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Buch

Die Überführung einer Segelyacht auf eine griechische Insel führt Jessie und Jonas durch einen Zufall zusammen. Sie verlieben sich, glauben beide, dass ihr Zusammentreffen Schicksal ist, aber Jessie's dunkle Vergangenheit und Geheimnisse kommen erst nach und nach an's Licht und führen zu folgenschweren Ereignissen sowohl an Land wie auch auf See. Eine Jagd auf dem Wasser beginnt. Aber auch Jonas scheint nicht nur das zu sein, was er vorgibt zu sein. So versuchen beide nach einer Aussprache ihre Vergangenheit zu bewältigen, es gibt glückliche Zeiten und sie wünschen sich eine gemeinsame Zukunft. Aber sie können die Vergangenheit nicht abschütteln, böse Ereignisse überschatten ihr Glück, lassen sie nicht zur Ruhe kommen und verfolgen sie, bis Jonas eine harte und gefährliche Entscheidung fällt, um Jessie und seine Zukunft mit ihr zu schützen.

Autor

Wolfgang Richter erfüllte sich erst mit Mitte fünfzig seinen Traum und schrieb seinen ersten Roman. Weitere folgten.

Er lebt in der Nähe seiner Geburtsstadt Berlin, arbeitet als Ingenieur für Funktechnik, ist verheiratet und hat einen Sohn.

Ebenfalls bei BoD erschienen:

Sterne in Deinen Augen

ISBN-13: 978-3-8370-9007-9

Wenn Liebe Grenzen durchbricht

ISBN-13: 978-3-8370-9008-6

Fluch und Glück

ISBN-13: 978-3-8391-5384-0

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

1. Kapitel

Nachdenklich sass Jonas über einer Zeitschrift gebeugt auf der Couch. Draussen zwitscherten Vögel im Rausch ihrer Frühlingsgefühle und die Sonne schien, aber Jonas schien das nicht zu bemerken. Nach einiger Zeit nahm er kurzentschlossen das Telefon zur Hand und drückte zwei Tasten.

"Hi Sven. Jonas hier. Du, ich habe gerade die neueste Segelzeitschrift vor mir liegen. Die "Greek Charter Association" sucht Leute, die eine Bavaria 40 von Chalkidiki nach Korfu überführen und zwar im Juni. Eine Woche ist Zeit dazu, aber durch die Fahrt durch den Kanal von Korinth ist das durchaus zu schaffen. Wir hätten zwar nicht viel Zeit für andere Unternehmungen, aber dafür kostet die Yacht auch nur halb soviel als sonst. Wenn wir gut vorankommen, könnten wir uns vielleicht noch etwas in den Kykladen rumtreiben. Wär' das nicht was für uns?"

Einige Atemzüge überrumpelte Stille am anderen Ende. Dann ein langes Ausatmen.

"Okay, lass mich meinen Urlaub checken und ich sage Dir morgen Bescheid. Und schliesslich muss ich auch noch Anja darauf vorbereiten. Überfällst Du Leute immer so mit Deinen Ideen?"

Sven's Stimme klang ein wenig gereizt, obwohl er sich freute, mal wieder einen Törn mit Jonas zu machen, aber zur Zeit war es nicht einfach, mit Jonas auszukommen.

"Du weißt doch, wie begehrt diese Überführungen sind, weil sie so preiswert sind, obwohl wir jeden Tag von Morgens bis Abends segeln müssten. Und wir wollten doch schon lange mal wieder zusammen einen Törn machen. Wir können doch Anja mitnehmen. Der Preis ist doch der Gleiche."

"Du weißt doch, wie Anja zu solchen Überführungen steht. Das ist ihr alles zu hektisch. Die Segeltage sind ihr zu lang. Du weisst, sie will in Buchten ankern, baden, sonnen, relaxen, gemütlich essen gehen. Aber ich frage sie." "Gut, wenn es bei Dir klappt, fax mir doch Deinen Sporthochseeschifferschein zu, dann mach' ich unsere Bewerbung für die Überführung fertig."

Sie quatschten noch über alle möglichen Dinge und verabschiedeten sich dann. Jonas lehnte sich zurück und warf das Telefon beiseite. Er konnte zwar alles tun und lassen was er wollte seit er Single war, aber er beneidete trotzdem seinen Freund Sven um seine hübsche Freundin Anja. Er würde es verstehen, wenn Sven ihretwegen die Überführung absagte. Er seufzte. Heute würde er es wahrscheinlich auch tun, aber vor einiger Zeit waren ihm andere Dinge wichtiger erschienen. Er wollte seinen Lebenshunger stillen, war egoistisch gewesen und hatte Lea oft vernachlässigt. Hatte meistens sein Ding durchgezogen ohne darauf zu achten, was sie wollte. Für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass sie da war und er wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass sie ihn verlassen könnte. Aber sie hatte es getan. Ein halbes Jahr war es nun her. Er hatte sie drei Monate lang angerufen, ihr Blumen geschickt, sie vor ihrer Arbeitsstelle abgepasst, Versprechungen gemacht, gebettelt. Nichts hatte Erfolg gehabt. Sie wollte und konnte nicht mehr Nebensache sein in seinem Leben, obwohl sie einiges mit ihm durchgemacht hatte. Sie wurde durch seine Bedrängnis mit der Zeit immer wütender und aggressiver ihm gegenüber. Aber als er ihr vor drei Monaten wieder vor ihrer Arbeitsstelle aufgelauert hatte, war sie jedoch ganz sanft gewesen.

"Jonas, versteh doch. Ich kann mit Dir nicht mehr leben. Du hast mich oft wie ein benutztes Spielzeug in die Ecke gestellt und nicht mehr beachtet, bis es Dir einfiel, mal wieder mit mir zu spielen. Ich möchte eine Familie, eine Zukunft, einen Mann, dem ich vertrauen kann, der mich und meine Bedürfnisse ernst nimmt, der mir zeigen kann, dass er mich liebt und dem ich nicht noch helfen muss erwachsen zu werden. Vielleicht hätte ich früher rebellieren sollen, dann wäre es vielleicht nicht soweit gekommen. Aber jetzt ist es zu spät. Es ist zuviel kaputtgegangen."

Jonas sah Tränen in ihren Augen glitzern, was ihm zeigte, dass sie immer noch was für ihn fühlte.

"Aber ich kann mich ändern. Ich liebe Dich. Jeder verdient eine zweite Chance."

Lea schüttelte den Kopf, "Du hast mehr als zwei Chancen gehabt. Viel mehr. Du hättest nur die Augen und Ohren aufmachen und zuhören müssen. Genauso wie Du mich in der Ecke abgestellt hast, wie es Dir passte, hast Du auch Deine Gefühle abgestellt und wieder vorgeholt, wenn Dir gerade danach war. Du müsstest Dich um hundertachtzig Grad drehen. Es macht mich müde, immer nur nachzugeben, weil ich an Deine Vergangenheit und an den Tod Deiner Eltern denken muss. Du konntest sie in den zwei Jahren nicht loslassen. Es geht nicht Jonas, sieh' das doch ein. Bitte lass mich in Zukunft in Ruhe, damit auch ich Abstand bekomme. Bring Dein Leben auf die Reihe und Deine Gefühle in Ordnung. Ich wünche Dir alles Gute und vielleicht hast Du ja auch was gelernt dadurch und machst es in Deiner nächsten Beziehung besser."

