Impressum

Dortmunder Schriften zur Kunst

Studien zur Kunstgeschichte | Band 7

Herausgegeben von Niklas Gliesmann und Barbara Welzel

Klaus Schenk und Barbara Welzel (Hg.)

LEBENS/BILDER

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-7412-2142-2

© 2016 Dortmunder Schriften zur Kunst und Autoren

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Gestaltung: Christopher Kreutchen

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

INHALT

Klaus Schenk und Barbara Welzel

VORWORT

Bilder sind nicht nur Medien der Erinnerung, sondern sie sind auf vielschichtige Art und Weise auch mit Lebensgeschichten verknüpft. In zahlreichen autobiographischen beziehungsweise autofiktionalen Texten finden sich Bezugnahmen auf benennbare Bildobjekte, deren literarische Relevanz von der motivischen bis hin zur psychographischen Funktion reicht. Untersuchenswert ist daher der Umgang autobiographischer und autofiktionaler Texte mit Bildern und anderen Möglichkeiten der Visualisierung. Andererseits können Bilder selbst autobiographische Dokumente oder Inszenierungen sein. In Texten, die auf Kunstwerke rekurrieren, treten innere (Vorstellungs-)Bilder der Schreibenden wie der Leser/innen und äußere Bilder, die etwa im Museum aufgesucht werden, in einen auszuleuchtenden Dialog miteinander. Im Spannungsfeld zwischen Bildern als Kunstobjekt, literarischer Bildlichkeit und transmedialen Schreibweisen des Autobiographischen lassen sich semiotische Grenzbereiche der Darstellbarkeit thematisieren, die die Frage nach der (Un-)Erzählbarkeit von Leben umkreisen. In dieser Hinsicht bilden autobiographische Lebens/Bilder aber auch ein Feld der Transformationen beziehungsweise Inszenierung von Wissen über das Leben. Im Austausch verschiedener Fachdisziplinen soll die Tragweite und Differenzierung der Fragestellung im vorliegenden Band erprobt werden.

Autobiographien inszenieren in der Literatur Vermittlungs- und Verständigungsprozesse über das Wissen vom Leben ihrer Verfasser/innen, aber auch der historischen Zeiten und kulturellen Kontexte, aus denen sie hervorgingen. Lange Zeit galten Autobiographien der hermeneutischen Tradition daher als die höchste Gattung. So heißt es etwa zur »Selbstbiographie« bei Wilhelm Dilthey:

Einheiten sind als Erlebnisse geformt; aus der endlosen, zahllosen Vielheit ist eine Auswahl dessen vorbereitet, was darstellungswürdig ist. Und zwischen diesen Gliedern ist ein Zusammenhang gesehen, der freilich nicht ein einfaches Abbild des realen Lebensverlaufs so vieler Jahre sein kann, der es auch nicht sein will, weil es sich eben um ein Verstehen handelt, der aber doch das ausspricht, was ein individuelles Leben von dem Zusammenhang in ihm weiß.1

Bereits diese Bemerkungen Diltheys lassen erkennen, dass autobiographische Schreibweisen nicht in einer »einfachen« Abbildrelation zum Leben definiert werden können. Der »reale Lebensverlauf so vieler Jahre« entzieht sich der unmittelbaren Darstellung. Vielmehr wird das Verstehen zum übergeordneten Modus der Lektüre dessen, »was das individuelle Leben von dem Zusammenhang in ihm weiß«.

Unlängst hat Ottmar Ette die Frage nach dem »Lebenswissen« und den Formen eines »ÜberLebenSchreibens« in autobiographischen Texten wieder neu aufgeworfen. Nicht mehr die hermeneutische Perspektive steht dabei im Vordergrund, sondern eine diskursive und transdisziplinäre Vernetzung von Wissen wird fokussiert, wie sie sich besonders in Autobiographien verdichtet:

Es ist aus meiner Sicht unumgänglich, die Philologien lebenswissenschaftlich weiter zu entwickeln und transdisziplinär stärker zu vernetzen. Die unterschiedlichen Gattungen und Subgattungen der Literaturen der Welt können ein Wissen darüber vermitteln, wie man leben kann (Roman), wie man gelebt hat (Biographie) oder wie man das eigene (beziehungsweise selbst in Szene gesetzte) Leben in Lebenswissen zu transformieren sucht (Autobiographie). Gerade die unterschiedlichen Spielarten eines Autobiographischen ÜberLebenSchreibens entfalten ein Lebenswissen, dessen Analyse für ein umfassendes Verständnis von Leben unverzichtbar ist.2

Die von Ette entworfene transdisziplinäre Fragestellung nach einem »Lebenswissen« in autobiographischen Schreibweisen läßt sich durch eine transmediale Doppelperspektive von Lebens/Bildern ergänzen. Autobiographische Schreibweisen sind in hohem Maße mit Aspekten von Bildmedien verflochten. Dabei lassen sich verschiedene Funktionen der Text-Bild-Relationen in den Schreibweisen literarischer Autobiographien aufzeigen.

