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Heinz G. Konsalik

Liebe in St. Petersburg

Roman

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1

In riesigen Kristallleuchtern flammte das Licht von Hunderten von Kerzen und spiegelte sich in den golden bemalten Wänden des weiten Saales wider. Die Portieren aus französischem Brokat waren zurückgezogen; der Glanz sollte auch nach draußen dringen, wo das Volk im Schnee wartete; sollte durch die hohen Glastüren über die Terrassen des Schlosses glänzen; sollte im Schnee glitzern und hinauf in den eisigen, sternübersäten Nachthimmel fliegen. Jeder sollte zusehen können, vor allem das Gesinde, die Knechte, Mägde und Diener, die Köche, Gärtner und Kammerfrauen, die Putzmädchen, die kleinen Näherinnen und Korsettmacherinnen, die Soldaten der zaristischen Garde, die in dicken Pelzen Wache standen und das Schloss abriegelten.

Sie alle würden am nächsten Morgen davon erzählen, und der Glanz dieser Nacht würde nicht allein in St. Petersburg bleiben, er würde durch das ganze Reich von Mund zu Mund fliegen: Es war ein Fest, wie es der Zar noch nie gefeiert hatte: Silvester 1913. Ein Zarenball als Demonstration: So reich, so stark, so sicher ist Russland! So sehr liebte Gott dieses Land, dass auch das neue Jahr 1914, das in wenigen Stunden begann, ein Jahr des Glücks für Russland werden würde.

Das im Kerzenlicht spiegelnde Parkettmosaik aus den edelsten Hölzern war leer. Die Gäste im Saal standen an den Wänden, wie Puppen an einem unsichtbaren Draht aufgereiht. Puppen in den kostbarsten Roben französischer Schneider, behängt mit Brillanten und Perlen, in den kunstvollen Frisuren Diademe oder Blüten aus Rubinen und Smaragden. Dazwischen die schwarzen Fräcke der Herren mit den gestärkten weißen Hemdbrüsten, behangen mit Orden und bunten Schärpen. Ein Farbenrausch von Uniformen, goldbetresst, funkelnd von den Epauletten bis zu den Lackstiefeln. Die Großfürsten, die Generäle, die Offiziere, die Diplomaten …

Hier fehlte niemand, der in Russland einen großen Namen hatte. Man sah die Trubetzkois und die Jussupoffs, die Razumowskis und die Fürsten Lobznow-Rostowski. Da standen an einer der riesigen Glastüren die Stroganows, und zehn Schritte weiter unterhielt sich der fast zwei Meter große Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, der mächtige Onkel des Zaren, mit dem Fürsten Miatlew und dem General Michejew. Auf einer Empore wartete das Orchester in tscherkessischen Uniformen, in einem Nebenraum übten die Tänzer und Tänzerinnen des Petersburger Opernballetts die letzten Schritte und machten sich warm für ihren großen Auftritt. Das riesige Büfett bog sich fast unter den Köstlichkeiten, die von den Köchen des Zaren gezaubert worden waren. Dahinter standen, steif wie aus Holz geschnitzt, die livrierten Lakaien.

Man wartete auf den Zaren. Das gedämpfte Stimmengewirr lag wie das Summen eines ungeheuer großen Bienenschwarms über all diesem Glanz. Der Metropolit von St. Petersburg, der gleichzeitig Doyen des Diplomatischen Corps war, starrte auf die soeben geöffneten Flügeltüren, in deren Mitte jetzt der Haushofmeister stand. Jeden Augenblick musste der Zar erscheinen; die beiden kleinen Negerjungen in ihren orientalischen Uniformen, das lebende Spielzeug der gesamten Zarenfamilie, standen bereits rechts und links der Tür. Auch die Wyrobowa, Erste Hofdame der Zarin und ihre vielleicht einzige Vertraute, umschmeichelt von jedem und gehasst von allen, weil sie den Wunderheiler und angeblichen Mönch Rasputin, den Weiberjäger und Gesundbeter, an den Hof geholt hatte, nachdem der Zarewitsch, der Erbe der Zarenkrone, der an der Bluterkrankheit litt, schon mehrmals auf dem Sterbelager gelegen hatte und nur Rasputins Worte und seine streichelnden Hände ihn wieder ins Leben zurückgeholt hatten – auch sie war schon im Saal. Von den Damen der Diplomaten wurde sie begrüßt, als sei sie die Zarin in Person.

In Russland einflussreiche Freunde zu haben, ist mehr wert als hundert Segen der Popen, sagte man auf dem Land. Wer die richtige Hand im richtigen Augenblick drückte, war ein glücklicher Mensch. Vor allem am Zarenhof: Hier wurde ein Riesenreich durch Launen, Wünsche und Träume von ein paar wenigen Auserwählten regiert.

»Jetzt kommt er endlich!«, sagte an der Terrassentür der schlanke weißhaarige Stroganow. Irgendjemand hatte dem Orchester einen Wink gegeben, die Musiker hoben die Instrumente, der Dirigent den Taktstock; Großfürst Nikolai Nikolajewitsch stellte sich vor den drei Stufen zum Podium auf, auf dem die goldenen, mit rotem Samt beschlagenen Sessel standen, in denen das Herrscherpaar Platz nehmen würde, um von da aus das Fest zu überschauen.

»Ihre Majestäten, der Zar und die Zarin!«, rief an der Flügeltür der Haushofmeister. Das Orchester intonierte die Zarenhymne, die Offiziere erstarrten, die Frackträger verneigten sich tief und die Damen versanken in einem Hofknicks.

Zar Nikolaus II. und die Zarin Alexandra Feodorowna, ehemals eine hessische Prinzessin, betraten den Festsaal. Im Gegensatz zu seinen Gästen war der Zar einfach gekleidet: eine schwarze Hose mit roten Streifen, eine enge blaue Jacke, auf die der rote Doppeladler, Russlands Wappen, gestickt war – das war alles. Eine fast zarte Gestalt war eingetreten, bleich, mit traurigen Augen, den Kinnbart gestutzt, um die Lippen ein müdes Lächeln …

Die Zarin neben ihm, in einem schweren Kleid aus bestickter Seide, das ein eigens aus Paris geholter Schneider angefertigt hatte, im hochgesteckten Haar das kaiserliche Diadem, schritt einher wie ein aufgezogener Automat, wie jene Wunderwerke mechanischer Puppen, die tanzen und singen konnten und doch nur aus Schrauben, Zahnrädern und Metallstangen bestanden. Die Zarin wirkte zerbrechlich, ihr nach allen Seiten verteiltes Lächeln war erstarrt. Unter dem Puder, der ihr Gesicht bedeckte, ahnte man die Blässe vieler durchwachter und durchweinter Nächte.

Langsam schritten der Zar und die Zarin durch das Spalier der Gäste zu ihrem Podium mit den goldenen Sesseln. Jetzt betraten die Zarentöchter den Saal, von allen anwesenden Damen bestaunt, beneidet, mit Blicken abgetastet. Vier Mädchen, deren Schönheit aus einem Märchenbuch zu stammen schien.