Dann hatte sie ihn stehengelassen und war davongegangen. Seitdem hatte Jonas begriffen, dass es endgültig vorbei war und es keinen Zweck mehr hatte, Lea hinterherzulaufen. Und er war in ein Riesenloch gefallen. Ihm war klar geworden, dass er sich ändern musste, wenn seine nächste Beziehung nicht wieder in so einer Katastrophe enden sollte. Nicht, dass er in den letzten drei Monaten keine Gelegenheit gehabt hätte, eine Frau kennenzulernen, aber er fühlte sich noch nicht bereit dazu. Er hatte eingesehen, dass Lea Recht gehabt hatte und es tat ihm aufrichtig Leid, dass er ihr wehgetan hatte. Ja, wenn er wieder bereit war, was Neues anzufangen, würde er es anders machen. Er war jetzt dreissig. Vielleicht ein gutes Alter um endlich was Dauerhaftes auf die Beine zu stellen. An Frauen mangelte es ja nicht in seinem Umfeld, er war gross, kräftig und muskulös gebaut und sah gut aus mit seinen ewig zerzausten, blonden Haaren, die bis knapp auf seine Schultern reichten, was ihn jünger erscheinen liess. Dann noch seine braunen Augen, in die sich je nach Tageslicht ein grauer Schimmer einschlich und so treuherzig gucken konnten, dass viele Frauen (und nicht nur die) einfach dahinschmolzen. Nicht, dass die Frauen Schlange standen, aber er hatte genügend Gelegenheiten, Frauen kennenzulernen. Es galt nur, die Richtige herauszufinden. Wieder seufzte er, Lea wäre die Richtige gewesen, aber er hatte es verbockt.

Er liess seinen Blick durch's Wohnzimmer schweifen. Na gut, es sah recht ordentlich aus, doch trotzdem, irgendwie sah es auch kalt und unpersönlich aus. Seit Lea nicht mehr da war, fehlten diese kleinen, lieben Dinge und Accessoires, die Räume warm und heimelig werden liessen. Eindeutig eine Gabe, die fast nur Frauen besassen. Ein "Zuhause" zu erschaffen. Er lebte gern in diesem Haus, in dem er aufgewachsen war und dass ihm seine Eltern vererbt hatten. Sie waren vor zwei Jahren beide bei einem Flugzeugunglück im Urlaub um's Leben gekommen. Doch, er konnte sich durchaus vorstellen, dass eines Tages Kinder durch dieses Wohnzimmer tollten und am Rockzipfel einer lieben Frau und Mutter hingen.

Er schüttelte seine melancholischen Gedanken ab und grinste. Jetzt galt es erstmal, das Leben zu geniessen und Sven zu überreden, an dem Törn teilzunehmen.

Am nächsten Tag ratterte sein Faxgerät und spuckte die Kopie von Sven's Sporthochseeschifferschein aus. Gleich darauf klingelte das Telefon. Nachdem er sich gemeldet hatte, hörte er, "Sven hier. Ist das Fax angekommen?"

"Hi Sven, ja, ist soeben vom Faxgerät in den Papierkorb darunter gerutscht", lachte Jonas.

"Okay, der Törn geht klar, aber Anja kommt nicht mit. Ich habe mit Engelszungen geredet, um überhaupt mitzusegeln, musste aber erhebliche Zugeständnisse machen. So musste ich Anja einen Faulenzerurlaub mit langen Strandspaziergängen am Meer versprechen und einen Skiurlaub im nächsten Winter. Und sie nimmt solche Versprechen sehr ernst. Nach unserem Törn ist erstmal Segelflaute angesagt, sonst ergeht es mir so wie Dir. Eigentlich hat sie nur wegen Dir zugestimmt. Hat mich direkt eifersüchtig gemacht."

"Ja, ja, ist ja schon gut. Ich habe verstanden. Dann mache ich jetzt die Bewerbung fertig und schicke sie ab."

Sven zögerte, fragte dann, "Wie geht's Dir eigentlich?"

"Besser. Ich hätte früher nie gedacht, dass es mich so tief treffen würde. Ich habe Lea's Entscheidung akzeptiert. Was mir aber wirklich zu schaffen macht, ist, dass ich Lea nicht einmal mehr sagen kann, wie Leid mir alles tut und dass ich es mir nie verzeihen werde, dass ich ihr derart wehgetan habe. Ich traue mich nicht, sie anzurufen, um es ihr zu sagen. Ich möchte nicht, dass sie sich wieder bedrängt fühlt."

"Du weisst, dass Anja sich noch mit ihr trifft. Würde es Dir helfen, wenn Anja ihr Grüsse von Dir ausrichtet und ihr genau das sagt? Anja mag auch Dich und glaubt Dir auch, dass es Dir aufrichtig Leid tut."

"Das wäre wahnsinnig lieb von ihr. Vielleicht denkt dann Lea nicht nur im Groll an mich und an die Zeit mit mir zurück. Vielleicht könnten wir ja irgendwann Freunde sein, wenn aus meiner Liebe zu ihr freundschaftliche Zuneigung geworden ist. Sehen wir uns nächste Woche?"

"Klar, war doch abgemacht. Bis dann also."

"Ja, bis dann."

Jonas beendete das Gespräch und machte sich daran, die Bewerbung zur Überführung fertigzumachen. Man konnte so eine Überführung nicht einfach buchen. Vermutlich trudelten für ein und dieselbe Überführung mehrere Bewerbungen ein und der Vercharterer entschied sich nach Segelerfahrung, vorhandener Führerscheine, Anzahl der Crew, Alter des Skippers oder weiss der Teufel sonst noch was, wer die Yacht überführen durfte. Immerhin musste die Yacht pünktlich am Zielort sein, sonst bekam der Vercharterer grossen Ärger.

Drei Wochen waren vergangen, als Jonas die Mitteilung bekam, dass er und Sven die Yacht überführen sollten, sowie die Aufforderung, die Hälfte der verlangten Chartergebühr zu überweisen. Über's Internet buchte er die Flüge für sich und Sven nach Thessaloniki und für eine Woche später von Korfu zurück nach Berlin. Eine Woche vor dem Abflug besorgte Jonas sich noch Wetterberichte und Windverhältnisse vom Ägäischen Meer und Ionischen Meer und begann auf einer Seekarte die Segelroute festzulegen, wo sie den Windverhältnissen entsprechend in einer Bucht ankern oder in einem Hafen übernachten konnten. Wenigstens bis zu den Kykladen. Dann würden sie weitersehen, ob noch Zeit blieb, eine der Kykladeninseln anzusteuern. Vielleicht Andros oder Kea oder sogar beide, bevor sie in den Saronischen Golf Richtung Kanal von Korinth segelten.

Einen Tag vor Abflug packte Jonas seinen Seesack und eine kleine Reisetasche und verabredete sich mit Sven auf dem Flughafen. Sven wollte sich von Anja bringen lassen und Jonas wollte mit dem Taxi fahren, welches er bestellt hatte. Der Flug würde am Morgen gehen, durch die Zeitverschiebung um eine Stunde würden sie mittags ankommen und die Fahrt zur Charterbasis an der Spitze der Halbinsel Sithonia mit dem Taxi würde nochmal etwa eine dreiviertel Stunde dauern. Dann hatten sie noch reichlich Zeit, einzuchecken und Proviant zu kaufen. Am Morgen danach würden sie lossegeln.

