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Kurzbeschreibung:

Heather Grahams dramatischer Liebesroman aus Florida!
Tara Brent muss um ihr Leben bangen, als man sie eines Verbrechens beschuldigt, das sie nicht begangen hat. Auf der Flucht vor ihren Peinigern lernt sie in New Orleans den vereinsamten Jarrett McKenzie kennen, der in Florida riesige Ländereien besitzt. Jarrett glaubt in Tara endlich die Frau gefunden zu haben, die den leeren Platz in seinem Herzen einnehmen könnte. Ohne zu zögern, folgt ihm Tara in die Wildnis, in ein Land voller Gefahren und Kämpfe fernab der Zivilisation. Aber die Vergangenheit holt sie auch hier ein.

Heather Graham

Wechselspiel der Liebe


Roman

Ins Deutsche übertragen von Heather Graham

Edel Elements

EPILOG

Für Tara war der Herbst stets die schönste Jahreszeit gewesen. Im Norden bemalte er die Blätter mit leuchtenden Farben und kühlte die Luft. Hier im Süden hielt er fast unbemerkt Einzug. Die drückende Sommerhitze ließ ein wenig nach, aber es blieb warm genug, so daß man im Fluß baden konnte, und die Nächte sorgten für angenehme Erfrischung.

Am 5. Oktober, nach Mitternacht, wurde Ian McKenzie geboren. Während der schmerzhaften Wehen hatte Tara die Hand ihres Mannes umklammert und brach ihm beinahe die Finger dabei. Aber als alles überstanden war, fühlte sie sich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. ir schöner, kräftiger, kerngesunder Sohn hatte schwarzes Haar und blaue Augen.

Nach der Geburt lagen Tara und Jarrett stundenlang auf dem Bett, das Baby zwischen sich, und bewunderten es. An diesem Tag war das Paradies vollkommen.

Aber in der Außenwelt herrschte kein Frieden. James hatte seine Leute in den Süden geführt. Während des Sommers erlitten die amerikanischen Truppen schmerzliche Verluste, nicht zuletzt durch schwere Krankheiten, die sie sich im Sumpf zuzogen. Die McKenzies taten ihr Bestes, um das Leben Unschuldiger zu retten, Roter und Weißer. Man hatte ihnen erklärt, sie könnten nicht neutral bleiben, doch sie beschlossen, das Gegenteil zu beweisen. Trotz des Krieges und ihrer Schwangerschaft besuchte Tara ihre indianische Familie.

Manchmal verließ Jarrett seine Plantage, um der Army und den Seminolen Botschaften zu überbringen. Die Trennung fiel Tara jedesmal sehr schwer, aber sie verstand, daß er seine Pflicht erfüllen mußte und lernte, ihre Angst zu besiegen. So viele schwierige Situationen hatten sie gemeinsam gemeistert. Auch den Krieg würden sie überleben, und bei jedem Wiedersehen schien ihre Liebe zu wachsen.

Die Vergangenheit erschien ihr nur mehr wie ein böser Traum. Nun war sie zu Hause.

»Tara!«

Lächelnd legte sie ihren zweiten Ohrring an, als sie Jarretts Ruf hörte. Am Morgen war er so sonderbar gewesen, und sie hatte schon befürchtet, er wollte sie schonend auf eine Reise vorbereiten, die er unternehmen mußte. Aber dann hatte er spitzbübisch gegrinst.

»Tara!«

Sie eilte zum Balkongeländer und betrachtete verwirrt den Tisch, den Molly und Jeeves auf dem Rasen gedeckt hatten. Hell spiegelte sich die Sonne im Tafelsilber, der Wind bewegte die Zipfel des weißen Leinentuchs. Ein Schiff hatte am Dock angelegt.

»Was gibt’s, Jarrett?« fragte sie unbehaglich.

Er stand neben dem Tisch, in einem eleganten schwarzen Anzug mit bestickter Weste, und blickte lächelnd zu ihr hinauf. »Keine Mission im Dienste der Army, Liebling!«

»Aber – was dann?«

»Wie geht’s dem kleinen Ian?«

»Er schläft friedlich wie ein Engel. Sag mir endlich, was los ist!«

»Komm doch herunter und schau selbst nach!« befahl er gespielt boshaft.

Tara sah nach dem Baby, das in seiner Wiege lag. Dann eilte sie aus dem Haus. Auf der Veranda wurde sie von einem ungeduldigen Jarrett erwartet, der ihr den Arm bot und sie zum Dock hinabführte.

»Willst du mich wirklich nicht mit deiner plötzlichen Abreise überraschen?« fragte sie mißtrauisch.

»Diesmal nicht. Wir haben Gäste.«

Sie wollte noch etwas sagen, aber beim Anblick des Paares, das soeben das Schiff verließ, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Die hübsche, brünette junge Frau hielt einen kleinen Jungen im Arm, der Mann war groß und schlank, mit modischem Schnurrbart und dichten blonden Locken.

»William!« würgte Tara hervor und starrte Jarrett an.

»Da du so oft im Schlaf nach ihm gerufen hast, wollte ich ihn natürlich kennenlernen, und so lud ich ihn mitsamt seiner Familie ein.«

Ungestüm warf sie sich in Jarretts Arme, dann rannte sie zum Dock, um ihren Bruder, ihre Schwägerin und ihren kleinen Neffen zu begrüßen. Jarrett wurde mit William, Marina und dem jungen Master Wyeth Brent bekannt gemacht. Verschmitzt erklärte Tyler Argosy, er sei von seinem Freund beauftragt worden, die kleine Familie hierherzubringen und Tara nichts davon zu verraten.

Zum Lunch erschien auch Robert. Stundenlang saßen sie fröhlich beisammen und vergaßen den Krieg. Die Gespräche drehten sich um Theater, Literatur und Musik, Kinder und Familienangelegenheiten und die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Man erwartete, Martin van Buren würde Jackson ablösen und im Frühjahr den Amtseid ablegen.

Abends quartierte Tara ihre Familie im größten Gästezimmer ein. Müde, aber glücklich trat sie auf die Veranda hinaus, betrachtete den Vollmond, lauschte den rauschenden Wellen des Flusses, dem Schrei einer Eule. Jarrett folgte ihr, und seine dunklen Augen verrieten ebenso wenig wie an jenem Abend in der Taverne am Hafen von New Orleans. Wie lange war das schon her ... »Freust du dich?« fragte er leise.

»O ja, und ich danke dir von ganzem Herzen.«

»Endlich kenne ich den Mann deiner Träume. Und ich bin tief beeindruckt. Ian hat einen hochbegabten Onkel.«

»Sein Wahlonkel Tyler ist auch sehr eindrucksvoll.«

»O ja. Übrigens, das Schiff segelt erst morgen früh los.«

»Ja, und?«

Zärtlich nahm er sie auf die Arme. »Da meine Frau einmal gedroht hat, zu schreien und Verstärkung durch die Army zu holen, will ich sie vorsichtshalber nach oben bringen.«

Lachend legte sie einen Arm um seinen Hals. »Wie ich mich entsinne, war es dir ziemlich egal, ob ich geschrien hätte oder nicht.«

»Völlig egal.« Er trug sie ins Haus, die Treppe hinauf, ins dunkle Schlafzimmer. Als er sie aufs Bett gelegt hatte, fanden sich ihre Lippen und das vertraute Feuer der Leidenschaft wurde entfacht.