Allein der Zarewitsch fehlte. Die Ärzte – und es waren immer Ärzte um ihn – hatten abgeraten, ihn zum Silvesterball mitzunehmen. Ein Stoß beim Tanz, ein Stolpern, ein Ausrutschen auf dem glatten Parkett – alles konnte zu lebensgefährlichen inneren Blutungen führen. Und wer konnte diese Blutungen stillen? Keiner! Das hatte man oft genug in ohnmächtiger Wut erlebt. Nur Rasputin würde es gelingen, aber gerade jetzt hatten es die Großfürsten erreicht, dass er vom Zarenhof verbannt worden war und im fernen Sibirien, in seinem dreckigen Dorf Pokrowskoje hauste. Dort ließ er sich wie ein Heiliger feiern, tyrannisierte seine Familie, schwängerte sämtliche Weiber der Umgebung, schrieb der Zarin Briefe und befahl ihr darin, wie sie sich verhalten solle, schickte an den Zaren Telegramme und versuchte noch immer, in das Schicksal Russlands einzugreifen. Ein stinkender Muschik, ein nach Schweiß und Urin penetrant duftender Rohling mit einem zerzausten, wilden Bart und in einem Bauernkittel, an dem noch der getrocknete Unrat der letzten versoffenen Nacht klebte.

Den Zarewitsch also hatte man mit seinem ständigen Begleiter, einem riesigen Matrosen, in seinen Zimmern zurückgelassen – einen traurigen Jungen, der von fernher die Musik hören und um Mitternacht mit ein paar Freunden mit einem Schluck Sekt das neue Jahr beginnen würde. Und auch diesen Schluck überwachte man mit Sorgfalt, denn der Kelch konnte in der Hand des Thronfolgers zerbrechen, und ein kleiner Schnitt bedeutete unaufhaltsames Bluten …

Ganz hinten, in einer Ecke des Saales, wohin er der Rangordnung nach gehörte, stand Gregor von Puttlach. Er trug die Uniform der deutschen Garde-Ulanen und beobachtete stumm den Auftritt der Zarenfamilie. Seit er als Dritter Militärattaché an die Deutsche Botschaft gekommen war und in St. Petersburg den Ausbildungsstand der russischen Kavallerie studieren sollte, waren ihm Feste, Bälle, Empfänge und Soupers nicht mehr fremd. Ein junger deutscher Offizier, ein Oberleutnant der Ulanen – das war für die reichen Familien wie ein Geschenk des Himmels. Zwar war man in den hohen russischen Kreisen mehr französisch orientiert, hielt sich französische Hauslehrer, französische Tanzlehrer, französische Köche und Schneider, französische Friseure. Ein starker Hauch von Paris lag über St. Petersburg; wenn man die Elendsgestalten übersah, die gerade jetzt im Winter, mit strohumwickelten Beinen, aus der Umgebung auf den Markt kamen und eingelegte Gurken oder Sauerkohl verkauften. Ein deutscher Offizier in einem russischen Adelssalon oder einem reichen Handelshaus war doch eine deutliche Demonstration, dass Russland nicht mehr das Land der unbekannten Wolfsjäger war, sondern dass es sich nach Westen öffnete.

Bei den jungen Damen wurde Gregor von Puttlach herumgereicht wie Zuckergebäck. Es gab in St. Petersburg wohl kaum eine hübsche Tochter der besseren Familien, mit der Gregor nicht schon getanzt, geplaudert, am Klavier musiziert oder die er gar – unter Ausnutzung verträumter Situationen oder Stunden – geküsst hatte. Sein hinter vorgehaltener Hand weitergeflüsterter Ruf als Kavalier war ungeheuer, und wenn er in seiner schmucken Ulanenuniform irgendwo auftauchte, wo drei Mädchen zusammenstanden, konnte man darauf wetten, dass zweien von ihnen die Röte in die Wangen schoss.

Gregor von Puttlach nahm das mit der Gelassenheit eines Mannes hin, der weiß, wie er auf Frauen wirkt. Gefährlich wurde es nur, wenn auch die noch immer lebenshungrigen Mütter der schönen Töchter ihm Billetts zusteckten und um ein Rendezvous baten – und es waren Damen darunter, deren Männer hohe Offiziere oder von bekanntem Adel waren.

»Ich warne Sie, von Puttlach!«, hatte vor drei Monaten Oberst von Semrock zu ihm gesagt. Semrock war Chef der Militärabteilung der Deutschen Botschaft und somit Gregors Vorgesetzter. »Sie sind gestern mit der Fürstin Lobnosochow gesehen worden, und vorgestern mit deren entzückender Tochter! Ich weiß nicht, woher Sie die Potenz nehmen, aber das garantiere ich Ihnen: Wenn das so weitergeht, werde ich dafür sorgen, dass man Sie von Petersburg an die Botschaft nach Konstantinopel versetzt! Dort können Ihnen, wenn Sie die Harems stürmen, die Eunuchen wenigstens straflos den Kopf abschlagen.«

Und jetzt stand Gregor also in einer Ecke des Ballsaales, sah dem Auftritt der Zarenfamilie zu und stand in strammer Haltung wie alle Offiziere, bis Nikolaus II. und die blasse müde Zarin, die nur an ihren Sohn und an den fernen Rasputin dachte, sich gesetzt hatten. Das Orchester hatte die Hymne beendet, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, den man Russlands Gewissen nannte, was sehr treffend war, denn er hatte keines, begrüßte den Zaren im Namen aller Gäste, und das große Fest, das prunkvollste Ereignis des Jahres, konnte beginnen, der Silvesterball 1913.

Das Programm war vom Protokoll festgelegt worden. Zu Beginn führte das Ballett der Petersburger Oper einen Tanz aus Tschaikowskis »Dornröschen« vor; darauf sollte, falls sich die Zarin wohl genug fühlte, die eigentliche Eröffnung des Balls stattfinden: eine große Polonaise, von den Majestäten angeführt.

Die starre Ordnung der Wartenden löste sich auf, und alles drängte mehr in die Mitte des Saales. Ein Platz für das Ballett blieb frei. Auch Gregor von Puttlach wollte seinen Platz verlassen, als er plötzlich wie angewurzelt stehenblieb und sich an Hauptmann von Eimmen, den Zweiten Militärattaché, wandte.

»Wer ist das?«, fragte Gregor.

Hauptmann von Eimmen blieb stehen und sah sich um. »Wer?«

»Dieser Engel da drüben in dem Kleid aus Florentiner Spitze …«

Der Hauptmann blickte in die angegebene Richtung und verzog sein Gesicht, als habe er Essig getrunken. An einer der Marmorsäulen lehnte ein junges Mädchen, in deren lange blonde Haare ein geschickter Friseur winzige rote Rosen gesteckt und das Ganze mit einem Schleier aus Goldfäden überzogen hatte. Der tiefe Ausschnitt des Kleides war mit Hermelin verbrämt, ließ aber den Ansatz der schönen Brüste ahnen. Das Mädchen blickte ruhig über das Gedränge hinweg und beteiligte sich nicht an dem Kampf um einen guten Platz zum Betrachten des gleich beginnenden Balletts.

