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Jamie Metzl

Der designte Mensch

Wie die Gentechnik Darwin überlistet

Aus dem Englischen
von Gabriele Gockel, Sonja Schuhmacher
und Claus Varrelmann

 

»All unser Sein ist Frucht unseres Denkens.«

GAUTAMA BUDDHA

Inhalt

Eintritt in das Zeitalter der Genetik

  1Wie Darwin auf Mendel trifft

  2Auf der Komplexitätsleiter

  3Decodierung der Identität

  4Das Aus für den Sex

  5Göttlicher Funke und Feenstaub

  6Alles Lebende: von Grund auf umgestalten

  7Der Raub der Unsterblichkeit von den Göttern

  8Die Ethik gentechnischer Eingriffe an uns selbst

  9Wir sind vielfältig

10Das Wettrüsten der menschlichen Spezies

11Die Zukunft der Menschheit

Zur weiteren Lektüre

Dank

Anmerkungen

Über den Autor

Einleitung

Eintritt in das Zeitalter der Genetik

»Warum sind Sie zu uns gekommen?«, fragte die junge Frau am Empfang.

Es war mein erster Besuch bei der New Yorker Samenbank, und mir war etwas unbehaglich zumute.

»Ich glaube, es wäre gut, wenn fast alle hierherkämen«, sagte ich achselzuckend. »Ich halte weltweit Vorträge über die Zukunft der menschlichen Fortpflanzung und erkläre allen, die es hören wollen, dass sie, wenn sie beabsichtigen, irgendwann Kinder zu bekommen, zwischen zwanzig und dreißig ihre Eizellen beziehungsweise ihr Sperma einfrieren lassen sollten. Ich bin lediglich ein bisschen spät dran.«

Sie hob eine Augenbraue. Circa zwanzig Jahre zu spät? »Ich verstehe nicht ganz. Sind Sie Samenspender?«

»Nein.«

»Müssen Sie sich demnächst einer Chemotherapie oder einer anderen medizinischen Behandlung unterziehen, die Ihr Sperma schädigen könnte?«

»Nein.«

»Sind Sie Militärangehöriger und werden in Kürze in ein Kriegsgebiet abkommandiert?«

»Nein.«

»Die einzige weitere Kategorie auf meinem Formular lautet Andere Gründe«, erklärte sie nach einem kurzen verlegenen Schweigen. »Soll ich das ankreuzen?«

Da ich leicht verunsichert war, wollte ich die Optionen lieber nicht nennen, die mir durch den Kopf gingen. Womöglich will ich eines Tages Kinder haben, weshalb es gut wäre, mein relativ junges Sperma jetzt einzulagern. Womöglich werde ich anbieten, mein Sperma auf eine Reise ins All zu schicken, wenn die Menschheit beginnt, weitere Teile des Sonnensystems zu bevölkern. Womöglich bewahrheitet sich meine Ansicht, und unsere Spezies strebt einer Zukunft entgegen, in der es genetische Veränderungen geben wird und in der wir unsere Nachkommen im Labor statt im Bett oder auf der Rückbank eines Autos zeugen.

»Also?«, fragte sie.

Ich lächelte nervös, während ich mir des erstaunlichen Augenblicks in der menschlichen Evolutionsgeschichte gewahr wurde, in dem revolutionäre neue Technologien und meine individuelle Biologie in einem aseptischen Büro mitten in Manhattan aufeinandertrafen.

Wissenschaftler und Theologen können diskutieren, ob der erste Funken Leben auf unserem Planeten hydrothermalen Quellen am Meeresboden oder dem göttlichen Willen (oder beidem) entstammt, aber fast alle, die an die Wissenschaft glauben, stimmen darin überein, dass vor etwa 3,8 Milliarden Jahren die ersten einzelligen Organismen entstanden. Diese Mikroorganismen wären nach einer Generation wieder ausgestorben, wenn sie nicht einen Weg gefunden hätten, sich zu reproduzieren. Das Leben fand diesen Weg, und die Mikroben, die sich teilten, bescherten ihren mikrobiellen Familien dadurch eine Zukunft. Wenn jede dieser frühen Zellteilungen eine exakte Kopie der vorhergegangenen gewesen wäre, wäre unser Planet noch immer ausschließlich von jenen einzelligen Wesen bevölkert, und Sie würden dieses Buch nicht lesen. Aber es kam anders.

Die Geschichte unserer Spezies ist von kleinen Fehlern und anderen Veränderungen geprägt, die sich beim Vorgang der Reproduktion immer wieder einschlichen.

Nachdem im Laufe einer Milliarde Jahre solch minimale Abweichungen eine enorme Anzahl geringfügig unterschiedlicher Exemplare erschaffen hatten, verwandelten sich eines oder mehrere davon in simple multizelluläre Organismen. Aus heutiger Sicht machten sie zwar nicht viel her, waren aber in der Lage, bei der Reproduktion noch mehr Unterschiede zu kreieren. Einige dieser Varianten verschafften mancher Art von Organismus einen kleinen Vorteil bei der Nahrungsbeschaffung oder der Abwehr von Feinden und dadurch die Möglichkeit, weiterzuleben und stärker zu mutieren. Nachdem das zweieinhalb Milliarden Jahre lang so gegangen war, machten das Mutieren und der Konkurrenzkampf, die das Leben voranbrachten, einen weiteren wundersamen Sprung nach vorn: Die geschlechtliche Fortpflanzung begann.

Die geschlechtliche Fortpflanzung führte zu einer komplett neuen Form von Diversität, da sich die genetischen Informationen von Müttern und Vätern auf neuartige Weise miteinander verbanden.1 Dieser unglaubliche Vorgang brachte einige dieser simplen Organismen so heftig in Wallung, dass sie, speziell vor etwa 540 Millionen Jahren, wie wild zu einer bisher unvorstellbaren Vielfalt an Lebensformen mutierten, darunter zu Fischen. Vor circa 200 Millionen Jahren krochen einige Fische an Land und wurden zu Säugetieren. Vor etwa 300 000 Jahren verwandelten sich dann einige dieser Säugetiere in den Homo sapiens: in uns.

Das ist im Grunde unsere Evolutionsgeschichte. Jeder von uns geht auf einen einzelligen Organismus zurück, der sich während knapp vier Milliarden Jahren mittels zufälliger, unbändiger Mutation verändert hat, wobei sich unsere Vorfahren in einer endlosen Folge gnadenloser Überlebenskämpfe gegen ihre Konkurrenten durchsetzen mussten. Wenn Ihre Vorfahren überlebt und sich fortgepflanzt haben, gehören Sie heute zu uns. Wenn nicht, dann nicht. Die kurz gefasste Bezeichnung dafür lautet Darwin’sche Evolution. Sie hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir uns befinden. Aber jetzt mutieren auch die Regeln der Darwin’schen Evolution.

Künftig wird sich ein Großteil unserer Mutation nicht zufällig ereignen. Sie wird von uns selbst gestaltet werden.