In solchen Augenblicken, wenn sie sich liebevoll umarmten, zählten weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Krieg noch Frieden – nur das Paradies, das inmitten der Wildnis entstanden war.

3

Die beiden Männer standen auf der Schwelle, von Mondschein umrahmt. Hastig sprang McKenzie aus dem Bett, zog die Decke über Tara, hob ein Badetuch vom Boden auf und schlang es um seine Hüften. »Was machen Sie hier?« fragte er die Eindringlinge in ungläubigem Ton.

Sofort erkannte sie die zwei Männer. Es waren nicht die Verfolger, sondern Eastwoods Diener – Rory, ein stämmiger Farmerssohn aus Minnesota, und der einäugige, etwas schlankere Geoffrey, der sein Messer blitzschnell zu zücken wußte. Offenbar hat der Wirt diese Burschen hierhergeschickt, um seine Kellnerin holen zu lassen, dachte Tara schweren Herzens.

»Was wollen Sie?« stieß McKenzie erbost hervor.

»Tut mir leid, Mr. McKenzie ...« Rory räusperte sich. »Aber Eastwood braucht das Mädchen. Irgend jemand sucht sie und will eine schöne Stange Geld zahlen, wenn sie ihm übergeben wird.«

»Mich hat sie dreihundert Dollar gekostet. In Goldmünzen.«

»Trotzdem muß sie zurückkommen ...«

»Heute nacht nicht. Und falls jemand versucht, sie aus diesem Bett zu zerren, töte ich ihn. Ist das klar?« Tiefes Schweigen folgte McKenzies Worten, und er fügte etwas leiser hinzu: »Morgen früh geht sie in die Taverne zurück. Und jetzt stören Sie mich nicht länger bei meinem Vergnügen! Verschwinden Sie! Ich gebe jedem von Ihnen ein Goldstück, und morgen kann Eastwood mit ihr machen, was er will.«

Flüsternd berieten sich die beiden Männer. Was sie sagten, konnte Tara nicht verstehen, beobachtete jedoch, wie sie über McKenzies Schultern spähten, um sich zu vergewissern, daß sie auch wirklich im Bett lag.

»Wie ist sie denn, Mister?« fragte Geoffrey unvermittelt. »Es hat mich schon immer in den Fingern gejuckt, sie mal anzufassen. Aber sie behauptet, sie will sich nicht mit Männern einlassen. O Gott, jeden Cent, den ich besitze, würde ich dafür opfern ...«

Dann verstummte er, weil McKenzie ihn zur Tür hinausschob. »Oh, sie kann einem Mann den Himmel auf Erden schenken. Und vergessen Sie nicht. Jeder von Ihnen bekommt ein Goldstück, wenn Sie mich heute nacht nicht mehr belästigen.«

»Natürlich, das haben wir begriffen, Mister«, beteuerte Rory. »Verzeihen Sie, tut uns wirklich leid ...«

»Gehen Sie endlich!« McKenzie schloß die Tür hinter den beiden und lehnte sich dagegen, und Tara spürte seinen prüfenden Blick, als könnte er sie trotz der nächtlichen Schatten deutlich sehen. Plötzlich lachte er boshaft. »Oh, Sie werden ja ganz rot!«

»Das können Sie doch gar nicht feststellen. Und es wäre nicht nötig gewesen, so etwas zu sagen.«

»Was denn?«

»Daß ich einem Mann den Himmel auf Erden schenke!«

»Hätte ich etwa lauthals verkünden sollen, Sie wären so reizvoll wie ein kaltes Stück Treibholz? Dann hätten sich Eastwoods Diener sicher gefragt, warum ich Sie für die restliche Nacht bei mir behalten möchte.«

»Am besten hätten Sie den Mund gehalten!«

»Oder wär’s Ihnen lieber gewesen, ich hätte die beiden bewußtlos geschlagen? Dann würde uns Eastwood andere Leute auf den Hals hetzen. Wenigstens haben wir nun ein bißchen Zeit gewonnen.« Er holte Taras Kleider aus der Ecke, legte sie aufs Fußende des Betts und hob seine eigenen Sachen vom Boden auf. »Ziehen Sie sich an!«

Wütend biß sie die Zähne zusammen. Wie ein General erteilte er seine Befehle. »Vorhin sagten Sie, ich soll mich ausziehen.«

»Wollen Sie hierbleiben? Wir haben’s zwar eilig, aber auf eine Stunde mehr oder weniger kommt’s vielleicht nicht an. Und ich würde sehr gern genießen, wofür ich dreihundert Dollar bezahlt habe ...«

»Seien Sie still!« wisperte sie. »Wie kann ich mich denn anziehen, wenn Sie mir dabei zuschauen ...« Verwirrt unterbrach sie sich, als es leise an der Tür klopfte.

»Bist du da drin, McKenzie?« fragte eine Flüsterstimme, und Tara hörte ihn aufatmen. Mit großen Schritten ging er zur Tür, immer noch das Badetuch um die Hüften.

»Was machen Sie denn?« fragte sie verzweifelt und zog sich die Decke bis ans Kinn.

Ohne sie zu beachten, ließ er den Besucher eintreten – den hübschen jungen Mann, der am Spieltisch gesessen hatte.

»McKenzie, sie suchen das Mädchen ...«

»Leider kommst du zu spät, Robert. Sie waren schon hier.«

»Und du hast sie ihnen überlassen?«

McKenzie zeigte zum Bett, und sie rutschte noch tiefer unter die Decke.

»Oh, Verzeihung«, entschuldigte sich Robert Treat verlegen. »Ich wußte nicht, daß ich störe ...«

»Unsinn, du störst nicht«, erwiderte McKenzie. »Ich mußte nur den Eindruck erwecken, wir wären beschäftigt.«

»Warum sind sie hinter ihr her?«

»Keine Ahnimg. Warum versuchst du nicht, sie zu fragen?«

Offensichtlich konnte Robert im Dunkel nicht so gut sehen wie sein Freund. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Bett herüber. »Warum sind diese Leute hinter Ihnen her?«

Sie gab keine Antwort.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, erklärte McKenzie. »Wir müssen verschwinden. Würdest du bitte hinausgehen? Die Lady möchte sich anziehen.«

»Oh – ja, natürlich. Ich warte draußen.«

»Beeilen Sie sich!« befahl McKenzie, als er die Tür hinter Robert schloß.

»Wenn Sie mich unentwegt anstarren, können Sie Ihren Freund genausogut wieder hereinbitten«, zischte Tara.

»Soll ich?«

Sie warf ein Kissen nach ihm, das er lachend auffing. Es war ein tiefes, sinnliches Lachen, und sie fühlte sich so nackt wie nie zuvor.

»Hier drin ist es stockdunkel«, erwiderte er, »und ich habe Sie ohnehin schon gesehen.« Inzwischen hatte er sich angezogen. Er ging zum Bett, riß die Decke beiseite, und Tara schrie leise auf. Doch er ignorierte ihren Protest, hob sie hoch und stellte sie auf den Boden.