»Vergiss sie«, sagte von Eimmen und befreite sich aus Gregors Griff. »Dieses Mädchen ist unerreichbar für dich.«

»Ich habe sie noch nie gesehen …«

»Das glaube ich!« Der Hauptmann grinste schief. »Es gibt zwei Dinge in Sankt Petersburg, die nicht zu erstürmen sind: die Petersfestung und – na ja – da drüben wartet übrigens die kleine Mustowa auf dich …«

»Wer ist der Engel?«

»Junge, beschwöre keine Komplikationen herauf, die sogar politisch werden könnten! Es gibt hier doch Röcke genug, denen du nachjagen kannst, ohne gleich auf die weiße Weste des Deutschen Kaiserreiches einen Fleck zu zaubern …«

»Red’ keinen Unsinn, Rudolf! Ich will den Namen der Dame wissen, oder ich gehe einfach hin und stelle mich ihr vor. Zur Zarenfamilie gehört sie nicht, in keinem Salon habe ich sie je …«

»Sieh mal nach links.« Hauptmann von Eimmen lächelte fast mitleidig. »Wer steht da an der vierten Tür zum Garten?«

»Stroganow, der alte Gauner, Trubetzkoi und General Michejew. Was soll das?«

»Du kennst Michejew?«

»Natürlich. Du doch auch.«

»Bist du jemals von ihm eingeladen worden?«

»Er gibt keine privaten Feste, aber was soll das Gerede?« Gregor zog seinen Uniformrock straff. »Ich gehe jetzt hin zu dem Engel mit den Rosen im Haar und stelle mich als leidenschaftlicher Rosenzüchter vor!«

»Dann geh erst hinüber zu Michejew und fordere ihn zum Duell, du Narr!«

»Michejew?«, fragte Gregor von Puttlach leise.

»Das Mädchen ist Michejews Tochter. Grazina Wladimirowna …«

»Grazina! Nie hat ein Name besser zu einem Menschen gepasst wie der zu diesem Traum von einem Mädchen. Ich werde es ihr sagen.«

»Dann bist du die nächste Woche strafversetzt, Gregor!« Hauptmann von Eimmen stellte sich von Puttlach in den Weg, als dieser auf Grazina Wladimirowna zugehen wollte. »Du Idiot, du! Michejew gehören Güter und Dörfer, so groß wie eine deutsche Provinz. Er könnte mit seinen Bauern eine eigene Armee zusammenstellen. Wenn Reichtum juckte, dann wären fünf Männer damit beschäftigt, Michejew zu kratzen! Seine Frau ist eine Freundin der Wyrobowa, sagt dir das etwas, du Schwachkopf? Und seine Tochter schließt er ein wie einen Kronschatz. Nur an besonderen Tagen holt er sie hervor, und Silvester oder der Geburtstag des Zaren sind solche Tage. Hast du mal versucht, die Zarenkrone anzufassen?«

»Sie ist das Schönste, was ich je gesehen habe«, entgegnete Gregor, und seine Stimme hatte einen verträumten Klang bekommen. »Grazina Wladimirowna! Das ist doch Musik …«

»Nein, das ist für dich das Gefährlichste, was Russland zu bieten hat!« Hauptmann von Eimmen stieß Gregor diskret mit dem Ellbogen in die Seite. »Komm, löse dich aus deinem Himmel. Das Ballett beginnt!«

Die Türen zum Seitensaal sprangen auf, das Orchester setzte ein. Tschaikowskis Musik … Wolken aus Tüll schwebten auf das Parkett. Der Zar lehnte sich zurück, die Zarin starrte wie abwesend vor sich hin und dachte an ihren Sohn, der jetzt traurig mit ein paar Freunden spielte, umgeben von Aufpassern.

»Mich interessiert kein Ballett!«, sagte Gregor fast grob. »Dazu hast du mehr Beziehungen …«

Hauptmann von Eimmen zuckte mit den Schultern, ließ Gregor stehen und sagte im Weggehen: »Meine letzte Warnung, Junge! Dich rettet keiner mehr, wenn du in den Bannstrahl des alten Michejew gerätst. Ist das klar?«

»Ja! Verschwinde!«

Das Ballett der Petersburger Oper tanzte. Wie Schneeflocken im Wind wiegten sich die grazilen Leiber der Primaballerinen. Bis zum Umfallen hatte man diese Sprünge, diese Pas de deux geübt und hatte eine Perfektion des Tanzes erreicht, die einmalig war. Es war wie alles, was diesen Silvesterball auszeichnete: Russland suchte den Weg aus der Isolation.

Es will die Ostsee beherrschen, es drängt auf einen Zugang zum Mittelmeer … Das Völkergemisch der österreichisch-ungarischen Monarchie mit seinen vielen slawischen Gruppen ist für Russland ein unmöglicher Staatenbund … In Serbien arbeitet seit Jahren die Geheimorganisation »Schwarze Hand« mit dem Ziel, sich von Österreich zu lösen … Ungarn war seit Jahrzehnten ein Problem … Europa im Aufbruch zu einer neuen Zeit, und Russland hat den Ehrgeiz, diese neue Zeit kräftig mitzugestalten …

Russland? Nein, ein kleiner Kreis von Männern, an der Spitze Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Und außerhalb aller Pläne ein müder Zar, der Angst um seinen einzigen Sohn hat und sich von Rasputin Papa nennen lässt.

Silvester 1913.

Der Zar schlug die Beine übereinander. Das Ballett tanzte vollendet. Er war sicher, dass man dem Ballettmeister für diese Leistung einen Orden verleihen musste …

»Sie halten nicht viel vom Tanz, Comtesse?«

Grazina Wladimirowna blickte hoch. Sie lehnte noch immer an der Säule und war jetzt allein, weil alle anderen Gäste um das Ballett standen. Sie blickte in ein paar blaue, fröhliche Augen, dann glitt ihr Blick an dem schlanken Offizier in der Ulanenuniform hinunter. Mit einem Ruck des Kopfes wandte sie sich dann dem Ballett zu.

»Ich tanze sehr gern«, sagte sie.

Gregor von Puttlach atmete innerlich auf. Sie gibt Antwort, dachte er. Die erste Bresche habe ich bereits geschlagen. Und sie sagt sogar etwas sehr Persönliches …

»Darf ich Sie dann um die Zarenpolonaise bitten, Comtesse?« Gregor verbeugte sich knapp und nannte seinen Namen.

»Sie sind Deutscher?«, fragte Grazina, ohne ihn dabei anzusehen.

»Ja. Als Attaché an unsere Botschaft beordert.«

»Sie sprechen ein gutes Russisch.«

»Meine Familie kommt aus dem Baltikum, Comtesse.«

»Ach so …«

Die Unterhaltung versiegte. Gregor suchte verzweifelt nach einem neuen Anfang; es war für ihn eine ungewöhnliche Situation, denn immer, wenn er mit einer Dame sprach, war sie es bisher, die das Gespräch mit koketter Eleganz in ganz bestimmte Richtungen lenkte …

Das Ballett näherte sich seinem Ende. Danach würde der Zar den Ball eröffnen, und es war sicher, dass dann Grazina Wladimirowna wieder unter der Aufsicht ihres Vaters stehen würde. Dass sie jetzt hier allein an einer Säule lehnte, war ein Glücksumstand, der sich nicht wiederholen würde.

»Die Polonaise, Comtesse …«, sagte Gregor von Puttlach. Ihm fiel nichts Besseres ein.

Sie sah ihn plötzlich voll an, und er bemerkte jetzt, dass sie graugrüne Augen hatte, unergründlich wie das Meer.

»Warum?«, fragte sie.