Ruhelos und nervös tigerte Jonas vor den Flugabfertigungsschaltern hin und her. Wo blieb nur Sven? Er hatte schon versucht, Sven über's Handy zu erreichen, hörte aber immer nur die Mitteilung des Providers, dass der Teilnehmer nicht erreichbar war. Fast schon im letzten Moment stellte sich Jonas am Abfertigungsschalter an, nur noch drei Leute waren vor ihm. Wenn Sven nicht in dieser Minute auftauchte, ging die Maschine ohne ihn.

Als er als Letzter dran war, fragte er die Angestellte der Fluglinie am Schalter, "Wie lange können Sie den Schalter noch offenhalten? Mein Freund hat sich verspätet."

"Etwa zehn Minuten, länger geht nicht."

Jonas nahm seine Bordkarte und probierte noch einmal, Sven über's Handy zu erreichen. Diesmal ging Sven ran.

"Mensch Sven, wo steckst Du? Was ist los? Du hast nur noch zehn Minuten zum Einchecken."

"Scheisse, Jonas, wir haben verschlafen, weil der verdammte Wecker nicht anging. Wir sind noch nicht einmal am Flughafen."

"Wart' mal 'ne Sekunde." Jonas drehte sich zum Abfertigungsschalter, "Eine Viertelstunde? Bitte. Er ist unterwegs."

Die Angestellte schüttelte bedauernd den Kopf.

"Du, ich muss jetzt rein. Acht Minuten hast Du noch. Wenn es nicht klappt, versuch einen Flug später zu bekommen. Ruf mich nach meiner Landung an und sag mir, wann Du kommst, okay? Bis dann, grüss Anja von mir."

Noch bevor Jonas so richtig auf seinem Sitz Platz genommen hatte, wurde die Tür geschlossen. Damit war ihm klar, dass Sven es nicht geschafft hatte. 'Das fängt ja gut an', dachte er etwas genervt.

Neben Jonas sass ein hübsches, etwa neunjähriges Mädchen mit langen blonden Haaren, das mit ihrer Mutter flog, die ihn freundlich angelächelt hatte, als er sich setzte. Jonas langweilte sich. Er hatte nichts zu lesen eingesteckt, weil er damit gerechnet hatte, sich mit Sven unterhalten zu können. Das Mädchen blätterte unlustig in einem Buch, jedenfalls las sie nicht darin.

Jonas neigte leicht den Kopf zu ihr und fragte, "Wie heisst Du denn?"

Das Mädchen blickte auf, "Lisa."

"Du hast wohl keine sonderliche Lust zum Lesen, was Lisa?"

"Nein, nicht besonders. Wie heisst Du denn?"

"Ich heisse Jonas. Ich habe mal gelesen, dass die Zeit scheinbar schneller vergeht, wenn man sich während des Fluges unterhält. Magst Du Dich unterhalten?"

Lisa warf einen schnellen Blick auf ihre Mutter, aber die las weiter in einer Illustrierten, nachdem sie bei den ersten Worten aufgeschaut hatte. Lisa klappte langsam ihr Buch zu.

"Okay, worüber wollen wir uns denn unterhalten?"

"Na, zum Beispiel, was ihr in der Schule gerade in Geschichte durchnehmt.

Gehst Du gerne zur Schule?"

Lisa verzog etwas angewidert das Gesicht, "Na ja, eigentlich schon, aber Geschichte ist nicht gerade mein Lieblingsfach. Wir haben zuletzt über Friedrich, den Grossen gelesen. Sowas langweiliges. Aber bitte, wenn Du darüber reden willst!?"

Jonas grinste, er wusste zwar nicht mehr viel über Friedrich, den Grossen, aber darum ging es ja nicht.

"Ja, warum nicht?"

"Na gut, aber zuerst habe ich eine Frage an Dich."

"Okay, und welche?"

"Also, Kühe, Pferde und Rehe fressen alle dasselbe, nämlich Gras. Bei dem Reh kommen kleine Kügelchen raus, bei der Kuh grosse, flache, nasse Flatschen und bei Pferden rundliche Klumpen getrockneten Grases. Was meinst Du, wie kommt das wohl?"

Jonas schaute Lisa überrascht an. Ein neunjähriges Mädchen beschäftigte sich mit solchen ernsthaften biologischen Themen? Er schaute zu Lisa's Mutter, die angefangen hatte zu grinsen und überlegte eine Weile, sagte dann, "Keine Ahnung."

Lisa fing ebenfalls an zu grinsen, "Bist Du Dir sicher, dass Du mit mir über Friedrich, den Grossen reden willst, aber noch nicht mal über Scheisse Bescheid weisst?"

Jonas klappte der Unterkiefer runter und Lisa begann laut zu lachen. Auch ihre Mutter konnte nicht mehr an sich halten und prustete laut los. Erst jetzt merkte Jonas, dass Lisa ihn gewaltig auf den Arm genommen hatte. Nun musste auch er so laut lachen über dieses kleine, gewitzte Mädchen, so dass einige Sitzreihen sich zu ihm umdrehten. Nachdem sich die Heiterkeit einigermassen gelegt hatte und ihnen die Bäuche wehtaten, sagte Lisa's Mutter immer noch grinsend und kichernd, "Das macht sie mit fast jedem Fremden, den sie kennenlernt."

Noch mal auflachend stupste Jonas an Lisa's Nase, "Du bist mir ja ein schönes Früchtchen, mein Fräulein. So eine Tochter könnte mir auch gefallen."

Lisa's Mutter warf einen interessierten Blick auf Jonas, beschäftigte sich dann aber wieder mit ihrer Illustrierten.

"Hast Du denn Kinder?", fragte Lisa.

"Nein, leider noch nicht", antwortete Jonas, "Aber wenn, eines Tages, dann sollen sie sein wie Du."

Lisa's Mutter blickte lächelnd von ihrer Zeitschrift auf, "Wünschen Sie sich das bloss nicht, es kostet Sie alle Nerven."

Jonas lächelte ihr zu, "Ich glaube, ich habe genug davon."

"Aber Du hast eine Frau?!", sagte Lisa, halb feststellend, halb fragend.

"Lisa, sei nicht so neugierig", wies ihre Mutter sie zurecht, schaute dabei aber selber Jonas fragend an.

Jonas sah wieder Lisa's Mutter an und grinste, "Lassen Sie sie doch, es macht mir Spass, mich mit so einem neugierigen, aufgeweckten Mädchen zu unterhalten."

Sein Blick verweilte noch etwas auf dem Gesicht von Lisa's Mutter. Sie mochte etwa vier bis fünf Jahre älter sein als Jonas, war von durchschnittlicher Attraktivität, und doch, ihre Augen waren klar und sanft, hatten ein lebendiges Strahlen und sie hatte einen sinnlichen Mund mit vollen Lippen, die geradezu zum Küssen einluden. Soweit er sehen konnte, war sie auch sonst wohlgeformt. Jonas dachte noch, 'Bei solch einer Frau spielt es auch keine Rolle, wenn sie älter ist.'

"Nein, ich habe keine Frau", sagte er zu Lisa und spürte mehr den überraschten Blick von Lisa's Mutter als dass er ihn sah.

"Wird es dann nicht langsam Zeit, wenn Du Kinder haben willst?", fragte Lisa keck.

Jonas grinste sie an, "Wird schon noch rechtzeitig klappen."

