Bücher von Harry Eilenstein:

Band 1: Götter und Mythen im Alten Ägypten (432 S.)

Band 2: Die altägyptische Religion – Ursprünge, Kult und Magie (396 S.)

Band 1: Die Struktur des kabbalistischen Lebensbaumes (370 S.)

Band 2: Der kabbalistische Lebensbaum als Forschungshilfsmittel (580 S.)

Band 3: Der kabbalistische Lebensbaum als spirituelle Landkarte (520 S.)

Kontakt: www.HarryEilenstein.de / Harry.Eilenstein@web.de

Impressum: Copyright: 2011 by Harry Eilenstein – Alle Rechte, insbesondere auch das der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors und des Verlages (nicht als Fotokopie, Mikrofilm, auf elektronischen Datenträgern oder im Internet) reproduziert, übersetzt, gespeichert oder verbreitet werden.

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783743144231

Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“
  1. Die Entwicklung der germanischen Religion
  2. Lexikon der germanischen Religion
  3. Der ursprüngliche Göttervater Tyr
  4. Tyr in der Unterwelt: der Schmied Wieland
  5. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 1
  6. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 2
  7. Tyr in der Unterwelt: der Zwergenkönig
  8. Der Himmelswächter Heimdall
  9. Der Sommergott: Baldur, Phol und Meili
  10. Der Meeresgott: Ägir, Hler und Njörd
  11. Der Eibengott Ullr
  12. Die Zwillingsgötter Alcis
  13. Der neue Göttervater Odin Teil 1
  14. Der neue Göttervater Odin Teil 2
  15. Der Fruchtbarkeitsgott Freyr
  16. Der Chaos-Gott Loki
  17. Der Donnergott Thor
  18. Der Priestergott Hönir
  19. Die Göttersöhne
  20. Die unbekannteren Götter
  21. Die Göttermutter Frigg
  22. Die Liebesgöttin: Freya und Menglöd
  23. Die Erdgöttinnen
  24. Die Korngöttin Sif
  25. Die Apfel-Göttin Idun
  26. Die Hügelgrab-Jenseitsgöttin Hel
  27. Die Meeres-Jenseitsgöttin Ran
  28. Die unbekannteren Jenseitsgöttinnen
  29. Die unbekannteren Göttinnen
  30. Die Nornen
  31. Die Walküren
  32. Die Zwerge
  33. Der Urriese Ymir
  34. Die Riesen
  35. Die Riesinnen
  36. Mythologische Wesen
  37. Mythologische Priester und Priesterinnen
  38. Sigurd/Siegfried
  39. Helden und Göttersöhne
  40. Die Symbolik der Vögel und Insekten
  41. Die Symbolik der Schlangen, Drachen und Ungeheuer
  42. Die Symbolik der Herdentiere
  43. Die Symbolik der Raubtiere
  44. Die Symbolik der Wassertiere und sonstigen Tiere
  45. Die Symbolik der Pflanzen
  46. Die Symbolik der Farben
  47. Die Symbolik der Zahlen
  48. Die Symbolik von Sonne, Mond und Sternen
  49. Das Jenseits
  50. Seelenvogel, Utiseta und Einweihung
  51. Wiederzeugung und Wiedergeburt
  52. Elemente der Kosmologie
  53. Der Weltenbaum
  54. Die Symbolik der Himmelsrichtungen und der Jahreszeiten
  55. Mythologische Motive
  56. Der Tempel
  57. Die Einrichtung des Tempels
  58. Priesterin – Seherin – Zauberin – Hexe
  59. Priester – Seher – Zauberer
  60. Rituelle Kleidung und Schmuck
  61. Skalden und Skaldinnen
  62. Kriegerinnen und Ekstase-Krieger
  63. Die Symbolik der Körperteile
  64. Magie und Ritual
  65. Gestaltwandlungen
  66. Magische Waffen
  67. Magische Werkzeuge und Gegenstände
  68. Zaubersprüche
  69. Göttermet
  70. Zaubertränke
  71. Träume, Omen und Orakel
  72. Runen
  73. Sozial-religiöse Rituale
  74. Weisheiten und Sprichworte
  75. Kenningar
  76. Rätsel
  77. Die vollständige Edda des Snorri Sturluson
  78. Frühe Skaldenlieder
  79. Mythologische Sagas
  80. Hymnen an die germanischen Götter

Inhaltsverzeichnis

  1. Baldur in der mythologischen Überlieferung der Germanen
    1. Gylfis Vision (1)
    2. Die Saga über Hervor und König Heidrek den Weisen
    3. Gylfis Vision (2)
    4. Hyndla-Lied
    5. Fiölswin-Lied
    6. Heimskringla (1)
    7. Wegtamlied
    8. Odins Rabenzauber
    9. Die Vision der Seherin
    10. Lokasenna
    11. Husdrapa
    12. Grimnir-Lied
    13. Heimskringla (2)
    14. Hymir-Lied
    15. Haustlöng
    16. Skaldskarparmal (1)
    17. Eiriksmal
    18. Heimskringla (3)
    19. Skaldskarpamal (2)
    20. Merseburger Zaubersprüche
    21. Edda-Zitat
    22. Gylfis Vision (3)
    23. Gylfis Vision (4)
    24. Skirnir-Lied
    25. Skaldskaparmal (3)
    26. Gedicht über Gizurr Goldbrauen-Skalde
    27. Asen-Thulur
    28. Kenningar
    29. Personennamen
    30. Zusammenfassung
  2. Baldur in den Sagas der Germanen
    1. Baldur
      1. Fridthjofssaga
      2. Saga über König Olaf den Ruhmreichen Tryggvason
      3. Styrbjörn-Saga
      4. Sögubrot af nokkrum fornkonungum
    2. Der Ring
      1. Huldar-Saga
      2. Die Saga von Thorstein Haus-Macht
      3. Halsringe auf den Goldbrakteaten
      4. Der Ring Draupnir auf den Runensteinen
      5. Ringe auf dem Goldhorn von Gallehus
      6. Archäologische Ring-Funde
    3. Die Schiffsbestattungen der Germanen
      1. Gisli-Saga
      2. Beowulf-Epos
      3. Steinsetzungen in Schiffsform
    4. Das Feuer-Jenseitstor
      1. Tacitus
      2. Sigurd-Lied
      3. Gudruns Streit-Lied
      4. Das Beowulf-Epos
      5. Hervor-Saga
      6. Ibn Fadlans Reisebericht
      7. Die Saga von Thrond von Gate
      8. Brakteaten
    5. Zusammenfassung
  3. Baldur in den Chroniken
    1. Baldur in der „Gesta danorum“ des Saxo grammaticus
      1. Gesta danorum (1)
      2. Gesta danorum (2)
      3. Gesta danorum (3)
    2. Baldur in der Chronicon lethrense
  4. Baldur in Jakob Grimms „Deutscher Mythologie“
    1. Baldur
    2. Angelsächsiche Stammtafeln
  5. Baldur, Forseti und Hofund
  6. Der Name „Baldur“
    1. Frühes Nordeuropa
    2. Frühgermanisches England
    3. Angelsachsen
    4. Frühes deutsches Mittelalter
    5. Goten
    6. Deutschland
    7. Urgermanen
    8. Kelten
    9. Litauen und Lettland
    10. Slawen
    11. Griechen
    12. Indogermanen
    13. Jungsteinzeit
    14. Altsteinzeit
    15. Baldur in Ortsnamen
    16. Baldur in Pflanzennamen
  7. Baldur bei den Indogermanen
    1. Schönheit-Richtigkeit
    2. Der sterbende Gott
    3. Der Ring
    4. Der Mistelpfeil
    5. Das Totenschiff
    6. Die Feuerbestattung
    7. Das Opfer der Ehefrau
    8. Die Jenseitsgöttin
    9. Horn und Rinderfell
    10. Der Lachs
    11. Der Göttermet
    12. Die Unverwundbarkeit
    13. Zusammenfassung
  8. Die Wurzeln des Baldur in der Jungsteinzeit
  9. Die Wurzeln des Baldur in der Altsteinzeit
  10. Die Biographie des Gottes Baldur
  11. Das Aussehen des Gottes Baldur
  12. Der Weg zu Baldur
  13. Hymnen an Baldur
    1. An Baldur
    2. Baldurs Schicksal
    3. Hermodr und Thökk
    4. Baldurs Reise
    5. Baldur und Ullr
  14. XIV Traumreisen zu Baldur
    1. Traumreise zu Baldur
    2. Traumreise nach Breidablick
  15. Baldur heute