Künftig wird nicht mehr von natürlicher Selektion die Rede sein können. Sie wird von uns selbst gelenkt werden.

Künftig wird unsere Spezies selbst die Kontrolle über unseren evolutionären Prozess ausüben, denn wir werden unsere künftigen Nachkommen genetisch so verändern, dass sie sich von dem, was wir heute sind, unterscheiden. Mit anderen Worten: Wir stehen am Beginn eines Prozesses, bei dem wir Darwin hacken werden. Wir werden ihn »überlisten«.

Es handelt sich um ein ungeheuer ambitioniertes Vorhaben mit gigantischen Implikationen.

Die aktuelle Version der Spezies Homo sapiens war zu keinem Augenblick der evolutionäre Schlusspunkt, sondern stets nur ein Zwischenstopp auf unserer unaufhörlichen Evolutionsreise. Zukünftig werden wir diesen Prozess in nie gekanntem Maße mittels unserer Technologien steuern, hoffentlich geleitet von ehrenhaften Prinzipien.

Wenn wir tausend Jahre in die Vergangenheit reisen, ein Baby kidnappen und es in unsere Gegenwart verpflanzen würden, so würde dieses Kind zu einem Erwachsenen werden, der sich von seinen Mitmenschen nicht unterscheidet. Aber wenn wir noch einmal in die Zeitmaschine klettern und diesmal tausend Jahre in die Zukunft reisen würden, wäre das Baby, das wir mit uns zurückbrächten, nach unseren heutigen Maßstäben ein genetischer Supermensch. Sie oder er wäre stärker und schlauer als die anderen Kinder, resistent gegen viele Krankheiten, langlebiger und besäße genetische Merkmale, die wir heutzutage zum Beispiel mit Genies assoziieren oder mit Tieren, die über ausgeprägte sensorische Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen. Sie oder er könnte sogar Merkmale besitzen, die in der Welt der Menschen und Tiere noch unbekannt sind, aber eben jenen Bausteinen entstammen, die die enorme Diversität allen Lebens haben entstehen lassen.

»Sind Sie mit Andere Gründe einverstanden?«, fragte die Frau am Empfang und unterbrach den Strom meiner Gedanken.

Ich holte tief Luft. »Das ist wahrscheinlich die beste Alternative.«

»Hmm«, murmelte sie, offenbar leicht verärgert, dass ich abgelenkt wirkte. »Und welche Dauer schwebt Ihnen für die Lagerung vor?«

»Wie wär’s erst einmal mit hundert Jahren? Dann sehen wir weiter.«

Sie beäugte mich misstrauisch. »Tut mir leid, aber wir bieten nur ein, drei und fünf Jahre an.«

Meine Miene verriet meine Besorgnis. »Das ist mir eigentlich zu kurz.«

»Sie können immer wieder verlängern.«

»Das muss ich dann aber oft machen«, wandte ich ein. »Woher weiß ich, dass es diese Einrichtung noch längere Zeit geben wird?«

»Keine Sorge. Das wird es. Wir haben gerade unsere Räume renoviert.«

Ich schluckte. Wir hatten eindeutig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft der Reproduktion.

»Bitte nehmen Sie Platz und füllen Sie diese Formulare aus«, sagte sie. »Ich rufe Sie dann auf.«

Kurz danach saß ich angespannt auf einem der harten roten Plastikstühle des weißen, schmucklosen Wartezimmers, füllte, beschallt von zuckrigem Hintergrundgedudel, die Formulare aus und dachte darüber nach, wie ich an diesen Punkt in meinem Leben gelangt war. Ich rief mir die sonderbare Kette von Ereignissen ins Gedächtnis, die mich zur obsessiven Beschäftigung mit der Gentechnik gebracht hatte. Eine Gentechnik, die die evolutionäre Laufbahn jedes Mitglieds unserer Spezies verändern wird, einschließlich meiner Wenigkeit.

Es begann, als ich während der zweiten Amtszeit von Präsident Clinton im Weißen Haus für den Nationalen Sicherheitsrat arbeitete. Mein damaliger Chef und heutiger guter Freund Richard Clarke erklärte jedem, der zuzuhören bereit war, dass der Terrorismus eine große Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes war und dass die USA sehr viel entschiedener gegen einen obskuren Terroristen namens Osama bin Laden vorgehen sollten. Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in die Twin Towers flogen, befand sich Richard Clarkes prophetisches und inzwischen berühmt gewordenes Memorandum zu Al-Qaida unbeachtet in Präsident Bushs Posteingang.

Clarke pflegte zu sagen, dass immer, wenn sich alle in Washington auf eine bestimmte Sache konzentrieren, garantiert etwas anderes, wesentlich Wichtigeres übersehen wird. Das merkte ich mir. Nachdem ich das Weiße Haus verlassen hatte, fragte ich mich, welches diese besonders wichtigen, aber stiefmütterlich behandelten Angelegenheiten gewesen waren. Im Geiste kehrte ich immer wieder zu der damals anbrechenden Revolution in der Genetik und der Biotechnologie zurück. Leidenschaftlich vertiefte ich mich in die Lektüre von allem, dessen ich habhaft werden konnte, und beschäftigte mich mit einigen der schlausten Wissenschaftler und Denker, um von ihnen zu lernen. Als ich glaubte, genug zu wissen, um eine eigene Meinung zu vertreten, begann ich, für außenpolitische Zeitschriften Artikel über die Auswirkungen der Genetikrevolution auf die nationale Sicherheit zu schreiben.

Anfang 2008 rief mich eines Tages unerwartet der ebenso intelligente wie exzentrische kalifornische Kongressabgeordnete Brad Sherman an. Sherman, damals im Repräsentantenhaus Vorsitzender des zum Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten gehörenden Unterausschusses für Terrorismus, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Handel, sagte zu mir, er habe viel über die nächste Generation terroristischer Bedrohungen nachgedacht. Er habe einen meiner Artikel gelesen, und er habe ihm so sehr gefallen, dass er im Kongress auf Grundlage meiner Texte eine Anhörung veranstalten wolle. Ich fühlte mich geehrt und erklärte mich bereit, ihn zu unterstützen, indem ich weitere Teilnehmer aussuchen und als wichtiger Sachverständiger bei dieser vorausschauenden Anhörung im Juni 2008 auftreten würde. Die Veranstaltung sollte den Titel tragen: »Genetik und andere Technologien zur Modifikation des Menschen«.