»Wenn es in diesem Zimmer stockdunkel ist, können Sie mich nicht gesehen haben.« Aber vielleicht irrte sie sich. Immerhin bemerkte sie das herausfordernde Funkeln in seinen Augen, sein spöttisches Lächeln, während er ihr die Unterröcke über den Kopf streifte. Dann half er ihr ins Korsett, drehte sie herum und verknotete die Bänder am Rücken. Offensichtlich kannte er sich mit Frauenkleidern aus.

»Schnell!« drängte er und zog ihr das Kleid an. »Wir müssen gehen.«

»Wohin?« flüsterte sie beklommen. »In den Sumpf?«

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

»Nach Norden ...«

»Ich lebe im Süden.«

»Dort kann ich nicht bleiben, in diesem unzivilisierten Land ...«

»Fürchten Sie sich? Schade.«

»Nein, ich fürchte mich nicht. Alles ist besser, als allein in die Nacht hinauszulaufen.«

»Ah! Sie glauben, Eastwoods Diener würden sich Zeit lassen, ehe sie ihrem Herrn Bericht erstatten, und Ihre Freunde könnten Sie immer noch suchen?«

»Das sind nicht meine Freunde.«

»Wer auch immer – wir werden ihnen entwischen.«

Wieder klopfte es an der Tür, dann trat Robert ein. »Können wir aufbrechen?«

»Die Lady zögert noch, weil ihr der Gedanke mißfällt, nach Florida zu reisen«, erklärte McKenzie.

»Ich will nicht hilflos im Sumpf landen«, wisperte sie, »bei irgendeinem Wilden ...«

»Oh, sie sind schon jetzt mit einem Wilden zusammen«, entgegnete Robert lachend, dann fügte er rasch hinzu: »Das war nur ein Scherz.«

Warum nehme ich sie eigentlich mit, überlegte Jarrett. Genausogut könnte ich sie auf ein Flußboot verfrachten und nach Norden schicken. Und wie lange würde es dann dauern, bis die Verfolger sie aufspüren? Nun, das ginge mich nichts an ...

Doch, es ging ihn was an – seit er sie berührt und ihren schönen Körper gesehen hatte.

»Niemals würde er Sie im Stich lassen, Lady«, versicherte Robert. Nachdenklich musterte er seinen Freund, dann hielt er sekundenlang den Atem an. »Verdammt, das ist die Lösimg. Heirate sie! Du brauchst ohnehin eine Frau.«

»Was?« schrie McKenzie und drehte sich zu Tara um, die in eine Zimmerecke zurückwich.

»Moment mal ...«, begann sie.

»Ja, warum nicht?« murmelte McKenzie und lächelte, als ihm ein eigenartiger Schauer über den Rücken rann. Was würde er ihr antun? Und sich selbst? Aber welchen einen Unterschied machte das schon? Eine der Damen, die passende Ehefrauen abgäben, könnte er niemals heiraten – keine, die Lisa gekannt hatte. Aber er brauchte eine Gemahlin, die ihm den Haushalt führte, zu der er am Ende eines harten Arbeitstages heimkehren konnte.

Einmal hatte Robert ihm sogar vorgeschlagen, per Annonce eine Frau zu suchen. Nun, mit dieser zauberhaften Blondine machte er sicher einen besseren Fang. »Also gut, ich heirate Sie, Lady«, kündigte er an. »Dann sind Sie völlig sicher.«

Verwirrt schnappte sie nach Luft. »Aber ich kann doch nicht ...«

»Sind Sie schon verheiratet?«

»Nein.«

»Warum weigern Sie sich dann?«

Ihre Lippen zitterten. »Weil ich Sie nicht liebe! Ich kenne Sie nicht einmal. Und warum wollen Sie sich auf so etwas einlassen?«

Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. »Wie Sie inzwischen sicher bemerkt haben, bin ich ein leidenschaftlicher Spieler. Und da Sie bereit waren, in den Mississippi zu springen, müssen auch Sie das Risiko lieben.«

Tränen verschleierten ihr den Blick.

Von der Straße drang ein Ruf herauf. »Sie ist verschwunden!«

»Unsinn, sie kann nicht verschwunden sein«, entgegnete eine andere Stimme. »Wir werden sie schon noch finden.«

»Nun, wie entscheiden Sie sich, Lady?« fragte McKenzie leise.

Hatte sie denn eine Wahl? Ihr Mund wurde trocken. Gewiß, er war ein attraktiver Mann. Sogar der vage Gedanke an eine intime Beziehung erhitzte ihr Blut, rief ein süßes Schwächegefühl hervor.

Nur er war ihre Rettung. Aber wenn sie seine Hilfe annahm, würde sie ihren Teil der Abmachung einhalten müssen. Genausogut konnte sie geradewegs in die Hölle fliehen ... Aber sogar das war besser als die Rückkehr.

Auf der Straße entfernten sich rasche Schritte.

»Tun Sie’s doch!« bat Robert lächelnd. »Wenn er auch ein Temperament wie der Teufel hat – er ist reich wie Midas.«

»Nun?« fragte McKenzie ungeduldig. »Die Zeit läuft uns davon.«

Herausfordernd warf sie den Kopf in den Nacken. »Ich bin zu allem bereit, wenn Sie mich von hier wegbringen.«

»Natürlich bringe ich sie weg. Und danach müssen Sie sich nur mehr mit diesen wilden Alligatoren und Indianern – und mit mir herumschlagen.« Er wandte sich zu seinem Freund, dessen Idee diese eigenartige Situation heraufbeschworen hatte. »Gehen wir! Robert, du läufst voraus und bereitest unsere Abreise vor.«

»Zu Befehl!« Grinsend salutierte Robert und verließ das Zimmer. Offenbar betrachtete er alles, was in dieser Nacht geschah, als spannendes Abenteuer.

Wenig später ergriff McKenzie Taras Arm. »Schnell!« Er führte sie aus dem Zimmer, die Hintertreppe hinab und ums Haus herum zur Straße. Nur mühsam konnte sie sich seinen langen Schritten anpassen. Plötzlich zog er sie in eine Seitengasse.

Jemand eilte die Straße herab. Genau im richtigen Moment streckte McKenzie einen Arm aus, der Mann prallte dagegen, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Fluchend rappelte sich der vierschrötige, häßliche Kerl mit dem fast kahlen Schädel auf. Dann entdeckte er Tara, kicherte erfreut und wollte sich auf ihren Begleiter werfen.

Aber McKenzies Faust war schneller und traf das Kinn des Gegners, der lautlos zu Boden sank. Erstaunt starrte Tara ihn an. »Ist er tot?«

»Nein.« Nach einer kurzen Pause fragte McKenzie: »Soll er sterben?«

»O nein!«

»Gut. Wenigstens sind Sie nicht blutrünstig. Nicht einmal, wenn er den Tod verdient hätte. Hat er das?«

»Das weiß ich nicht.«

»Vermutlich handelt er nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag der Person, die hinter alldem steckt. Wissen Sie, wer das ist?«

»Ja.«

»Endlich haben Sie eine meiner Fragen beantwortet.«

»Können wir gehen?« flüsterte sie.

