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ISBN : 9783738694277

Inhaltsverzeichnis

Meine Kindheit

Die Kinderjahre verbrachte ich in Falkenstein im Vogtland. Da wurde ich geboren. Es gehört zum Land Sachsen und hat eine schöne Landschaft. Bergig und hügelig ist die Gegend. Zwischen Wald und Wiesen recken sich kleinere und größere Felsen empor. Dort herrscht ein raues Klima. Hart und von langer Dauer können die Winter sein. Schneereich ist die Gegend. Wintersport bietet sich in vielen Variationen als Sport an. Reine und gesunde Luft füllt die Lungen. Steinig ist der Boden und Bauernhöfe sind kaum zu finden.

Die Arbeitslosigkeit war groß. Es war eben eine arme Gegend. Industrie war kaum vorhanden. Rundum boten weitläufige Wälder Holz zur Verarbeitung. Hier und da fanden sich Sägemühlen. So mancher Familienvater erarbeitete sich in diesen Lohn und Brot. Die Göltzsch, ein fließendes Gewässer, bahnt sich ihren Weg durch die schöne Landschaft. In früheren Zeiten florierte die Holzflößerei in beachtlicher Entfernung. Im Kommen waren Webereien – hauptsächlich für Gardinen. In manchen Hintergebäuden wurden Webstühle aufgestellt. Kleine selbstständige Unternehmen entstanden. In deren Folge wurden Näherinnen benötigt. Jungen Mädchen boten sich somit Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. In Stellung zu gehen, wäre für sie die andere Möglichkeit gewesen. So nannte sich die Tätigkeit, im Haushalt bei begüterten Herrschaften, die sich eine Hilfe leisten konnten, zu arbeiten. Der Lohn wird wohl recht gering gewesen sein.

Eine kleine Schokoladenfabrik befand sich ganz am Rande der Stadt. Ihre Produkte wurden unter dem Namen „Falkenflug“ angeboten. Welch ein verführerischer Duft kam aus deren Räumen! Uns weckte der Duft dieser unerfüllbaren Begehrlichkeit.

Eine Kleinstadt ist und war Falkenstein. Ihre Ortslage steigt bis auf 575 Meter an und senkt sich hinab bis auf ca. 300 Meter. Schöne Spaziergänge lassen sich rundum durch Wiesengrund und weite Wälder genießen. Gute Erholung ist geboten.

Ein harter Winter

Der 24. Februar 1924 soll ein sehr frostiger Tag gewesen sein, wie mir erzählt worden ist. Dickes, glitzerndes Weiß bedeckte Stadt und Flur. Bei jedem Schritt vernahm man das Knirschen des Schnees. Eisblumen zierten so manche Fensterscheibe. Es war Sonntag. Von der nicht weit entfernten Kirche tönten die Glocken durch die eiskalte Luft. Die Frommen rief man zum Gottesdienst. In dieses Geläut mischte sich mein erster Schrei. Er ließ wissen: Ich bin da. Es war 9 Uhr morgens. Sollte das Geläut ein Willkommen für mich sein? Ach ja, einbilden darf ich es mir schon.

Nur Hausgeburten waren zu dieser Zeit üblich. Kündigte sich der Geburtsvorgang an, musste die Hebamme unverzüglich verständigt werden. Auch zu mitternächtlicher Zeit musste sie bereit sein zu kommen und über Nacht zu bleiben, wenn sich die Geburt hinzog.

Da lag ich mit meinen sechs Pfund, die die Waage zeigte. Ein Stubenwagen oder gar eine Wiege stand nicht bereit. Der Wäschekorb, ausgelegt mit einem Strohsack, gab mir Wärme und Geborgenheit. Auf zwei Stühlen stand er der Sicherheit wegen.

Neugeborene kamen in ein so genanntes Steckkissen. Beidseitig angebrachte Bänder, zu Schleifen oder zu knöpfenden Stoffriegeln gebunden, hielten das Bündel zusammen. Spitze zierte das Kopfteil. Recht hübsch sollte es aussehen. Beinfreiheit gab es dem Wickelkind nicht.

Strampelhöschen gab es lange noch nicht. Von Pampers hatte man noch keine Ahnung. Nur Stoffwindeln standen zum Gebrauch bereit. Fast tägliches Waschen war erforderlich. Unvermeidlich stand der Wäschetopf ständig auf dem Herd, denn der baldige Wiedergebrauch war nötig. Der Vorrat an Windeln war bescheiden. Im Sommer durften sie in Wind und Sonne draußen flattern.