»Wenn unsere Nachfahren in 200 Jahren auf das gegenwärtige Zeitalter zurückblicken und sich fragen, was seinerzeit die größte außenpolitische Herausforderung war«, erklärte ich bei der Anhörung, »dann wird meiner Ansicht nach der Terrorismus, so groß seine Bedeutung auch sein mag, nicht an erster Stelle stehen. Ich spreche heute zu Ihnen, weil ich glaube, dass es um die Art und Weise gehen wird, mit der wir Amerikaner und die internationale Gemeinschaft unsere neu entwickelten Fähigkeiten gehandhabt haben werden, auf unsere eigene genetische Beschaffenheit manipulativ einzuwirken.«2

Die Aufmerksamkeit, die der Kongressanhörung zuteilwurde, brachte mich zu der Überzeugung, dass ich ein wichtiges Thema vor mir hatte und ich mich noch intensiver mit diesem unglaublich faszinierenden und sich rasch wandelnden Forschungsbereich auseinandersetzen musste. Offenbar waren auch meine Ansichten es wert, gehört zu werden.

Ich veröffentlichte immer häufiger in Politikzeitschriften Artikel und fing an, im In- und Ausland Vorträge über die Zukunft der Genmanipulation beim Menschen zu halten. Je größer mein Wissen und mein Engagement wurden, desto stärker wuchsen sowohl meine Überzeugung, dass wir als Gesellschaft nicht annähernd genug taten, um uns auf die bevorstehende genetische Revolution vorzubereiten, als auch meine Befürchtung, dass ich zu wenig Menschen erreichte.

Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich meine Art der Vermittlung ändern musste, um meiner Botschaft Gehör zu verschaffen. Wenn meine Vorträge über Genpolitik die Menschen nicht erreichten, musste ich zu Mitteln greifen, die ich schon in der Vergangenheit benutzt hatte.

Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches, einer umfassenden, aber kaum gelesenen Abhandlung voller Fußnoten über den Völkermord in Kambodscha, hatte ich begriffen, dass die geeignete Form für dieses Thema nicht ein trockener historischer Wälzer, sondern eine gut erzählte Geschichte gewesen wäre. Wir waren schon immer Geschichtenerzähler. Aus den Geschichten, die in Höhlen und an Lagerfeuern erzählt wurden, haben sich unsere Romane, Filme und Fernsehserien entwickelt. Mein zweites Buch und zugleich erster Roman, »The Depths of the Sea«, behandelte erneut die tragischen Ereignisse in Kambodscha, aber dieses Mal in Form einer Reihe miteinander verknüpfter Geschichten über Menschen, die es nach dem Vietnamkrieg an die Grenze zwischen Thailand und Kambodscha verschlagen hatte. Das erste Buch war zweifellos die akkuratere Schilderung der kambodschanischen Katastrophe, aber der Roman war deutlich lesbarer.

Als ich mir Jahre später die Frage stellte, wie ich für die extrem wichtigen Aspekte der genetischen Revolution Leute interessieren könnte, die ich mit meinen Aufsätzen und Vorträgen nicht erreichte, wandte ich dieselbe Strategie an. In meinen Science-Fiction-Romanen – »Genesis Code«, der die Auswirkungen der genetischen Revolution zum Thema hatte, und »Eternal Sonata«, in dem ich darüber spekulierte, wohin die Verlängerung des Lebensalters womöglich führen wird – versuchte ich mir vorzustellen, welche konkreten Folgen die revolutionären Gentechnologien für die Menschheit haben werden. Ich versuchte, den Lesern das Thema unserer genetischen Zukunft auf verständliche Weise nahezubringen.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes auf meinen Lesereisen. Das Publikum war zwar hinlänglich begeistert von den apokalyptischen Kämpfen, den Intrigen der Meisterspione, den Liebesgeschichten und den gewaltigen Explosionen, die ich erdacht hatte, um meiner Science-Fiction-Welt Leben einzuhauchen, aber besonders gebannt lauschten sie, wenn ich ihnen die wissenschaftlichen Hintergründe der genetischen Revolution und deren vermutliche Auswirkungen auf uns Menschen erläuterte. Wenn ich wissenschaftliche Zusammenhänge mit der Sprache und der Erzählweise eines Schriftstellers erklärte, schienen die Zuhörer plötzlich zu begreifen, wie die wissenschaftlichen Informationshappen, die ihnen in ihrem täglichen Leben untergekommen waren, sich in die Geschichte unserer Zukunft einfügten. Ich stellte fest, dass ich immer weniger über meine fiktiven Erzählungen, dafür zunehmend über die realen Technologien sprach, die das Zeug hatten, die Menschheit grundlegend zu verändern.

Die lebhaften Gespräche bei Lesungen und anderen Veranstaltungen trieben mich dazu, noch mehr erfahren zu wollen und mit einem noch größeren Nachdruck Fragen über die Zukunft der gentechnischen Eingriffe am Menschen und über meine persönliche Einstellung dazu zu stellen.

Mit Mitte vierzig hatte ich noch nicht die Kinder, von denen ich immer angenommen hatte, dass ich sie irgendwann haben würde, was zum Teil an meinem ausdauernden und nicht ganz rationalen Glauben an die Wissenschaft, eine gesunde Lebensweise und eine positive Grundhaltung als Gegengewicht zu der vernichtenden Kraft der Zeit und der Grausamkeit der Biologie lag. Ich bin ein eingefleischter Technikoptimist, aber wenn ich vor Publikum Bilder unserer künftigen Welt heraufbeschwor, fragte ich mich, ob ich wirklich in dem Maße an die magische Kraft der Technik glaubte, wie ich es behauptete.

Glaubte ich tatsächlich, dass das Wissen, das in 150 Jahren genetischer Wissenschaft angesammelt worden war, ausreichte, um das Resultat von Milliarden Jahren evolutionärer Biologie zu verändern? Würde ich tatsächlich darauf wetten, dass genetische Veränderungen, die helfen würden, mein künftiges Kind gesünder, klüger und stärker zu machen, es auch glücklicher machen würden? Hatte ich nicht als Geschichtsstudent darauf gewettet, dass genveränderte Menschen ihre neu gewonnenen Fähigkeiten dazu nutzen würden, andere zu unterdrücken, so wie das Kolonialmächte stets getan hatten? Und war ich als Sohn eines Flüchtlings aus Nazideutschland tatsächlich bereit, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Eltern beginnen könnten oder sogar sollten, ihre künftigen Kinder auf Basis unvollständiger genetischer Theorien auszuwählen und zu formen?

Wie auch immer meine Antworten lauteten, eines war klar: Nachdem beinahe vier Milliarden Jahre lang die Evolution gemäß bestimmter Regeln vonstattengegangen ist, schickt sich unsere Spezies nun an, sich gemäß anderer Regeln weiterzuentwickeln.

In seinem prophetischen, 1865 erschienenen Roman »Von der Erde zum Mond« beschreibt der Schriftsteller Jules Verne eine Drei-Mann-Crew, die in einem Geschoss zum Mond fliegt und dann per Fallschirm zurückkehrt. 1865 war das ein Werk purer Science-Fiction. Kaum eine der Technologien, die ein Jahrhundert später die Menschen zum Mond bringen würden, war bereits entwickelt. Sich 1865 eine Mondlandung vorzustellen, war so, als würde man sich heute vorstellen, wie Menschen in ein anderes Sonnensystem reisen – vielleicht ist es eines Tages möglich, aber wir haben bisher kaum eine Ahnung, wie es zu bewerkstelligen wäre. Der wissenschaftliche Fortschritt ist noch nicht so weit.