I Baldur in der mythologischen Überlieferung der Germanen

Die Hauptquelle für die Mythen der Germanen ist die Edda. Sie ist eine Sammlung von Geschichten und Liedern über die germanischen Götter sowie eine ausführliche Beschreibung der germanischen Dichtkunst. Der Name „Edda“ leitet sich von dem lateinischen „editio“ ab und bedeutet hier in etwa „Sammlung, Zusammenstellung“. Sie besteht aus zwei Teilen: aus einer Sammlung von alten Liedern und einem Prosateil mit einzelnen Strophen, der um 1220 n.Chr. von Snorri Sturluson (1179-1241 n.Chr.) für den norwegischen König Hákon Hákonarson und für seinen Freund, den norwegischen Jarl („Earl“ = Fürst) Skule Bårdson verfaßt wurde.

Diese Texte werden schon recht alt sein, da sich einige Motive aus diesen Liedern bereits auf den Runensteinen finden und viele Motive auch aus den Mythen anderer indogermanischer Völker bekannt sind.

Der Gott Baldur ist vor allem in den Prosatexten der Edda beschrieben worden.

I 1. Gylfis Vision (1)

In dieser langen Vision wird zunächst allgemein Baldurs Herkunft und sein Charakter dargestellt:

Da sprach Gangleri:Ich möchte auch von den anderen Asen Kunde hören.

Har sprach:Odins anderer Sohn ist Baldur. Von ihm ist nur Gutes zu sagen: Er ist der beste und wird von allen gelobt. Er ist so schön von Antlitz und so glänzend, daß ein Schein von ihm ausgeht. Ein Kraut ist so licht, daß es mit Baldurs Augenbrauen verglichen wird, es ist das lichteste aller Kräuter: Davon magst Du auf die Schönheit seines Haars sowohl als seines Leibes schließen. Er ist der weiseste, beredteste und mildeste von allen Asen. Er hat die Eigenschaft, daß niemand seine Urteile schelten kann. Er bewohnt im Himmel die Stätte, welche Breidablick heißt. Da wird nichts Unreines geduldet, wie hier gesagt wird:

'Die siebente ist Breidablick, da hat Baldur sich

Die Halle erhöht

In jener Gegend, wo ich der Greuel

Die wenigsten lauschen weiß.'

Später wird in dem Text ausführlich dargestellt, wie es zu Baldurs Tod kam und was sich danach ereignete:

Da frug Gangleri:Haben sich noch andere Abenteuer mit den Asen ereignet? Eine gewaltige Heldentat hat Thor auf dieser Fahrt verrichtet.

Har antwortete:Es mag noch von Abenteuern berichtet werden, die den Asen bedeutender scheinen.

Und das ist der Anfang dieser Sage, daß Baldur der Gute schwere Träume träumte, die seinem Leben Gefahr deuteten. Und als er den Asen seine Träume sagte, hielten sie zusammen Rat und beschlossen, dem Baldur Sicherheit vor allen Gefahren auszuwirken.

Da nahm Frigg Eide von Feuer und Wasser, Eisen und allen Erzen, Steinen und Erden, von Bäumen, Krankheiten und Giften, dazu von allen vierfüßigen Tieren, Vögeln und Würmern, daß sie Baldurs schonen wollten. Als das geschehen und allen bekannt war, da kurzweilten die Asen mit Baldur, daß er sich mitten in den Kreis stellte und einige nach ihm schossen, andere nach ihm hieben und noch andere mit Steinen warfen. Und was sie auch taten, es schadete ihm nicht; das dünkte sie alle ein großer Vorteil.

Aber als Loki, Laufeyjas Sohn, das sah, da gefiel es ihm übel, daß den Baldur nichts verletzen sollte. Da ging er zu Frigg nach Fensal in Gestalt eines alten Weibes. Da frug Frigg die Frau, ob sie wüßte, was die Asen in ihrer Versammlung vornähmen.

Die Frau antwortete, daß sie alle nach Baldur schossen; ihm aber nichts schade.

Da sprach Frigg: 'Weder Waffen noch Bäume mögen Baldur schaden: ich habe von allen Eide genommen.'

Da frug das Weib: 'Haben alle Dinge Eide geschworen, Baldurs zu schonen?'

Frigg antwortete: 'Östlich von Walhall wächst eine Staude, Mistel genannt, die schien mir zu jung, sie in Eid zu nehmen.'

Darauf ging die Frau fort; Loki nahm den Mistelzweig, riß ihn aus und ging zur Versammlung. Hödur stand zuäußerst im Kreise der Männer, denn er war blind. Da sprach Loki zu ihm: 'Warum schießt Du nicht nach Baldur?'

Er antwortete: 'Weil ich nicht sehe, wo Baldur steht; zum anderen hab ich auch keine Waffe.'

Da sprach Loki: 'Tu doch wie andere Männer und biete Baldur Ehre wie alle tun. Ich will Dich dahin weisen wo er steht: So schieße nach ihm mit diesem Reis.'

Hödur nahm den Mistelzweig und schoß nach Baldur nach Lokis Anweisung. Der Schuß flog und durchbohrte ihn, daß er tot zur Erde fiel, und das war das größte Unglück, das Menschen und Götter je traf.