Es war eine Frage, die Gregor völlig aus aller Sicherheit warf. Sein Charme, in den Salons von St. Petersburg fast sprichwörtlich geworden, brach plötzlich zusammen und machte einer geradezu jungenhaften Verlegenheit Platz. Seine Hände waren ihm im Wege, er hatte das Gefühl, falsch zu stehen und eine ziemlich dumme Figur zu machen … das vollkommene Gefühl von Minderwertigkeit deckte ihn zu.

»Sie … Sie tanzen doch so gern, Comtesse …«, sagte er stammelnd und wusste im gleichen Augenblick, wie dämlich diese Antwort war.

Da lächelte sie. Tatsächlich, sie lächelte, und in ihre Augen sprang ein glitzernder Funke. Der Kopf mit dem langen blonden Haar, den eingeflochtenen roten Rosen und darübergelegten Goldfäden wandte sich wieder dem Saal zu. Dort unterhielt sich Graf Michejew mit den Fürsten Jussupoff, von dem man wusste, dass er ein Feuerwerk abbrennen würde, wenn man ihm Rasputin gesotten oder gebraten auf einem Tablett servieren würde. Anna Petrowna Michejews unterhielt sich noch immer mit der Wyrobowa, was im Saal allgemein registriert wurde. Sieh an, die Michejews! Sie haben es erreicht, sie stehen im Dunstkreis des Zaren! Wird wohl bald eine Armee befehligen, der gute Wladimir Alexandrowitsch! Und seine schöne, behütete, sonst nie sichtbare Tochter … Welcher Fürstensohn kommt wohl in Frage, wenn die Michejews erst in Zarskoje Selo aus und ein gehen? Wo steckt sie überhaupt, diese Tochter? Ah, da drüben an der Säule! Wer ist denn bei ihr? Der Deutsche! Dieser Gregor von Puttlach! Sicherlich nur ein Zufall. Einen deutschen Oberleutnant würde ein Michejew aus dem Haus prügeln, wenn er seiner Tochter … Einfach undenkbar!

»Die Polonaise gehört Ihnen, Herr Oberleutnant«, sagte Grazina Wladimirowna in diesem Augenblick. »Wenn es Vater erlaubt …«

»Warum sollte er nicht? Bin ich ein Ungeheuer?«

Sie lachte. Es klang hell und unbefangener, als es Gregor erwartet hatte. »Darf ich Ihren Fächer haben, Comtesse?«, fragte er.

Sie reichte ihm den Fächer hin. Er klappte ihn auf und betrachtete die kunstvolle Intarsienmalerei auf den einzelnen Elfenbeinlamellen.

»Er ist eigentlich zu schade«, meinte Gregor.

»Was ist zu schade?« Sie hatte ihn genau beobachtet und wusste auch, was er meinte. Trotzdem fragte sie es, als habe sie seine Andeutung nicht verstanden.

»Den Fächer vollzuschreiben. Ich möchte jeden Tanz an diesem Abend für mich reservieren, Comtesse. Auf jedem freien Platz des Fächers sollte ›Gregor‹ stehen …«

Sie lachte. »Wäre das nicht ein bisschen langweilig?«

»Wir sollten es versuchen.« Er klappte den Fächer zusammen und gab ihn ihr zurück. Sie zögerte etwas, als sie ihn nahm. In ihren graugrünen Augen lag Erstaunen.

»Sie schreiben Ihren Namen nicht einmal hinein?«

»Nein!« Er lachte sie an, und plötzlich war etwas zwischen ihnen, was beiden unerklärbar war, was beide noch nie gespürt hatten und was beide mit einem Gefühl kostbarer Wärme durchflutete. »Ich hoffe, den Anfang des neuen Jahres an ihrer Seite zu erleben, Comtesse. Dazu brauche ich doch keinen Fächer vollzumalen, zumal ich eine schreckliche Schrift habe.«

Sie lachte wieder mit jenem Glockenton in der Stimme, der Gregors Herz wärmte und erfüllte. Das Ballett verließ den Saal, alles applaudierte, sogar die Zarin, das Orchester wechselte die Notenblätter, der Zar erhob sich langsam, so, als schmerze es ihn zutiefst, ein Fest zu eröffnen, das der Welt Glanz vorspielte, wo die Last der Sorgen erdrückend war.

Man formierte sich zur Polonaise und wartete auf das Zarenpaar. Gregor von Puttlach verbeugte sich wieder knapp vor Grazina Wladimirowna.

»Gehen wir?«, fragte er.

»Ich freue mich …«

Ihr Lächeln wühlte ihn auf. Er fühlte sich zerstört, aber auf eine selige Art, und wünschte sich, nie wieder der Mensch zu sein, der er noch vor einer halben Stunde gewesen war.

Sie gingen Seite an Seite hinüber und stellten sich an. Vier Paare vor ihnen stand Hauptmann von Eimmen und schaute sich gerade um. Seine Tanzpartnerin war die Tochter des italienischen Botschafters, eine zierliche, von Temperament sprühende Schönheit, die in allen Salons nur »Vulkanessa« hieß. Von Eimmens Blick sagte alles: Du sitzt auf einem Pulverfass, Gregor! Oder besser – du tanzt dich aus St. Petersburg hinaus. Wirf doch mal einen Blick nach rückwärts. Da steht der alte Michejew und ringt mit sich, ob er seine Tochter nicht von deiner Seite holen soll. Nur die Gegenwart des Zaren und die Aussicht, dass seine Frau Anna Petrowna mit dem Großfürsten tanzen wird, hindern ihn an einem Skandal. Der Alte kocht wie ein Dampfkessel! Du kannst morgen deine Koffer packen, Gregor. Vielleicht versetzen sie dich nach Kamerun? Gerade in den Kolonien brauchen sie gute Reiteroffiziere …

Die Zarin erhob sich. Der Zar nahm ihre Hand und führte sie an die Spitze der Polonaise. Wieder ging sie wie eine mechanische Puppe, und ihr Lächeln war wie ihr Diadem im Haar: eine Staatsangelegenheit. Ihr Herz war woanders. Bei ihrem Sohn, dem einsamen Zarewitsch, bei dem fernen Rasputin jenseits des Urals, bei den Sorgen um Russland, das eine Weltmacht werden wollte mit dem Einsatz von Blut und Tränen. Und der Mann, der das alles erträumte und durchsetzen würde, stand hinter ihr als nächster Tänzer: Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, lang, hager, mit eisgrauem Bart und kalten Augen.

Die Zarin hob die Schultern als fröre sie. Das Orchester begann mit der Polonaise. Der Silvesterball 1913 in St. Petersburg war eröffnet.

Und mit den ersten Marschtakten begann eine Liebe, die zu beschreiben fast unmöglich ist. Denn Liebe ist ein Wort, das man nicht erklären kann. Aber man kann es lesen, in den Augen des anderen Menschen, der das Gleiche empfindet. Man kann es spüren durch eine unsichtbare Strahlung, die aufeinandertrifft und sich verbindet. Liebe – das ist eines jener unerklärbaren Gefühle, die Gott dem Menschen mitgegeben hat.