Der Wäscheboden tat im Winter seine Dienste. Wurden sie bis zum nächsten Gebrauch nicht ganz trocken, musste eine Vorrichtung über dem Herd mit seiner Ofenwärme noch das nötigste tun. Bei meiner Geburt wohnten die Eltern in der Gustav Adolf Straße Nr. 11. Fünf Familien wohnten im Haus. Wohnungen waren sehr rar. Meist bestanden sie nur aus zwei Räumen – ohne Vorraum. Die Wohnküche war für alle der Aufenthaltsraum. Der andere Raum war zum Schlafen gedacht. Die Personenzahl einer Familie konnte nicht berücksichtigt werden. Es war keine Seltenheit, dass zwei oder gar drei Kinder in einem Bett Platz finden mussten. Im Treppenhaus, einige Stufen nach unten, befand sich das nötige Örtchen. Ein einladender Ort mit seinem Plumpsklo war es nicht. Für die Spülung stand ein mit Wasser gefüllter Eimer oder Krug bereit. Zeitungspapier tat seinen nötigen Dienst. In gleichgroße Stücke geschnitten hielt es sich auf einen Haken gespießt oder am Faden aufgereiht für seine Verwendung bereit. Papa hatte für die unseren ein Kästchen gebaut, worin sie sich bereithielten. War bei Dunkelheit oder gar bei Nacht ein unaufschiebbarer Gang nötig, musste eine Kerze ihr meist dürftiges Licht spenden. Besser war eine Petroleumlampe. Treppenhausbeleuchtung gab es nicht.

Wohnungswechsel

Zwei Jahre alt dürfte ich gewesen sein, da bekamen wir eine Wohnung in einem Neubau. Unser Zuhause lag jetzt in der Goethestraße 62. Dieses Haus bot schon Fortschrittlicheres. Eine Erkerwohnung hatten wir – sogar mit Vorsaal. Nur das Örtchen war noch immer im Treppenhaus, wie gehabt. Ganz am Rand der Stadt wohnten wir. Eine schöne Gegend war es, rundum viel Grün. Der Blick aus dem Fenster führte über ausgedehnten Wiesengrund weiter hinauf zum Mühlberg. Ein unendlich scheinendes Waldgebiet dehnte sich dahinter aus. Gleich über die Straße auf der anderen Seite war eine kleine Gartenanlage angelegt worden.

Eine ruhige Gegend war es. Kein Straßenverkehr störte. Autos gab es noch kaum. Ein Pferdegespann kam höchstens mal angezockelt. Hieß es „Hü“ lief der Gaul los. Ließ der Kutscher ein „Brüh“ hören, wusste das Pferd, dass es anhalten musste. Mit seinem Gespann konnten wir täglich den Milchmann erwarten. Mit vollen Kannen fuhr er von Haus zu Haus. Er stieg treppauf, treppab und brachte den Hausfrauen die Milch bis an die Wohnungstüre. Mit einem genormten Schöpfer füllte er die gewünschte Menge in die bereitgehaltenen Gefäße.

Unser Sommerparadies

Ein Garten gehörte zu jeder Wohnung. Gleich vom Hof aus war er zugänglich. Als wir klein waren, hatte der Sandkasten seine Wichtigkeit. Wir buddelten, füllten Förmchen und boten Sandkuchen feil. Eine Doppelschaukel hatte Papa für uns errichtet, jedem die seine. Die mit Sitzbrett war für mich. Das kleine Brüderchen bekam eine, in der es sicher saß. An heißen Sommertagen stand die mit Wasser gefüllte Zinkwanne zur Abkühlung als Planschbecken bereit.

An sonnigen Nachmittagen ließ sich Mama auf der Gartenbank nieder. Bald klapperten ihre Stricknadeln. Oft stand auch der Korb mit Strümpfen neben ihr, deren Löcher gestopft werden wollten. Oder es mussten sonstige Flickarbeiten getan werden. Ihre Hände ruhten selten. Hausfrauen hatten immer etwas zu tun.

Ein Teil des Gartens blieb für Papa. Ein Blumengärtchen legte er an. Ein niedriger Zaun umrandete das Geviert. Wir Kinder sollten nicht unbedacht auf die Pflanzen treten. Hatte der Frühling sich sein Recht erkämpft und den Winter vertrieben, wagten sich die Primeln bald hervor. Die Tulpen ließen sich etwas länger Zeit, bis sie sich reckten und ihre schönen Blüten zeigten. Das kleine Fliederbäumchen in der Ecke schmückte sich mit seinen lilafarbenen Dolden im Mai. Das passte gerade zu Mamas Geburtstag. Da kamen einige Zweige in die Vase.

Im Spätsommer forderten die Dahlien Aufmerksamkeit mit ihrer Vielfalt an Formen und Farben. Sie waren Papas Lieblingsblumen. Eine besondere Sorgfalt kam ihnen zu. Im Herbst wurden ihre Wurzeln aus der Erde genommen. Gut gesäubert bekamen sie im Keller einen Platz für die Ruhezeit. Da sammelten sie Kraft und Saft für die Blütezeit des nächsten Sommers.