Als Baldur gefallen war, standen die Asen alle wie sprachlos und gedachten nicht einmal, ihn aufzuheben. Einer sah den anderen an; ihr aller Gedanke war wider den gerichtet, der diese Tat vollbracht hatte; aber sie durften es nicht rächen: es war an einer heiligen Freistätte. Als aber die Asen die Sprache wieder erlangten, da war das erste, daß sie so heftig zu weinen anfingen, daß keiner mit Worten dem anderen seinen Gram zu sagen vermochte.

Und Odin nahm sich den Schaden um so mehr zu Herzen als niemand so gut wußte als er, zu wie großem Verlust und Verfall den Asen Baldurs Ende gereichte. Als nun die Asen sich erholt hatten, da sprach Frigg und frug, wer unter den Asen ihre Gunst und Huld gewinnen und den Helweg reiten wolle, um zu versuchen ob er da Baldur fände, und der Hel Lösegeld zu bieten, daß sie Baldur heimfahren ließe gen Asgard.

Der diese Fahrt übernahm, hieß Hermod der Schnelle, Odins Sohn. Da ward Sleipnir, Odins Hengst, genommen und vorgeführt, Hermod bestieg ihn und stob davon.

Da nahmen die Asen Baldurs Leiche und brachten sie zur See. Hringhorni hieß Baldurs Schiff, es war aller Schiffe größtes. Das wollten die Götter vom Strande stoßen und Baldurs Leiche darauf verbrennen; aber das Schiff ging nicht von der Stelle. Da wurde gen Jötunheim nach dem Riesenweib gesendet, die Hyrrockin hieß, und als sie kam, ritt sie einen Wolf, der mit einer Schlange gezäumt war. Als sie vom Rosse gesprungen war, rief Odin vier Berserker herbei, es zu halten; aber sie vermochten es nicht anders als indem sie es niederwarfen.

Da trat Hyrrockin an das Vorderteil des Schiffes und stieß es im ersten Anfassen vor, daß Feuer aus den Walzen fuhr und alle Lande zitterten. Da ward Thor zornig und griff nach dem Hammer und würde ihr das Haupt zerschmettert haben, wenn ihr nicht alle Götter Frieden erbeten hätten.

Da wurde Baldurs Leiche hinaus auf das Schiff getragen und als sein Weib Nanna, Neps Tochter, das sah, da zersprang sie vor Jammer und starb. Da wurde sie auf den Scheiterhaufen gebracht und Feuer darunter gezündet, und Thor trat hinzu und weihte den Scheiterhaufen mit Miölnir, und vor seinen Füßen lief der Zwerg, der Lit hieß, und Thor stieß mit dem Fuß nach ihm und warf ihn ins Feuer, daß er verbrannte.

Und diesem Leichenbrand wohnten vielerlei Gäste bei: Zuerst ist Odin zu nennen, und mit ihm fuhr Frigg und die Walküren und Odins Raben, und Freyr fuhr im Wagen und hatte den Eber vorgespannt, der Gullinborsti hieß oder Slidrugtanni. Heimdall ritt den Hengst Gulltopp und Freyja fuhr mit ihren Katzen. Auch kam eine große Menge Hrimthursen und Bergriesen.

Odin legte auf den Scheiterhaufen den Ring, der Draupnir hieß, der seitdem die Eigenschaft gewann, daß jede neunte Nacht acht gleich schöne Goldringe von ihm tropften. Baldurs Hengst wurde mit allem Geschirr zum Scheiterhaufen geführt.

Von Hermod aber ist zu sagen, daß er neun Nächte durch tiefe dunkle Täler ritt, so daß er nichts sah, bis er zum Giöllflusse kam und über die Giöllbrücke ritt, die mit glänzendem Gold belegt ist.

Modgud heißt die Jungfrau, welche die Brücke bewacht: Die frug ihn nach Namen und Geschlecht und sagte, gestern seien fünf Haufen toter Männer über die Brücke geritten, 'und nicht donnert sie jetzt minder unter Dir allein, und nicht hast Du die Farbe toter Männer: warum reitest Du den Helweg?'

Er antwortete: 'Ich soll zu Hel reiten, Baldur zu suchen. Hast Du vielleicht Baldur auf dem Helweg gesehen?'

Da sagte sie: Baldur sei über die Giöllbrücke geritten; 'aber nördlich geht der Weg hinab zu Hel.'

Da ritt Hermod dahin, bis er an das Helgitter kam: Da sprang er vom Pferd und gürtete es fester, stieg wieder auf und gab ihm die Sporen: Da setzte der Hengst so mächtig über das Gitter, daß er es nirgends berührte. Da ritt Hermod auf die Halle zu, stieg vom Pferd und trat in die Halle. Da sah er seinen Bruder Baldur auf dem Ehrenplatze sitzen.

Hermod blieb dort die Nacht über. Aber am Morgen verlangte Hermod von Hel, daß Baldur mit ihm heim reiten solle, und sagte, welche Trauer um ihn bei den Asen sei. Aber Hel sagte, das solle sich nun erproben, ob Baldur so allgemein geliebt werde als man sage. 'Und wenn alle Dinge in der Welt, lebendige sowohl als tote, ihn beweinen, so soll er zurück zu den Asen fahren; aber bei Hel bleiben, wenn eins widerspricht und nicht weinen will.'

Da stand Hermod auf und Baldur geleitete ihn aus der Halle und nahm den Ring Draupnir und sandte ihn Odin zum Andenken, und Nanna sandte der Frigg einen Überwurf und noch andere Gaben, und der Fulla einen Goldring.

Da ritt Hermod seines Weges zurück und kam nach Asgard und sagte alle Dinge, die er da gehört und gesehen hatte. Danach sandten die Asen Boten in alle Welt und geboten, Baldur aus Hels Gewalt zu weinen. Alle taten das, Menschen und Tiere, Erde, Steine, Bäume und alle Erze; wie Du schon gesehen haben wirst, daß diese Dinge weinen, wenn sie aus dem Frost in die Wärme kommen. Als die Gesandten heimfuhren und ihr Gewerbe wohl vollbracht hatten, fanden sie in einer Höhle ein Riesenweib sitzen, das Thökk genannt wurde. Die baten sie auch, den Baldur aus Hels Gewalt zu weinen. Sie antwortete:

'Thöck muß weinen mit trocknen Augen

Über Baldurs Ende.

Nicht im Leben noch im Tod hatt ich Nutzen von ihm:

Behalte Hel was sie hat.'

Man sagt, daß dies Loki, Laufeyjas Sohn, gewesen sei, der den Asen so viel Leid zugefügt hatte.

Da sprach Gangleri:Viel Arges wahrlich hat Loki zu Wege gebracht, da er erst verursachte, daß Baldur erschlagen wurde, und dann schuld war, daß er nicht erlöst ward aus Hels Gewalt. Aber wurde das nicht irgendwie an ihm geahndet?