Es geschah, wie Gregor es von Grazina Wladimirowna erbeten hatte: Sie tanzten die ganze Nacht hindurch miteinander. Sie standen, in Pelze gehüllt, die ihnen Lakaien um die Schultern gelegt hatten, um Mitternacht auf der verschneiten Terrasse, als in Petersburg alle Glocken läuteten und die Böllerschüsse krachten, als von Neuem die Zarenhymne ertönte und die Sektkelche hochgehoben wurden, als man den Zaren und Russland hochleben ließ und auf den Frieden anstieß, obgleich jedermann wusste, wie nahe ein Krieg war …

Der Klang unzähliger Glocken deckte den Nachthimmel zu, der Schnee glitzerte im Widerschein der tausend Kerzen, die Kälte umklammerte die Gesichter. Trotzdem standen sie draußen im Schnee, blickten in den Himmel und hatten sich untergefasst, als hätte ihr gemeinsames Leben schon eine Spanne Zeit hinter sich und sie würden sich nicht erst ein paar Stunden kennen …

»Neunzehnhundertvierzehn …«, sagte Gregor leise und sah Grazina an. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet, ein schmales Oval in dem langhaarigen Fuchspelz der Mantelkapuze. »Ich habe Angst vor diesem neuen Jahr …«

»Sie kennen Angst, Gregorij?«, fragte sie und lehnte sich an ihn.

»Die Welt ist wie ein Kessel voll gärenden Giftes …«

»Ich verstehe nichts von Politik. Gar nichts …« Sie lächelte. »Ist das ein Fehler für die Tochter eines Generals?«

»Russland hat ein Bündnis mit England und Frankreich.«

»Ist das so schlimm?«

»Deutschland hat ein Bündnis mit Österreich.«

»Jedem sein Bündnis, wie’s ihm passt!« Grazina schob den Pelz etwas aus dem Gesicht. »Oder sagte ich da etwas ganz Dummes?«

»Im Ernstfall ist Deutschland von Feinden eingekreist.«

»Russland ist doch kein Feind Deutschlands! Oberleutnant von Puttlach, was sagen Sie da? Bin ich Ihr Feind?«

»Grazina Wladimirowna, Sie sind ein lebendiges Wunder!« Gregor beugte sich über ihre Hand und küsste sie. Der Sektkelch, den sie mit der anderen Hand gehalten hatte, fiel aus ihren Fingern und zerschellte im verharschten Schnee.

»Das ist nicht wahr!«, sagte Grazina plötzlich laut.

Er starrte sie erschrocken an. »Was ist nicht wahr?«

»Dass es jemals Krieg geben könnte zwischen Russland und Deutschland! Dass Sie und ich … dass wir … Feinde werden! Gregorij, so verrückt kann die Welt doch nicht sein. Haben Sie davor Angst?«

»Ja.« Er blickte in den sternklaren Himmel, aus dem der eisige Frost fiel, eine fast greifbare verdichtete Kälte. Das Läuten der Glocken erfüllte immer noch die Nacht, unterbrochen vom Donner der Böllerschüsse.

Glocken und Kanonen – wird so das Jahr 1914 werden?

Gregor drehte sich zu Grazina um und umfasste ihre zarten Schultern. Er spürte, wie sie sich gegen die Berührung wehrte, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gesichter jetzt dicht voreinander waren und der Kälterauch ihrer Atemstöße sich vermischte.

»Ich muss Ihnen etwas sagen, Grazina Wladimirowna …«, sagte er, heiser vor Erregung.

»Bitte nicht, Gregorij«, antwortete sie leise.

»Ich muss es Ihnen sagen, gerade jetzt, bei diesen Glocken, bei diesem Donnern der Kanonen – und bei der Stille, die uns trotzdem umgibt. Spüren Sie es auch, Grazina Wladimirowna? Es ist ganz still um uns, wir sind allein, nur der Schnee leuchtet und die Sterne, und der Himmel zeigt uns seine Unendlichkeit.«

»Sagen Sie es bitte nicht!«, wiederholte sie und lehnte ihre kalte Stirn gegen seine Stirn. »Bitte, sagen Sie es nicht …« Sie legte die Hände gegen seine Brust wie um sich zu schützen, aber es konnte auch das Ertasten seines Herzens sein. Die Glocken dröhnten fort und fort, die Kanonen donnerten den Salut für das neue Jahr. »Es ist wirklich ganz still«, sagte sie. »Ganz still. Darum sollten wir auch jetzt nicht reden, Gregorij …«

So blieben sie stehen, bis hinter ihnen im großen Festsaal der erste Walzer begann – ein Tanz in das Jahr 1914. Die vier Zarentöchter mit ihren Tänzern, vier Großfürsten, eröffneten den Reigen.

Die Kälte kroch an Gregor empor, durch die dünnen Sohlen der Lackschuhe fraß sie sich langsam die Knochen hinauf. Aber er blieb bei Grazina stehen, hielt sie umschlungen, und sie hatte immer noch ihre Stirn gegen die seine gedrückt, schwieg und rührte sich nicht.

»Sie werden sich erkälten«, sagte er endlich.

»Nein«, sagte sie leise. »Ist es denn kalt?«

»Ich liebe Sie, Grazina Wladimirowna …«

»Sie sollten es doch nicht sagen, Gregorij! Warum haben Sie es getan?«

Sie bog den Kopf zurück, die Fuchskapuze rutschte weg, ihr herrlicher Kopf lag frei in der Kälte, das blonde Haar mit den eingeflochtenen roten Rosen und dem Schleier aus Goldfäden …

»Ich habe Angst, dass wir wenig Zeit haben.« Er zog die Kapuze wieder über ihren Kopf und blickte hinüber zu den offenen Saaltüren. Sie waren nicht mehr allein hier draußen auf der verschneiten Terrasse des Schlosses … Viele Pärchen hielten sich umschlungen und waren in diesen ersten Minuten des neuen Jahres mit sich allein gewesen. Und in einer der Türen stand ein Mann. Er sah mit gesenktem Kopf zu ihnen hinüber und wartete. Er trug die Uniform eines zaristischen Generals, und in seinem ergrauten Bart bildeten sich Kristalle aus seinem gefrorenen Atem. Anscheinend stand er schon eine geraume Zeit dort und wartete.

»Gehen wir hinein«, sagte Gregor heiser.

Sie nickte. »Wollen wir weitertanzen?«

»Ich glaube, dazu kommt es nicht mehr …«

Er nahm ihren Arm, und als sie sich umdrehte, erkannte auch sie den Mann in der Tür. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich, was Gregor fassungslos beobachtete. »Mein Vater!«, sagte Grazina. Sie war blass vor Schrecken, und ihre Stimme klang wie gefroren, wie der knirschende Schnee unter ihren Schritten.

Sie gingen zu der Tür, an der Michejew wartete. Arm in Arm, als sei dies selbstverständlich, blieben sie vor dem General stehen, aber Gregor kam nicht dazu, eine Erklärung abzugeben. Michejew hob die Hand und wischte diese für ihn unbegreifbare Ungeheuerlichkeit weg.

»Oberleutnant von Puttlach«, sagte er. Seine Stimme war ohne Erregung, aber auch ohne die geringste menschliche Wärme. »Ich erwarte Ihren Besuch morgen gegen elf Uhr in meinem Haus.«

»Ich wollte gerade darum bitten, Exzellenz.« Gregor schlug die Hacken zusammen. »Ich wollte mir erlauben …«

»Was Sie sich erlaubt haben, sehe ich!« Der General wandte sich ab. »Grazina, wir fahren nach Hause. Deine Mutter wartet schon im Schlitten!«

»Ich möchte noch tanzen, Vater!«, sagte sie da.