"Wirst Du dann auch soviel arbeiten, dass Du keine Zeit für Deine Kinder hast?"

"Lisa, was redest Du denn da", sagte ihre Mutter leicht verärgert, aber auch betroffen und peinlich berührt. Sie wandte sich wieder an Jonas, "Ich sagte ja, sie kostet alle Nerven."

"Na, ist doch wahr, Mama. Papa kann noch nicht mal mit in den Urlaub fliegen", schmollte Lisa und schaute wieder Jonas an.

"Das tut mir Leid für Dich, Lisa. Ich würde versuchen, so viel Zeit wie möglich mit meinen Kindern zu verbringen", sagte Jonas etwas ausweichend.

Während des gesamten Fluges unterhielten sich Jonas und Lisa über alles Mögliche, nur nicht über Friedrich, den Grossen und auch Lisa's Mutter beteiligte sich oft an den Gesprächen. Jonas fiel auf, dass sie für andere wie eine Familie wirken mussten; Vater und Mutter und zwischen sich so ein hübsches, vorlautes Ding von Tochter. Und es gab ihm ein gutes Gefühl.

Es musste was dran sein an dem, was Jonas gelesen hatte, denn ihm kam es vor, als sei noch nicht mal eine Stunde vergangen, als der Flieger zur Landung ansetzte.

Nachdem alle drei ihr Gepäck hatten, verabschiedeten sie sich herzlich voneinander, wobei Jonas Lisa um ihre Schulter fasste und sie kurz an sich drückte und er versäumte nicht, Lisa scherzhaft zu ermahnen, ihren bösen Scherz nicht mit allen Erwachsenen zu treiben. Lange sah er den beiden hinterher und als Lisa sich noch einmal umdrehte, winkte er ihr zu. Warum auch immer in diesem Moment, ihm fiel Lea ein und er wurde etwas sentimental, als er sich ausmalte, Lea hätte die Mutter einer solchen Tochter von ihm sein können.

Er schaltete sein Handy ein und hängte sich seinen Seesack um, als das Handy klingelte.

"Sven hier. Bist Du gut gelandet? Du, ich habe eine schlechte Nachricht für Dich. Heute geht kein Flieger mehr nach Thessaloniki und die Maschine morgen ist ausgebucht, sogar schon überbucht. Es gibt schon eine Warteliste dafür, falls einer ausfällt. Ich könnte frühestens übermorgen fliegen."

"Aber das ist zu spät. Dann schaffen wir es nicht bis Korfu in der Zeit, selbst wenn wir zusätzlich den Motor zu Hilfe nehmen. Was ist, wenn wir uns treffen. Vielleicht auf einer Insel. Du könntest zum Beispiel bis Athen fliegen und von da aus mit einem Flying Dolphin1) nach Andros oder Kea übersetzen oder auch nach Aegina im Saronischen Golf. Euböa geht auch noch, aber da müsstest Du von der Südwestseite auf die Nordostseite überwechseln."

"Na ja, vielleicht geht das. Aber bekommst Du überhaupt die Yacht, wenn Du nur alleine segelst?"

"Weiss ich nicht, könnte aber sein, dass ich sie nicht bekomme. Ich versuch's. Sonst müsste ich mir jemanden suchen, der bis zur Insel nicht nur mitsegelt, sondern auch noch den erforderlichen Schein hat." "Pass auf, Du versuchst, jemanden zu finden und ich versuche, meinen Flug umzubuchen. Heute abend telefonieren wir noch mal miteinander, ja? Tut mir Leid, dass alles so schief gelaufen ist. Schöne Grüsse übrigens von Anja. So hat sie es auch nicht gewollt."

"Schon okay, ich weiss doch, dass es keine Absicht war. Bis heute abend dann."

Jonas ging zum Taxistand und liess sich zur Marina der Charterbasis fahren.

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1 Schnelle Tragflächenboote, die zwischen den griechischen Inseln verkehren

2. Kapitel

Hastig durchwühlte die junge Frau die Schränke und Schubläden. Sie sah aus wie eine Griechin, denn sie hatte lange, dunkelbraune, ja, fast schwarze Haare, die ihr bis zur Mitte ihres Rückens reichten und etwa von der Hälfte bis unten gelockt waren, hohe, nicht zu auffällige Wangenknochen, dunkle Augen und ihr hübsches Gesicht mit dem sinnlichen Mund war tief gebräunt. Die engen Jeans und die weisse Bluse, bei der viele der oberen Knöpfe offen waren, offenbarten nur allzu deutlich ihre schlanke, feminine Figur. Ihre dunklen Augen liessen erahnen, dass sie überaus sanft blicken konnten, aber auch, dass ein ungeheures Feuer in ihnen leuchten konnte, im Moment jedoch waren sie etwas schreckgeweitet und blickten voller Panik.

"Wo hast Du sie versteckt, Du Bastard", murmelte sie. Sie blickte sich um und ging zu einer Anrichte. Mit Schwung wollte sie die Schublade aufreissen, aber ihre Hand rutschte ab und einer ihrer Nägel brach dabei ab, denn das Schubfach war verschlossen. "Verdammt", flüsterte sie mit einer dunklen, sehr sexy klingenden Stimme. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon einige Schlösser aufbekommen und schaute sich nach einem geeigneten Werkzeug um. Auf dem Schreibtisch entdeckte sie einen langen, schmalen Brieföffner. Sie nahm ihn und in noch nicht einmal zwei Minuten hatte sie das Schloss auf. Sie zog das Schubfach auf und stiess einen Pfiff aus. Sie nahm aus dem Schubfach einen Pass und einen Ausweis heraus und steckte beides in die Gesässtasche ihrer Jeans. Vermutlich war es das, was sie gesucht hatte. Etwas anderes erregte noch ihr Interesse und sie begann weiter in dem Fach zu wühlen. Mit einem Mal ging ein Grinsen über ihr Gesicht. Sie hielt ein Bündel Geldscheine in der Hand. Sie legte es auf der Anrichte ab und suchte weiter. Kurz darauf hielt sie zwei zusammengeklammerte Blatt Papier in der Hand. Sie überflog sie und eine zufriedene Miene huschte über ihr Gesicht. Namen, Zahlen, Daten waren auf dem Papier.

"Habe ich Dich, Du Mistkerl", triumphierte sie, "Das hier ist meine Lebensversicherung."

Sie verstaute alles in einem Rucksack, der schon gepackt bereitstand. Nun hiess es hier rauszukommen. Alle Fenster waren vergittert und Gyorgy, der Mistkerl, hatte das Haus abgeschlossen. Sie erinnerte sich bei ihren Überlegungen daran, dass in der Gästetoilette nur ein sehr kleines Fenster war und man war wohl deshalb der Meinung gewesen, es bräuchte nicht vergittert zu werden. Sie rannte zu der Toilette und riss die Tür auf. Schon kamen ihr Zweifel. Das Fenster war wirklich sehr klein. Konnte sie da durchkommen? Hatte sie denn eine andere Wahl? Sie rannte zur Eingangstür und betätigte die Fernbedienung für das Grundstückstor. Dann lief sie zur Toilette zurück. Zuerst warf sie ihren Rucksack aus dem Fenster, dann versuchte sie es und musste ihre Versuche dreimal wieder abbrechen, weil sie weder vor noch zurück kam. Immer wieder probierte sie andere Körperhaltungen und Verrenkungen. Beim vierten Mal probierte sie es mit einem nach vorn gestrecktem Arm und einem nach hinten, so dass ihre ohnehin schon schmalen Schultern durch die Schieflage noch schmaler wirkten und vorwärts statt mit den Beinen zuerst. Es klappte. Ziemlich unsanft schlug sie unter dem Fenster auf dem Boden auf. Gott sei Dank. Hätte sie nur fünf Kilo mehr gewogen oder wäre mit einem überdurchschnittlich gebärfreudigem Becken gesegnet gewesen, hätte sie vermutlich nicht mehr durch das Fenster gepasst. Trotz ihres durchtrainierten Körpers blieb sie einige Sekunden benommen sitzen und rappelte sich dann hoch. Sie klopfte sich den Staub ab, nahm ihren Rucksack und verliess vorsichtig das Grundstück. Sie hatte absolut keine Lust, jetzt Gyorgy in die Arme zu laufen. Nachdem sie die Lichtschranke passiert hatte, schloss das Tor automatisch.