»Natürlich.«

»Und wohin?«

»Zu einem Priester.«

Tara stieg über den Bewußtlosen hinweg und schüttelte den Kopf. »Sie müssen mich nicht heiraten, denn ich werde Sie ohnehin begleiten. Und Sie schulden mir nichts – aber ich verdanke Ihnen meine Rettung ...«

»Für eine Hure sind dreihundert Dollar zuviel«, unterbrach er sie belustigt. »Außerdem brauche ich keine.« Sekundenlang spiegelten seine dunklen Augen das Sternenlicht wider. »In dieser Stadt bekommt man schon für ein paar Cents Huren. Andererseits – vielleicht sind dreihundert Dollar ein angemessener Preis für eine Ehefrau.«

»Eine Ehefrau sollte man nicht kaufen.«

»Nein, eigentlich nicht. Aber ich brauche eine. Und Sie müssen sich in Sicherheit bringen. Sobald Sie mit mir verheiratet sind, droht Ihnen keine Gefahr mehr.«

Als er wieder nach ihrem Handgelenk griff, fragte sie: »Sie wissen doch, daß dieser Mann nicht allein war?«

»O ja.«

»Dann ...«

»Ich passe auf.«

Rasch gingen sie weiter. Zu ihrer Linken hörte Tara den Mississippi rauschen. Irgendwo draußen auf dem Wasser ertönte eine Schiffsglocke. Immer noch waren sie von nächtlichen Schatten umgeben, die sich unheimlich bewegten.

Erschrocken schrie Tara auf, als einer dieser Schatten hinter einem Spalier hervorsprang. McKenzie schob sie hinter seinen Rücken und wandte sich dem Angreifer zu, der ihn mit heiserer Stimme aufforderte: »Lassen Sie das Mädchen los, oder Sie sind ein toter Mann!« Im Mondlicht blitzte ein Messer auf.

»Nein«, entgegnete McKenzie seelenruhig.

»Mit der ganzen Sache haben Sie nichts zu tun. Halten Sie sich da raus!«

»Diese Frau habe ich am Spieltisch gewonnen. Sie ist dreihundert Dollar wert. Auf einen solchen Preis werde ich nicht freiwillig verzichten.«

»Dann muß ich sie Ihnen mit Gewalt entreißen.«

McKenzie rührte sich nicht.

»Tun Sie doch was!« rief Tara, voller Angst, er könnte seinen Widersacher unterschätzen.

Doch sie hätte es besser wissen müssen. Als der Mann sich auf ihn stürzte, trat McKenzie beiseite, und seine Fäuste landeten auf dem Nacken des Mannes, der ebenso wie sein Gefährte bewußtlos zusammenbrach.

Seufzend wandte sich McKenzie zu Tara. »Werden uns noch weitere Überraschungen erwarten?«

»Keine Ahnung.« Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über ihre Lippen. Welch ein unbezwingbarer Mann ... Während des kurzen Kampfes war ihm nicht einmal die Luft knapp geworden. Sollte er jemals die Wahrheit über sie herausfinden ...

»Gehen wir! Bald sind wir im Land der Seminolen und Krokodile. Niemand wird es wagen, Ihnen dorthin zu folgen.«

»Schlimmer als meine Verwandten können wilde Bestien und Indianer auch nicht sein.«

Er lachte leise. »Vor den Alligatoren und den Seminolen müssen Sie sich nicht fürchten. Aber vor mir.«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie unsicher.

»Ich heirate Sie, weil ich eine Frau haben will.«

»Das sagten Sie bereits.«

»Von einer Hure würde ich nichts fordern«, fuhr er fort. »Aber eine Ehefrau, die ich zu irgendwas zwingen muß, kann ich nicht gebrauchen.«

Vergeblich bemühte sie sich, seinem Blick standzuhalten. »Ich kenne die Pflichten einer Ehefrau.« Als er ihr Kinn umfaßte und sie zwang, ihn anzuschauen, fauchte sie: »Soeben habe ich erklärt, daß ich weiß, was ich tun muß. Was erwarten Sie denn sonst noch?«

»Eine gute Frage. Vielleicht geht es nicht darum, was ich erwarte, sondern was mir gefallen würde.«

»Wie meinen Sie das?«

»Seit Sie die Taverne betreten haben, begehre ich Sie«, gestand er lächelnd und sah, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Jetzt liegen alle meine Karten auf dem Tisch.«

Wollte er ein Versprechen hören? Darauf konnte er bis in alle Ewigkeit warten. »Nun, Sie brauchen eine Ehefrau, und Sie bekommen eine. Sogar eine sehr tüchtige! Ich bin durchaus imstande, den Haushalt zu führen ...«

»Das ist mir egal«, unterbrach er sie belustigt. »Nur weil Sie unglaublich schön sind, habe ich Sie als Preis am Spieltisch akzeptiert. Und aus demselben Grund möchte ich Sie heiraten. Sind Sie immer noch bereit, meine Frau zu werden?«

»Ja.«

»Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, Ihr Wort zu brechen!« warnte er sie.

»Und wenn ich’s tue?«

»Dann muß ich Sie zwingen, sich an unser Abkommen zu halten. Noch ist es nicht zu spät. Ich gebe Ihnen eine letzte Chance, nein zu sagen.«

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Ich bin zu allem bereit.«

»Gut, dann heiraten wir. Bringen wir’s so schnell wie möglich hinter uns.«

»Wie denn? Wir können doch nicht mitten in der Nacht heiraten ...«

»Oh, meine süße Unschuld! In New Orleans ist alles möglich, wenn man dafür bezahlt. Folgen Sie mir, meine Liebe.«

Sie eilten weiter, bis sie einer üppigen Blondine begegneten, die ziemlich vulgär aussah. Offensichtlich kannte sie McKenzie, denn sie lächelte erfreut und gab ihm bereitwillig die Auskunft, um die er sie bat.

Sie hatte ihm den Weg zum Haus eines Priesters beschrieben. Nachdem der Mann einen kurzen Blick auf McKenzies Goldstücke geworfen hatte, erklärte er sich bereit, die Trauimg sofort vorzunehmen. Er rief nach seiner Frau, die verwirrt blinzelte, aber nur zu gern als Trauzeugin fungierte, sobald sie vom unverhofften Nebenverdienst ihres Gemahls erfuhr. Sie strahlte über das ganze rosige Gesicht und versicherte, ein so hübsches Brautpaar würde man nur selten sehen. Dann nahm sie eine würdevolle Haltimg an, um ihres Amtes zu walten. Es war eine seltsame Zeremonie, die in dem kleinen, schäbigen Wohnzimmer stattfand.

Lächelnd wandte sich McKenzie zu seiner zukünftigen Frau: »Ich weiß nicht einmal, wie du heißt.«

»Tara Brent.«

Nachdenklich musterte er sie. »Der Nachname spielt keine Rolle mehr. Von jetzt an bist du Tara McKenzie.«

Wenig später erfuhr sie seinen Vornamen – Jarrett. Während sie vor dem Priester standen, zog der Bräutigam einen Ring von seinem Finger und steckte ihn an ihren. Erst jetzt kam ihr richtig zu Bewußtsein, was sie tat, und ihre Knie wurden weich.

»Mr. McKenzie, nun dürfen Sie die Braut küssen«, verkündete der Priester.

Ein mutwilliges Lächeln umspielte Jarretts Lippen, als er sie in die Arme nahm. Sein Kuß verschloß ihr den Mund, und ein sengendes Feuer schien ihre Adern zu durchströmen. Unwillkürlich öffnete sie die Lippen, spürte die aufreizenden Liebkosungen seiner Zunge. Die ganze Welt schien sich zu drehen. Kraftlos klammerte sie sich an seine Schultern.

