilen meine Mutter und ich musterte sie.

Sie war mir einerseits so ähnlich - diese mandelförmigen grünen Augen, das weiche Lächeln und die markanten, erhöhten Wangenknochen. Von ihr stammten auch meine mittlerweile viel zu langen Haare - wenngleich sie ihre lediglich bis zur Schulter trug. Ich sah in ihr eine naturschöne Frau und schätzte mich glücklich, dass uns diese Ähnlichkeit häufig nachgesagt wurde.

Andererseits (und das war nicht immer leicht nachzuvollziehen) mussten wir uns fortlaufend unserer Gegensätze stellen. Das konnten Kleinigkeiten, wie die Wahl eines Getränkes oder Musikstückes sein, oder aber - radikal gesprochen - der Sinn unseres Daseins. Ja wirklich, ich ertappte mich oft in Situationen, die meine Mutter als kompliziert oder problematisch bezeichnete, während ich an gleicher Stelle nicht einmal einen Stift herausholte, um es auf meine To-Do-Liste zu setzen.

Für sie waren Dinge von Bedeutung, denen ich nicht im geringsten Gewichtung verlieh. Diese Tatsache war es auch, die es mir manchmal erschwerte, ihrem Gedankenfluss zu folgen und mit gleicher Euphorie oder Missmut zu antworten. Das entsprach dann dem Punkt, an dem wir uns (zum Glück nur gedanklich) voneinander entfernten und ich eine Minute brauchte, um mich wieder zu sammeln.

Trotz alledem liebte ich sie sehr. Sie war (wie wohl für jedes Kind) die beste Mutter der Welt und ich genoss es, sie in meiner Nähe zu wissen. Es tat weh die Distanz, dieses imaginären Bandes, auf eine unsägliche Länge auszuweiten. Sie war, neben meinem Bruder, die einzige Familie, die ich noch hatte. Sie fehlte mir schon jetzt.

Und auf das Stichwort hin, meldete sich wiederholt mein Magen. Ich verneinte also das Dessert, welches sonst das absolute Highlight für mich darstellte und verkroch mich für den Rest des Abends zurück in mein Schlafzimmer.

Am nächsten Morgen wachte ich noch vor dem Klingeln meines Weckers auf und blickte mit verschlafenen Augen auf mein Handydisplay.

„4.36 Uhr“, murmelte ich und war im Begriff meine morgendliche „hat er mir vielleicht geschrieben?“- Kontrolle durchzuführen.

Es war eine Art Ritual geworden, es gehörte zu mir wie das tägliche Zähne putzen. Wenngleich es mir nicht gut tat, hatte ich bisher nie etwas daran geändert. Ich erinnerte mich nicht mal mehr daran, wann es jemals anders war und das ließ mich mein Handy schließlich wieder aus der Hand legen.

„Ich komme so nicht von ihm los“, dachte ich sofort.

„Es bringt nichts, einen Neuanfang zu wagen und dann das Alte mitzutragen.

Seinen Namen anzuklicken, brachte mich ihm immer ein kleines Stückchen näher - so dachte ich jedenfalls. Doch was es wirklich tat, war, dass sich meine Gedanken an ihn verfestigten, dass sie mich nicht losließen, weil ich es einfach nicht tat.

Ich hatte diesem Umstand eine Menge Zeit und Platz eingeräumt.

„So viel Zeit…“, flüsterte ich und dachte über die vergangenen Jahre nach.

Schluss damit!“, hörte ich mein Inneres entschlossen sagen und fügte hinzu: „Heute beginnt der erste Tag meines neuen Lebens und genau das lasse ich ab jetzt hinter mir. Diese ständigen Erinnerungen an ihn, an einen Mann, der inzwischen ein völlig anderes Leben führt und den ich vermutlich niemals wiedersehen werde.“

Ich ließ mich zurück in mein warmes Kissen fallen, starrte zur Decke und kämpfte mit meiner aufkommenden Trauer.

„Arian hat einen Sohn“, schoss es mir durch den Kopf.

„Er hat eine Familie gegründet und es wird kein happy end mehr geben. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht irgendwann. Und genau aus diesem Grund wirst du in weniger als fünf Stunden im Flieger nach New York sitzen und diesen Menschen hoffentlich für immer vergessen.“

Ich weiß nicht, welche dieser beiden Tatsachen mich mehr schockte, aber es schallte in meinem Kopf mit einer derartigen Intensität, dass ich plötzlich die Decke von mir riss und es zuließ, dass meine Füße mich ins Badezimmer trugen und als ich die ansteigende Wärme aus der Dusche in mich aufnahm, war ich vollkommen erwacht und bereit für diese neue, unbekannte Zukunft, die vor mir lag.

Als ich am Flughafen die Menschenmassen um mich herum wahrnahm, wurde mir klar, dass es in meiner neuen Heimat wohl nicht anders zugehen würde.

New York war laut, New York war hektisch, eine Stadt der Superlative - ich mittendrin. Mitten von Existenzen, die entweder scheiterten, oder es zu dreistöckigen Villen mit Vorgarten schafften.

Ich stellte fest, dass ich mich in keiner diesen beiden Welten sah. Ich würde Kinder betreuen - eine Tatsache, die mich kurz taumeln ließ.