Ein knappes Jahrhundert später, im Jahr 1962, erklomm der amerikanische Präsident John F. Kennedy ein Podium in Houston, um die berühmte Rede zu halten, in der er verkündete, dass die USA bis zum Ende des Jahrzehnts einen Mann auf den Mond bringen würden. Präsident Kennedy hatte keine Bedenken, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Glaubwürdigkeit der USA zu riskieren, denn alle Technologien, die eine erfolgreiche Mondlandung ermöglichen würden – Raketen, Hitzeschilde, Systeme für das Überleben im All, Computer, die komplexe mathematische Berechnungen anstellen konnten –, waren 1962 bereits vorhanden. Er beschwor weder – wie Jules Verne – eine weit entfernte Zukunft herauf, noch dachte er sich Science-Fiction aus. Er zog eindeutige Schlüsse aus der Existenz von Technologien, die nur noch ein paar Ergänzungen brauchten. Fast alle Voraussetzungen waren geschaffen, und es war keine Frage, ob der Plan umgesetzt werden würde, sondern nur, wann. Sieben Jahre später stieg Neil Armstrong die Leiter der Apollo 11 hinab, an deren Ende ihn »ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit« erwartete.

Was die genetische Revolution angeht, ist die Gegenwart kein Äquivalent zu 1865, sondern zu 1962. Wenn wir von der Umgestaltung unserer Spezies sprechen, dann handelt es sich nicht um spekulative Science-Fiction, sondern um die logische, baldige Weiterentwicklung von bereits existierenden Technologien, bei denen in hohem Tempo Fortschritte erzielt werden. Wir verfügen inzwischen über das nötige Handwerkszeug, um die genetische Beschaffenheit unserer Spezies zu verändern. Die Wissenschaft ist bereit, und die Umsetzung wird unausweichlich kommen. Unklar ist nur, ob dieser Prozess ein paar Jahrzehnte früher oder später voll in Gang kommt und welche Werte bei der Steuerung dieses technologischen Fortschritts Anwendung finden werden.

Nicht jedem ist das Moore’sche Gesetz bekannt, das besagt, dass sich die Rechnerleistung von Computern etwa alle zwei Jahre mehr oder weniger verdoppelt, aber wir alle haben seine Implikationen verinnerlicht. Darum erwarten wir von jeder neuen Version unseres iPhones oder Laptops, dass sie leichter und leistungsfähiger ist. Und es wird immer deutlicher, dass es ein Äquivalent zum Moore’schen Gesetz für das Verstehen und Verändern aller biologischen Systeme gibt, einschließlich des unsrigen.

Wir begreifen mehr und mehr, dass unsere Biologie eine weitere Form von Informationstechnologie ist. Unsere Erbmasse hat nichts Magisches, wie wir inzwischen wissen, sondern ist ein Code, der in immer größerem Maße begriffen, gelesen, geschrieben und gehackt werden kann. Aus diesem Grund werden wir bald viele der Erwartungen an uns selbst haben, die wir auch an andere Informationstechnologien stellen. Wir werden uns zunehmend auf vielfältige Weise als IT betrachten.

Diese Vorstellung ängstigt viele Menschen, und das sollte sie auch. Sie sollte uns aufgrund ihres unglaublichen lebensbejahenden Potenzials aber auch begeistern. Egal, wie wir darüber denken, die genetische Zukunft wird wesentlich früher anbrechen, als viele erwarten, denn sie fußt auf bereits existierenden Technologien.

Zuerst werden wir die vorhandenen Technologien der In-vitro-Fertilisation (IVF) und der fundierten Embryo-Auswahl nicht nur, wie es heute der Fall ist, verwenden, um simple Erbkrankheiten auszuschließen und das Geschlecht auszuwählen; wir werden auf diesem Wege auch ganz allgemein die Erbanlagen unserer künftigen Kinder auswählen und dann verändern.

Eine zweite, überlappende Phase der humangenetischen Revolution wird einen Schritt weiter gehen, denn man wird die Zahl der Eizellen, die für die IVF verfügbar sind, schlagartig erhöhen, indem man aus einer großen Anzahl adulter Zellen, beispielsweise Blut- oder Hautzellen, Stammzellen erzeugt, aus diesen Stammzellen Eizellen macht und diese Eizellen dann zu echten Eiern reifen lässt.

Falls und sobald dieser Vorgang gefahrlos bei Menschen angewandt werden kann, wird es Frauen, die sich für eine IVF entscheiden, möglich sein, nicht nur zehn oder 15 Eizellen befruchten zu lassen, sondern Hunderte. Statt nur die relativ kleine Zahl eigener Embryonen zu screenen, wären die potenziellen Eltern in der Lage, die Screenings von 100 oder mehr Embryonen zu bewerten und so Big-Data-Analyse in den Prozess der Embryo-Auswahl einzubinden.

Viele Eltern werden zudem die Möglichkeit in Betracht ziehen, ihre künftigen Kinder nicht nur auszuwählen, sondern auch genetisch zu verändern. Methoden zur Gen-Editierung gibt es seit Jahren, aber in jüngster Zeit wurden neue Verfahren wie CRISPR / Cas9 entwickelt, die es möglich machen, Eingriffe an Genen aller Spezies – einschließlich den unsrigen – präziser, schneller, flexibler und erschwinglicher vorzunehmen als je zuvor. Mit CRISPR und ähnlichen Verfahren wird es am Ende wissenschaftlich machbar sein, Embryonen neue Merkmale und Fähigkeiten zu verleihen, indem man DNA injiziert, die von anderen Menschen oder Tieren stammt und eines Tages sogar synthetisch hergestellt werden wird.

Haben Eltern erst einmal begriffen, dass sie mittels IVF und Embryo-Auswahl das Risiko zahlreicher Erbkrankheiten ausschließen und zugleich als positiv geltende Merkmale wie einen hohen IQ, eine starke Extrovertiertheit und ausgeprägte Empathie auswählen können, wird eine größere Zahl an Eltern wollen, dass ihre Kinder außerhalb des Körpers der Mutter gezeugt werden. Viele werden die Empfängnis durch Geschlechtsverkehr als großes und unnötiges Risiko betrachten. Regierungen und Versicherungsunternehmen werden künftige Eltern zu IVF und Embryo-Auswahl drängen, um zu vermeiden, dass sie große Summen für die lebenslange Behandlung und Betreuung von Kindern mit Erbkrankheiten ausgeben müssen.