Es fand sich noch ein freies Plätzchen ganz hinten im Garten und bot sich für eine Verwendung an. Einen stabilen, geräumigen Stall baute Papa darauf. Ein Fenster erhellte den Innenraum. Ein Teil war für die Häschen vorbehalten. Wir verwöhnten die Hasen mit frischen Löwenzahnblättern, die sie gerne mochten. Dazu bekamen sie ihre Streicheleinheiten. Wir hatten unseren Spaß, wenn sie im Garten herum hoppeln konnten.

Zwei Gänse durften auch einmal ihr Geschnatter hören lassen. War ihre Zeit des Freilaufs, da nahmen wir lieber Reißaus, denn vor ihnen hatten wir gehörigen Respekt. Um die Weihnachtszeit schmorten sie in Mamas Bratentopf.

Eines Tages drangen Grunzlaute aus dem Stall. Ein kleines Schweinchen sollte groß und fett gefüttert werden. Ganz ungestüm rannte es im Garten herum, wenn es an seiner Zeit war. Ein Allesfresser war es. Von unseren Küchenabfällen wäre es nicht satt geworden. Das meiste Futter bekamen wir von der Bahnhofsgastwirtschaft. Dorthin wurde Mama öfters als Spülfrau und zu anderen Tätigkeiten gebeten. Anfallende Küchen- und Essensreste durften geholt werden. In Eimer gefüllt wurden diese in Handwagen nach Hause gekarrt. Erst führte der Weg ein gehöriges Stück bergauf, dann wieder bergab. Es war eine beachtliche Strecke zu laufen. Gerne nahmen die Eltern diese Plage auf sich. Heißt es nicht, ohne Fleiß kein Preis? War es dann an der Zeit, dass der Metzger seinen Einsatz bekam, ach wie angstvoll quiekte da das Tier, als es aus dem Stall getrieben wurde. Wohl ahnte es, was mit ihm passieren würde. Die Mama hat mit ihm gelitten und es flossen einige Tränen. Es war doch ihr Zögling, den hauptsächlich sie liebevoll versorgte. Da war eine Beziehung gewachsen. Das Schicksal des Tieres hatte aber seine Vorbestimmung. Zur Bereicherung des Küchenplanes war es gedacht, bei dem meistens Schmalhans die Regie führte.

Der Klapperstorch

Ich war fast vier Jahre alt. Wie gerne hätte ich ein Brüderchen gehabt. Einen Namen hatte ich schon. Manfred sollte er heißen, wie der Bub im Nachbarhaus. Die kleinen Kinder bringe der Storch, wurde ich belehrt. Zucker müsse man auf den Fenstersims streuen. Adebar wisse dann Bescheid. Bei dieser verantwortungsvollen Tätigkeit war mir Papa behilflich. Er öffnete das Fenster. Ich kletterte auf den Stuhl. Ein kühles Lüftchen zog herein. Es war schon Herbst. Der Wind rüttelte an den Bäumen und trieb sein Spiel mit den Blättern. Tänzelnd ließ er sie zu Boden schweben. Ich streute vorsichtig meinen Zucker auf den Sims. Der Wind würde diesen doch nicht wegblasen? Der Storch sollte ihn auflecken, damit er mir ein Brüderchen brächte. Bangen Herzens ließ ich mich mit dem Zweifel, ob der Zucker auch gesehen werden würde, zu Bett bringen.

Am Morgen lief ich schnell zum Fenster hin, um zu sehen, ob mein Lockmittel weg war. Ja, der Storch hatte es aufgeschleckt. Würde das Baby bald kommen? Aus einem Teich müsse es gefischt werden, ließ man mich wissen. Na, das könnte dauern, dachte ich mir.

Waren es Wochen oder gar bloß Tage, die vergingen? Der Kalender zeigte den 3. November 1927, da war er plötzlich da – der kleine Manfred. Im Wäschekorb lag er, wie ich damals. Warum hatte die Großmutter mich zu sich genommen? Wie dumm, ich wollte doch den Storch sehen. Warum aber lag die Mama im Bett? Der Storch habe sie ins Bein gebissen. Was war das denn für ein schlimmer?! Ich habe es gesehen. Ins linke Bein biss er sie. Ein rotes Tüchlein war darum gebunden. Nein, die Wunde selbst zeigte man mir nicht. Ja, so wurde mir die Mär von der Geburt erzählt.