Har antwortete:Es ward ihm so vergolten, daß er lange daran denken wird. Als die Götter so wider ihn aufgebracht waren, wie man erwarten mag, lief er fort und barg sich in einem Berge. Da machte er sich ein Haus mit vier Türen, daß er aus dem Hause nach allen Seiten sehen konnte.

Oft am Tag verwandelte er sich in Lachsgestalt und barg sich in dem Wasserfall, der Franang hieß, und bedachte bei sich, welches Kunststück die Asen wohl erfinden könnten, ihn in dem Wasserfall zu fangen. Und einst, als er daheim saß, nahm er Flachsgarn und verflocht es zu Maschen, wie man seitdem Netze macht. Dabei brannte Feuer vor ihm. Da sah er, daß die Asen nicht weit von ihm waren, denn Odin hatte von Hlidskialfs Höhe seinen Aufenthalt erspäht.

Da sprang er schnell auf und hinaus ins Wasser, nachdem er das Netz ins Feuer geworfen hatte. Und als die Asen zu dem Haus kamen, da ging er zuerst hinein, der von allen der Weiseste war und Kwasir hieß, und als er im Feuer die Asche sah, wo das Netz gebrannt hatte, da merkte er, daß dies ein Mittel sein sollte, Fische zu fangen, und sagte das den Asen.

Da fingen sie an und machten ein Netz jenem nach, das Loki gemacht hatte, wie sie in der Asche sahen. Und als das Netz fertig war, gingen sie zu dem Fluß und warfen das Netz in den Wasserfall. Thor hielt das eine Ende, das andere die übrigen Asen, und nun zogen sie das Netz. Aber Loki schwamm voran und legte sich am Boden zwischen zwei Steine, so daß das Netz über ihn hinweggezogen wurde, doch merkten sie wohl, daß etwas Lebendiges vorhanden sei.

Da gingen sie abermals an den Wasserfall und warfen das Netz aus, nachdem sie etwas so Schweres daran gebunden hatten, daß nichts unten durchschlüpfen mochte. Loki fuhr vor dem Netze her und als er sah, daß es nicht weit von der See sei, da sprang er über das ausgespannte Netz und lief zurück in den Fall.

Nun sahen die Asen, wo er geblieben war: da gingen sie wieder an den Wasserfall und teilten sich in zwei Haufen nach den beiden Ufern des Flusses. Thor aber mitten im Fluß watend folgte ihnen bis an die See. Loki hatte nun die Wahl, entweder mit Lebensgefahr nach der See zu ziehen oder abermals über das Netz zu springen. Er tat das letzte und sprang schnell über das ausgespannte Netz. Thor griff nach ihm und kriegte ihn in der Mitte zu fassen; aber er glitt ihm in der Hand, so daß er ihn erst am Schwanz wieder festhalten konnte. Darum ist der Lachs hinten spitz.

Nun war Loki friedlos gefangen. Sie brachten ihn in eine Höhle und nahmen drei lange Felsenstücke, stellten sie auf die schmale Kante und schlugen ein Loch in jedes. Dann wurden Lokis Söhne, Wali und Nari oder Narwi, gefangen. Den Wali verwandelten die Asen in Wolfsgestalt: da zerriß er seinen Bruder Narwi.

Da nahmen die Asen seine Därme und banden den Loki damit über die drei Felsen: der eine stand ihm unter den Schultern, der andere unter den Lenden, der dritte unter den Kniegelenken; die Bänder aber wurden zu Eisen. Da nahm Skadi einen Giftwurm und befestigte ihn über ihm, damit das Gift aus dem Wurm ihm ins Antlitz träufelte.

Und Sigyn, sein Weib, steht neben ihm und hält ein Becken unter die Gifttropfen. Und wenn die Schale voll ist, da geht sie und gießt das Gift aus; derweil aber tropft ihm das Gift ins Angesicht, wogegen er sich so heftig sträubt, daß die ganze Erde schüttelt, und das ist es, was man Erdbeben nennt. Dort liegt er in Banden bis zur Götterdämmerung.

Schließlich sprechen Gangleri und Har noch über die Zeit nach Baldurs Tod und nach dem Ragnarök, der durch Baldurs Tod ausgelöst worden war.

Da sprach Gangleri:Leben denn dann heute noch Götter und gibt es noch eine Erde oder einen Himmel?

Har antwortete:Die Erde tauchte wieder aus der See auf, grün und schön, und Korn wächst darauf ungesäht. Widar und Wali leben noch, weder die See noch Surturs Lohe haben ihnen geschadet. Sie wohnen auf dem Idafeld, wo zuvor Asgard war. Auch Thors Söhne, Modi und Magni, stellen sich ein und bringen den Miölnir mit.

Danach kommen Baldur und Hödur aus dem Reiche Hels: Da sitzen sie alle beisammen und besprechen sich und gedenken ihrer Heimlichkeiten, und sprechen von Dingen, die vordem sich ereignet, von der Midgardschlange und dem Fenriswolf. Da finden sie im Grase die Goldtafeln, welche die Asen besessen haben. Wie es heißt:

'Widar und Wali walten des Heiligtums,

Wenn Surturs Lohe losch.

Modi und Magni sollen Miölnir schwingen

Und zu Ende kämpfen den Krieg.'

An einem Ort, Hoddmimirs Holz genannt, verbargen sich während Surturs Lohe zwei Menschen, Lif und Lifthrasir genannt, und nährten sich vom Morgentau. Von diesen beiden stammt ein so großes Geschlecht, daß es die ganze Welt bewohnen wird. So heißt es hier:

'Lif und Lifthrasir leben verborgen

In Hoddmimirs Holz;

Morgentau ist all ihr Mahl.

Von ihnen stammt ein neues Geschlecht.'

Und das wird Dich wunderbar dünken, daß die Sonne eine Tochter geboren hat, nicht minder schön als sie selber: die wird nun die Bahn der Mutter wandeln. So heißt es hier:

'Eine Tochter entstammt der strahlenden Göttin

Eh' der Wolf sie würgt.

Glänzend fährt nach der Götter Fall

Die Maid auf den Wegen der Mutter.'

Der rote Faden in diesem langen Bericht über Baldur ist sein Tod und seine Wiederkehr in das Land der Lebenden.

In diesem Text kommen viele Details vor, aus denen sich rekonstruieren läßt, worum es in dieser Mythe eigentlich geht.

Zunächst einmal wird Baldur als der beste, weiseste, mildeste, reinste und beredteste Gott von allen beschrieben, der deshalb von allen gelobt wird. Sowohl sein Charakter als auch sein Aussehen sind ganz von Schönheit erfüllt. Er scheint auch eine Art Richter zu sein, da niemand seine Urteile schelten kann. Selbst die Schönheit seines Haares und seiner Brauen wird erwähnt. Seine Schönheit ist so groß, daß ein Strahlen von ihm ausgeht.