Zum einen dienen Bilder selbst dem Erinnern, wie es bereits in der rhetorischen Gedächtnistradition der Memoria angelegt ist. Neben ihrer memorialen Funktion können erzählte Bilder aber auch zur Veranschaulichung eingesetzt werden, als Vor-Augen-Stellen, wie es sich in Verfahren ihrer Beschreibung (Ekphrasis) zeigt, beziehungsweise zur Verlebendigung von Erinnerung. Es entsteht eine Illusion, als könnte die Ordnung des Lebens in die Aufgeräumtheit autobiographischen Schreibens eingebracht werden. Die Stiftung von Zusammenhang erweist sich in der Literaturgeschichte autobiographischer Schreibweisen allerdings als besonderes Problem, ist doch schon die narrative Ausgangssituation des Autobiographischen einfach oder mehrfach in sich gespalten, wenn ein Ich über ein Ich erzählt. Mit Termini wie erzählendes und erzähltes beziehungsweise erlebendes Ich wurde versucht, diese gespaltene Relation zu fassen. Damit ist eine dritte Funktion benannt, in die sich auch die semiotische Ordnung von Bildern einträgt. An der Grenze zwischen Bild und Schrift-Text, zwischen erzähltem Bild und erzähltem Leben lassen sich Differenzen, Grenzziehungen, Spaltungen und Zusammenhänge thematisieren. Bildlichkeit stellt ein Differenzmedium dar, an dem sich autobiographische Schreibweisen reflektieren.

Für die Kunstgeschichte sind autobiographische Spuren zumindest in der frühen Neuzeit schwerer aufzuspüren, prägen doch die Gattungsnormen noch die Künstlerselbstporträts, mehr noch: Gerade Selbstporträts können zum Schauplatz kunsttheoretischer Äußerungen werden. Lebens/Bilder werden dann zur gemalten Poetik. In der Moderne kommt die Institution Museum hinzu. Als Speicher der Bilder über Generationen hinweg und unabhängig von einer individuellen Person ist das Museum ein besonderer Ort der Selbstbegegnung und autobiographischen Rückversicherung durch ein ganzes Leben hindurch, wie es Canetti in seiner Autobiographie beschreibt:

Es muß einen Ort geben, wo er sie [die Bilder] unberührt finden kann, nicht er allein, einen Ort, wo jeder, der unsicher wird, sie findet. Wenn er das Abschüssige seiner Erfahrung fühlt, wendet er sich an ein Bild. Da hält die Erfahrung still, da sieht er ihr ins Gesicht. Da beruhigt er sich an der Kenntnis der Wirklichkeit, die seine eigene ist, obwohl sie ihm hier vorgebildet wurde. Scheinbar wäre sie auch ohne ihn da, doch dieser Anschein trügt, das Bild braucht seine Erfahrung, um zu erwachen.3

In den letzten Jahren haben Ausstellungs- und Buchprojekte den Versuch unternommen, dieses Potential der Institution Museum für das biographische Einschreiben heutiger Erfahrungen in ererbte Bilder zu forcieren.

Der vorliegende Band möchte Vorschläge unterbreiten, um durch die Zusammenschau von autobiographischem Text, automedialem Bild und der Institution Museum zukunftsorientierte Perspektiven auf Formen des Überdauerns und Überlebens zu entwickeln.

1 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften. Göttingen 71973, Bd. IV, S. 200.

2 Ottmar Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften, in: Wolfgang Asholt/ders. (Hrsg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen 2010, S. 11-38, hier S. 37.

3 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. München 1980, S. 131-132.

Abb. 1

Ottmar Ette

LEBENSBILDER

SINN UND SINNLICHKEIT DER ZEICHEN BEI ROLAND BARTHES

NATUR KULTUR LEBEN

Am späten Abend des 19. Januar 1955 brach der Verteidigungsring um Paris. Unter der Überschrift »La Seine attaque. Paris répond par des barricades« berichtete Paris-Match zehn Tage später, am 29. Januar, in einer aufwendigen Bildreportage vom Zusammenbruch des bouclier anticrue, den man rund um Paris gezogen hatte, aber auch vom heldenhaften Verteidigungskampf der französischen Hauptstadt gegen die überall eindringenden Wassermassen1 (Abb. 1). Mit seiner Mythologie Paris n’a pas été inondé reagierte der Zeichen- und Kulturtheoretiker Roland Barthes zeitnah auf die Ereignisse und sicherlich mehr noch auf die Berichterstattung, indem er auf den ersten Blick eher verblüffende Aspekte auf raffinierte Weise in den Vordergrund seines Bilds der gewaltigen Überschwemmungen rückte. So liest man gleich zu Beginn des Textes, den Barthes 1957 auch in seine Sammlung der Mythologies2 aufnahm: »Malgré les embarras ou les malheurs qu’elle a pu apporter à des milliers de Français, l’inondation de janvier 1955 a participé de la Fête, plus que de la catastrophe.« 3 War also alles nur ein Fest?

Gewiss: Auch Paris-Match berichtete in seinem Rückblick vom 29. Januar, Paris habe nach 1910 eine neuerliche Katastrophe, »une nouvelle catastrophe«, gerade noch vermeiden können.4 Doch auch wenn es durchaus möglich wäre, in jeder Katastrophe stets die Strophe, das Strophische und nach Transzendenz strebende Ästhetische hörbar und sichtbar zu machen,5 so weist der mit Majuskel versehene Begriff der Fête doch auf die Dimension eines Festes, das sich in seiner zeitlichen Begrenztheit vom Alltagsleben abhebt, als vom Menschen gesellschaftlich veranstaltetes und gemeinschaftlich erlebtes Ereignis wahrgenommen wird und ebenso die Bedeutungsebenen des Feierns wie des Feierlichen kulturell entbindet. Kann ein Phänomen der Natur, ja eine eigentliche Naturkatastrophe aber zum Anlass eines Festes, ja zum Fest an sich werden?