Die Doppelfenster

Spürte man die Kühle des Herbstes, so kündigte sich die baldige kalte Jahreszeit an. Die Doppelfenster wurden angebracht. Ein beachtlicher Raum blieb zwischen den Sommerfenstern und denen des Winters frei. Papa legte diesen mit frischem Moos, das er aus dem Wald holte, aus. Durch eventuelle Ritzen sollte keine Kälte eindringen können. Mit kleinen Holzfiguren durften wir das Moos beleben. Eine kleine Welt ließen wir darauf entstehen. Da standen kleine Häuschen, Weiblein, Männlein, verschiedene Tiere und ein kleines Pferdegespann. Es waren niedliche Figuren aus dem Erzgebirge. Nun wussten wir: Bis Weihnachten war es nicht mehr weit.

Die Christstolle

Schon lange vorher musste an die Vorbereitung der Stolle gedacht werden. Sie benötigt eine längere Lagerzeit. Vom Einkauf des ganzen Jahres sammelte Mama die Rabattmarken. Von deren Erlös wurden die benötigten Zutaten gekauft. Die Haushaltskasse ließ solche Ausgaben nicht zu. Ein Weihnachtsfest ohne Stolle ist in Sachsen fast nicht denkbar. Sie gehört zum Fest genauso dazu wie der Christbaum.

Heiligabend

Eine Hektik zog an diesem Tag bei uns ein. Nur meinen Bruder und mich plagte Langeweile. Kam die Dunkelheit über das Land, brannten in manchen Haushalten am Christbaum schon die Kerzen. Da hatte Mama meist noch das Putztuch in der Hand. Alles musste zum Fest sauber sein und glänzen bis in die äußerste Ecke des Haushaltes. Oder sie stand am Herd und traf Vorbereitungen für das Mahl des Christtages.

Wie immer gab es am Heiligabend Kartoffelsalat und Würstchen. Danach mussten wir bald ins Bett. Warum wohl? Nichts wies auf Weihnachten hin. Gedämpft drang der Gesang von Weihnachtsliedern aus der Nachbarschaft an unser Ohr. Mit diesen schlummerten wir in die Heilige Nacht hinein. Derweil begann bei den Eltern das Herrichten. Manche Dinge hatten bei der Aufbewahrung gelitten und mussten in Ordnung gebracht werden. Der Christbaum wurde aus seinem Versteck geholt und wollte noch seine weihnachtliche Zierde haben. Bis in die tiefe Nacht werkelten die Eltern.

Noch hüllte die Dunkelheit den kommenden Tag ein. Wir aber waren schon lange wach und lauschten, ob sich nicht bald das Glöckchen hören ließ. Dann aber schnell aus den Betten und hinüber. Wie staunten wir. Was war über Nacht geschehen? Dieser feierliche Glanz. Am Baum brannten die Kerzen und die Tanne füllte den Raum mit ihrem Duft. Da standen wir und staunten. Da war sie wieder, meine Puppenstube, wie jedes Jahr. Einst hatte sie Papa mit viel Liebe und Geschick selbst gebaut. Aus Zigarrenkistchen waren die Möbel gemacht. Mama hatte mit Näharbeit für Kissen und Gardinen das Ihre getan. Mit Häkelnadeln und Wolle entstanden neue Kleidchen für die kleinen Puppen. Nun durften die Püppchen wieder zum Leben erweckt werden.

Als das Brüderchen noch klein war, hatte ihm Papa einen Stall mit zwei hölzernen Pferdchen gebaut. Hinter der Türe des Dachbodens befand sich der Vorrat an Heu. Auch hölzerne Pferdchen wollten gefüttert werden.

Nun war es der Kaufladen, der erfreute. Wie viele Kinder diesen schon ihr Eigen genannt hatten, verriet er uns nicht. Liebesperlen und Puffreis füllten die kleinen Schubkästchen. Kleine Schachteln und Dosen, den großen nachgeahmt, standen zum Verkauf. Wenige Marzipanstücke ergänzten die Auslage. Sogar richtige kleine Würstchen waren im Angebot. Diese waren eine Zugabe vom Metzger beim Weihnachtseinkauf gewesen. Die kleine Waage mit zwei Waagschalen war von großer Wichtigkeit. Die Kasse für das Papiergeld durfte nicht fehlen. Alles musste seine Ordnung haben. Gingen die kleinen Tütchen bald aus, falteten und klebten wir selbst welche. Drohte der Ausverkauf der Ware, wusste Mama Rat. Ihr Küchenvorrat gab dann Nachschub: Weiße Bohnen, Linsen, Suppensternchen oder Buchstabennudeln waren zum Auffüllen gut geeignet. Sie gaben Garantie für lange Lebensdauer. Zur Naschsucht verleiteten sie nicht. Das Spielen aber konnte weitergehen.

Unterm Christbaum befand sich je ein Teller gefüllt mit Naschereien. Ein Hexenhäusel mit Schokolebkuchen und sogar eine Tafel Schokolade war dabei. Äpfel und ein paar Nüsse brachten das Volumen. Mandarinen und Orangen gehörten noch zu den selteneren Dingen.