Ich kann mir, egal, wer die Propagandisten und Profiteure sein werden, kaum vorstellen, dass unsere Spezies darauf verzichten wird, Fortschritte bei Technologien anzustreben, die das Potenzial besitzen, schreckliche Krankheiten auszurotten, unsere Gesundheit zu verbessern und unsere Lebensspanne zu vergrößern. Wir haben uns jede neue Technologie – vom Sprengstoff über die Kernenergie bis hin zur plastischen Chirurgie – zunutze gemacht, die versprach, unser Leben, trotz ihrer potenziellen Gefahren, zu verbessern. Auch in diesem Fall wird es nicht anders sein. Allein schon die Vorstellung, unser Erbgut zu verändern, verlangt nach einer gehörigen Dosis Demut – aber wir wären eine andere Spezies, hätten wir uns stets von Demut und nicht von größenwahnsinnigem Streben leiten lassen.

Mit diesen neuen Verfahren wird der Wunsch verknüpft sein, kurzfristig Erbkrankheiten auszurotten, mittelfristig Fähigkeiten zu verändern und zu verbessern und langfristig uns vielleicht in die Lage zu versetzen, auf einer heißeren Erde, im All oder auf anderen Planeten zu leben. Im Laufe der Zeit werden wir zu der Ansicht gelangen, dass der erfolgreiche Einsatz von Verfahren zur Manipulation unseres Genmaterials womöglich der größte technische Fortschritt in der Geschichte unserer Spezies ist, der Schlüssel für die Erschließung eines fast unvorstellbaren Potenzials und in vieler Hinsicht einer völlig neuen Zukunft.

Aber das macht das Ganze natürlich nicht weniger beunruhigend.

Wenn diese Revolution erst richtig begonnen hat, wird es Menschen geben, die der genetischen Verbesserung aufgrund ihrer Weltanschauung, ihres Glaubens oder gefühlter oder begründeter Sicherheitsbedenken mit Unbehagen begegnen. Das Leben besteht nicht nur aus Wissenschaft und Codes. Es beinhaltet auch Mysterien, Wagnisse und, für manche, Spiritualität.

Wenn wir eine ideologisch homogene Spezies wären, wäre diese Transformation eine Herausforderung. In einer Welt, in der die Meinungs- und Glaubensunterschiede so riesig sind und das Entwicklungsniveau so weit auseinanderklafft, besitzt sie, jedenfalls, wenn wir nicht aufpassen, das Potenzial für eine Katastrophe.

Wir müssen uns einige grundlegende Fragen stellen und sie beantworten. Wird der Einsatz dieser wirkungsvollen Technologien unsere Menschlichkeit befördern oder einschränken? Werden von den Vorzügen dieses wissenschaftlichen Fortschritts nur wenige Privilegierte profitieren, oder werden wir ihn nutzen, um Leid zu vermindern, Diversität zu respektieren und weltweit Verbesserungen bei Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen? Wer hat das Recht, individuelle oder kollektive Entscheidungen zu treffen, die im Endeffekt Auswirkungen auf den gesamten menschlichen Genpool haben? Und was für ein Verfahren ist, wenn überhaupt, vonnöten, um die bestmögliche kollektive Entscheidung über unsere zukünftige evolutionäre Entwicklung als eine oder womöglich mehrere Spezies zu treffen?

Es gibt auf diese Fragen keine einfachen Antworten, doch jeder einzelne Mensch muss bei der Suche nach ihnen beteiligt sein. Wir sollten uns alle an Präsident Kennedys Ankündigung in Houston orientieren und jeder eine eigene Rede über die Zukunft unserer Spezies angesichts der gen- und biotechnischen Revolution halten. Unsere kollektiven Antworten, beeinflusst von unseren Diskussionen, Organisationen, Bürgerbewegungen, politischen Strukturen und internationalen Organisationen, werden in vielfältiger Weise darüber entscheiden, wer wir sind, welche Werte wir haben und in welcher Weise wir voranschreiten wollen. Um Teil der Entwicklung zu sein, müssen wir jedoch unbedingt unser Wissen über diese Themen erweitern.

»Kommen Sie bitte, Mr. Metzl«, rief die Frau am Empfang. Ich schüttelte kurz den Kopf, schaute hoch, immer noch von leichter Nervosität erfüllt. Als sich die Tür zum hinteren Teil des Flures öffnete, stand ich langsam auf, verharrte einen Augenblick und machte dann entschlossen den ersten Schritt.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um darzulegen, dass die humangenetische Revolution zwar unausweichlich ist und schon bald anbrechen wird, der Ausgang dieser Revolution aber keinesfalls vorherbestimmt ist, sondern zu wichtigen Teilen von uns selbst abhängt. Um die klügsten kollektiven Entscheidungen über unseren Weg in die Zukunft zu treffen, müssen wir begreifen, was vor sich geht und was auf dem Spiel steht. Und wir sollten möglichst viele von uns an der Meinungsfindung beteiligen. Mit diesem Buch möchte ich meinen bescheidenen Beitrag zum Erreichen dieses Ziels leisten.

Die Tür steht für uns alle offen. Wir marschieren nolens volens auf sie zu. Unsere Zukunft erwartet uns.

Kapitel 1

Wie Darwin auf Mendel trifft

»Wer vorhat, in über zehn Jahren ein Kind zu bekommen, hebe bitte die Hand«, bat ich die große Gruppe von Millennials, die in einem schicken Konferenzsaal in Washington, D.C., vor mir saß. Etwa die Hälfte des Publikums meldete sich.

Ich hatte mich eine Dreiviertelstunde lang wortreich darüber ausgelassen, wie die bevorstehende genetische Revolution die Art und Weise verändern wird, wie wir Babys machen, und damit eines Tages auch das Wesen der von uns gemachten Babys. Ich hatte erläutert, warum ich glaubte, dass unsere Spezies sich unausweichlich unserer genetisch verbesserten Zukunft anpassen und sie gutheißen wird, warum dies zugleich ungeheuer spannend und zutiefst verstörend ist und was wir meiner Ansicht nach jetzt tun sollten, um den Nutzen der revolutionären Gentechnik möglichst zu optimieren und deren Schaden zu minimieren.

»Wenn Sie die Hand gehoben haben und eine Frau sind, sollten Sie wahrscheinlich Ihre Eizellen einfrieren lassen. Wenn Sie die Hand gehoben haben und ein Mann sind, rate ich Ihnen, Ihr Sperma möglichst bald einfrieren zu lassen.«

Das Publikum sah mich misstrauisch an.

»Es besteht die nicht unbedeutende Wahrscheinlichkeit«, fuhr ich fort, »egal, wie jung und fruchtbar Sie sind, dass die Zeugung Ihres Kindes in einem Labor erfolgen wird, und daher spricht nichts dagegen, Ihre Eizellen oder Ihr Sperma jetzt, da Sie sich auf dem biologischen Höhepunkt Ihres Lebens befinden, einfrieren zu lassen.«

Auf den Gesichtern dieser intelligenten jungen Akademiker war förmlich zu sehen, wie sie verstanden, worum es ging. Ich spürte fast den Konflikt, der in ihnen gärte. Ich hatte jahrzehntelang mit derselben Frage gerungen, die sie zu beunruhigen schien: Wie balancieren wir die Herrlichkeit und Brutalität unserer biologischen Existenz aus?