Man muss nicht auf die Sonnwendfeiern, das Wintersolstitium oder die zyklischen Überflutungen Ägyptens durch den Nil verweisen, um zu begreifen, dass Naturphänomene von Menschen unterschiedlicher Zeiten und Kulturen als Feste verstanden, strukturiert und erlebt werden können. Natur ist in diesem Sinne immer schon Kultur, und zwar als Gegenstand menschlicher Wahrnehmung und weit mehr noch Aneignung. Natur und Kultur – und in dieser Beziehung natürlich auch die Politik – lassen sich aus eben diesem Grund nicht künstlich voneinander trennen, wie dies in neuerer Zeit Bruno Latour in seiner Entfaltung einer Politique de la nature6 noch einmal eindringlich formulierte:

Konzeptionen der Politik und Konzeptionen der Natur bildeten stets ein Paar, das so fest miteinander verbunden war wie die beiden Sitze einer Wippschaukel, von denen der eine sich nur senken kann, wenn der andere sich hebt, und umgekehrt. Nie hat es eine andere Politik gegeben als die der Natur und nie eine andere Natur als die der Politik. Epistemologie und Politik sind, wie wir nun sehen, ein und dieselbe Sache, die in der (politischen) Epistemologie zusammengefunden hat, um sowohl die Praxis der Wissenschaften als auch den Gegenstand des öffentlichen Lebens unverständlich zu machen.7

Roland Barthes ging es in seinen Mythologies gerade um das Verständlichmachen dieser unauflöslichen Beziehung und um eine Beleuchtung jener besonderen Verfahren, mit Hilfe derer im öffentlichen Leben Kultur beziehungsweise Geschichte in Natur verwandelt und durch diese Naturalisierung gegen alle grundlegenden Veränderungen immunisiert wird. In seiner für die Buchpublikation von 1957 nachträglich verfassten Untersuchung Le mythe, aujourd’hui entfaltete er sein mythenkritisches Projekt auf eben dieser Grundlage einer fundamentalen Kritik am bürgerlichen Mythos, der stets versuche, Geschichte und Kultur in Natur umzuwandeln und damit als Kultur (und zugleich als Geschichte und mehr noch als Politik) unkenntlich und unverständlich zu machen.8

Aus dieser Perspektive hätte er sich zweifellos den Überlegungen Bruno Latours angeschlossen, der die Notwendigkeit der von ihm propagierten politischen Ökologie mit dem Hinweis begründet, es gebe nicht »die Politik auf der einen Seite und die Natur auf der anderen«,9 und der fortfährt:

Seit das Wort Politik erfunden worden ist, hat sich Politik stets durch ihr Verhältnis zur Natur bestimmt, deren sämtliche Merkmale, sämtliche Eigenschaften, sämtliche Funktionen auf den aggressiven Willen zurückgehen, das öffentliche Leben einzuschränken, oder zu reformieren, zu begründen, aufzuklären oder mit sich kurzzuschließen.10

So wird bereits im incipit von Barthes’ Paris n’a pas été inondé ein Phänomen der Natur – das auf den ersten Blick und gerade durch das Objektiv der Photographie als (Natur-) Katastrophe erscheinen muss – dem Reich der Natur entrissen und dem Bereich der Kultur zugeordnet, steht das Fest doch paradigmatisch ein für das öffentliche Leben, wobei im Fest zugleich auch die Frage der Gesellschaft und damit der Konvivenz,11 des ZusammenLebens in einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft, in den Fokus gerückt wird. Nicht umsonst findet sich auch bei Bruno Latour jene zentrale Frage »Können wir zusammen leben?«,12 der Roland Barthes Jahrzehnte zuvor unter dem Titel Comment vivre ensemble seinen ersten Vorlesungszyklus am Collège de France13 gewidmet hatte.

Hierbei ist aufschlussreich, dass der französische Schriftsteller in Paris n’a pas été inondé, seinem so gelungenen Beispiel für die für ihn charakteristische Kurzschreibweise – die nicht selten lange Sätze beinhaltet – zunächst den Blick auf die Welt der Dinge, der Objekte, richtet. Aus avantgardistischer Perspektive haben die Überschwemmungen einen Verfremdungseffekt ausgelöst, der eine Entautomatisierung der Wahrnehmung in Gang setzt, welche Barthes am Beispiel der Objekte und Artefakte mit den Mitteln der Schrift überaus bildhaft vor Augen führt:

D’abord, elle a dépaysé certains objets, rafraîchi la perception du monde en y introduisant des points insolites et pourtant explicables: on a vu des autos réduites à leur toit, des réverbères tronqués, leur tête seule surnageant comme un nénuphar, des maisons coupées comme des cubes d’enfants, un chat bloqué plusieurs jours sur un arbre. Tous ces objets quotidiens ont paru tout d’un coup séparés de leurs racines, privés de la substance raisonnable par excellence, la Terre. Cette rupture a eu le mérite de rester curieuse, sans être magiquement menaçante: la nappe d’eau a agi comme un truquage réussi mais connu, les hommes ont eu le plaisir de voir des formes modifiées, mais somme toute »naturelles«, leur esprit a pu rester fixé sur l’effet sans régresser dans l’angoisse vers l’obscurité des causes. La crue a bouleversé l’optique quotidienne, sans pourtant la dériver vers le fantastique; les objets ont été partiellement oblitérés, non déformés: le spectacle a été singulier mais raisonnable. (OC I 599)

Das raisonnable verweist darauf, dass es sich im Sinne Barthes’ bei den Geschehnissen rund um die Überschwemmungen um ein geordnetes Fest und nicht um eine Orgie handelte. In diesem zweiten Absatz der Mythologie wird eine Lust (plaisir) erzeugende Veränderung der Dingwelt vorgeführt, welche die Wahrnehmung der Welt zwar verändert, die Dinge aber nicht definitiv aus ihrer angestammten Form bringt und de-formiert, sondern zeitlich begrenzt anders segmentiert. Es ist, als hätten sich bei diesem Naturphänomen die Dinge anders in Szene gesetzt, gleichsam travestiert, um eine szenische Aufführung, ein künstlerisches Spektakel zu veranstalten. Sie scheinen von ihrem Vernunft-Grund, von der ebenfalls mit Majuskel hervorgehobenen Erde (Terre) losgelöst und erwecken den Eindruck, frei zu flottieren: Sie besitzen keine Wurzeln mehr und entwickeln, erst einmal deterritorialisiert, ihre Autonomie, ihr Eigen-Leben (Abb. 2).