Michejews Kopf flog herum, als habe man ihn geohrfeigt. »Tanzen?«, wiederholte er gedehnt.

»Ja, Vater!« Sie streifte die Kapuze zurück und öffnete den Pelzmantel. Sofort rannte ein Lakai aus dem Hintergrund herbei und nahm ihr den Pelz ab. »Tanzen! Ich habe entdeckt, wie herrlich das Tanzen ist! Haben Sie das nie gewusst, Väterchen?«

General Michejew drehte sich brüsk um und stapfte in den Saal zurück. Grazina wartete, bis er im Gewühl der Gäste verschwunden war, dann ging sie zu dem großen Spiegel und ordnete ihr Haar.

Von irgendwoher tauchte Hauptmann von Eimmen neben Gregor auf. Dieser winkte ab, noch bevor der Freund herangekommen war. »Halt bloß den Mund!«, rief er. »Kümmere dich um deine Vulkandame!«

»Ich wollte dir auch nur den Rat geben, dich zu erschießen!«, sagte von Eimmen ehrlich, aber mit etwas brüchiger Stimme. »Alle Leute sprechen bereits über Grazina und dich. Ein regelrechter Skandal! Etwas Fürchterlicheres hättest du gar nicht anstellen können. Der Botschafter ist außer sich. Sogar der Zar soll es schon wissen. Mensch, Junge, bist du verrückt geworden?«

»Ich liebe sie, Rudolf …«

»Eine Michejew! Erschieße dich, rate ich dir nochmals, das ist der sicherste Weg!«

»Ich werde um elf Ehr bei Wladimir Alexandrowitsch sein!«, erwiderte Gregor ruhig. Grazina kam von Spiegel zurück. Ihr Lächeln drückte reinste Glückseligkeit aus. »Ich werde ihm sagen, dass ich seine Tochter liebe.«

»Er wird dich umbringen lassen, du Idiot! Was hast du dann davon?«

»Ich habe heute Nacht begriffen, was Liebe ist«, sagte Gregor leise. »Begriffen … Verstehst du das? Es ist das Größte, was ein Mensch überhaupt begreifen kann …«

Das Orchester intonierte wieder einen Walzer. Grazina breitete die Arme aus, und es war, als stürze Gregor in sie hinein. Und so tanzten sie durch den Saal. Hundert Augenpaare verfolgten sie, und hundert Münder flüsterten über das Paar …

Hauptmann von Eimmen wandte sich ab und senkte den Kopf. Für ihn war Gregor von Puttlach bereits ein Toter.

2

Das Stadthaus der Michejews lag an der Mojka, einem der vielen Seitenkanäle der Newa, in unmittelbarer Nachbarschaft des prachtvollen, von Rastrelli erbauten Stroganow-Palais’. Schon diese Lage beweist, dass »Stadthaus« eine sehr untertriebene Bezeichnung für den kleinen Palast war, den sich die Michejews leisten konnten, ohne sich vor den Stroganows, Jussupows oder Jelagins, die allerdings eine ganze Newainsel in Besitz hatten, schämen zu müssen.

Von Michejews Palast aus konnte man die herrliche Kasaner Kathedrale sehen, deren Glockenklang denn auch in der Familie Michejew eine gewisse Rolle spielte: Jedes Mal, wenn das Glockengedröhne über die Dächer flog, bekreuzigte sich die fromme Anna Petrowna Michejewa und sprach ein kurzes Gebet. Vom Gesinde wurde das Gleiche verlangt, und auch Grazina Wladimirowna wuchs so auf – zwischen Glockenklang und Kommandolauten. Denn nicht weit entfernt befanden sich auch die Admiralität und der Generalstab an der Großen Newa, und vom Dach des Hauses aus konnte man sogar die Peter-und-Pauls-Festung sehen, jenes »steinerne Denkmal russischer Unbeugsamkeit und Unbesiegbarkeit«, wie sie Michejew stolz nannte.

Um zehn Minuten vor elf Uhr ließ sich Gregor von Puttlach beim Haushofmeister des Michejew-Palastes melden. Man empfing ihn höflich, aber kühl, geleitete ihn in einen mit französischem Brokat ausgeschlagenen Vorraum und ließ ihn warten. Ein riesiger Spiegel in einem breiten, geschnitzten, mit echtem Gold belegten Rahmen hing an einer der kostbaren Wände und erweiterte den Raum optisch.

Gregor trat vor den Spiegel und betrachtete sich. Seine Ulanenuniform saß wie eine zweite Haut. Das Gesicht war von der Kälte gerötet, aber es zeigte weder Furcht vor der kommenden Auseinandersetzung mit Grazinas Vater noch einen Anflug jener Demut, zu der man ihm in der Deutschen Botschaft geraten hatte.

Das war übrigens das Einzige, was man Gregor von Puttlach mit auf den Weg gegeben hatte. Oberst von Semrock, der Gesandte Erster Klasse und Chef der Militärabteilung, hatte Gregor zu sich gerufen und ihn eine Weile nur stumm angestarrt.

»Sind Sie eigentlich verrückt geworden?«, hatte er dann endlich gefragt.

»Nein, Herr Oberst!«, hatte Gregor wahrheitsgemäß geantwortet.

»General Michejew hat mit seiner Gattin ostentativ den Silvesterball verlassen! Das war eine Demonstration. Und was tun Sie? Sie tanzen mit der Tochter fröhlich und ungeniert weiter, als sei es selbstverständlich, dass sich ein junges Mädchen dem Wunsch seines Vaters widersetzt! Widersetzt – in einer russischen Adelsfamilie! Herr von Puttlach, haben Sie denn gar keine Ahnung, was Sie da ausgelöst haben? Wie lange ging denn das noch weiter?«

»Bis beute Morgen gegen drei Uhr, Herr Oberst.« Gregor von Puttlach blickte an dem Oberst vorbei. An der Wand hing ein Bild, das die drei letzten deutschen Kaiser zeigte, umschlungen von den Fittichen des deutschen Adlers. Ein kitschiges Gemälde, dachte Gregor, aber es zeigt Nationalstolz. »Ich habe Comtesse Grazina Wladimirowna dann in einem Pferdeschlitten nach Hause gebracht!«

»Um drei Uhr morgens?«

»Um halb vier, Herr Oberst! Ungefähr eine halbe Stunde blieben wir vor dem Palais im Schlitten sitzen.« Er sah, wie der Oberst zusammenzuckte und fügte schnell hinzu: »Der Schlitten war dick mit Pelzen ausgelegt, Herr Oberst. Die Comtesse hat sich bestimmt nicht erkältet …«

»Bestimmt nicht!« Von Semrock brüllte plötzlich. »Spielen Sie hier nicht den Unschuldigen, Herr Oberleutnant! Bei mir nicht! Das können Sie vor dem General Michejew versuchen, aber der wird Sie aus seinem Palast ohrfeigen! Und damit dürfte Ihre Karriere als deutscher Offizier beendet sein. Endgültig! Knutscht draußen nachts im Schlitten herum, als sei die Comtesse ein Wäschermädchen aus der Altstadt! Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl für Anstand mehr? Mein Gott, das ist ja alles noch schlimmer, als ich dachte! Wie wir Michejew kennen, hat er im Palais mit der Uhr in der Hand gesessen und auf seine Tochter gewartet. Und sich aufgeladen mit der ganzen Wut und mit den Rachegedanken, zu denen nur ein Russe fähig ist! Himmel! Ich sollte Sie auf der Stelle degradieren – und ich täte es, wenn ich dazu berechtigt wäre!«

Der Oberst beruhigte sich etwas, holte ein paarmal tief Atem und sprach dann in normalem Ton weiter: »Wie denken Sie sich die Aussprache mit Graf Michejew?«

»Ich warte ab, Herr Oberst!«

»Er wartet ab! Wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir Ihnen aus der Patsche helfen können – schließlich sind Sie ein Mitglied der Deutschen Botschaft, und die ganze Affäre kann politisch hochbrisant werden, gerade jetzt, wo wir wissen, dass Russland heimlich aufrüstet – und Sie … Sie warten ab! Es ist unglaublich!«

Gregor schwieg. Wenn der Oberst alles wüsste, und nicht nur diese Teilwahrheiten, er würde sofort verfügen, dass er mit dem nächsten Zug St. Petersburg verließe, dachte Gregor von Puttlach. Flüchten Sie!, würde er brüllen, Sie Vollidiot! Nun kann Sie keiner mehr schützen!