Wir werden alle durch einen Vorgang geboren, der geradezu wundersam anmutet, und beginnen dann sofort mit dem niemals endenden Kampf gegen die Zeit, gegen Krankheiten und gegen die Elemente, den wir am Ende verlieren werden. Wir fühlen uns stark zu allem hingezogen, das wir als natürlich erachten, doch unsere Spezies ist durch das unablässige Bemühen gekennzeichnet, die Natur zu zähmen. Wir wollen, dass unsere Kinder von Natur aus gesund zur Welt kommen, doch wenn es darum geht, ihre Kinder vor Krankheiten zu schützen, trotzen Eltern mit aller Macht der Natur.

Eine junge Frau in einem blauen Hosenanzug hob die Hand. »Sie haben gerade ausgeführt, wohin die genetische Revolution Ihrer Meinung nach führt und wie wir uns darauf vorbereiten sollen. Aber was ist mit Ihnen selbst? Würden Sie Ihre Kinder genetisch manipulieren?«

Ich erstarrte, was mir selten passiert. Seit vielen Jahren hatte ich mich in Texten und Vorträgen mit der Zukunft der menschlichen Reproduktion beschäftigt, aber aus irgendeinem Grund war mir diese Frage noch nie so direkt gestellt worden. Mir fiel nicht sofort eine Antwort ein, darum blickte ich einen Moment nach oben und dachte nach.

Die Humangenetik hat sich so schnell entwickelt, dass wir alle Schwierigkeiten haben, mitzuhalten. Als James Watson, Francis Crick, Rosalind Franklin und Maurice Wilkins 1953 die Doppelhelix-Struktur der DNA entdeckten, wurde klar, dass das Handbuch des Lebens die Form einer verdrehten Strickleiter hat. Dank der DNA-Sequenzierung, die nur ein Vierteljahrhundert später erstmals gelang, wurde es möglich, das Handbuch zu lesen und zu verstehen. Die Entwicklung von Verfahren zur präzisen Genom-Editierung versetzte Wissenschaftler wenige Jahrzehnte später in die Lage, den Code des Lebens zu schreiben und umzuschreiben. Etwas, was man lesen, schreiben und hacken kann: Der wissenschaftliche Fortschritt der vergangenen 50 Jahre hat aus der Biologie eine Form von Informationstechnologie gemacht und Menschen von nicht entzifferbaren Wesen in Wetware* verwandelt, die ihrer eigenen, aus genetischem Code bestehenden Software folgt.

* Wetware ist ein Begriff, der aus der computerbezogenen Idee von Hard- oder Software stammt, aber auf biologische Lebensformen angewendet wird. Ursprünglich bezeichnet Wetware die »Software eines Lebewesens«, also Gehirn und Zellverbindungen.

Gentechnik als IT zu begreifen, hat uns immer mehr dazu gebracht, die genetischen Abweichungen und Mutationen, die Ursache schrecklicher Krankheiten und großen Leidens sind, sowohl als den unausweichlichen Preis evolutionärer Diversität anzusehen als auch als die lästigen, aber unvermeidbaren Bugs eines Computerprogramms. Sollten wir daher nicht, um im Bild zu bleiben, nach allen verfügbaren Software-Updates verlangen, um zu erreichen, dass unser System bestmöglich funktioniert?

Meine Antwort auf die Frage nahm allmählich Form an, und ich blickte wieder nach vorn. »Wenn es gefahrlos wäre und ich meinem Kind schweres Leiden ersparen könnte«, sagte ich und schritt dabei über das Podium, »dann würde ich es tun. Wenn ich überzeugt wäre, dass ich meinem Kind dazu verhelfen könnte, ein längeres, gesünderes, glücklicheres Leben zu führen, dann würde ich es tun. Und wenn ich mein Kind mit besonderen Fähigkeiten ausstatten müsste, damit es in einer von Konkurrenzkämpfen bestimmten Welt bestehen kann, in der fast alle Menschen erweiterte Fähigkeiten besitzen, dann würde ich zumindest ernsthaft in Betracht ziehen, es zu tun. Und was ist mit Ihnen?«

Die Frau wurde unruhig. »Schwierige Frage«, sagte sie. »Ich kann Ihre Haltung nachvollziehen. Aber mir kommt das Ganze irgendwie unnatürlich vor.«

»Lassen Sie mich kurz nachhaken«, antwortete ich. »Was verstehen Sie unter natürlich

»Wahrscheinlich den Zustand der Dinge, ehe die Menschen ihn verändert haben.«

»Ist Landwirtschaft demnach natürlich?«, fragte ich. »Wir betreiben sie erst seit etwa 12 000 Jahren.«

»Ja und nein«, sagte sie vorsichtig, da ihr offenbar bewusst wurde, dass die Natur nur ein schwaches Argument abgab.

»Ist biologisch angebauter Mais natürlich? Wenn wir 9000 Jahre zurückgehen, werden wir nichts finden, was unserem heutigen Mais ähnelt. Es gab ein wild wachsendes Gras namens Teosinte, an dem ein paar mickrige Körner hingen. Erst durch menschliche Manipulation entstand im Laufe von Jahrtausenden der wunderschöne gelbe Kolben, der unsere Picknicktische ziert. Sehr viele der anderen Obst- und Gemüsesorten, auch jene, die wir im Bioladen kaufen, sind in vielerlei Hinsicht menschliche Schöpfungen, sie sind das Produkte jahrtausendelanger bewusster, selektiver Züchtung. Sind die natürlich?«

»Das ist eine Grauzone«, gab sie zu, klammerte sich aber offenbar weiterhin an ihre ursprüngliche Vorstellung von Natur.

»Wäre es natürlicher, wenn wir wie die Jäger und Sammler vor langer Zeit leben würden?«

»Wahrscheinlich.«

Ich wollte sie nicht weiter bedrängen, aber ein Punkt war mir noch wichtig.

»Würden Sie in so einer Gesellschaft leben wollen?«

Ein keckes Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Gibt es dort Zimmerservice?«

»Sie sind also im Hotel Vierjahreszeiten und bekommen eine grässliche bakterielle Infektion. Würden Sie, wie unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren, mit Beschwörungsformeln und Beeren behandelt werden wollen, oder würden Sie Antibiotika bekommen wollen, die Ihr Leben retten könnten?«

»Ich entscheide mich für die Antibiotika«, sagte sie.

»Sind die natürlich?«

»Ich verstehe, was Sie meinen.«

Ich blickte mich im Saal um. »Wir haben alle tief sitzende Vorstellungen davon, was natürlich ist, aber vieles davon ist gar nicht natürlich. Es mag uns als solches überliefert sein, aber wir Menschen haben unsere Welt seit Jahrtausenden hartnäckig verändert. Wenn es nun schon immer unsere Angewohnheit ist, die biologischen und anderen Systeme um uns herum zu verändern, sollten wir dann den biologischen Zustand, den wir von unseren Eltern geerbt haben, als unser Schicksal begreifen? Haben wir das Recht oder sogar die Pflicht, die Software-Bugs in der Hardware unserer Körper und der Körper unserer Kinder zu eliminieren?«

Das Publikum zappelte nervös.