Abb. 2

So hat die Überschwemmung zu einem Spiel der Verstellung(en) geführt: Die lebendigen Dinge sind und bleiben durch ihre Entwurzelung verstellbar und verstellt, zugleich aber auch erkennbar und erkannt. In dieser Wiedererkennbarkeit, aber auch in der scheinbaren Natürlichkeit der Dinge (naturelles) liegt der Spielcharakter der Szenerie und damit der eigentliche Sinn des sinnlichen Erlebens verborgen. Die Wiedererkennung der lebendigen Dinge, die Anagnorisis, bereitet den Menschen Lust. Die Entautomatisierung der Wahrnehmung verleiht den Dingen ein Leben, das sie aus dem Rang einer untergeordneten Dingwelt heraustreten lässt und das sie in Protagonisten verwandelt: gleichviel, ob es sich dabei um ein Autodach, eine Straßenlaterne oder ein verängstigtes Katzentier handelt. Was sich unserer Wahrnehmung im Alltagsleben entzogen hätte, drängt nun an die Oberfläche, wird in seiner sinnlichen Qualität erfahrbar und vielleicht mehr noch lebbar gemacht: Die Überschwemmung wird zu einem Fest, gerade weil hier Dinge zu erleben und zu leben sind, die sich in einem unspektakulären Alltagsleben entziehen.

Wenn Barthes den objets nicht allein eine Straßenlaterne oder ein Autodach, sondern ganz offensichtlich auch eine Katze, ein Tier zurechnet, dann unterläuft er damit die in der europäischen Moderne etablierte scharfe Trennung zwischen dem Lebendigen (also dem Menschen, den Tieren und letztlich allem Organischen) einerseits und dem Nicht-Lebendigen, dem Anorganischen, der toten Dingwelt andererseits. Denn erst die (europäische) Moderne »erklärt die Welt, die Natur, das Schicksal, Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod und Geburt, ohne ein Leben in den Dingen zu postulieren«.14 Das Leben in den Dingen ist seither, so ließe sich formulieren, nur für Kinder, Verrückte, Anhänger nicht weniger Religionen und Menschen aus bestimmten anderen Kulturen, aber sicherlich auch für viele Künstlerinnen und Künstler existent; aber es erhellt gerade das Sein der Dinge, ja deren eigene wie auch die unsrige Lebenswelt. Erhält die Welt hier nicht einen Teil ihrer Magie, ihres sinnlichen Zaubers zurück?

In Barthes’ kleinem Text entwickelt alles, was über die Wasseroberfläche hinausragt, alles, was sich der nappe d’eau, dem für Barthes stets negativ eingefärbten nappé entzieht, ein Eigen-Leben: gleichviel, ob es sich dabei um industriell erzeugte Gebrauchsgüter oder um tierische oder pflanzliche Lebewesen wie die Katze in den höchsten Wipfeln eines Baumes handelt. Anhand eines Naturphänomens führt uns Paris n’a pas été inondé die moderne Grenzziehung zwischen Lebendem und Leblosem als keineswegs natürliche Unterscheidung, sondern als kulturelle und historische Setzung vor. Der kurze Prosatext zeigt uns den verrückten, verstellenden Blick des Künstlers, des Schriftstellers auf die Dinge, die ihre vita nova aus einer gezielten Verletzung dieser nur auf den ersten Blick natürlichen Grenze und Scheidung entfalten.

Das scheinbar unverrückbare An-sich-Sein der Dinge spielt hier nicht die maßgebliche Rolle: Entscheidend vielmehr ist, dass die Dinge in Bewegung gesetzt werden, eine andere Perzeption der Welt angeregt wird, die Grenzen des Lebendigen verrückt werden – und mit diesen Grenzen auch all jene, die sie betrachten, die sie lesen und die sie vielleicht erst jetzt auf diese Weise zu lesen lernen. Es ist ein Fest der Bewegung, der Entwurzelung im Sinne einer Verrückung, in der das Leben und das Lebendige dort erscheinen, wo wir es von der Natur der Dinge her am wenigsten erwarten würden. All dies führt der Text auf der Ebene seiner verbalen Sichtbarmachung sinnlich vor.

Das Barthes’sche Œuvre, das man in seiner Gesamtheit als eine Abfolge von LebensZeichen lesen kann,15 konfrontiert uns auf diese Weise mit LebensBildern, die sich uns nur dann erschließen, wenn wir bereit sind, traditionelle Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur zu hinterfragen und die scheinbar natürlichen Setzungen und Scheidungen nicht länger als gegeben hinzunehmen. Denn als lebendig erscheint, was für unser Leben wie für unsere Lebenswelt lebendig ist. Die Welt, in der wir leben, füllt sich so mit Dingen, die sich aus ihrer Verankerung in der Dingwelt, aus ihrer Verwurzelung in der Erde gelöst haben und die ebenso mobil wie lebendig geworden sind. Das dépaysement, von dem der Text gleich zu Beginn spricht, ist eines, das an die Stelle eines Landes nicht ein anderes Land setzt, sondern das Element der Erde, des Territorialen, durch das mobile Element par excellence, das Wasser, ersetzt. Damit aber zeichnen sich neue Landschaften ab.

