Adin, Ebru The Scars Chronicles: Funke des Lichts

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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Franz Leipold
Covergestaltung: Ebru Adin
Covermotiv: Adobe Stock

 

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Teil I

Flammen der Erinnerung

1

Olivya

Eine Kluft liegt zwischen Liebe und Hass, ganz gleich, von welcher Art. Doch diese beiden können weder miteinander noch ohne einander existieren. Leard und Adair Frozenway sind diejenigen, die seit Generationen in dieser Kluft verweilen. Unter den Geisterkriegern sind sie als »die streitenden Großväter« bekannt.

Geistergeschichte und ihr Ursprung

 

»Wollt ihr dort stehen bleiben?«, fragte Gideon ärgerlich und zog seinen Silberdorn aus seiner Hosentasche. Er musterte mich mit einem Blick, der mir zu verstehen gab, dass wir uns beeilen mussten.

Wir standen mitten auf dem Grundstück eines von Menschen verlassenen Hauses. Ich wäre jetzt viel lieber in der Akademie gewesen, denn meine Knochen schmerzten noch von dem gestrigen Training. Doch jetzt waren wir hier, mitten in dem kleinen Dörfchen Doolin, einem Fischerdorf im County Clare. Hugo stand hinter mir und sah sich vorsichtig um. Das Dorf war zu einer Geisterstadt geworden. Ein Windspiel ertönte nicht weit von uns, dabei gab es keinen Wind.

»Klasse«, murmelte ich.

»Was hat Slunor noch mal gesagt, um welchen Geist es sich hier handelt?«, murmelte Camila neben mir. Nach ihrer Verletzung war das ihre erste Mission. Es hatte seine Zeit gebraucht, bis sich ihr Körper von dem Angriff erholt hatte.

Gideon drehte sich um und machte einen Schritt auf das Haus zu, dessen Tür sperrangelweit offen stand.

Uns schlug ein sehr strenger Geruch entgegen, der wie Feuer in der Nase brannte. Einen derartigen Geruch hatte ich bis dahin noch nie wahrgenommen.

Wir liefen hinter Gideon her, der einen Fuß vor den anderen setzte. Ehrlich gesagt, hatte ich gemischte Gefühle, da ich mich nicht wohlfühlte. Es war menschlich, dass man bei Unbehagen nicht in der Lage war, auf die Jagd zu gehen. Wenn man bedachte, dass wir hier hinter dem Übernatürlichen her waren.

Ein kalter Wind streifte meine Haut, während ich einen Schritt in das Haus setzte. Aus einer der hinteren Ecken erklang eine Spieluhr, deren Klang mehr als nur unangenehm war. Als Camila über die Schwelle trat, schlug die Tür hinter uns zu und ließ mich aufschrecken.

Ich schluckte schwer.

Hugo und ich offenbarten unser Licht und konnten zumindest den Boden unter unseren Füßen erkennen.

»Spürt ihr das?«, hauchte Camy.

»Ja«, antwortete Hugo und bewegte seine Finger. Ich tat es ihm gleich. Schlagartig wurde es so eisig im Haus, dass man zuschauen konnte, wie der eigene Atem vor den Lippen gefror.

»Jetzt verstehe ich, warum Slunor von einer ›frostigen Angelegenheit‹ gesprochen hat«, sagte ich und sah mich um. Ich hatte gedacht, er würde das auf den Januar und seine Temperaturen beziehen.

»Gid«, warnte Hugo und versuchte, mit Gideon Schritt zu halten, der uns schon etwas voraus war. »Wir müssen zusammenbleiben.«

»Ihr seid einfach zu langsam. Ich will nicht das Haus begutachten, sondern den Geist fassen«, antwortete Gideon mürrisch und lief weiter. Seit Ravens Verrat verhielt er sich meistens so. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, vermisste er seinen besten Freund. Vor allem auf Missionen.