Ich war bisher nicht die Art von Frau, die sich viel aus dem Thema „Kinder bekommen“ und „Hausfrau-Sein“ machte. Ich war lieber allein, kannte nicht einmal Langeweile - selbst, wenn es offenkundig nichts zu tun gab. Ich liebte diese Freiheit, keine Kompromisse eingehen zu müssen. Entscheidungen zu treffen, für die nur ich selbst verantwortlich war. Sicher leitete ich in den letzten Jahren aus genau diesem Grund ein kleines Geschäft. Es machte mir Spaß, dort die Chefin zu sein und als oberste Instanz den finalen Entschluss zu fassen. Am Anfang war das schwer (insbesondere, aufgrund meiner Schwäche oft nicht „nein“ sagen zu können), doch nach und nach wuchs ich an dieser neuen Herausforderung und es machte mich zu dem, wer ich heute war: Abenteuerlustig, mutig, erwachsen.

Andere Menschen weiterzuentwickeln, hatte vor allem mich selbst sehr verändert. Ich hatte diesen Job geliebt und jeder der mich näher kannte, wusste das.

Ich blickte gern zurück, erinnerte mich an die vielen Farben und das kunterbunte Treiben am Counter. Eine Arbeit, die mir nie schwer fiel, in die ich mein gesamtes Herzblut steckte.

„Ob es richtig war zu gehen?“

Bei diesen Gedanken fühlte ich mich immer seltsam ertappt, so, als wüsste ich tief in meinem Inneren, dass ich nichts anderes tat, als wegzulaufen.

„Ich muss es tun. Für mich.“

Es gab nicht viel, was mich zuhause festhalten konnte. Ich hatte keine Verpflichtungen und war an niemanden fest gebunden. In diesem Moment ließ ich einen Blick auf meine Familie zu. Wie sie da standen mit einem traurigen, aber zugleich aufmunterndem, fröhlichen Ausdruck auf ihren Gesichtern.

„Du machst das schon“, sagte Milo mit der mir vertrauten Leichtigkeit.

„Kalea in New York? Das passt! Als deinen Bruder hättest du mich mitnehmen können, aber ansonsten ist doch alles top.“

Ich lächelte ihn an und dankte ihm insgeheim dafür, dass er versuchte, diesen Abschied so neutral wie möglich zu halten. Auch darin war ich nicht besonders gut: Menschen das Gefühl zu geben, dass sie mir fehlten, wenn sie nicht mehr in meiner Nähe waren. Gefühle zu zeigen, war das Schwerste für mich. Es bedeutete, sich verwundbar zu machen und ich brauchte das Gefühl der Überlegenheit.

Es war, sagen wir, wie ein Überlebenstrieb.

Ich war schon immer diejenige, die eine Beziehung beendete, noch bevor es mein Gegenüber tun konnte. Ich war nicht stolz darauf, nein, es war einfach nötig. Nötig, um mich selbst zu schützen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn mich jemand verließ. Es erinnerte mich an meinen Papa. Als ich 11 Jahre alt war, ging er fort und ließ mich und meinen Bruder zurück. Ich war in meinem Zimmer gewesen in meiner Bettdecke verkrochen und er versuchte es mir liebevoll zu erklären. Ich drehte ihm den Rücken zu, ich weinte wie am Spieß. Heute noch spürte ich seine Hände auf meinem Rücken.

Damals verstand ich nicht, warum Menschen sich trennten - trennen mussten. Ich glaubte, dass jeder, der zusammen war, es immer bleiben würde. Wie eine Art Gesetz, das unumstößlich war. Später wurde ich selbst zu der Person, die ich nicht verstand.

Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, warum ich hier war. Warum ich gehen und das alles, für einige Zeit, aus einer anderen Perspektive betrachten musste.

Ich war weder bereit dafür, noch wusste ich, dass es leicht werden würde, doch war es der einzige Weg, der mir noch blieb.

Ich hatte das Vertrauen verloren. Das Vertrauen in mich und meine Zukunft. Und mit einem Sprung in das Unbekannte wollte ich es zurückgewinnen. Auch, wenn es diesen Abschied erforderte.

„Milo würde ich am meisten vermissen“, seufzte ich im Stillen und drückte ihn ganz fest an mich, als der Ausruf des Boarding, für den Flug 538, durch die Hallen schallte.

Ich war nicht in der Lage, noch einmal zurückzublicken. Meiner Mutter liefen die Tränen wie verrückt und ich verspürte kurz den Drang über die Schalter hinweg Richtung Ausgang zurückzulaufen.

„Das wäre albern und absolut nicht dem entsprechend, wer ich in naher Zukunft sein wollen würde“, entfuhr es mir und ich blieb standfest und mit geballten Fäusten in meiner Reihe stehen.

„Wir sind stolz auf dich“, sagte Mama beim Abschied. „Du machst das Richtige. Wir glauben ganz fest an Dich.“ Mit diesen Worten empfand ich große Stärke in mir. Ich hatte unglaublich viel in Bewegung gesetzt, damit ich heute hier stehen konnte. Und das durfte ich keinesfalls aufgeben. Meine Familie freute sich aufrichtig für mich. Wenngleich ich wusste, dass es meinem Bruder ein Stück weit das Herz brach. Er würde mir genau so fehlen wie ich ihm und das wussten wir beide.

Glücklicherweise reichten meine Ersparnisse für einen Flug zu mir und meinem neuen Zuhause in der Madison Ave’ in weniger als acht Wochen. Das machte alles ein Stück weit erträglicher.

„Und ich würde nicht für immer bleiben“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.

„Wobei…was wäre an diesem Gedanken überhaupt so falsch?“