Odins Sohn Baldur ist offensichtlich der Gott der Schönheit. Diese Qualität ist so groß, daß sie jeden überzeugt – außer Loki, der Baldurs Gegenpol zu sein scheint. Baldurs „Schönheits-Leuchten“ läßt vermuten, daß er eine Art Sonnengott ist oder zumindestens Sonnen-Qualitäten hat. Dazu paßt, daß Loki ein Gott der Unterwelt ist: Er ist der Vater der Unterweltsgöttin Hel, des Fenris-Wolfes und der Mitgardschlange. Der Wolf ist in den germanischen Mythen oft der Verursacher des Todes und die Schlan-gen sind ganz allgemein Symbole des Weges in das Jenseits.

Baldur ist offenbar ein „Tages-Diesseits-Gott“, der aber sterblich ist. Da er jedoch kein Mensch, sondern ein Gott ist, kehrt er aus dem Jenseits zurück.

Der blinde Gott Hödur, der Baldur aufgrund der List des Loki erschießt, ist der Zwillingsbruder des Baldur. Die Symbolik von „blind – sehend“ findet sich auch bei Odin, dem einäugigen Vater der beiden Zwillingsbrüder. Es liegt nahe, das Sehen dem Diesseits und die Blindheit dem Jenseits zuzuordnen – was auch gut zu Odin als Schamanengott paßt, dessen wesentlichstes Merkmal seine Jenseitsreisen sind. Hödur ist ursprünglich wahrscheinlich „Baldur im Jenseits“ gewesen.

Es fällt auf, wie nachdrücklich betont wird, daß Baldurs Tod das größte Unglück war, daß Menschen und Götter treffen konnte. Vor allem Odin wußte, daß aus Baldurs Tod der Ende der meisten Asen beim Ragnarök folgen würde.

Eine ähnliche Bedrohung der Asen findet sich auch bei dem Raub des Göttermets und dem Raub der Idun. Sowohl der Göttermet als auch die Äpfel der Idun geben den Göttern ihre Unsterblichkeit. Der Verdacht liegt nahe, daß Baldur von seiner Bedeutung für die Götter her dem Göttermet und den Äpfeln der Idun entspricht. Anscheinend bewirkt Baldurs Schönheit wie der Göttermet und Iduns Äpfel die Unsterblichkeit der Götter.

Interessant ist Baldurs Unverwundbarkeit, die lediglich einen winzigen Makel hat: den Mistelzweig. Sie erinnert an Siegfrieds Unverwundbarkeit, die lediglich zwischen seinen Schulterblättern, wo während seines Bades im Drachenblut ein Lindenblatt lag, einen Makel hat.

In der Nibelungensage heißt es:

Noch eine Mär weiß ich, die ist mir wohl bekannt:

Einen Linddrachen erschlug des Helden Hand

dann badet er in dem Blute. So ward dem Recken wert

die Haut von solcher Härte, dass keine Waffe sie versehrt.

Kriemhild verrät diese Stelle unbeabsichtigt dem Hagen, der daraufhin Siegfried tötet. Hagen hat hier offenbar die Rolle des Loki und des Hödur übernommen.

Baldurs Wiederkehr aus dem Jenseits wird von allen Wesen ersehnt – außer von Loki. Die Unterweltsgöttin Hel war bereit, Baldur ins Diesseits ziehen zu lassen, wenn alle Wesen um ihn weinen würden, was Loki in der Gestalt der Riesin Thökk aber verweigerte. Ihr Name bedeutet „Dunkel“, womit Hel gemeint sein wird.

Nach der Götterdämmerung, also der großen Schlacht zwischen Asen und Riesen, taucht die Erde wieder aus dem Meer auf, wächst Korn auf den Feldern, kommt die Sonnengöttin in der Gestalt ihrer Tochter zurück und kehren Baldur zusammen mit Hödur sowie die Odinssöhne Widar und Wali und die Thorssöhne Modi und Magni zurück auf das Idafeld, wo vorher Asgard stand.

Offenbar stellt die Götterdämmerung einen Generationswechsel von den alten Göttern zu den jungen Göttern dar. Die gemeinsame Erwähnung der Sonne, des Getreides und der jungen Götter zeigt, daß es hier wohl nicht um ein einmaliges, sondern um ein zyklisches Ereignis geht: um den Zyklus des Tages und noch mehr um den Zyklus des Jahres.

Interessanterweise kehren drei Brüderpaare zurück: Baldur und Hödur, Widar und Wali sowie Modi und Magni. Das läßt vermuten, daß es sich bei diesen Brüder- bzw. Zwillingsbrüderpaaren um ein grundlegendes mythologisches Paar handelt – eben um den Diesseits- und den Jenseitsaspekt eines Gottes, dessen Mythe im Wesentlichen durch den Wechsel zwischen Diesseits und Jenseits geprägt ist. Diese Auffassung würde auch dazu passen, daß Baldur offenbar eine Analogie zu dem Göttermet und zu den Äpfeln der Idun ist.

Vermutlich ist Widar der Diesseitsgott, da sein Name „der weithin Herrschende“ bedeutet, was recht irdisch klingt. Von den beiden Söhnen des Thor wird Magni der Diesseits-Sohn sein, da er das Riesenpferd Gullfaxi („Goldmähne“) reitet, dessen Name ein Hinweis auf die Sonne sein könnte.

Diese Paarbildung ist bei den Germanen weit verbreitet. Die wichtigsten dieser Paar-Motive sind:

Diesseits-Jenseits-Paare
Diesseits Jenseits
Baldur Hödur
Baldur Loki
Odin Loki
Thor Riesen
Widar Vali
Magni Modi
Odins sehendes Auge Odins blindes Auge
zweiarmiger Tyr einarmiger Tyr
unversehrter Thor Thor mit Steinsplitter im Kopf

Das Urbild dieser Brüderpaare könnten die beiden Pferde vor dem Streitwagen des Sonnengottes-Göttervaters Tyr gewesen sein. Sie konnten sowohl die Gestalt von Pferden als auch von Menschen annehmen. Am bekanntesten sind sie in den indogermanischen Mythen vermutlich als Kastor und Pollux, die Söhne des Jupiter und als die Dioskuren, die Söhne des Zeus. Diese beiden Pferde-Jünglinge hießen bei den Germanen „Alcis“ („Elche, Hirsche“), da bei den Indogermanen der Sonnenwagen manchmal auch von Hirschen statt von Pferden gezogen wurde.

Diese beiden Pferdejünglinge starben des Abends zusammen mit dem Sonnengott-Göttervater Tyr und wurden dabei zu den beiden Zwergen in der Unterwelt, die das Schwert des Tyr neu schmiedeten und die magischen Gegenstände der Götter herstellten. Der Göttervater Tyr selber wurde während der Nacht in der Unterwelt zu dem Zwergenkönig – das germanische „Dwergaz“ bedeutet „Totengeist“.