Nach einer halben Ewigkeit hob er den Kopf, aber er hielt Tara immer noch fest, als ahnte er, daß sie nicht aus eigener Kraft stehen konnte. Hastig wurde Champagner eingeschenkt und ein Trinkspruch auf die Jungvermählten ausgebracht.

McKenzie unterhielt sich höflich mit dem Priester und dessen Frau, dann nahm er das Glas aus Taras kalten Fingern und stellte es aufs Sideboard. »Gehen wir, meine Liebe.«

Zögernd nickte sie, schloß sekundenlang die Augen, betete um innere Kraft. Sollte sie einen Fluchtversuch wagen? Nein, sie hatte ein Versprechen gegeben, und das würde sie halten.

Clive Carter, Sohn des illustren verstorbenen Julian Carter, saß in der Taverne, am selben Tisch, wo die Pokerspieler das Schicksal herausgefordert hatten. Untadelig gekleidet – in kastanienrotem Gehrock, kobaltblauer Hose, blütenweißem Hemd und bestickter Weste – wußte sich der hübsche, wohlhabende Mann überall Respekt zu verschaffen. Sein dunkelblondes Haar war im Nacken zu einem adretten Zopf zusammengebunden. Während er sich mit beiden Händen auf den Silbergriff eines eleganten Spazierstocks stützte, erforschten seine haselnußbraunen Augen aufmerksam die Umgebimg.

Diese Idioten! Nur um eine knappe Stunde hatte er Tara verpaßt. Noch waren seine Leute nicht zurückgekehrt, ebensowenig wie die Affen, die der unglaublich dumme Wirt losgeschickt hatte. Einfach ungeheuerlich! Wie viele Staaten hatte er schon durchquert, um Tara zu suchen?

Nun mußte er sie endlich finden, bevor William ihr zu Hilfe eilen konnte. Wenigstens hatte er an diesem Nachmittag erfahren, wo sie sich aufhielt. Doch die elende Frau war ihm erneut entwischt. Unerträglich! Warum mußte er sich ständig mit Schwachköpfen herumplagen? Von jetzt an würde ihn das Gesetz unterstützen. Das Gesetz und das Militär.

Wie der schwatzhafte Wirt behauptete, hatte ein gewisser McKenzie die schöne Kellnerin am Spieltisch gewonnen. Nun würde man fieberhaft nach den beiden suchen. Allerdings sei es nicht ratsam, sich mit dem einflußreichen McKenzie anzulegen.

Also hatte der Bastard das Mädchen erobert. Dieser Gedanke erfüllte Clive mit heißer Wut, die er jedoch nicht zeigte. Wie leidenschaftlich er Tara begehrte ... Und jetzt gehörte sie McKenzie!

Aber letzten Endes werde ich sie in meine Gewalt bringen, tröstete sich Clive. Ob tot oder lebendig – das kümmerte ihn mittlerweile nicht mehr. Immerhin hatte sie die Chance bekommen, sich für ihn zu entscheiden – nachdem es ihm gelungen war, seinem Vater alles zu nehmen, was er jemals besessen hatte.

Sein ganzes Eigentum hätte er mit Tara geteilt und ihr ein luxuriöses Leben geboten. Statt dessen würde sie nun bald hinter einem stählernen Gefängnistor schmachten.

»Sir, wer ist dieser McKenzie?« fragte er den Wirt mit leiser, kontrollierter Stimme. »Ich muß Tara unbedingt finden. Ihr Leben könnte auf dem Spiel stehen. Und bedenken Sie, Sir – ich habe Ihnen eine hohe Belohnung in Aussicht gestellt. Und das Gesetz steht auf meiner Seite. Sollten Sie sich weigern, mir zu helfen, müssen Sie mit unangenehmen Konsequenzen rechnen.«

Der vornehme Gast mißfiel Eastwood. Womöglich würde dieser Mann ihn in Schwierigkeiten bringen. Inständig wünschte der Wirt, Carter wäre ein paar Minuten früher erschienen – oder McKenzie und der Franzose hätten anderswo gepokert.

Welches Schicksal der schönen Tara drohte, interessierte Eastwood nicht. Dieser Mann wollte ihm fünfhundert Dollar für das Mädchen bezahlen, und nur das zählte. Morgen wird sie zurückkommen redete er sich ein. Sie hatte McKenzie gereizt, für eine Nacht. Mehr nicht. Nachdem dessen Frau gestorben war, eine Schönheit aus St. Augustine, führte er wieder das Abenteurerleben, das ihm vor der Hochzeit einen gewissen Ruhm eingetragen hatte. Nach dieser Nacht würde sein Interesse an Tara Brent sicher erlöschen.

Also mußte sich Eastwood keine Sorgen machen und nicht nervös werden, wenn er mit diesem Dandy sprach. »Mr. Carter, ich versichere Ihnen, meine Männer suchen das Mädchen ebenso eifrig wie Ihre Dienstboten. Sobald Miss Brent gefunden ist, wird sie Ihnen natürlich sofort überantwortet. Was McKenzie betrifft – nun ja, Sir, er ist ein Pflanzer aus Florida ...«

»Ich werde ihn in Stücke reißen!«

»Gehen Sie ihm lieber aus dem Weg, Sir! Er ist ein Rabauke, aber bei den Behörden hoch angesehen, ein reicher, mächtiger Mann.«

»Ganz egal, welchen Einfluß er ausübt ...«, begann dive, doch der Wirt fiel ihm hastig ins Wort.

»Sie wird hierher zurückkehren, Sir, das schwöre ich!«

Ein zynisches Lächeln umspielte Clives Lippen, und er musterte Eastwood mit schmalen Augen. »Um Ihretwillen will ich das hoffen, Mister! Und falls Sie ein frommer Mann sind, sollten Sie den Himmel anflehen.«

Ein Schauer überlief Eastwoods Rücken. Wenn er auch kein frommer Mann war – plötzlich begann er zu beten.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Schon immer wollte ich einige Romane über Florida schreiben. Für mich ist es mehr als nur ein Land – es ist meine Heimat. Hier habe ich im Lauf meines Lebens drastische Veränderungen beobachtet. Aber was immer sie auch bewirken – Florida war stets ein Land der Gegensätze, vom stillen Frieden der moosbehangenen Eichen bis zum gefährlichen, von Alligatoren bevölkerten Sumpfgebiet.

Manche Menschen lieben Florida, andere hassen es. Manche leiden unter der drückenden Hitze, andere träumen davon, wenn sie im winterlichen Norden frieren. In meinen Augen gleicht die Heimat einer nahen Verwandten, die ich mit all ihren guten und schlechten Seiten liebe. Und nun beginne ich voller Freude an einer Romanreihe zu arbeiten, die über Jahrzehnte hinweg die Veränderungen in Florida schildert – im Florida, das ich am besten kenne.

Die Vorbereitungen erschienen mir einfach. Zeit meines Lebens hatte ich sehr viel über die Geschichte des Staates erfahren. Doch darin liegt natürlich ein Problem. Die Hälfte von allem, was wir hören, ist Legende, ein Viertel Wahrheit, ein Viertel Lüge.