LANDSCHAFT MACHT LEBENSPOLITIK

Wenn im weiteren Verlauf des Textes das Fest von seiner Fähigkeit zum Bruch (rupture) mit dem Alltäglichen her bestimmt wird (OC I 599), dann geht es bei dem angesprochenen dépaysement zweifellos auch um das Sichtbarmachen einer anderen Landschaft, eines »paysage« im Sinne einer Abkehr von und Verrückung der »organisation ancestrale des horizons« (OC I 599). In der Veränderung einer Landschaft aber zeichnet sich stets auch eine veränderte Landschaft der Theorie ab,16 stellt letztere doch die Visualisierung einer Epistemologie dar, auf deren Basis Denken und Verstehen – ganz im Sinne einer »Organisation von Horizonten« – strukturiert werden können. Der Entwurf einer Landschaft ist stets der Entwurf einer Theorie, ja einer Epistemologie.

Was genau aber hat sich durch die Überschwemmungen verändert? Roland Barthes’ Text gibt auf diese Frage in der Folge hintergründige Antworten. Denn jegliche Stabilität (stabilité) des als Besitztum Festgefügten und des auf Katasterplänen Festgehaltenen, jegliche eindeutige Trennung und Spaltung in ein Hier und ein Dort, in ein Mein oder Dein, in ein Hüben oder Drüben beginnt buchstäblich zu verschwimmen und liquidiert zu werden. Man könnte dies durchaus mit jenem Ausnahmezustand in Verbindung bringen, in dem Giorgio Agamben17 kritisch den Dauerzustand modernisierter Gesellschaften ausmachen zu können glaubte, ein stato di eccezione freilich, der im Text von Roland Barthes nicht der Repression und Stillstellung aller Veränderung, sondern der Destabilisierung, Mobilisierung und Verflüssigung des Festgefügten dient.

Die politische Dimension dieses Ausnahmezustands ist dabei evident. Im Grunde hat ein dérèglement de tous les sens stattgefunden, das sich nicht nur auf die Sinneswahrnehmungen, sondern vor allem auch auf eine zuvor festgelegte, aber nur scheinbar stabile Vektorizität bezieht: »plus de voies, plus de rives, plus de directions; une substance plane qui ne va nulle part, et qui suspend ainsi le devenir de l’homme, le détache d’une raison, d’une ustensilité des lieux« (OC I 599).

Das Verstörendste dabei sei das Verschwinden des Flusses selbst. Die geographische Grundform des »ruban de la rivière« hat sich als Linie in die Fläche verflüchtigt und aufgelöst, verwischt damit die Ufer, die Fließrichtung, aber mehr noch – und dies ist für die neue Landschaft der Theorie wichtig – die Abfolge und Chronologie eines Durchlaufens sowie die damit verbundenen Hierarchien von Strom und Fluss, von Hauptarm und Nebenarm, von Hauptfluss und Nebenfluss. Ein Zentrum, eine Rangfolge: Sie sind nicht mehr erkennbar. Eine aquatische Landschaft ist entstanden, in der sich die Grenzen zwischen Land und Wasser, zwischen dem Festen und dem Beweglichen grundlegend verschoben haben: eine Landschaft der Theorie, in der aus einer Wasserfläche Inseln herausragen, ein Archipelagos im ursprünglichen Sinne also, dessen Epistemologie Roland Barthes bereits in seinem frühen, 1944 veröffentlichten Text En Grèce18 auf faszinierende Weise literarisch erkundet hatte.

So füllen die Wassermassen nun die Straßen mancher Stadtviertel von Paris; und die Bewohner kehren in Kähnen und Booten zu ihren Häusern zurück, als wären diese von Wassergräben umzogene Befestigungen oder venezianische Paläste (OC I 600). So entsteht eine Stadtlandschaft, die sich aus verschiedenen Inseln zusammensetzt, ein Venedig, das als Insel aus Inseln besteht. Diese Venetianisierung von Paris ist ein wesentlicher Bestandteil des Festes, ist ein Aspekt des Spektakels, der aber nicht nur die Struktur einer Stadt unter einer anderen Stadt und nicht allein das Motto im Stadtwappen von Paris zur Geltung bringt: Fluctuat nec mergitur. Vielmehr formt das dépaysement eine Landschaft, ein paysage, das ebenso ein neues Sehen wie ein neues Denken erlaubt – wie auch ein neues Zusammenleben der Menschen, die sich angesichts der bedrohlichen Wassermassen wechselseitig beistehen.

So wie die lebendigen Dinge ihre Wurzeln kappen und frei flottieren, so besitzt der Raum keinen Kontext mehr, der ihn noch bestimmen könnte, und so gibt es nun auch keine Hierarchie (hiérarchie) mehr zwischen Fluss und Straße, Bebauung und offenem Feld: Jedwede Panoramasicht hat ihre machtvolle Funktion verloren, den Raum zu organisieren (OC I 599). Das Zentrum geht in den Reflexen der Stadt unter der Stadt verloren: l’appropriation de l’espace est suspendue (OC I 599) – und die nicht-hierarchisierte, nicht-zentrierte, bewegliche, frei flottierende Logik ergreift auf sanfte und höchst sinnliche Weise die Macht, so als würde die alte Macht dankbar abdanken. Eine archipelische, offene und geradezu kindlich-spielerische Logik hat die alten Hierarchien einfach überspült.