»Angenommen, Ihr künftiges Kind hat eine tödliche Krankheit. Heben Sie die Hand, wenn Sie bereit wären, Ihr Kind einer Operation zu unterziehen, um es zu retten.«

Alle Hände gingen nach oben.

»Und wenn Sie dafür sorgen könnten, dass Ihr Kind die Krankheit gar nicht erst bekommt, würden Sie das tun?«

Die Hände blieben oben.

»Lassen Sie die Hände oben, wenn Sie IVF und Embryo-Screening anwenden würden, um auszuschließen, dass Ihr künftiges Kind gefährdet ist.«

Die Hände blieben oben.

»Was wäre, wenn Sie das durch einen gefahrlosen kleinen Eingriff an den Genen Ihres Kindes erreichen könnten, der vor der Implantation des Embryos vorgenommen wird?«

Ein paar Hände sanken hinab.

Ich wandte mich an einen jungen Mann, der die Hand hatte sinken lassen, einen Mittzwanziger, der aussah, als entstamme er einer wohlhabenden Ostküstenfamilie. »Können Sie mir sagen, warum Sie das nicht tun würden?«

»Ich finde, wir haben kein Recht, auf diese Weise an unseren Kindern herumzudoktern«, sagte er. »Wir begeben uns damit auf gefährliches Terrain. Wenn wir erst einmal mit so etwas anfangen, an welchem Punkt hören wir dann auf? Wir könnten am Ende lauter Frankenstein’sche Ungeheuer erschaffen. Das bereitet mir Unbehagen.«

»Ich kann Sie sehr gut verstehen«, sagte ich. »Es sollte Ihnen Unbehagen bereiten. Es sollte uns allen Unbehagen bereiten. Wenn Sie nicht eine Mischung aus Faszination und Furcht empfinden, begreifen Sie nicht wirklich, worum es geht. Die Gentechnik wird uns ermöglichen, wunderbare Dinge zu tun, durch die Krankheiten vermieden und bisher noch unvorstellbare Potenziale erschlossen werden. Die neuen Versionen des Menschen, der Homo sapiens 2.0 und Folgende, werden diese Fähigkeiten nutzen, um neue Technologien zu entwickeln, neue Welten zu erkunden, grandiose Kunstwerke zu erschaffen und ein sich ständig erweiterndes Spektrum an Gefühlen zu erleben. Aber wenn wir nicht aufpassen, könnten dieselben Technologien Gesellschaften spalten, zur autoritären Herrschaft der verbesserten Menschen über die nicht verbesserten führen, sie könnten die Diversität verringern, uns dazu verleiten, menschliches Leben zu entwerten und zu verdinglichen, und sogar zu schweren nationalen und internationalen Konflikten führen.«

»Und wer bestimmt, wohin das alles führt?«, fragte eine andere Frau.

»Das wird die unausweichliche und wichtigste Frage sein, die wir uns einzeln und kollektiv in den kommenden Jahren stellen müssen«, sagte ich mit Nachdruck. »Von der Antwort hängt ab, wer und was wir sind, wo wir leben können und was uns als Menschheit und als Spezies möglich sein wird.«

Die Zuhörer setzten sich aufrechter hin. Ich spürte, wie der Pegel der Beklommenheit im Saal stieg.

»Wir sind diejenigen, die herausfinden müssen, wohin all das führen soll. Darum spreche ich heute hier vor Ihnen. Unsere Spezies als Ganzes wird in den nächsten Jahren folgenschwere Entscheidungen über unsere genetische Zukunft treffen. Einige dieser Entscheidungen, wie beispielsweise die Verabschiedung von Gesetzen, werden auf staatlicher Ebene getroffen werden. Aber viele wichtige Fragen werden von jedem Einzelnen beantwortet werden müssen, denn wir alle müssen klären, wie wir Kinder bekommen wollen. Der einzelne Mensch und das einzelne Paar werden nicht das Gefühl haben, über die Zukunft unserer Spezies zu entscheiden, aber alle zusammen werden wir genau das tun.«

Die vertraute Mischung aus Entsetzen, Staunen und Verwirrung, die ich von so vielen meiner Vorträge her kannte, breitete sich im Saal aus.

Dann schossen wie üblich die Hände in die Höhe. Genau wie die Siebtklässler, zu denen ich in New Jersey gesprochen hatte, die Schlaumeier auf Ideen-Festivals wie Tech Open Air oder South by Southwest, die Experten bei Exponential Medicine oder der New York Academy of Science, die Jurastudenten in Stanford oder Harvard und die Wissenschaftler, Gelehrten und Topmanager auf Konferenzen überall in der Welt, begann das Publikum die ungeheure Verantwortung zu begreifen und zu verinnerlichen, die dieser historische Moment jedem von uns aufbürdet.

Es ist eine Verantwortung, die uns an einer wichtigen Weggabelung in unserer Geschichte als Spezies zuteilwird, zu einem Zeitpunkt, da sich Biologie und Technologie in einem nie gekannten Maße überschneiden, wodurch einige unserer heiligsten Bräuche und Traditionen ins Wanken gebracht werden. So wie allen anderen dämmerte auch den Millennials in Washington, dass es bei der Zukunft humangenetischer Verbesserungen nicht nur um ein paar Änderungen an unseren Genen und denen unserer Kinder ging, sondern um die Schaffung einer vollkommen neuen Zukunft für uns als Menschheit.

Doch um zu verstehen, wohin wir aufbrechen, müssen wir erst einmal einen Schritt zurück gehen und erfahren, woher wir kommen.

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Während der ersten 2,5 Milliarden Jahre des Lebens auf der Erde haben sich unsere einzelligen Vorfahren klonal vermehrt.* Ein Bakterium teilte sich beispielsweise in zwei Bakterien mit denselben genetischen Merkmalen, und dann fing der Vorgang wieder von vorne an. Das war eine perfekte Methode, denn man brauchte keine Zeit und Energie für die Partnerwahl aufzuwenden. Man musste nur Nahrung suchen und sich teilen, damit das eigene Geschlecht weiter existierte. Der Nachteil war, dass die klonale Fortpflanzung für ein großes Maß an Gleichförmigkeit unter den einzelligen Organismen einer bestimmten Gemeinschaft sorgte und, verglichen mit der späteren Situation, die Möglichkeiten zur natürlichen Selektion begrenzte.

* Vor 3,5 Milliarden Jahren teilten sich die ersten einzelligen Mikroben in zwei Äste: Bakterien und Archaeen. Einige Biologen sind überzeugt, dass es noch einen dritten Ast gab, die Eukaryoten.