Erstaunlicherweise erschwert das ›Wissen‹ die Recherchen. Ich fand mühelos einschlägige Bücher, aber es war schwierig zu entscheiden, welche Version verschiedener Historiker, die über Ereignisse in einem anderem Jahrhundert berichteten, den Tatsachen entspricht. So wie jeder Zuschauer einen Film mit anderen Augen sieht, wird auch dieses oder jenes Geschehen auf unterschiedliche Weise erlebt. Es ist verständlich, daß die Seminolen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachteten als die weißen Soldaten, auch wenn sich beide zum selben Zeitpunkt am selben Ort befanden.

Besonders krasse Unterschiede weisen die historischen Interpretationen in den Berichten über einen Mann auf, der eine Hauptrolle in meinen ersten beiden Romanen spielt: der legendäre Osceola alias Billy Powers oder Asi Yaholo, ein Black-Drink-Sänger.

In einigen Büchern las ich, der weiße Powell habe Osceolas Mutter geheiratet, sei aber nicht sein Vater gewesen. Andere behaupten, Osceola stamme ohne jeden Zweifel von Powell ab. Eine Untersuchung des Skeletts deutet auf eine weiße Erbmasse hin, wenn die Historiker auch die Tatsache beklagen, daß man dem Kriegerhäuptling nach dessen Tod den Kopf abgehackt hatte. Stünden der Schädel und bestimmte Halswirbel zur Verfügung, könnte man genauere Forschungsergebnisse erzielen. Interessanterweise ergab die Untersuchung von Osceolas Gebeinen auch einen gewissen Prozentsatz an schwarzem Blut, was zu der Ära paßt, in die der Häuptling hineingeboren wurde. Was meine Romane betrifft, so stelle ich Osceola als leiblichen Sohn eines Weißen namens Powell dar, was sicher Proteste heraufbeschwören wird. Einige Historiker meinen, er habe die englische Sprache nicht beherrscht.

Aber angesichts der Situation, in der er zur Welt kam, und seiner vielen Beziehungen zu Weißen fällt es mir schwer, das zu glauben. Ich meine eher, daß der Häuptling englisch sprach – wenn er wollte. Von wem immer er abstammte, er übte beträchtliche Macht in einem schmerzlichen Krieg aus und wurde später zur Legende. Er war leidenschaftlich, mutig, allzu menschlich in seinem Versagen und letzten Endes ein bemerkenswerter Mann.

Zur Zeit des Konflikts lebten viele einheimische Völkergruppen in Florida. Einige waren während des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts nach Süden gezogen und vermischten sich mit den restlichen Mitgliedern der Stämme, die das Joch europäischer Krankheiten und früherer Kämpfe dezimiert hatte. Man kann nicht einmal zweifelsfrei behaupten, die meisten seien Creeks gewesen, da der Begriff ›Creek‹ auf den Umstand zurückzuführen ist, daß die betreffenden Menschen an einem Creek (Bach) lebten.

Osceola wurde als Creek geboren, aber zur Zeit des Konflikts wurden alle in Florida lebenden Indianer als Seminolen bezeichnet. Für das weiße Militär spielten Sprachgruppen oder die Herkunft keine Rolle.

Sogar der Begriff ›Seminole‹ ist strittig. Ich habe viele Definitionen gelesen und jene gewählt, die mir am präzisesten erschien – ›Flüchtling‹, nach dem spanischen cimarrón.

Ich hoffe, das Buch gefällt Ihnen, und Sie gewinnen einen Eindruck vom wilden, rauhen, exotischen Neuland im Süden, das damals die Aufmerksamkeit der Amerikaner erregte – ein fantastisches Paradies, eine brennende Hölle.

Willkommen in meiner Heimat. Hoffentlich bleiben Sie eine Weile bei mir.

Heather Graham, Florida, 5. Januar 1994

PROLOG

Ein schicksalhafter Beginn ...

20. November 1835

Der Tag war schön und frisch, einer jener Spätherbsttage, die das Land in ein Paradies verwandeln. Kiefernnadeln bildeten einen weichen grünen Teppich. Zwischen den Ästen schimmerte ein klarer Bach, und sogar aus der Ferne sah man, wie sich zahllose wilde Orchideen schwankend im Wasser spiegelten. Am Ufer wuchsen Zypressen, vermischt mit mächtigen Eichen, an deren Zweigen limettengrüne Moosstränge hingen. Eine herbstlich kühle Brise bewegte die Blätter. Im Sommer litt man unter drückender Hitze, aber selbst dann wirkten die glitzernden Wellen einladend und belebend, und im Schatten der Bäume fand man Schutz vor der gnadenlosen Sonne.

Jenseits des Waldes ging der Sumpf in fruchtbares Ackerland über, das sich über Hügel und Ebenen erstreckte. In den Flüssen des Sumpfgebiets tummelten sich Alligatoren und jagten exotische Vögel. Ein paar wilde Büffel streiften immer noch umher, inmitten zahlloser Hasen, Bären und Eichhörnchen. Im Gestrüpp gediehen Beeren, zwischen vereinzelten Kokospalmen. Es war ein exotisches Paradies, aber zahlreiche Schlangen konnten leichtsinnige Wanderer angreifen.

Der Weiße Tiger – diesen Namen hatte man ihm gegeben, als er ein Mann geworden war – zügelte sein Pferd und lauschte den leisen Geräuschen zwischen den Zypressen im Sumpfgebiet. Obwohl keine Tiger durch das Land streiften, wurden die kraftvollen Panther oft als Tiger bezeichnet. Aus Hochachtung hatte man ihn so genannt, was ihn mit Dankbarkeit erfüllte. Er war tief in die Indianerregion von Florida hineingeritten, die er gut kannte, und nun merkte er, daß er beobachtet wurde.

Er neigte nicht zu abergläubischen Fantasien. Aber heute spürte er den Einfluß einer schicksalhaften Macht, so als würde er einen Weg betreten, auf dem er nicht mehr umkehren konnte.

Reglos saß er im Sattel, hörte das Wasser plätschern, die Zypressenzweige im sanften Herbstwind rascheln. Ein Vogel zwitscherte, dann erklang ein anderer Ruf, und die welken Blätter am Boden wurden nicht mehr von der Brise bewegt.

Er hob die Hände, um zu zeigen, daß sein Messer in der Lederscheide am Schienbein steckte, sein Gewehr in der Lederschlinge am Sattel. Geschmeidig schwang er ein Bein hoch und sprang vom Pferd. »Ich bin allein gekommen!«

Sofort erschienen drei Männer in Lederhosen und bunten Baumwollhemden, einer war mit Messingepauletten geschmückt, am Hals eines anderen hingen schimmernde Silberketten. Wie die ernsten Gesichter zweier Männer verrieten, floß weißes Blut in ihren Adern. Der eine war mittelgroß, mit dunklen, klugen Augen, die den Weißen Tiger unverwandt musterten. Seine hohe Position hatte er nicht geerbt, denn in der Muskogee-Kultur mußte ein Kriegerhäuptling keiner Herrscherdynastie entstammen. Als er zum Mann gereift war, hatte er von seinem Volk den Kriegernamen Asi Yaholo erhalten. Das bedeutete ›Sänger des schwarzen Tranks‹. Um beide Namen zusammenzufügen, nannten die Weißen ihn Osceola.