Dies bedeutet nun aber keineswegs, dass die Natur jetzt an die Macht gelangt wäre und die Kultur brutal von ihrem Platz vertrieben hätte. Keine Katastrophe hat stattgefunden, keine Terreur hat die Straßen erfasst, kein Horror hat sich in der französischen Bevölkerung verbreitet. Wir haben es vielmehr, folgen wir dem Mythenkritiker, mit einem Vorrücken des »mythe heureux du glissement« (OC I 600) zu tun. Was aber ist unter diesem glücklichen Mythos zu verstehen?

Roland Barthes geht, wie er zuvor erläutert, davon aus, dass die veröffentlichten Pressephotographien der Überschwemmungen das »seul moyen de consommation vraiment collective de l’inondation« darstellen (OC I 599). So erlauben diese Bilder auch Bezüge, die Barthes zu lebendigen Bildern entwickelt. Zieht man die Photographien heran, die zum ursprünglichen Kotext und Kontext der kleinen Mythologie gehören, wird deutlich, wie eng die ikonotextuelle Verflechtung ist, die der Zeichentheoretiker und Schriftsteller zwischen seinem eigenen Text und den zahlreichen Pressephotos herstellt.

Abb. 3

Denn gerade die Photographien aus der Vogelperspektive zeigen nicht nur das Ausmaß der Überschwemmungen ganzer Stadtviertel, sondern präparieren auch die kubusförmigen Strukturen, die von Ruderbooten befahrenen Straßen und die archipelische Struktur heraus, die sich der gewohnten urbanen Anlage von Paris aufgelagert hat – Elemente, die Barthes allesamt literarisch verarbeitete (Abb. 3). Auch das Umland von Paris erscheint in Luftaufnahmen, welche die Inselstrukturen der Ile de France in Paris-Match etwa unter Schlagzeilen wie diesen zur Geltung bringen: »Vue du ciel la terre de France sous le silencieux manteau des eaux«19 (Abb. 4). Das Faszinierende an Barthes’ kleinem Text besteht darin, dass er die Bilder und die Texte, welche die Printmedien 1955 massiv und unter dem Einsatz modernster Methoden verbreiteten, seiner eigenen Analyse unterzieht und dabei die Darstellungs- und mehr noch Wahrnehmungsmöglichkeiten dieser in Bild und Wort gesetzten Überschwemmungen zum Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen im Medium der Schrift macht.

Denn Barthes transferiert die Bewegung des glissement von der Ebene des eindringenden Wassers und der lebendigen Dinge auf die Aneignung der Photographien durch die zeitgenössischen Leser so, dass die Bewegung des Gleitens von den Objekten auf die Subjekte überschwappt und nicht nur zum Lesebild, sondern zu einem eigentlichen LebensBild gerät:

[...] devant les photos d’information, chaque lecteur se sent glisser par procuration. D’où le grand succès des scènes où l’on voit des barques marcher dans la rue: ces scènes sont nombreuses, journaux et lecteurs s’en sont montrés gourmands. C’est que l’on y voit accompli dans le réel le grand rêve mythique et enfantin du marcheur aquatique. Après des millénaires de navigation, le bateau reste encore un objet surprenant: il produit des envies, des passions, des rêves: enfants dans leur jeu ou travailleurs fascinés par la croisière, tous y voient l’instrument même de délivrance, la résolution toujours étonnante d’un problème inexplicable au bon sens: marcher sur l’eau. L’inondation relance le thème, lui donne pour cadre piquant la rue de tous les jours: on va en bateau chez l’épicier, le curé entre en barque dans son église, une famille va aux provisions en canoë. (OC I 600)

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6

Das Gleiten, das glissement ergreift hier alles: ebenso das stille Eindringen des Wassers wie die Wahrnehmungsweise der Überschwemmungsbilder durch die Leser. Vor allem aber praktiziert der Text selbst ein ständiges Gleiten, das die Leser der Mythologie von den vorgegebenen Stadt-, Quartiers- oder Hausstrukturen über die lebendigen Dinge zu einer veränderten Lebenspraxis (der Bewohner) führt (Abb. 5). Die lange Kulturgeschichte menschlicher Schiffahrt öffnet sich auf veränderte LebensBilder, in denen sich Familien in geradezu indigen anmutenden Kanus auf Versorgungsfahrten, also gleichsam auf die Jagd begeben und so das Gleiten über das Wasser zu einem quasi natürlichen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens machen (Abb. 6). Unter den aktuellen erscheinen andere, archaische Lebensformen, unter den Pressebildern andere Bilder, die Bilder eines anderen Wissens vom Leben sind.

Auch mit seinem am Ende des Textes vorgenommenen Rückgriff auf die Arche Noah entfaltet Roland Barthes eine Vielzahl menschheitsgeschichtlicher Momente, die hier aus ihrer chronologischen Abfolge herausgelöst und vergleichzeitigt werden. Bei dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber bleibt die Barthes’sche Mythologie nicht stehen, sondern mündet ein in eine Engführung der Geschichte der Menschen und der Geschichte der Natur. Es kommt zwar fraglos nicht zu jenem Kollaps von Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte, den Dipesh Chakrabarty in einer anregenden Untersuchung mit Blick auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts in seinen vier Thesen zu The Climate of History herausgearbeitet hat.20 Doch müssen sich die Überlegungen von Roland Barthes nicht auf die Erhebung neuester Klimadaten stützen, um nicht nur intellektuell verstehbar, sondern sinnlich erlebbar zu machen, wie irreführend es ist, Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte klar voneinander zu scheiden. Denn in Barthes’ gleitenden Bewegungen zwischen Natur und Kultur wird deutlich, dass Natur in ihrer Mediatisierung Kultur und damit Politik ist, ja dass die Überschwemmung von Paris, dessen emblematisches Schiff im Wappen auf dem Wasser schwimmt und niemals untergeht, im höchsten Maße Politik ist. Eine Politik, wie sie in der Menschheitsgeschichte gespeichert ist, und eine Politik, die ihrerseits den Mythos bemüht, um das Ereignis der Überschwemmung selbst wie auch ihr eigenes Tun als natürlich auszugeben. Paris wurde nicht überschwemmt: Bereits im Titel wird diese Einsicht durch das Spiel mit dem Fluctuat nec mergitur, das einem französischen Lesepublikum selbstverständlich bekannt ist, markiert.