Diese Gleichförmigkeit war jedoch nicht zu 100 Prozent gegeben. Bakterien entwickelten eine Methode, sich mithilfe mikroskopisch kleiner Harpunen, genannt Pili, Gene aus anderen Bakterien regelrecht zu schnappen.1 Während die klonale Fortpflanzung den Bakterien zwar half, vorteilhafte Mutationen weiterzugeben, waren zugleich ganze Kolonien bedroht, wenn Gefahren wie eine Vireninfektion der Bakterien auftauchten, weil die geklonten Bakterien zu viele derselben Schwächen in ihren Verteidigungsmechanismen besaßen. Geschlechtliche Fortpflanzung änderte das im großen Stil.

Exakte Kopien sind in der Biologie selten absolut perfekt. Auch wenn es unmöglich ist, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, legen Fossilienfunde doch nahe, dass vor etwa 1,2 Milliarden Jahren einer dieser simplen Organismen eine sonderbare Mutation erfuhr. Statt sich nur selbst zu kopieren oder sich ein paar Gene aus anderen Mikroorganismen zu schnappen, paarte er sich irgendwie mit einer anderen Mikrobe, um Nachkommen mit einer Kombination der DNA beider Eltern zu erzeugen – und voilà, plötzlich war Sex im Spiel und veränderte die evolutionären Möglichkeiten dramatisch.

Es war mühsamer, einen Partner zu finden, als sich selbst zu klonen – denn beim Klonen gab es logischerweise keinen Wettbewerb mit anderen potenziellen Verehrern. Jene, die nach dem optimalen Partner Ausschau hielten, mussten immer wieder neue, verbesserte Fähigkeiten zum Anlocken der besten Individuen und zur Abwehr von Konkurrenten entwickeln. Aber sobald man sich einen Partner gesichert hatte, konnten beide bei der Fortpflanzung ihr Genmaterial umfänglicher und zufälliger mischen – ein Riesenvorteil.

Organismen, die sich geschlechtlich fortpflanzten, produzierten mehr genetische Versager als ihre die klonale Methode praktizierenden Vorfahren, aber sie hatten auch eine wesentlich größere Chance, genetische Sieger zu erzeugen. Während permanent viele verschiedene Arten von Organismen mittels geschlechtlicher Fortpflanzung erzeugt wurden, zeigte es sich, dass Spezies, die sich geschlechtlich fortpflanzten, in der Lage waren, sich rascher an veränderte Lebensbedingungen anzupassen, erfolgreicher Eindringlinge abzuwehren und Nahrung zu finden und auf diese Weise den Prozess evolutionärer Veränderung zu beschleunigen. Als eine dieser Spezies besteht unsere gesamte Evolutionsgeschichte aus einer Abfolge von oft zufälligen Genmutationen und Genvarianten, die eine Vielzahl neuer Merkmale hervorbrachten, von denen sich die besonders nützlichen über unsere gesamte Spezies ausbreiteten. Ausgestattet mit diesen Unterschieden, traten unsere Vorfahren miteinander und mit der Umwelt in einen Wettstreit, den Darwin natürliche Auslese nannte.

Später sah sich der Prozess der geschlechtlichen Vermehrung mit einem evolutionären Druck konfrontiert, auf den verschiedene Kreaturen unterschiedlich reagierten. Einige, wie der heutige Lachs, sonderten so viele Eier wie möglich ab und hofften, dass einige davon auf Sperma treffen würden. Tausende von Eiern in Löchern auf dem Grund eines Flusses zu deponieren, steigerte die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Teil von ihnen von männlichem Sperma befruchtet wurde, aber dieses Vorgehen schloss die Möglichkeit der Elternschaft aus. Man mag von seinen Eltern halten, was man will, aber die Elternschaft als solche bringt gewaltige evolutionäre Vorteile mit sich.

Statt eine riesige Zahl von Eiern abzusondern, blieben bei anderen Organismen – darunter auch unsere Vorfahren in nicht allzu weit zurückliegender Vergangenheit – die Eier im Körper der weiblichen Individuen, bis die Befruchtung dort Embryonen heranwachsen ließ. Würde man Sex mit Roulette gleichsetzen, bedeutete das, dass Lebewesen wie der Lachs auf jede Zahl einen Chip legen, aber Lebewesen wie wir unsere Chips nur auf wenige Zahlen platzieren. Indem sie weniger Nachkommen als andere Säuger produzierten und sie näher bei sich behielten, investierten unsere Vorfahren mehr in das Großziehen von Kindern, wodurch unsere Kinder Fertigkeiten entwickeln konnten, die jene weit übersteigen, zu denen ein Lachs, der nach dem Ausschlüpfen allein ist, je in der Lage wäre.

Geschlechtliche Fortpflanzung förderte die Diversität enorm und führte so zu einem beständigen evolutionären Wettrüsten. War der Lachs erfolgreich, pflanzte er sich in großer Zahl fort, aber er konnte per definitionem beim Großziehen seiner Kinder nicht eingreifen, da sie schon lange woanders waren. Wir hingegen beschützten unsere hilflosen Babys nach der Geburt, ermöglichten es, dass ihr Gehirn wuchs, und behandelten sie fürsorglich, um sie mit neuen Fertigkeiten auszustatten. Unsere Natur schuf die evolutionäre Möglichkeit für unsere Fürsorge. Dank unseres Erfolgs erschufen wir die Zivilisation.

Der fest verwurzelte Sexualtrieb stellte sicher, dass unsere Vorfahren sich geschlechtlich vermehrten, auch wenn sie, zumindest technisch gesehen, kaum verstanden, was da passierte. Die frühen Zivilisationen schrieben das Wunder der Fortpflanzung göttlichen Kräften zu, aber dank unserer eingefleischten Wissbegier versuchten wir hartnäckig, die Welt um uns herum zu ergründen. Über Jahrtausende hinweg wurden nur sehr langsam Fortschritte beim Ergründen unserer Biologie gemacht, doch als die naturwissenschaftliche Revolution mit ihren neuen Theorien und Methoden anbrach, vergrößerte sich unser Wissen rapide.

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Im Jahr 1677 sprang der Niederländer Antonie van Leeuwenhoek eines Tages frohgemut aus dem Bett. Der Erfinder eines Mikroskops, das wesentlich besser als alle bisherigen Geräte dieser Art war, hatte schon zuvor für sich allein tiefe Einblicke in die Körperflüssigkeiten Blut, Speichel und Tränen genommen. Dieses Mal hatte er allerdings die Hilfe seiner Frau in Anspruch genommen. Nach einem Geschlechtsverkehr legte er einen Teil seines Ejakulats unter sein Mikroskop und war erstaunt, etwas zu sehen, das er als »Samenwürmer« beschrieb, die herumzappelten »wie ein Aal im Wasser«.2 Aber welche Rolle, fragte er sich, spielten diese zappeligen Würmer?

  3Magnifico!