Das war vor einer halben Stunde gewesen. Vorher hatte Gregor den Kopf in eine Schüssel mit eiskaltem Wasser gesteckt, um die Müdigkeit zu vertreiben. Sein Bursche, der Obergefreite Luschek, hatte einen starken Tee gekocht, mit viel Zucker, und das hatte ihn dann vollends munter gemacht. Hauptmann von Eimmen kam noch herüber, wunderte sich, dass sich Gregor noch nicht erschossen hatte und nahm Abschied von ihm, als läge er schon im Sarg.

»Du bist ein Pessimist«, hatte Gregor gesagt, als er sich die Ulanenjacke zuknöpfte. »Auch Michejew ist ein Mensch.«

»Warte es ab!« Hauptmann von Eimmen blieb in der Tür stehen. »Ein beleidigter russischer Vater ist nur mit einem reißenden Wolf zu vergleichen.«

An diese letzten Worte von Eimmens musste Gregor jetzt denken, als er vor dem riesigen Spiegel stand und sich betrachtete. Die Glocken der Kasaner Kathedrale schlugen elfmal. Irgendwo in dem weiten Palais bekreuzigte sich jetzt Anna Petrowna und sprach ein kurzes Gebet …

Die Tür schwang auf, gleichzeitig fuhr Gregor herum und nahm Haltung an. Mit dem letzten Glockenschlag betrat Graf Michejew, in der Uniform eines russischen Generals und mit allen Orden auf der Brust, das Zimmer. Er war allein und drückte eigenhändig die Tür hinter sich zu – eine Tätigkeit, die sonst einem Lakaien zustand.

»Oberleutnant Gregor von Puttlach meldet sich bei Eurer Exzellenz zur Aussprache«, sagte Gregor steif. »Ich bitte, Eurer Exzellenz eine Erklärung abgeben zu dürfen.«

»Nein!« Michejew winkte ab. »Was nützen uns Erklärungen?«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Exzellenz!«

»Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwarten kann, Herr Oberleutnant.« Der Graf ging an Gregor vorbei, öffnete eine andere Tür und zeigte in den Saal, der sich vor ihnen öffnete. Auch er war im französischen Stil eingerichtet, mit brokatbezogenen Möbeln und einem blitzenden Fußboden aus edelsten Hölzern, die Muster bildeten. Michejew pflegte diesen Saal »mein Versailler Zimmer« zu nennen und war sehr stolz darauf.

»Kommen Sie«, sagte Michejew und ging voraus. Gregor folgte ihm, schloss die Tür und blieb stehen. Wozu dieser Zimmerwechsel?, dachte er. Was zu sagen ist, kann man auch in der kleinsten Kammer sagen …

Michejew stellte sich an den hohen Marmorkamin der Längswand und betrachtete den deutschen Offizier, als müsse er ein Ross kaufen. Gregor hielt dem Blick stand, aber eine Art Unbehagen kroch in ihm hoch.

»Falls Sie den Mut haben sollten, nach meiner Tochter zu fragen: Grazina befindet sich bereits auf dem Weg zu unserem Landgut Trasnakoje.«

»Sie haben sie in die Verbannung geschickt, Exzellenz?« Plötzlich war Gregors klare Stimme heiser.

»Mein Landgut ist keine Verbannung, sondern ein Ort der Erholung. Ich bin der Ansicht, dass meine Tochter eine gewisse Zeit der Besinnung nötig hat. Es war nach halb vier heute Morgen, als sie endlich aus dem Schlitten stieg …«

»Exzellenz …«

»Ich habe es gesehen, ich stand am Fenster. Glauben Sie, ein Vater könnte schlafen, wenn er seine einzige Tochter nachts unterwegs weiß – auch wenn ihr Begleiter ein deutscher Offizier ist? Und dann – auch noch Sie! Halten Sie mich für so ahnungslos, dass ich Ihren Ruf in den Petersburger Salons nicht kenne? Der charmante Gregorij! Mehr braucht man nicht zu sagen, und jedermann weiß, wer gemeint ist! Und dieser Mensch schleicht sich an meine Tochter heran … an meine Tochter! Und bleibt mit ihr aus bis halb vier Uhr morgens! Ich wundere mich, dass mich nicht der Schlag getroffen hat.«

»Darum bitte ich Eure Exzellenz, eine Erklärung abgeben zu dürfen.«

»Ich habe gesehen, wie meine Tochter Sie geküsst hat. Sie stieg aus dem Schlitten, winkte Ihnen zu, rannte dann zurück und küsste Sie! Erst danach kam sie ins Haus …«

»Exzellenz …«

»Lassen Sie das Exzellenz weg und nennen Sie mich Wladimir Alexandrowitsch.«

»Das würde ich mir nie erlauben …«

»Ich erlaube es Ihnen, Gregorij … Wie hieß Ihr Vater?«

»Max …«

»Also, Gregorij Maximowitsch!« Michejew fuhr mit der gespreizten rechten Hand durch seinen eisgrauen Bart. »Ich weiß nicht, ob Sie so viel Intelligenz besitzen um bemerkt zu haben, dass ich sagte: Meine Tochter küsste Sie. Ich habe es ja selbst gesehen, nicht Sie haben meine Tochter, sondern Grazina hat …«

»Ich hatte Grazina Wladimirowna zuerst geküsst, Wladimir Alexandrowitsch«, sagte Gregor fest. Es war eine verrückte Situation. Man redete sich an wie Freunde und war dennoch bereit, sich zu zerfleischen. Und vor allem dies: Ein Vater suchte eine Entschuldigung für seine Tochter und nicht eine Erklärung ihres Liebhabers. »Nach dem Silvertoast, auf der Terrasse.«

»Auch das habe ich gesehen!« Michejew ging vor Gregor auf und ab. »Sie fordern meine Tochter zum Tanz auf und küssen Sie anschließend – das allein genügte, um Sie hier in meinem Haus auspeitschen zu lassen! Daran kann mich keiner hindern, Ihre Deutsche Botschaft schon gar nicht! Aber meine Tochter duldete Ihren Kuss, sie widersetzte sich mir – zum ersten Mal in ihrem Leben –, kommt frühmorgens um halb vier Uhr nach Hause und – küsst Sie! Ich bin nun einmal ein Fanatiker des Rechts! Ich kann diesen Skandal nicht allein auf Ihre Schultern abladen! Meine Tochter ist ebenso schuldig! Nur …« Michejew blieb abrupt vor Gregor stehen. »Diese Feststellungen sind keine Lösungen! Sie haben mein Haus, meine Ehre beleidigt.«

»Ich liebe Ihre Tochter, Wladimir Alexandrowitsch«, sagte Gregor laut.