Die Geschichte des Menschen ist nicht von der Geschichte der Natur zu trennen. Dies gilt gewiss aber auch umgekehrt. Wenn Chakrabarty in seiner erwähnten Untersuchung mit guten Gründen auf die Tatsache aufmerksam macht, dass wir im Schatten des Anthropozäns, also eines von den Werken und Wirkungen des Menschen geprägten geologischen Zeitalters, heute aufgefordert, ja gezwungen sind, die Globalgeschichten des Kapitals mit der Geschichte der menschlichen Spezies in Verbindung zu bringen, dann wird damit zweifellos eine wichtige Historisierung dieses Prozesses im Zeichen einer dramatischen Zuspitzung eben dieses Verhältnisses vorgenommen.21

Dies enthebt aber nicht der Verpflichtung, die Natur schon immer in ihrer Wahrnehmung durch den Menschen als Kultur zu verstehen und zugleich zu begreifen, dass mit der Naturalisierung der Natur Politik gemacht wird. Denn wenn wir verstehen wollen, in welcher komplexen Relation die »recorded history«, also die im Verlauf der zurückliegenden vier oder fünf Jahrtausende aufgezeichnete Geschichte, mit der »deep history«, also mit der gesamten Menschheitsgeschichte vor der Erfindung des Ackerbaus, steht, ist es unabdingbar, die jahrtausendealte Präsenz der Mythen in der Gegenwart so zu befragen, dass sie immer wieder neue Aspekte des Lebens und ZusammenLebens freigeben und beleuchten, ja erlebbar machen. Denn schon die noch erhaltenen Tontafeln und Fragmente des Gilgamesch-Epos verweisen nicht allein auf frühere Aufzeichnungen und Bezüge, sondern auch und vor allem auf literarische Verdichtungsformen, die ebenso das Zusammenleben des Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Geschlechts mit anderen Menschen (derselben wie anderer Kulturen) als auch mit den Göttern, mit den Tieren, den Pflanzen und den Dingen enthalten und entfalten.

In diesem Sinne entfaltet Roland Barthes in Paris n’a pas été inondé eine komplexe Reflexion, die ausgehend von den aktuellen Überschwemmungen im Frankreich des Jahres 1955 nach den Wechselbeziehungen zwischen Natur, Kultur und Politik einerseits und nach der Präsenz der Verbindung von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte im Leben heutiger Menschen fragt. Auch wenn der Lebensbegriff nicht im eigentlichen Fokus der Überlegungen von Dipesh Chakrabarty steht, klingt die ganze Bedeutsamkeit dieser Dimension, zu deren Erhellung die Literaturen der Welt entscheidend beitragen können, doch in manchen seiner Formulierungen an. So heißt es mit Blick auf die Folgen der Erderwärmung:

The consequences make sense only if we think of humans as a form of life and look on human history as part of the history of life on this planet. For, ultimately, what the warming of the planet threatens is not the geological planet itself but the very conditions, both biological and geological, on which the survival of human life as developed in the Holocene period depends.22

Für ein Verständnis von Leben aber, das auf einem Lebensbegriff aufruht, der sich nicht allein auf die geologischen und biologischen, sondern wesentlich auch auf die kulturellen Dimensionen des Lebens – und damit auf ein umfassendes Verständnis von griechisch bíos – bezieht, gibt es kein umfassenderes und zugleich verdichteteres Reflexionsmedium als die Literatur oder genauer: die Literaturen der Welt. Denn sie enthalten in ihrer jahrtausendealten Entfaltung quer zu den Zeiten und Mächten, quer zu den Sprachen und Kulturen ein Lebenswissen, ÜberLebenswissen und ZusammenLebensWissen, das von zutiefst viel-logischen Strukturierungen geprägt ist.23

Eben hier setzt Barthes in einer gleichsam transhistorischen Perspektivierung inmitten aller von der Überflutung ausgelösten Zerstörungen ein Wissen von der »euphorie de reconstruire« (OC I 600) ein, das sich seines paradoxen Status durchaus bewusst ist, zugleich aber auch um den experimentellen Charakter seines eigenen Tuns weiß:

Fait paradoxal, l’inondation a fait un monde plus disponible, maniable avec la sorte de délectation que l’enfant met à disposer ses jouets, à les explorer et à en jouir. [...] Si l’on passe des mythes de sensation aux mythes de valeur, l’inondation garde la même réserve d’euphorie: la presse a pu y développer très facilement une dynamique de la solidarité et reconstituer au jour le jour la crue comme un événement groupeur d’hommes. (OC I 600)

Damit werden hier Formen und Normen eines ZusammenLebensWissens24 beleuchtet, das von der Presse mobilisiert werden kann, weil es gleichsam mythisch gespeichert ist. Die Euphorie entsteht aus der Wiedererkennung eines Wissens, das auf unterschiedlichste Weise in der Wissenschaft, in den Lebenspraktiken, in Glaubensvorstellungen, aber nicht zuletzt auch in der Literatur – Barthes spricht vom »lever un pont-levis dans un roman d’aventures« (OC I 600) – gespeichert ist. Die Mobilisierung des Mythos – eines mythe de valeur – in der Massenkommunikation wird genau deshalb zum Gegenstand der Analyse von Barthes, weil der Kulturtheoretiker25 auf eben dieser Ebene nicht nur die Funktionsweise des Mythos, sondern dessen Verwendung in einer konkreten Lebenspraxis – unter den Bedingungen eines bedrohten Lebens, das Solidarität und wechselseitige Hilfe einfordert – in seiner konkreten Funktionsweise erproben und literarisch vorführen kann.