Der zweite Mischling war hoch gewachsen und jünger, schlank und muskulös. Sein hübsches Gesicht vereinte die edelsten Züge beider Kulturen, mit ausgeprägten, bronzebraunen Wangenknochen, vollen Lippen und hoher Stirn, von glattem, ebenholzfarbenem Haar umrahmt. Die Augen strahlten in verwirrendem Blau. Den Namen ›Laufender Bär‹ hatte er sich als Krieger verdient, denn auf der Jagd konnte er die schnellsten behendesten Tiere übertrumpfen. Er begrüßte den Weißen Tiger als erster, umarmte ihn, trat schweigend zurück. Und er war es auch, der diese Begegnung herbeigeführt hatte. Selbst ein mächtiges Familienoberhaupt, das seinen eigenen Fähigkeiten vertrauen durfte, zollte er den beiden Kriegern, die ihn begleiteten, Respekt und Anerkennung.

Von rein indianischer Herkunft, hieß der dritte im Bunde Alligator, der Schwager des Häuptlings Micanopy vom alten Alachua-Stamm. Nun wollte er den Mann beeinflussen, den sie inmitten der Wildnis trafen, denn sein Erbe verband den Weißen Tiger nicht nur mit den Seminolen, die Muscogee sprachen, sondern auch mit der Hitichi-Sprache der Mikasukis.

In Alligators dunklen Augen las der Weiße Tiger, daß dieser Mann nicht auf eine friedliche Zukunft hoffte.

Osceola wies auf eine kleine Lichtung zwischen den Zypressen, und die vier Männer setzten sich. Ohne Umschweife begann der Weiße Tiger zu sprechen, da er Osceolas Ungeduld spürte. »Ich bin gekommen, um von der Sorge vieler guter weißer Männer zu berichten, die den Mico Osceola kennen.«

Wortlos nickte Osceola und wartete. Auch die anderen schwiegen.

»Soviel ich weiß, hält Asi Yaholo nicht alle Weißen für schlecht. Das ist ein kluger Mann, der das Gute aus beiden Welten verbindet und nutzt. Unter den Weißen hatte er zahlreiche Freunde.«

»Und Feinde«, warf Alligator erbost ein.

Leise seufzte der Weiße Tiger. »Osceola, einige gute Männer hörten, du hättest dein Messer durch den Friedensvertrag gestoßen, als Wiley Thompson dich aufforderte, westwärts zu ziehen. Sicher weißt du, welch großen Kummer Thompson so manchen Weißen bereitete, als er dich fangen und in Ketten legen ließ.«

»Nichts kann die Seminolen schmerzlicher kränken«, betonte der Laufende Bär.

»Alle Verträge waren Lug und Trug!« stieß Alligator zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und erinnerte den Weißen Tiger an das Reptil, dessen Namen er trug. »Moultrie Creek versprach uns Land für zwanzig Jahre – neun sind noch übrig. In dem Gebiet, wo wir zusammengepfercht wurden, sind wir fast verhungert. Und wenn wir’S notgedrungen verließen, um zu fischen, zu jagen und Nahrung zu suchen, schlug uns der Feind zurück.«

Außerdem hatten sie Vieh gestohlen und Haß heraufbeschworen, aber nur, um dem Hungertod zu entrinnen. Das wußte der Weiße Tiger. In diesem Jahr herrschte mildes Wetter, aber die bittere Kälte des letzten Winters hatte fast die ganze Ernte vernichtet. Viele Weiße glaubten, die verzweifelte Lage würde die Indianer nachgiebiger stimmen. Doch ihr Kampfgeist erlosch nicht.

»Ich habe euch etwas mitgebracht«, erklärte der Weiße Tiger und stand auf. »In einigem Abstand folgen mir meine Männer, um den Seminolen das Geschenk zu übergeben, wenn Osceola es annehmen möchte.«

»Stammt dieses Vieh aus unseren eigenen Herden?« fragte Osceola.

»Teilweise. Und aus den Herden einiger Weißer, die Osceola respektieren und sich bei ihm entschuldigen wollen. Diese Männer sind deine Freunde, und ich habe sie mit dir bekannt gemacht.«

»Aber das ist keine offizielle Entschuldigung von deiner Regierung«, bemerkte Osceola lächelnd.

»Nein«, gab der Weiße Tiger ehrlich zu.

Auch Osceola, Alligator und der Laufende Bär erhoben sich. Osceola reichte dem Weißen Tiger seine schmale Hand. »Natürlich hast du recht – ich verdamme nicht dein ganzes Volk. Und ich nehme dein Geschenk an, weil viele unserer Leute hungern. Leider muß ich dir mitteilen, daß ich Thompsons verräterische Maßnahmen nicht verzeihen kann. Ebensowenig bedauere ich, was ich tun mußte, um meinen Brüdern zu helfen, oder was ich in Zukunft beabsichtige.«

Diese letzten Worte bedrückten das Herz des Weißen Tigers.

»Du schweigst«, sagte Osceola leise.

»Weil ich immer noch auf Frieden hoffe. Der Krieg bringt nur Leid, Hunger und Not.«

»Aber der Friede hat uns genug Hunger gebracht!« entgegnete Alligator.

»Trotzdem ist der Krieg das größere Übel. Friede bedeutet Leben.«

»Was ist ein Leben ohne Ehre?« fragte Osceola. »Ich wollte dich nicht betrügen, und ich weiß, du sorgst dich um unser Volk. Eins mußt du bedenken – wir vergessen niemals unsere Freunde.«

»Unsere Brüder«, ergänzte der Laufende Bär.

Sogar Alligator nickte.

»Und ich werde nicht die Waffen gegen meine Brüder erheben«, erwiderte der Weiße Tiger. »Ich werde weiterhin um den Frieden beten und ihn mit meiner Seele suchen.«

Nachdenklich sah Osceola ihn an. »Wir alle beten um Frieden, aber ob er uns vergönnt wird, müssen unsere Götter entscheiden.«

»Ein Gott, ein und derselbe Gott«, erklärte der Weiße Tiger. »Ishtahollo, der große Geist der Seminolen, ist ebenso der einzige Gott aller weißen Christen – ganz gleich, wie er genannt wird. Und ich glaube, er will deinem und meinem Volk ein friedliches Leben schenken.«

Obwohl Osceola lächelte, stimmte er nicht zu. »Wohin du auch reitest, mein Freund, dir wird nichts zustoßen. Wo du lebst, ist der Boden heilig. Dort sollst du alle deine Lieben um dich versammeln, dann sind auch sie sicher.«

»Mico Osceola, ich bitte dich, denk gründlich nach, ehe du dich für den Krieg entscheidest ...«

»Du bist zu stolz, um zu bitten, sondern selber ein Krieger, ein Soldat.«

»Jetzt bin ich Zivilist. Und in meinen Träumen sehe ich dein Land als Paradies, in dem wir alle leben können.«

»Sei beruhigt, ich überstürze nichts.« Wieder lächelte Osceola. »Früher warst du ein blutjunger, kampflustiger Mann. Du wandtest dich gegen die Briten und auch gegen meine Leute.«