»Nach ein paar Stunden?«

»Um zu wissen, was Liebe ist, genügt eine Sekunde! Ein Blick – ein Händedruck – ein einziges Wort …«

»Und meine Tochter ist solch ein – Sekundenmädchen! Ich könnte Sie dafür von meinen Hunden zerreißen lassen!«

»Und ich würde jeden vor meine Pistole fordern, der Grazina ein ›Sekundenmädchen‹ zu nennen wagt! Nur weil Sie ihr Vater sind, schlucke ich dieses Wort. Und weil wir uns wirklich lieben …« Gregor nahm wieder seine militärisch straffe Haltung an. »Wladimir Alexandrowitsch, ich bitte Sie in aller Form um die Hand Ihrer Tochter Grazina Wladimirowna.«

Michejew nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »So einfach denkt ihr euch das? Seht euch an, fallt euch um den Hals, und zerstört ebenfalls in Sekunden alle Traditionen der Michejews! Nun erwartet ihr, dass ich sage: Mein Sohn, knie nieder, empfange meinen Segen, komm an meine Brust – ich bin der glücklichste Vater der Welt! Bin ich ein vertrottelter Greis, Gregorij Maximowitsch?«

»Sie sollten mir Gelegenheit geben, meine Lauterkeit zu beweisen«, sagte Gregor und atmete plötzlich schwer. Er dachte an Grazina, die jetzt in einem geschlossenen, mit heißen Steinen geheizten Schlitten durch den eisigen Januartag unterwegs war nach Trasnakoje; mit dem eindeutigen Ziel des alten Michejew, durch örtlichen und zeitlichen Abstand die Affäre zu beenden.

»Wir sind allein!«, sagte Michejew jetzt ganz ruhig. »Bevor wir uns über die Zukunft Gedanken machen, sollte man meine Ehre als Vater wiederherstellen. Nicht als General der zaristischen Armee – es wäre absurd, wenn sich ein General mit einem Oberleutnant herumschlägt. Aber jetzt bin ich nur noch Vater, und ich verlange von Ihnen, Gregorij Maximowitsch, dass Sie sich stellen …«

»Mein Gott, sollen wir uns duellieren?« Gregor starrte Michejew ungläubig an.

»Haben Sie erwartet, ich putze Ihnen die Stiefel?«

»Weiß … weiß Grazina, was Sie mit mir vorhaben?«

»Ich pflege mit meiner Tochter nicht meine Pläne durchzusprechen, Herr Oberleutnant. Und im Übrigen verbitte ich mir, dass Sie den Namen meiner Tochter weiterhin in den Mund nehmen, bevor diese Sache zwischen uns ausgetragen ist.«

Michejew ging zu einem der weißgoldenen Rokokotischchen, zog eine Lade auf und nahm einen dunkelbraunen Holzkasten heraus. Gregor kannte diese typischen Kästen. Sie enthielten zwei Duellpistolen und das Werkzeug zu ihrer Reinigung. Michejew klappte den Deckel auf. Auf rotem Samt glitzerten die Waffen in der Morgensonne, die durch die hohen Fenster in den Saal schien.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Exzellenz …«, sagte Gregor heiser und rührte sich nicht vom Platz.

Michejew nickte. »Wladimir Alexandrowitsch heiße ich. Die Pistolen sind bereits geladen. Sie sehen, ich habe alles gründlich vorbereitet.«

»Ein Duell ohne Arzt – ohne Sekundanten? Ohne Zeugen?«

»Völlig unnötig bei uns! Oder denken Sie anders darüber, Gregorij Maximowitsch? Der Skandal hatte schon Zeugen genug! Das ist eine Sache nur zwischen uns. Erschieße ich Sie, werfe ich Sie in die Newa, und keiner wird lange fragen, wie Sie dorthin gekommen sind! Erschießen Sie mich, wird mich mein Leiblakai aufbahren, und mein Arzt wird verkünden, es sei ein Unglücksfall beim Pistolenreinigen gewesen. Wir sind übrigens fast allein im Palais. Die Dienerschaft hat von mir den ersten Tag im neuen Jahr frei bekommen.«

Er stellte den Pistolenkasten auf einen Tisch und nahm eine der Duellpistolen heraus. Gregor rührte sich nicht.

»Nun?« Der General blickte ihn gereizt an. »Haben Sie plötzlich Angst? Muss ich Sie erst ins Gesicht schlagen, damit Sie die Pistole nehmen?«

»Sie sind Grazinas Vater, und ich …«

»Sie sollen den Namen nicht mehr nennen!«, schrie Michejew. »Haben Sie plötzlich Angst, frage ich noch einmal! Natürlich weiß auch ich, dass Sie als der beste Pistolenschütze gelten, der in den Salons herumlungert! Aber vergessen Sie nicht: Ich habe den ersten Schuss!«

»Was wir hier tun, ist doch Irrsinn, Wladimir Alexandrowitsch«, sagte Gregor tonlos. Er begriff es einfach nicht. Wozu dieses Duell, wenn man sich andererseits wie gute Freunde anredete? Nur wegen der Vaterehre? Nur wegen eines toten Begriffes … sich totschießen lassen? Aus einem Nichts eine blutige Tragödie machen, denn was zwischen Grazina und ihm geschehen war, war doch nur der unschuldige Beginn einer Liebe gewesen und keinesfalls eine Entehrung des Hauses Michejew?

»Überlassen Sie die Beurteilung mir«, sagte der General kalt. »Nehmen Sie endlich Ihre Pistole!«

Gregor gehorchte. Wie aufgezogen ging er zu dem Tisch, nahm die Waffe aus dem rotsamtenen Kasten und umklammerte den mit Gold und Elfenbein eingelegten Griff. Michejew nickte.

»Der Saal ist groß genug. Sie haben fünf Schritte, ich habe fünf Schritte … zehn Schritte Distanz, da kann eigentlich gar nichts fehlgehen. Einverstanden?«

»Einverstanden!«

Gregor erkannte seine Stimme kaum wieder. Es war nicht Angst, die ihn innerlich lähmte, sondern Fassungslosigkeit darüber, dass ein Mann wie Michejew ihn zwingen konnte, etwas völlig Unsinniges zu tun.

»Na, dann los!«, sagte Michejew beinahe zufrieden, ja, fast fröhlich. »Gregorij Maximowitsch, ich muss Ihnen noch rasch sagen, dass ich Sie sympathisch finde. Verdammt, ich kann die Weiber verstehen, die Sie anhimmeln! Umso mehr bin ich beleidigt, dass auch meine Tochter auf Ihren verfluchten Charme hereingefallen ist! Verstehen wir uns?«

»Nein!«

»Egal! Nehmen wir unsere Plätze ein!«

Sie gingen langsam in die Mitte des Saales und stellten sich Rücken an Rücken auf. Dann hoben Sie die Pistolen mit angewinkeltem rechtem Armen hoch.

»Fertig?«, fragte der General.

»Ja.«

»Los!«