Wie sehr dies auch im engsten Sinne eine politische Dimension impliziert, macht Barthes im Schlussabschnitt seines Textes deutlich, indem er die Präsenz des »mythe quarante-huitard« (OC I 600) aufzeigt: Gegen das Paris umschließende Heer der Wassermassen werden überall die in der Massenpresse so genannten »Barrikaden« errichtet; ein heroischer Widerstandskampf setzt ein, der mit allen Attributen jener Verwendung des Mythos arbeitet, die Barthes in Le mythe, aujourd’hui am Ende seiner Mythologies erläutert. Den großen Erfolg dieses »mode de résistance légendaire« gegen einen hereinbrechenden Feind führt Barthes auf die Entfaltung einer »image d’une mobilisation armée« zurück (OC I 600), deren militärische Machtentfaltung an erster Stelle der Errettung der Kinder, der Alten und der Kranken gilt (OC I 601).

Wenn diese generalstabsmäßig vorbereitete Aktion aber dann auf die mythische Ebene der Sintflut und der Arche Noah gehoben wird, dann greift Barthes hier bewusst auf jenen mythe heureux zurück, den er in der Mitte seines Textes eingeführt hatte: auf den glücklichen Mythos des Gleitens und Dahingleitens. Im Zeichen dieses Mythos endet der gesamte Text:

Car l’Arche est un mythe heureux: l’humanité y prend ses distances à l’égard des éléments, elle s’y concentre et y élabore la conscience nécessaire de ses pouvoirs, faisant sortir du malheur même l’évidence que le monde est maniable. (OC I 601)

Abb. 7

Im Bild der Arche, in dem sich das Fluctuat nec mergitur der Stadt Paris unausgesprochen spiegelt, entsteht nicht allein das Bild menschlichen Vermögens und menschlicher Macht, sondern auch der Beherrschbarkeit einer Wasser-Landschaft, deren Bild zum Bild der Welt, des gesamten Planeten, geworden ist. In diesem Mythos, der weit über die Zeit schriftlicher Aufzeichnungen hinausreicht, wird ein ÜberLebenswissen schriftbildlich vor Augen geführt, das gerade in der Naturgeschichte die Menschheitsgeschichte zum Erscheinen bringt. Die Politik als die Kunst des maniable, des von Menschenhand Modellierbaren und Manipulierbaren, erscheint inmitten einer Natur gerade an dem mobilen Ort, der für die Literatur wie für den Menschen überhaupt entscheidend ist: am Ort des Lebens, des Überlebens und des Zusammenlebens (Abb. 7). Im glücklichen Mythos der Arche experimentiert eine Menschheit, der nicht nur der Boden unter den Füßen, sondern eine zentrierte und verwurzelte Landschaft abhanden gekommen ist, auf ebenso sinnliche wie sinngebende Weise mit ihrem eigenen Überleben. Paris n’a pas été inondé führt den Sinn wie die Sinnlichkeit dieses Lebens-, Überlebens- und Zusammenlebens-Bildes nicht als eine Naturpolitik, sondern vielmehr als eine Lebenspolitik vor Augen: als eine Politik, in der sich das Naturgeschichtliche und Menschheitsgeschichtliche in einer politischen Praxis miteinander verbinden.

AUTOMOBILE GÖTTINNEN ERLEBEN

1955 war nicht nur das Jahr der großen Überschwemmungen, sondern auch das der Vorstellung des neuen Citroën DS 19. Im Oktober präsentierte Paris-Match unter dem Titel »La nouvelle Citroën« das lange Zeit bestgehütete Geheimnis der französischen Fahrzeugschmiede und veröffentlichte einen mit zahlreichen Photographien angereicherten Bericht, der schon auf dem Cover der Oktober-Ausgabe das neue Automobil mit einer jungen, das Lesepublikum der Zeitschrift aus dem geöffneten Wagenfenster anlächelnden Frau am Steuer zeigte (Abb. 8).26 Ein unverkennbar in der Nachkriegszeit verorteter, aber bis heute anhaltender Mythos hatte zu leben begonnen. Kein Wunder also, dass sich ihm Roland Barthes unter demselben Titel La nouvelle Citroën in einem seiner wohl berühmtesten und ebenfalls in die Sammlung seiner Mythologies aufgenommenen Kurztexte widmete und zu ergründen suchte, was sich hinter der Bezeichnung DS verbarg.

Wie schon in Paris n’a pas été inondé setzt auch diese Mythologie mit einer Überraschung im incipit ein:

Je crois que l’automobile est aujourd’hui l’équivalent assez exact des grandes cathédrales gothiques: je veux dire une grande création d’époque, conçue passionnément par des artistes inconnus, consommée dans son image, sinon dans son usage, par un peuple entier qui s’approprie en elle un objet parfaitement magique. (OC I 655)

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