Als Gideon das nächste Zimmer betrat, erwischte es ihn wie ein Blitz, der den eben noch blauen Himmel aufreißt. Ein großer Wirbelwind, der zwischen Dunkelheit und Licht schwankte, erfasste Gideon und zog ihn mit sich.

»Gid!«, riefen Hugo, Camy und ich gleichzeitig.

Ich traute meinen Augen kaum, als Gideon sich an den Holzdielen festhielt, um nicht herunterzufallen. Als würde er in ein schwarzes Loch gezogen, das ihn zu verschlingen versuchte. Und auch wenn ich gewillt war, Gideon zu helfen, lenkte mich die Tatsache ab, dass es sich bei dem Wirbel um zwei Geister handelte. Sie wirkten wie eine gigantische Kugel, die in zwei Nuancen leuchtete und durch das Haus wirbelte. Dabei schenkten sie uns nicht einmal Beachtung, sondern waren nur mit sich selbst beschäftigt.

»Du hast meinen Stuhl mit Absicht kaputt gemacht!«, hörte ich eine ältere Stimme rufen, die eindeutig zu einem Mann gehörte.

»Dafür hast du meinen Tisch ruiniert!«, rief die zweite Stimme. Ich konnte noch immer nicht erkennen, wer die beiden Herrschaften waren, die sich im Sturm stritten und Gideon letzten Endes an die nächste Wand schmetterten, ehe er sich selbst aus dem Loch befreien konnte.

»Geht es dir gut?«, fragte Hugo und half ihm wieder auf die Beine.

»Alles bestens«, stöhnte Gideon und wies Hugo ab. Er wollte nicht, dass ihm einer von uns half.

»Du warst nur eifersüchtig!«, rief eine der Stimmen.

»Das hättest du wohl gerne!«, grollte die andere Stimme.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn fast alle Geister, die ich bisher gesehen hatte, waren meist darauf aus, sich mit uns anzulegen. Sie agierten gemeinsam, um uns zu bekämpfen. Doch dies war hier nicht der Fall.

Als die beiden auf dem Boden verharrten, erblickte ich zwei ältere Herren, die sich gegenseitig an die Gurgel gingen.

»Du warst schon immer so schwach, Adair«, sagte derjenige, der auf dem anderen lag und ihn zu Boden drückte.

Adair nahm seinen Gehstock und schlug damit auf seinen Gegner. »Geh runter von mir, du schrumpeliger alter Mann.«

»Ehm … hallo?«, fragte ich vorsichtig, aber keiner der beiden reagierte auf meine Stimme.

»Oh, Mann «, sagte Hugo und stemmte die Hände auf die Hüften. »Slunor hat uns nicht wirklich zu den zwei streitenden Großvätern geschickt, oder?«

»Zu wem?«, fragte ich und hob eine Braue.

»Die streitenden Großväter sind zwei Brüder aus dem Jahr 1633. Sie gehören zu den Geistern, die niemand fangen konnte«, erklärte Camy und strich sich das blonde Haar zurück.

»Wollt ihr mir ernsthaft sagen, dass es zwei Geister gibt, die sich seit 1633 derart streiten und die bisher niemand fangen konnte?«, hakte ich nach und blickte zu den beiden Herren, die wie wild aufeinander einschlugen. »Die alten Männer da?« Ich deutete mit dem Finger auf sie.

»Hat sie uns gerade alt genannt, Leard?«, fragte Adair und linste zu mir herüber. Erneut schluckte ich und sah hastig zu Hugo, der mehr über diese Geister zu wissen schien.

»Wenn du auch schnaufst wie ein alter Mann, brauchst du dich nicht zu wundern, dass man dich für alt hält.« Leard entriss Adair den Gehstock und schlug damit auf seinen Bruder ein.

»Na warte!«, knurrte Adair und riss seinen Bruder erneut zu Boden.