'Bloss weg hier', dachte sie. Während sie zur Strasse lief und sich immer wieder in alle Richtungen umschaute, überlegte sie, wie sie jetzt weiter vorgehen sollte. Wenn Gyorgy merkte, dass sie abgehauen war und was sie hatte mitgehen lassen, war er unzweifelhaft hinter ihr her. Er war nicht der Typ, der sich sowas gefallen liess. Vielleicht hätte sie das Geld und das Dokument nicht mitnehmen sollen. Vielleicht hätte er sie dann einfach ziehen lassen.

'Aber nein', dachte sie, 'Ich weiss zu viel, als dass er mich einfach gehen liesse.'

Sie musste irgendwie nach Deutschland kommen, da konnte sie eher untertauchen. Hier hatte er zuviele Helfershelfer, hier würde er sie finden, da war sie sich sicher. Jetzt konnte sie noch zum Hafen, bevor Gyorgy merkte, dass sie weg war. Später würde er bestimmt alle Fluchtmöglichkeiten überwachen und hoffen, dass sie ihm in's Netz ging. Sie lief jetzt die Strasse entlang und hielt ihren Daumen hoch, behielt jedoch alle ankommenden Autos von beiden Seiten im Auge, um nicht zufällig von Gyorgy erwischt zu werden. Es dauerte nicht lange, als ein Kleinlaster mit Gemüse anhielt.

"Fahren Sie zum Hafen nach Prinos?", fragte sie in akzentuiertem, etwas holprigem Griechisch. Der Fahrer nickte und die junge Frau stieg ein. Sie unterhielten sich nur wenig und in zwanzig Minuten waren sie am Hafen von Prinos auf Thassos. Schnurstraks lief sie zum Anleger der Flying Dolphins, den Tragflächenbooten, die zwischen den griechischen Inseln verkehrten. Sie kaufte eine Fahrkarte für den nächsten Dolphin und wollte noch etwas durch den Hafen bummeln, denn sie hatte noch etwa dreissig Minuten Zeit. Sie wandte sich noch einmal zum Fahrkartenverkäufer um und fragte ihn, "Wo fährt der Dolphin eigentlich hin?"

Erstaunt blickte der Fahrkartenverkäufer auf. Es kam nicht oft vor, dass Leute eine Fahrkarte kauften und nicht mal wussten, wohin. "Nach Sithonia, Porto Koufos", antwortete er und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.

Direkt zum nahen Festland bis Keramoti oder Kavala wäre ihr ja lieber gewesen, aber auch dann hätte sie einen ziemlich weiten Weg nach Thessaloniki gehabt. 'Na ja, auch nicht schlecht', dachte die junge Frau, 'Wenn ich Glück habe, komme ich von da aus schnell nach Thessaloniki und erwische den nächsten Flug nach Deutschland. Aber wenn ich ein oder zwei Tage warten muss, erwischt mich bestimmt Gyorgy. Immerhin ist Thessaloniki der nächste Flughafen. Vielleicht ist es ja besser, erst woanders unterzutauchen und später zum Beispiel von Athen aus zu fliegen. Kann mir nicht vorstellen, dass sein Einfluss so weit reicht. Dazu ist er ein zu kleines Licht.'

Als sie dann später im Dolphin sass und die starken Motoren röhren hörte, atmete sie erleichtert auf, obwohl ihr das 'Fliegen' in einem Flying Dolphin immer etwas Unbehagen bereitete. Von aussen sah es immer so aus, als würde der Dolphin ruhig dahingleiten, aber wenn man drin sass, rüttelte es ganz schön und man konnte schon mal seekrank werden, wenn man nicht so ganz seefest war.

Eine Stunde später machte der Dolphin im Hafen Porto Koufos an der Südspitze von Sithonia fest. Der erste Weg führte sie zu einem Telefon und sie rief den Flughafen Thessaloniki an. Mit langem Gesicht erfuhr sie, dass sie frühestens in zwei Tagen fliegen könnte, denn sie wollte nach Leipzig oder Berlin, nicht nach München oder Frankfurt, aber auch dahin hätte sie bis morgen warten müssen. Das hatte sie befürchtet. Entäuscht und etwas ratlos verliess sie den Hafen. Und wenn sie doch am nächsten Tag nach Frankfurt flog und von da aus mit dem Zug weiter? Aber sie hatte gehofft, noch heute fliegen zu können. Dann wäre sie auch nach Frankfurt geflogen. Morgen konnte es schon zu spät sein. Gyorgy's Handlanger könnten morgen schon an allen Abfertigungsschaltern nach Deutschland auf sie lauern. Ob er jetzt schon festgestellt hatte, dass sie getürmt war? Ihr Magen knurrte und an einem Imbiss kaufte sie sich einen gerollten Teigfladen mit Gyros. Während sie es genüsslich verzehrte und eine Cola dazu schlürfte, überlegte sie sich ihre weiteren Schritte. Sie konnte zwar hier irgendwo untertauchen, aber sie war sich sicher, dass Gyorgy's Freunde hier alles unter Kontrolle hatten. Nein, sie musste hier weg, viel weiter weg und das möglichst unauffällig. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie lief zum Hafen zurück und ging in den Bereich für Sportboote. Mindestens fünf verschiedene Charterbasen waren hier ansässig. Sie ging von Basis zu Basis und fragte, ob sie jemanden oder eine Crew wüssten, die ihr eine Koje gegen Hand überliessen. Doch sie hatte leider kein Glück, obwohl ihr einer sagte, dass heute noch neue Charterer ankommen würden.

"Versuchen Sie es beim Hafenmeister", gab einer ihr den Tip.

Der Hafenmeister wusste zwar auch niemanden, bot ihr aber an, dass sie in dem Glaskasten an dem Hafenmeisterbüro einen Zettel anpinnen könnte, was sie dann auch tat. Was hätte sie auch sonst weiter tun sollen?

3. Kapitel

Jonas warf sich seinen Seesack über die Schulter, nachdem er das Taxi bezahlt hatte und machte sich auf, zum Büro der Charterbasis der Greek Charter Association. Nachdem er die Charterdokumente vorgelegt hatte, sagte er, "Mein Mitsegler hat unser Flugzeug verpasst und fliegt nun voraussichtlich bis Athen und wir treffen uns dann auf Andros oder Kea. Können Sie mir die Yacht trotzdem übergeben? Sie wird pünktlich bei Ihrer Charterbasis auf Korfu sein."