Die beiden Pferdezwillinge wurden auch als der grundlegende Gegensatz von Diesseits und Jenseits aufgefaßt. Da sie Zwillinge, also zu zweit waren, lag es nahe, sie mit mit Diesseits und Jenseits, also dem grundlegenden Gegensatz-Paar in der Welt, zu assoziieren.

Ursprünglich sind die beiden Alcis die beiden Söhne des Tyr und die beiden Pferde vor seinem Wagen gewesen – möglicherweise hießen sie auch schon damals Alswinn („All-geschwind“) und Arwak („Frühwach“) wie die beiden Rosse vor dem Wagen der Sonne.

Als Odin währende der Völkerwanderungszeit der Nachfolger des Tyr als Göttervater wurde, wurden auch die Alcis-Zwillinge auf ihn übertragen: In ihrer Menschengestalt wurden sie zu Odins Söhnen Widar und Wali und in ihrer Pferdegestalt zu Odins achtbeinigem „Doppelpferd“ Sleipnir, in ihrer Wolfskrieger-Gestalt zu Odins Wölfen Geri und Freki und in ihrer Seelenvogel-Gestalt zu Odins beiden Raben Hugunn und Munin. Baldur und Hödur bilden ein zweites Brüderpaar, das Widar und Wali entsprach.

Als schließlich Thor in Island zu dem dominierenden Gott wurde, erhielt auch er die Pferdezwillinge als Söhne, die bei ihm Magni und Modi hießen.

Dieser Ursprung der beiden Zwillingssöhne bzw. Brüder bedeutet aber nicht, daß sich Baldur auf den „Diesseits-Pferdezwilling“ reduzieren ließe, sondern nur, daß das Motiv der beiden Pferdezwillings-Söhne des Göttervaters die Mythen des Baldur mitgestaltet hat.

Tyr und die beiden Alcis
Zeit Gottheit
Sonnengott-Göttervater (weiße) Pferde-Zwillinge
gemeinsamer Name Einzelnamen
Diesseits-Zwilling Jenseits-Zwilling
Indogermanen Dyaus
(„Leuchtender“)
Diuos Suhnuh
(„Gottessöhne“)
frühe Germanen Tyr
(„Leuchtender“)
Alcis?
(„Elch/Hirsch“)
Völkerwanderungszeit Tyr
(„Leuchtender“)
Alcis
(„Elch/Hirsch“)
Arwak?
(„Frühwach“)
Alswinn?
(„Allgeschwind“)
Tyr = „Zwergenkönig“ zwei Zwergen-Brüder Brock
(„Grobschmied“)
Sindri
(„Funke“)
Wikingerzeit Odin
(„Ekstase“)
Widar („weithin Herrschender“) Wali
(„Wille“)
Baldur
(„Lichter Gott“)
Hödur
(„Hüter“)
Sleipnir
Island Thor
(„Donner“)
Magni
(„Kraft“)
Modi
(„Mut“)

Dieses Motiv ist noch heute gut bekannt: Aus ihnen ist der Weihnachtsmann (Tyr), dessen Schlitten von zwei Rentieren (Alcis) gezogen wird, und der an Weihnachten kommt (Wiedergeburt der Sonne an Mittwinter), geworden.

Die Anmerkung in „Gylfis Vision“, daß die Asen den Mord an Baldur rächen nicht sofort konnten, weil sie sich in einem heiligen Bezirk befanden, zeigt, daß es sich bei Baldurs Tod um einen mythologischen, rituellen und religiösen Vorgang gehandelt haben muß – also nicht einfach um ein Verbrechen des Loki, das keine tiefere Bedeutung hat.

Baldurs Leiche wurde in einem Schiff verbrannt. Solche Feuerbestattungen wurden von den Germanen bis ca. 950 n.Chr. durchgeführt (Beowulf-Epos, Reisebericht des Ibn Fadlan). Zum Teil wurden auch die Urnen mit der Asche der Toten in schiffsförmigen Steinsetzungen oder in echten Schiffen begraben.

Es ist von den Germanen und allgemein von den Indogermanen belegt, daß z.T. die Frauen von Fürsten getötet und mitbestattet wurden. Der Tod von Baldurs Frau Nanna, die zu Baldur auf seinen Scheiterhaufen auf seinem Schiff gelegt wurde, ist vermutlich eine Erinnerung an diesen Brauch – und eine verharmlosende Darstellung aus einer Zeit, in der ein solches Verhalten schon lange nicht mehr als akzeptabel angesehen wurde.

Der religiöse Hintergrund dieses Brauches ist die Vorstellung, daß der Wiedergeburt des Toten durch die Jenseitsgöttin eine Wiederzeugung mit ihr vorausgehen muß, die entweder im Bestattungsritual inszeniert worden ist oder im Jenseits von dem Toten mit seiner getöteten Frau, die die Rolle der Jenseitsgöttin übernahm, durchgeführt wurde.

Der Name der Riesen Hyrrockin bedeutet „Feuer-Verräucherte“. Dies ist wohl als eine Beschreibung der mit dem Fürsten verbrannten Ehefrau zu werten. Interessanterweise kann das Schiff erst dann auf das Meer hinaus, d.h. in das Jenseits fahren, nachdem diese Riesin es ins Wasser hinausgeschoben hat. Dazu paßt auch, daß Thor sie getötet hätte, wenn die Götter ihn nicht um Schonung gebeten hätten. Diese Szene sieht aus wie eine Umdeutung der Tötung der Ehefrau des Fürsten bzw. hier der Frau des Gottes Baldur.

Hyrrokkin reitet auf einem riesigem Wolf und benutzt Schlangen als Zaumzeug. Der Wolf ist in den germanischen Mythen oft der Todesbringer: Er tötet den Tyr, den Odin und die Sonne. In Odins Begleitern Geri und Freki zeigt sich die ursprüngliche Bedeutung der Wölfe als Jenseitsreise-Begleiter, die wie auf der Jagd die richtige Fährte bzw. den richtigen Weg dorthin finden können. Wie so oft in den Mythen ist auch hier das, was ursprünglich bei der Jenseitsreise half, mit der Zeit zur Ursache für den Tod umgedeutet worden: Aus dem hilfreichen Wolf wurde der mordende Wolf.

Hyrrokkin benutzt Schlangen als Zaumzeug für ihren Wolf. Aufgrund ihres Kriechens auf dem Erdboden und ihres Versteckens in Höhlen, Erdspalten u.ä. sind die Schlangen allgemein Symbole des Jenseitsweges und auch der Jenseitsreisenden. So verwandelt sich z.B. Odin in eine Schlange, um in den Berg zu der Riesentochter Gunnlöd zu gelangen, die die Jenseitsgöttin ist.

Es ist auffällig, daß nur Hyrrokkin Baldurs Schiff in See stechen lassen kann. Mythologisch gedacht gibt dies nur dann einen Sinn, wenn Hyrrokkin eine zentrale Rolle in den Vorstellung über das Jenseits innehat. Da sie als „Feuergeräucherte“ in der Baldur-Mythe vermutlich mit Nanna identisch ist, braucht Baldur im Jenseits offenbar seine Frau.