»Damals war ich ungestüm, aber ich lernte meine Lektion.«

»Du warst ein guter Krieger, und du hast auch erkannt, daß man den Tod nicht auf die leichte Schulter nehmen darf.«

»Und daß der Krieg nicht nur Ehre bedeutet.«

»Soviel ich höre, willst du dein Heim verlassen und auf Reisen gehen?«

»Das hatte ich vor. Aber wenn es nötig ist, daß ich bleibe ...«

»Nein, du mußt dich um deine Geschäfte kümmern. Ich habe deine Worte vernommen. Hier kannst du nichts tun. Segle nur munter davon. Der Laufende Bär hat mir erzählt, du würdest gern segeln und dabei innere Ruhe finden. Möge der Meereswind den Schmerz davonwehen, den dir dein Verlust bereitet.« Osceola wandte sich ab, doch dann schaute er den Weißen Tiger noch einmal an. »Unsere Gedanken werden dir folgen. Und wir sind stolz darauf, daß du dich für uns eingesetzt und jenen widersprochen hast, die behaupten, wir trügen die Schuld am Tod deiner guten Frau. Ich fürchte, deine Worte können den Haß zwischen unseren Völkern kaum mildern. Trotzdem danken wir dir.«

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt.«

»Aber manchen Menschen fällt es schwer, die Wahrheit zu erkennen. Geh nur auf Reisen, mein Freund. Wenn du zurückkehrst, mußt du vielleicht nicht mehr vor deinem Leid fliehen.«

»Ich verreise nur aus geschäftlichen Gründen ...«

»Ja, das ist gut.«

Von Alligator gefolgt, ging Osceola davon. Aber der Laufende Bär blieb stehen und legte eine Hand auf die Schulter des Weißen Tigers. »Gott sei mit dir.«

»Welcher Gott?« Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen des Weißen Tigers.

»Haben wir nicht soeben festgestellt, wir würden ein und demselben Gott dienen?«

»Num, wir haben versucht, uns darauf zu einigen. Was wird geschehen?«

Der Laufende Bär schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. In meinen Adern fließt zuviel weißes Blut. Manchmal nehme ich an der Ratsversammlung teil, manchmal nicht. Auch ich trete für den Frieden ein. Thompson war ein Narr, weil er Osceola festnahm. Er behauptet, Osceola sei grausam und unberechenbar. Aber du kennst Osceola. Vermutlich wollte Thompson beweisen, daß ihm kein Indianer Bedingungen stellen kann. Nun ist Osceolas Herz von heißem Zorn erfüllt. Seine Pläne kenne ich nicht. Natürlich geht es nicht nur tun den Zwischenfall, den Thompson verursacht hat. Zwischen den Indianern und den weißen Siedlern kommt es immer wieder zu Streitigkeiten. Sie sagen, wir würden sie bestehlen, und sie jagen auf unserem Land. Bis jetzt hat sich kaum etwas geändert. Offenbar glauben die Amerikaner, es wäre ihre Bestimmung, den ganzen Kontinent zu überrollen.«

»Für dieses Problem muß es eine Lösung geben.«

»Das ist dein Wunsch. Aber ob er erfüllt wird, bleibt abzuwarten. Nun wollen wir Abschied nehmen. Vielleicht findest du auf deiner Reise ein neues Glück. Wer weiß? Wenn du auch immer noch trauerst, eines Tages solltest du wieder heiraten.«

»Das will ich nicht«, entgegnete der Weiße Tiger tonlos.

Der Laufende Bär nickte mitfühlend. »Dann solltest du dir eine Geliebte nehmen. Nach allem, was man so hört, bist du kein Mönch.«

»Verdammt, wie schnell sich so etwas herumspricht!« rief der Weiße Tiger ärgerlich, dann sah er die Sorge in den Augen seines Freundes, seufzte und lachte leise. »Du wirst wohl nie aufhören, mir deshalb in den Ohren zu liegen, was?«

»Oh, doch. Eines Tages. Gute Reise.«

»Paß auf dich auf!«

Sie umarmten sich, dann folgte der Laufende Bär den anderen. Wenig später war er aus dem Blickfeld verschwunden.

Eine Zeitlang blieb der Weiße Tiger noch zwischen den Zypressen stehen. Im Wasser spiegelten sich die Farben des Sonnenuntergangs – malvenrosa, goldgelb und rot. Er schloß die Augen, spürte den Wind auf den Wangen, roch den klaren Duft des Wassers und des Sumpflands, lauschte dem Rascheln der Blätter.

In der Ferne verriet ein leises Plätschern, daß ein Alligator vom Ufer in die Wellen geglitten war.

Das elegante Haus lag in einer der zivilisiertesten Städte der jungen amerikanischen Nation. Hier trugen die Frauen Samt und Seide, Kaffee und Tee wurden aus silbernen Kannen eingeschenkt. Perserteppiche bedeckten polierte Holzböden, Damastvorhänge schützten die Fenster vor der Nacht, die allmählich herabsank.

Plötzlich krachte ein Schuß ... Donnerhall durchbrach die Stille, die das Zimmer erfüllt hatte.

Verwundert starrte die junge Frau den Mann an, der sich erheben wollte, aber er konnte es nicht.

Groß und kräftig gebaut, mit dichtem, eisengrauem Haar, war er ihr unbesiegbar erschienen. Doch nun breitete sich ein roter Fleck auf seinem weißen Rüschenhemd aus. Die Kugel hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Erstaunt sah er dem Tod ins Auge, mit einem letzten Atemzug sank er zu Boden.

Sie schaute auf die Waffe in ihren Händen hinab.

Aber es waren doch nur Platzpatronen gewesen ... Ihr entsetzter Blick wanderte an dem Toten vorbei, begegnete einem Augenpaar in einem grausamen, intelligenten Gesicht. Als ein leises Rascheln hinter ihr erklang, drehte sie sich um.

Für diesen Tag war der große Salon in ein Theater verwandelt worden. Sie hatte auf der improvisierten Bühne gestanden, dem Publikum zugewandt, das im Halbkreis vor ihr saß. Nun beobachtete sie, wie der Vorhang herabfiel, der den Hintergrund bildete. Dort hatte jemand gestanden und eine echte Kugel abgefeuert, in derselben Sekunde, wie sie selbst die Platzpatrone – ein Requisit, das zu ihrer Rolle gehörte.

Plötzlich wurde die Grabesstille durchbrochen, die dem Knall gefolgt war. Alles schrie durcheinander.

»Packt sie!«

»Sie hat ihn getötet!«

»Mörderin!«

»Oh, mein Gott, haltet die Mörderin fest!« Die schön gekleideten Damen und Herren eilten auf die Bühne, und die junge Schauspielerin glaubte in allen Augen wilden Blutdurst zu lesen.

Großer Gott, man hatte ihr eine Falle gestellt – eine heimtückische Falle ...

Aber sie würde sich wehren. Für das Verbrechen eines anderen wollte sie nicht büßen. Sie würde laufen, so weit sie nur konnte ...

Die Zeit schien stillzustehen. Ein letztes Mal erwiderte die junge Frau den harten, glitzernden Blick des Mannes, der einen gemeinen Mord angeordnet hatte, um sie in eine Falle zu locken.

Nein, es durfte nicht geschehen. Blitzschnell kehrte sie ihm den Rücken und rannte zum Fenster.