Der Angestellte der Charterbasis schüttelte bedauernd den Kopf.

"Ist der Chef der Charterbasis zu sprechen?", fragte Jonas freundlich.

Der Angestellte der Charterbasis brüllte was auf griechisch über seine Schulter und meinte lächelnd, "Kommt gleich."

Ein Hüne, genauso gross wie Jonas, kam aus dem Hinterzimmer, blond und blauäugig und sah ganz und gar nicht nach einem Griechen aus. Jonas erzählte ihm dasselbe wie dem Angestellten und schloss mit der Bitte, "Bitte übergeben Sie mir doch die Yacht. Hören Sie, ich habe über fünftausend Seemeilen Segelpraxis hier in den mediterranen Gewässern. Das ist für mich kein Problem, in drei Tagen einhand2) bei Andros zu sein."

"Ich glaube Ihnen das gerne und von mir aus wäre das auch kein Problem", meinte der Chef der Charterbasis, "Aber die Yacht ist Vollkasko versichert und die Versicherung besteht auf mindestens zwei Seglern auf den Yachten. Wenn nun doch was passieren sollte, wird sich die Versicherung weigern, zu bezahlen. Was machen wir dann? Wer bezahlt uns einen eventuellen Schaden? Vom Charterausfall gar nicht zu reden. Sind Sie in der Lage, unter Umständen mehrere zehntausend Euro auf diesen Tisch hier zu blättern?"

Jonas' belämmertes Gesicht war ihm Antwort genug. Er sagte zu Jonas, "Suchen Sie sich einen zweiten Segler mit Schein, wenigstens den Binnen und bis zu Ihrem Treffpunkt, und Sie bekommen die Yacht."

Der Chef verschwand wieder im Hinterzimmer und Jonas schickte sich an, das Büro zu verlassen. Er musste überlegen. Da sagte der Angestellte zu ihm, "Mir fällt gerade was ein. Da war vor ein paar Stunden eine junge Frau hier und fragte nach einer Koje gegen Hand. Egal wohin. Vieleicht sucht sie ja immer noch und ist hier noch in der Gegend oder der Hafenmeister weiss etwas. Fragen Sie ihn mal."

"Oh, danke, das ist ein guter Tip. Mache ich."

Auf dem Weg zum Hafenmeisterbüro dachte Jonas, 'Mhh…, eine Frau, ob das gutgeht? Egal, Hauptsache sie hat einen Segelschein und ist mir einigermassen sympathisch. Wir werden schliesslich einige Tage zusammen auf engstem Raum verbringen, auch wenn jeder seine eigene Kabine hat. Ja, warum nicht?'

Er war beim Hafenmeisterbüro angekommen und hatte schon die Klinke in der Hand, als ihm der Glaskasten neben dem Eingang auffiel. Er hielt inne und überflog die Zettel im Kasten. Von entlaufenen Hunden über verlorene Bootsschlüssel sowie Angebote gebrauchter Motoren bis zu ganzen Schiffen war alles in diesem Kasten vertreten. Dann sah er den Zettel.

"Biete Hand gegen Koje, Segelschein vorhanden. Egal wohin."

Eine Handynummer stand darunter. 'Das könnte die Frau sein', dachte Jonas, 'Vielleicht aber auch nicht.'

Erst jetzt betrat er das Hafenmeisterbüro. "Kalimera", begrüsste er den Hafenmeister und fragte, "Sprechen Sie deutsch?"

"Kalimera. Eiinn wennig", schnarrte der Hafenmeister.

"Gut. Eine Frau soll heute einen Skipper oder eine Crew gesucht haben, die eine Koje gegen Hand bieten. Wissen Sie was davon oder wissen Sie, wo sie ist? Ich suche dringend einen Mitsegler."

Er nickte und wies zur Tür, "Hatt gemakkt Zettell inn Kassstenn."

"Oh, das ist sie? Okay, vielen Dank."

Jonas ging wieder nach draussen, stellte seinen Seesack und die Reisetasche ab. Er holte sein Handy hervor und wählte die angegebene Nummer. Es klingelte ziemlich lange aber schliesslich wurde das Gespräch angenommen.

"Ja?", fragte eine unsicher klingende Frauenstimme.

"Mein Name ist Jonas Lange. Ich habe Ihren Zettel am Hafenmeisterbüro gesehen. Ich brauche einen Mitsegler und könnte Ihnen eine Koje anbieten, sogar eine eigene Kabine. Ich bin jetzt hier beim Hafenmeister. Wenn Sie Interesse haben, dann kommen Sie doch hierher, ich warte."

Jetzt klang die Stimme nicht mehr unsicher, sondern freudig und aufgeregt, "Mensch, Klasse. Ich komme, laufen Sie nicht weg. Bin in zehn Minuten da."

'Okay', dachte Jonas, 'Bin gespannt wie das wird.'

Aus den zehn Minuten waren fünfzehn geworden, als Jonas sah, dass eine Frau eilig die Pier runtergelaufen kam. Sie war noch ein Stück weit weg und das Erste, was Jonas auffiel, waren die langen, wehenden, dunklen Haare, dann die langen Beine in den engen Jeans und ihre verhältnismässig zierliche, wohlgeformte Figur und noch bevor sie so nah war, dass er ihr Gesicht erkennen konnte, spürte er, wie sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er nahm ihr strahlendes, gebräuntes Gesicht, die gebräunten Arme sowie ihr gebräuntes, ziemlich weit offenes Dekolleté wahr. Und sie sah ziemlich jung aus. Fasziniert starrte er sie an, während sie schnell näher kam. Ihr Gesicht erinnerte ihn irgendwie an die Sängerin Katie Melua. Ebenso diese grossen, dunklen, sanften Augen. Verschmitzt lächelte sie ihn an, als sie sein überraschtes Gesicht sah. Selbst als sie noch zwei Schritte entfernt war, streckte sie ihm schon ihre Hand entgegen, "Sind Sie Jonas Lange?"

"Bin ich und Sie sind…?" Ihr Händedruck war ausgesprochen kräftig, sie war offensichtlich gewohnt zuzupacken und ihre Hand in seiner Hand machte auch nicht den Eindruck einer zarten Frauenhand. Sie liess ihren Rucksack einfach fallen, der nur über ihrer linken Schulter gehangen hatte. "Jessie Hauser. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen vorhin am Handy nicht meinen Namen genannt habe, aber ich hatte meine Gründe."

"Ist schon okay. Sie haben einen Segelschein?"

"Ja, den Seeschifferschein. Und Sie haben ein Boot?"

"Noch nicht", lachte Jonas über ihre Schlagfertigkeit, "Aber mit Ihnen zusammen sollte es kein Problem sein, dieses zu bekommen."

"Was ist passiert?", wollte sie wissen.

"Mein Partner hat unseren Flieger verpasst. Hier könnte er frühestens übermorgen sein und das ist zu spät. Er versucht jetzt nach Athen zu fliegen und nach Andros überzusetzen. Da könnte ich ihn dann aufgabeln. Alleine bekomme ich die Yacht nicht."

Zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte, "Andros, Kykladen? Wo wollen Sie denn eigentlich hin?"

"Also, wir haben eine Yachtüberführung von hier nach Korfu und sie muss in einer Woche dort sein."

"Korfu? Eine Woche?! Das heisst viel segeln. Was ist das für eine Yacht?" "Eine Bavaria 40. Ist Ihnen das zu anstrengend? Dann sagen Sie es. Ich könnte versuchen, jemand anderen zu finden."