Nannas Name bedeutet „Mutter“. Möglicherweise ist sie daher im Jenseits Baldurs Mutter, d.h. sie gibt ihm seine Wiedergeburt. In der Logik dieser Mythen würde das bedeuten, daß der Tote nur dann wiedergeboren werden kann, wenn seine Frau mitbestattet wird.

In früher Zeit war es bei den Indogermanen üblich, bei einer Fürstenbestattung auch Diener zu töten und ihm mitzugeben, damit sie ihm im Jenseits weiterhin dienten. Diese Sitte ist in der späten Jungsteinzeit einmal weit verbreitet gewesen. Es wäre denkbar, daß die Szene, in der Thor den Zwerg Lit („Farbe“) in das Feuer stößt, eine Umdeutung dieser Sitte ist. Es scheint so, als ob Thor einst für das Töten der Ehefrau und der Diener zuständig gewesen wäre.

Es ist auch Thor, der den Scheiterhaufen mit seinem Hammer weiht. Aus den germanischen Hochzeitsbräuchen ist bekannt, daß der Braut der Thors-Hammer in den Schoß gelegt wurde – er stellt offenbar auch einen Penis dar. Diese Szene findet sich u.a. in dem Edda-Lied „Des Hammers Heimholung“. Diese Penis-Symbolik erklärt auch den kurzen Stiel des Hammers.

Bei einer Hochzeit ist eine solche Weihung mit dem Thors-Hammer sofort einzusehen – bei einer Bestattung gibt das Weihen mit einem „Penis-Hammer“ hingegen nur einen Sinne, wenn es auch im Jenseits eine Zeugung gab: eine der Wiedergeburt vorausgehende „Wiederzeugung“. Auch diese Szenerie findet sich in der Prosa-Edda bei Odins Reise zu Gunnlöd: Er verwandelt sich in eine Schlange, um in den Berg kriechen zu können, verient sich dort mit Gunnlöd, trinkt den Göttermet, verwandelt sich in einen Adler und fliegt nach Asgard zurück.

Die Szene mit dem Hammer des Thor bei Baldurs Bestattung bestätigt die Auffassung, daß sich Baldur in den ursprünglichen Jenseitsvorstellungen zusammen mit Nanna wiederzeugte und dann von ihr wiedergeboren wurde.

Nanna-Hyrrokkin scheint die Jenseitsmutter und Wiedergeburtsgöttin gewesen zu sein. Hyrrokkin erscheint zusammen mit einem Wolf und einer Schlange als dessen Zaumzeug. Diese Kombination von „Todes-Frau“, Wolf und Schlange findet sich in der Edda auch in „Gylfis Vision“.

Dort wird erzählt, daß Loki zusammen mit der Riesin Angrboda („Sorgenbringerin“) drei Kinder hat: den Fenriswolf, die Midgardschlange und die Unterweltsgöttin Hel. „Hyrrokkin“ ist demnach sehr wahrscheinlich ein Beiname der Hel. Es erscheint auch durchaus sinnvoll, daß Hel selber den Baldur ins Jenseits holt – zumal sie auch Nanna ist, die stirbt, um Baldur zu begleiten. Vermutlich ist „Angrboda“ ein Beiname der Jenseitsgöttin Hel. Hel-Angrbioda erscheint sozusagen zusammen mit ihren beiden Geschwistern Wolf und Schlange als Hyrrokkin.

Odin ist bei der Bestattung seines Sohnes Baldur auch der Schamane. Dies zeigt sich deutlich in zwei Strophen aus dem Wafthrudnir-Lied:

Odin:

„Viel erfuhr ich,

viel erforschte ich,

viel befragt ich Erfahrene:

was sagte Odin

dem Sohn ins Ohr,

eh man auf den Holzstoß ihn hob?“

Wafthrudnir:

„Nicht einer weiß,was in alten Tagen

Deinem Sohn Du gesagt!

Verfallen dem Tod, erzählte ich Vorzeitkunde

und von der Asen Untergang!

Mit Odin maß ich mein Allwissen

Du bleibst der Wesen Weisester!“

In diesem Wissenswettstreit-Lied werden die Worte, die Odin seinem Sohn Baldur bei dessen Bestattung ins Ohr flüstert, als das größte Geheimnis angesehen. Diese Worte werden Odins Kenntnisse über den Weg ins Jenseits und zurück sein – was hätte er dem toten Baldur sonst ins Ohr flüstern können? Diese Worte konnten nur für Baldurs Seele bestimmt sein, die sich gerade auf dem Weg ins Jenseits befand.

Odin legt seinem Sohn Baldur den Ring Draupnir mit auf seinen Scheiterhaufen. Später erhält er ihn von Baldur aus dem Jenseits zurückgesandt. Dieser Vorgang ist recht auffällig.

„Draupnir“ bedeutet „Tröpfler“. Diesen Namen hat er, weil von ihm in jeder neunten Nacht acht identische Ringe abtropfen. Die Zahl „8“ war bei den Indogermanen und auch vielen anderen Völkern das Symbol für „richtig, vollständig, gut, schön“. Die „9“ war bei den Germanen die Zahl des Jenseits. Man könnte die Zahlensymbolik des Draupnir-Ringes somit als „Vollkommenheit im Jenseits“ übersetzen.

Diese Auffassung wäre jedoch recht unsicher, wenn nicht auch Baldur selber diese Schönheit, Richtigkeit und Vollkommenheit darstellen würde und seine Hauptmythe nicht die Jenseitsreise wäre. Diese Jenseitssymbolik wird dadurch bestätigt, das sein Schiff „Hringhorni“, d.h. „Ringhorn“ heißt. Dieses größte und schwerste aller Schiffe hat offenbar sehr viel mit einem Ring und einem Horn zu tun. Der Ring wird mit Odins Draupnir identisch sein. Das würde bedeuten, daß Draupnir entweder ein Symbol der Jenseitsreise ist oder das Symbol einer Person, die erfolgreich ins Jenseits (und zurück) gereist ist, d.h. eines Schamanen oder eines Eingeweihten.

Diese Symbolik entspricht genau der Symbolik des „Torque“ genannten Halsringes bei den Kelten.

Der Ring scheint sehr wichtig gewesen zu sein, da auch Nanna der Fulla, der Dienerin von Odins Frau Frigg, einen goldenen Ring aus dem Jenseits sendet. Vermutlich handelt es sich hier um eine Parallelbildung: Baldur sendet den Draupnir seinem Vater Odin; Nanna sendet Odins Frau Frigg einen Umhang und Friggs Dienerin Fulla einen Goldring.

Auch die Symbolik des Hornes hat mit der Jenseitsreise zu tun. Sie läßt sich aus verschiedenen Motiven der germanischen Religion erschließen:

Bei den Germanen gab es eine beliebte Methode, um Kontakt zu den Verstorbenen aufzunehmen: Man setzte sich nachts an einem Kreuzweg bzw. vor ein Hügelgrab auf ein Rinderfell und rief die Totengeister herbei. Diese Totenbeschwörung wurde „utiseta“, also „Draußensitzen“ genannt.

Aus Grabfunden u.ä. ist bekannt, daß die Germanen bei Bestattungen oft ein Herdentier opferten – in der Regel ein Pferd oder eine Ziege. Da es sich bei ihnen, soweit dies ersichtlich ist, um männliche Tiere handelt, könnte dieses Tieropfer dazu gedient haben, die Zeugungskraft des Toten, die er bei seiner Wiederzeugung im Jenseits benötigte, auf magische Weise sicherzustellen.

Diese Vorstellung findet sich bei fast allen Völkern, die von den frühen Ackerbauern in Mesopotamien abstammen, also von den Indogermanen über die Semiten und Sumerer bis hin zu den Ägyptern. Durch diese Identifizierung des Toten mit einem (meist) gehörnten Herdentier ist das Motiv des gehörnten Mannes in der Wildnis entstanden (Pan u.a.), der ursprünglich einmal der wiedergeborene Ahn im Jenseits gewesen ist und aus dem im Christentum der Teufel wurde.

Das Fell, auf dem die Germanen bei ihren Totenanrufungen saßen, findet sich als magischer Gegenstand im Besitz des Odin und des Freyr: das „Schiff“ Skidbladnir, das sich wie ein Tuch zusammenfalten läßt.

Der Name „Ringhorn“ des Schiffes des Baldur könnte sich also aus dem Ring der Jenseitsreise und dem gehörnten Opfertier bei den Bestattungen zusammengesetzt haben. In diesem Name sind somit die beiden wichtigsten Symbole bei der Bestattung kombiniert worden.

Loki nahm die Gestalt eines Lachses an, um vor den zornigen Asen zu entfliehen. Möglicherweise ist dies wie auch Baldurs Schiff ein Hinweis auf die Vorstellung einer Wasserunterwelt. Darauf weist auch hin, daß der Kessel, in dem der Göttermet gebraut wird, der den Göttern die Unsterblichkeit gibt, von dem Meerriesen Ägir aufbewahrt wird.

Loki wurde mit den Gedärmen eines seiner Söhne gefesselt, der von einem zweiten Loki-Sohn, den die Asen in einen Wolf verwandelt hatten, getötet worden war. Diese Wolf-Symbolik spricht dafür, daß sich auch der gefesselte Loki in der Unterwelt befand – von dort aus konnte er auch am ehesten Erdbeben verursachen. Dies würde mit der vermuteten Lachs-Symbolik übereinstimmen.

Baldur ist mit der Sonne, dem Sommer, dem Jenseitsreise-Ring, der selber einst ein Sonnen-Symbol gewesen ist, mit dem Tod, der Wiederzeugung und der Wiedergeburt sowie mit der Schönheit und dem Leuchten assoziiert worden.

Es ist daher anzunehmen, daß Baldur letztlich auf den ehemaligen Sonnengott-Göttervater Tyr zurückgeht, der auch der Sommergott gewesen ist. Tyrs endloser, zyklischer Kampf mit dem Wintergott Loki hat in den Tyr-zentrierten Mythen vor 500 n.Chr. die Jahreszeiten verursacht.

I 2. Die Saga von Hervor und König Heidrek dem Weisen

In den Rätseln, die Gestumblindi (Odin) dem König Heidrek (Tyr) stellt, ist die Frage nach den Schamanenworten des Odin, die er bei Baldurs Bestattung in dessen Ohr flüstert, die letzte, unlösbare Frage.

Da sagte Gestumblindi:

„Dann sag mir dies,

ein letztes Ding – wenn Du es vermagst –

wenn Du von allen Königen der weiseste bist:

Was hat Odin

in Baldurs Ohr gesagt,

bevor er auf den Scheiterhaufen gehoben wurde?“

König Heidrek sagte: „Nur Du weist das, Du Ungeheuer!“

König Heidrek („Lichtkönig“) ist ebenso wie der Riese Wafthrudnir eine Saga-Variante des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr.

Der Rätselstreit zwischen Odin und Tyr (Heidrek, Wafthrudnir u.a.) sollte bestätigen, daß Odin weiser ist als Tyr und ihn daher berechtigterweise als Göttervater abgesetzt hat und sein Nachfolger geworden ist. Das letzte Argument in diesem religions-politischen Streit sind stets Odins Schamanen-Kenntnisse – wobei Tyr als Sonnengott über dieselben Jenseits-Kenntnisse wie Odin verfügt hat, was aber in diesen Rätselstreits von den pro-Odin-Skalden geflissentlich verschwiegen wird …

I 3. Gylfis Vision (2)

Da frug Gangleri: „Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt?“

Har antwortete: „Das ist bei der Esche Yggdrasil: da sollen die Götter täglich Gericht halten.“

Aus dieser Schilderung kann man schließen, daß auch die Germanen ihre Thing-Versammlungen an heiligen Bäumen abhielten. Da der Weltenbaum die Verbindung zwischen den Welten war, konnte über den Heiligen Baum beim Thing der Rat und der Segen der Ahnen und Götter zu denen fließen, die sich dort berieten und Entscheidungen trafen.

Der Ort unter dem Heiligen Baum ist somit so etwas wie ein „Freiluft-Tempel“.

Da der Mistelzweig, durch den Baldur starb, neben dem Eingang der Hel auf dem Weltenbaum wuchs und Baldur an einer „heiligen Stätte“ ermordet wurde, sodaß die Asen ihn nicht sogleich rächen konnten, wird der Mord an Baldur wohl an diesem Thing-Platz stattgefunden haben.

I 4. Hyndla-Lied

Hyndla:

Elf an der Zahl waren die Götter, die wir kennen,

als Baldur über den Hügel des Todes gelegt wurde,

und schnell zu seiner Rache Vali ritt

und bald den Mörder seines Bruders tötete.

… … …

Der Vater des Baldur war der Erbe des Bur.

Bur ist der Vater des Odin und somit der Großvater des Baldur.

I 5. Fiölswin-Lied

Windkald:

Sage mir, Fiölswin, was ich Dich fragen will

Und zu wissen wünsche:

Ist keine Waffe, die Windofnir möchte

Zu Hels Behausung senden?

Fiölswin:

Häwatein heißt der Zweig, Lopt hat ihn gebrochen

Vor dem Totentor.

In eisernem Schrein birgt ihn Sinmara

Unter neun schweren Schlössern.

Der Hahn „Windofnir“, der getötet werden muß, damit Windkald (die Sonne) das Tor zu dem Reich der Menglöd (Jenseitsgöttin) durchschreiten kann, läßt sich nur mit dem „Häwatein“ („treffender Zweig“) töten, den „Lopt“