"Nein, nein. Ich segle gerne und es macht mir nichts aus, ordentlich anzupacken. Toll, ich mag Korfu. Mit einer vierzig Fuss3) Yacht sollten wir es schaffen."

"Na ja, eigentlich dachte ich nur bis Andros, wenn ich da meinen Partner aufgabeln kann."

Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit.

"Ach, Sie wollen mich auf Andros wieder rausschmeissen? Ich dachte, ich könnte bis Korfu mitsegeln."

Es tat Jonas schon Leid, diesen Satz ausgesprochen zu haben, als er ihr trauriges Gesicht sah.

"Na ja, wenn mein Partner nichts dagegen hat, könnten Sie auch bis Korfu an Bord bleiben. Wir haben ja drei Kabinen."

"Oh, danke, das ist sehr nett von Ihnen." Sie zappelte dabei mit ihrem gesamten Körper vor überschäumender Freude und Jonas hatte das Gefühl, sie würde ihm gleich um den Hals fallen. Ein seltsames Gefühl schlich sich in seinen Magen.

"Ich bin überzeugt, ich kann Ihnen von Nutzen sein", durchbrach sie seine Gedanken, "Ich kenne so ziemlich jeden Hafen in Griechenland und auch eine Menge Buchten, wo es sich sicher ankern und übernachten lässt. Ausserdem kann ich griechisch. Na ja, etwas holprig zwar, aber immerhin."

"Können Sie denn auch kochen?", fragte Jonas süffisant.

"Ähhh….", Jessie machte ein langes Gesicht, "Nudeln mit Ketchup? Vielleicht auch ein Spiegelei, wenn es nicht anbrennt."

"Na grossartig, dann ist es abgemacht", lachte Jonas und reichte ihr die Hand, "Auf gute Partnerschaft und auf das 'Du'."

"Ja klar, natürlich, na dann los. Zu welcher Charterbasis müssen wir?" Sie schnappte sich ihren Rucksack.

"Zur Greek Charter Association"

"Ach, da war ich ja heute. Aber da wusste noch keiner von Dir."

"Ich bin jetzt grad mal eine knappe Stunde hier. Wie kommt das eigentlich, dass Du Dich in Griechenland so gut auskennst?"

"Ich schwirre hier schon seit etwa einem Jahr rum." Sie druckste etwas herum, "Ich kannte hier jemanden, aber das ist vorbei."

Jonas merkte, dass Jessie nicht gerne über dieses Thema sprach und beliess es dabei.

Sie erreichten das Büro der Charterbasis und Jonas stellte Jessie dem Angestellten als seine Mitseglerin vor. Nach einem vielsagenden und auch neidvollem Blick wandte der Angestellte sich Jessie zu, "Dann brauche ich Ihren Segelschein und Ihren Ausweis."

Jessie kramte in ihrem Rucksack und legte beides auf den Tresen. Während der Angestellte die Daten in die Crewliste eintrug, schielte Jonas möglichst unauffällig auf die Daten. Nach ein paar Sekunden wusste er, dass sie sechsundzwanzig und in Leipzig geboren war und ihren Seeschifferschein schon mit zwanzig hatte.

"Lassen Sie bitte Sven Decker in der Crewliste stehen oder setzen Sie ihn in Klammern. Ich hoffe, wir nehmen ihn in ein paar Tagen an Bord.", sagte Jonas zu dem Angestellten.

Nachdem der Papierkram erledigt war, sagte der Angestellte, "Okay, dann machen wir jetzt die Übergabe."

Die Übergabe zog sich hin, denn es waren einige Dinge zu beanstanden oder zumindest zu notieren. Die Yacht war immerhin schon über zehn Jahre alt, war offensichtlich viel gesegelt worden und man sah schon etliche Verschleisserscheinungen. Zu guter Letzt zog Jonas sich seine Klamotten aus und sprang mit einer Taucherbrille in's Wasser. Er setzte sie auf und inspizierte den Rumpf, den Kiel, das Ruder und den Saildrive-Antrieb4). Als er wieder über die Badeplattform an Bord kletterte, fiel ihm der Name des Schiffes am Heck auf, image. Er konnte ihn nicht lesen, weil er in altgriechischen Buchstaben geschrieben war, ebenso an Steuerbord5) und Backbord6) des Bugs. Er zuckte die Schultern, es war nicht wichtig.

Als Jonas wieder an Bord war und zusammen mit dem Angestellten der Charterbasis die letzten Punkte auf der Checkliste abhakte, bemerkte er, wie Jessie interessiert seinen muskulösen, gut gebauten Körper betrachtete. Und als sich in diesem Moment ihre Blicke trafen, wurden beide vor Verlegenheit rot.

Nachdem die Übergabe beendet war und sie sich geeinigt hatten, wer welche Kabine bekam, verstaute jeder seine Sachen, wobei Jessie nicht viel zu verstauen hatte. Sie hatte zwar nicht alles mitgenommen aus Gyorgy's Haus, einige Kleider, die er ihr gekauft hatte, hatte sie dagelassen, aber dennoch war sie doch ein wenig erstaunt, das sie nach einem Jahr Griechenland und nach einem knappen dreiviertel Jahr mit Gyorgy fast nicht viel mehr besass als das, was sie auf dem Leib hatte. Sie gestand sich ein, dass sie langsam die Nase voll hatte vom Herumzigeunern.

Da Jessie natürlich keine Bettwäsche hatte, überliess Jonas ihr eine Garnitur, da er sicherheitshalber zwei mitgenommen hatte. Auch Handtücher überliess er ihr. Dafür würden sie zwischendurch mal waschen müssen.

Als sie sich im Salon wiedertrafen, meinte Jonas, "Wir brauchen noch Proviant und einige andere Dinge. Möchtest Du hierbleiben oder kommst Du mit einkaufen? Wie wollen wir das eigentlich handhaben? Kaufen wir abwechselnd ein oder machen wir jedesmal Hälfte-Hälfte?"

"Du bist der Skipper und bestimmst", antwortet Jessie.

"Okay, dann machen wir Hälfte-Hälfte, obwohl ich vermutlich mehr esse als Du."

"Habe ich kein Problem mit", grinste Jessie.

Schwer bepackt kehrten sie zur Yacht zurück. Sie wollten am nächsten Tag zwar nur bis Skopelos in den Sporaden segeln, aber vielleicht schafften sie es bei gutem Wind auch bis Skiros. Da sollte es ein paar wunderschöne Buchten zum Ankern geben und vermutlich wäre es dann auch schon relativ spät.

Nachdem alles verstaut war, beschlossen sie, essen zu gehen. Grosszügig meinte Jonas, "Ich lade Dich ein." Fragend zog Jessie ihre fein geschwungenen Augenbrauen hoch und Jonas sagte, "Na ja, ohne Dich hätte ich die Yacht nicht bekommen. Und wer weiss, wann ich jemand anderen gefunden hätte. Du hast meinen Törn gerettet."

Sie assen und tranken Rotwein dazu. Sie sassen im Freien und es wurde schummrig. Eine Kerze auf dem Tisch erhellte ihre Gesichter mehr von unten her und gab ihnen einen etwas geisterhaften Anblick. Hatten Jessie's Augen den ganzen Tag über abenteuerlustig, ja temperamentvoll geblitzt und gefunkelt, so sah Jonas jetzt ein sanftes Strahlen in ihnen. Die Aufregung des Tages hatte sich gelegt und sie wirkte entspannt. Jonas erinnerte sich zwar, dass Jessie sich etwas bedeckt gehalten hatte bezüglich ihrer Person, aber Jonas war doch neugierig, was eine hübsche, junge Frau dazu bewog, so umherzuziehen und auch jetzt kein festes Ziel zu haben schien. Ausserdem war es ihm wichtig, beurteilen zu können, mit wem er sich hier eine Woche lang auf engem Raum einliess.

"Wie kommt es, dass Du schon ein Jahr in Griechenland lebst", fragte er zwischen zwei Schlucken Rotwein und schaute sie dabei über den Glasrand hinweg an. Jessie schwieg eine Weile und sah Jonas dabei wie abwesend in die Augen, so dass er beinahe das Gefühl bekam, sie sei mit ihren Gedanken ganz woanders und hätte ihn gar nicht gehört

oder sie überlegte sich, wieviel sie ihm erzählen konnte.

"Ich bin von Beruf Werbegrafikerin", sagte sie dann langsam, als ob sie sich jedes einzelne Wort überlegen müsste, "Die Auftragslage in meiner Werbeagentur in Leipzig war schlecht und ich bin entlassen worden. Zwei Monate zuvor hatten mein Freund und ich uns getrennt. Na ja, eher er sich von mir. Ich war ganz schön fertig, damals. Es kam so viel auf einmal. Ich hatte etwas gespart und brauchte eine Auszeit. Meine paar Möbel habe ich einlagern lassen und meine kleine Einzimmerwohnung gekündigt. Ich habe mir ein paar Sachen geschnappt und bin hierher gekommen. Vier Monate lang bin ich kreuz und quer durch Griechenland getrampt", sie senkte ihren Blick, "Dann habe ich Gyorgy kennengelernt. Zwar zwölf Jahre älter als ich, aber attraktiv und sehr charmant. Er hat sich sehr um mich bemüht. Ich mochte ihn und seine vielen Komplimente und Geschenke haben mir geschmeichelt. Einige Zeit später habe ich seinem Werben nachgegeben. Vielleicht war ich auch ein wenig verliebt, so dachte ich jedenfalls."

Jessie sah Jonas wieder in die Augen und er erkannte Traurigkeit in ihrem Blick, aber auch noch etwas anderes, was er nicht genau definieren konnte, Angst vielleicht. Sie nahm eine andere Sitzposition ein und irgendwie ging ein Ruck durch ihren Körper, dann erzählte sie weiter, "Wie auch immer, es hat nicht mehr funktioniert, so habe ich heute morgen, als er nicht zu Hause war, meine Sachen gepackt und und bin einfach gegangen, habe den nächstbesten Dolphin genommen. Nun bin ich hier." Sie drehte den Stiel ihres Rotweinglases zwischen Daumen und Zeigefinger und trank dann einen Schluck.

"Und was hast Du jetzt vor? Beziehungsweise wenn wir auf Korfu sind?", fragte Jonas.

Sie zog ihre Schultern hoch und liess sie etwas resigniert wieder fallen und leise sagte sie, "Ich glaube, es wird Zeit wieder nach Hause zu kommen. Ich denke, ich werde von Korfu aus zurück nach Deutschland fliegen. Weißt Du, ich bin jetzt sechsundzwanzig und auch des Umherziehens müde. Ich muss wieder auf eigenen Füssen stehen. Ausserdem könnte ich mir vorstellen, dass Gyorgy mich sucht. Er ist ……nun ja, ziemlich dominant. Könnte sein, dass er es nicht so einfach hinnimmt, dass ich ohne ein Wort abgehauen bin."

Sie änderte wieder ihre Sitzposition und diesmal war sich Jonas sicher, dass es Angst war, was in ihren sanften, dunklen Augen im Licht der Kerze aufflackerte. Warum sind Augen imstande soviel zu sagen? Jonas merkte, dass da mehr war, als sie sagte. Jonas legte eine Hand auf ihre, "Bei mir auf dem Wasser bis Du sicher."

Sie lächelte ihn an und ihr "Ja?" war fast ein Flüstern. Sie hob ihre Hand unter Jonas' Hand an, stellte sie auf und verschränkte ihre Finger mit seinen. Erstaunt über diese vertrauliche Geste und das Vertrauen, dass sie ihm entgegenbrachte, blickte Jonas zu ihrer beider Hände. Er schaute wieder auf, in ihr Gesicht, ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen sahen ihn unverwandt an. Ein Kribbeln ging durch seinen Körper. Sie kannten sich jetzt etwa fünf oder sechs Stunden. Was geschah hier mit ihnen?

"Hast Du denn keine Verwandten in Leipzig, die Dich vermissen?", fragte Jonas.

"Meine Mutter ist schon seit elf Jahren tot. Sie war Griechin. Sie ist an Krebs gestorben. Mein Vater hat dann zwei Jahre danach wieder geheiratet. Aus dieser Ehe habe ich einen Bruder, Nico, der jetzt sieben ist. Ich liebe diesen kleinen Kerl, aber mit seiner Mutter komme ich nicht gut aus. Mein Vater betet sie an und tut alles, was sie sagt. Nach meiner Lehre bin ich sofort ausgezogen. Seitdem sehen wir uns nicht sehr häufig. Ich bin eigentlich immer nur wegen meines Bruders hingegangen. Es gibt noch einen Onkel und eine Tante, die Schwester meiner Mutter. Mit der verstehe ich mich gut und ich denke, zu ihr werde ich auch zuerst gehen, wenn ich wieder in Leipzig bin. Ob es hier in Griechenland noch Verwandte gibt, weiss ich gar nicht. Wahrscheinlich. Vielleicht hätte ich vorher meine Tante fragen sollen. Aber ich bin einfach losgezogen, ohne jemanden was zu sagen. Sie hätten doch nur versucht, mich zurückzuhalten."

"Und sie wissen nicht, wo Du bist?"

Sie schüttelte den Kopf, "Ich weiss, dass das nicht richtig ist. Sie machen sich bestimmt Sorgen, zumindest meine Tante und mein Onkel. Aber sie sind Sorgen um mich gewohnt."

So burschikos und temperamentvoll wie er sie auch kennengelernt hatte, irgendwie kam sie ihm jetzt zart und verletzlich vor und auch ihre Hand, die vor Stunden so fest zugepackt hatte, wirkte jetzt in seiner Hand viel zarter.

"Erzähl mir was von Dir", ihre Stimme klang so weich, das Timbre heiser, dunkel, sexy. Ein angenehmer Schauer lief Jonas den Rücken runter. Ihre Hände waren immer noch ineinander verschränkt und Jonas begann, ganz in Gedanken, ihre Handkante mit seinem Daumen zu streicheln. Offenbar wollte auch sie wissen, mit wem sie sich hier einliess. Für sie war es gewiss um einiges gefährlicher mit einem Mann allein auf einer Yacht auf dem Meer zu sein.

"Ich bin Ingenieur in einem grösseren Konzern. Ich bin dreissig und lebe in Berlin in meinem Elternhaus. Meine Eltern sind vor über zwei Jahren bei einem Flugzeugunglück um's Leben gekommen. Ich habe noch eine jüngere Schwester. Sie ist in München verheiratet, hat aber keine Kinder. Wir haben nur selten Kontakt."