»Hallo«, sagte Gideon und versuchte, sich zwischen die beiden zu schieben, aber die alten Herren strahlten eine gewaltige Kraft aus, die sich wie eine schützende Barriere um sie legte.

»Hallo?«, wiederholten Gideon und ich gleichzeitig. Doch anders als mein Ton war der von Gideon ernst. Fast schon beängstigend.

»Es reicht!«, schimpfte Camila auf einmal so laut, dass selbst die Raben auf dem Dach das Weite suchten. Ich sah sie mit großen Augen an, weil ich solch einen Ton noch nie zuvor von ihr gehört hatte.

»Halte dich aus dieser Angelegenheit raus, Mädchen!«, krächze Leard und warf ihr einen hasserfüllten Blick zu.

Gideon versuchte, einen Schritt auf die beiden zuzugehen, aber mit nur einer kurzen Bewegung von Leard flog er erneut durch die Luft.

»Fangt sie!«, befahl er uns, während er auf dem Boden kauerte.

Leard lachte hämisch und ließ dabei seine kaputten Zähne sehen. »Wenn ihr uns kriegt!« Der Groll gegenüber Adair schien verflogen zu sein, und beide wirbelten wie wild durch das alte Haus. Ich war mir nicht mal sicher, ob die Holzdielen unter unseren Füßen uns tragen konnten. Sie wirkten hohl und undicht.

Ein gewaltiger Wind fegte durch das Zimmer, und ich schaffte es nur mit Mühe, auf den Füßen zu stehen. Hugo war bereits durch das kaputte Fenster geflogen, und Camila hielt sich am Türrahmen fest, das Gesicht von ihren Haaren bedeckt.

»Fangt uns doch!«, forderten uns die Alten auf, aber keiner von uns war in der Lage dazu. Der Wind war so stark, dass das Festhalten am Treppengeländer, um nicht davon gerissen zu werden, höllisch schmerzte.

Die beiden Großväter verschwanden streitend aus dem Haus und ließen uns hier allein zurück. Mit ihnen verschwand auch der Wind, und es dauerte einen Moment, bis ich mich traute, dass Geländer loszulassen.

»Was war das denn?«, fragte ich und sah aufgebracht zu Gideon und Camy.

»Das lief ja klasse«, murmelte Gideon sarkastisch und stand auf, um sich den Staub von der schwarzen Hose zu klopfen.

»Ist bei euch alles in Ordnung?«, fragte Hugo und trat ans Fenster. Er wirkte auch ziemlich mitgenommen und zupfte sich das vertrocknete Unkraut aus seinem leicht gelockten Haar.

Ich glaubte, dass Slunor nicht das Wetter meinte, sondern die beiden Brüder. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum man sich über Jahre, selbst nach dem Tod, so streiten konnte. Dennoch musste ich ihnen eines lassen: Fangen konnten wir sie trotzdem nicht.

 

Wir kamen noch rechtzeitig zum Frühstück in der Akademie an und setzten uns an einen der hinteren Tische, die noch frei waren. Es war seltsam ruhig hier; man konnte spüren, dass eine gewisse Anspannung herrschte. Anspannung und Frust bestimmten den Alltag der Krieger. Wir waren erschöpft von den Missionen, die wie aus der Pistole geschossen kamen. Ich hatte das Gefühl, dass es nach dem Angriff schlimmer geworden war. Es folgten ständig Überfälle auf Menschen, und mehrere Gruppen von Kriegern waren Tag und Nacht unterwegs.

»Sehr frustrierend«, murmelte Camy und setzte sich neben mich, während sie ihren Blick durch die Speisehalle schweifen ließ.

Als ich etwas erwidern wollte, verspürte ich ein merkwürdiges Gefühl in meinem Innern, das meine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war wie ein Ziehen im Kopf, das ich mir nicht erklären konnte.

»Geht es dir gut?«, fragte Hugo besorgt, der bis eben am Tisch nichts gesagt hatte.

Ich brachte nur ein Nicken zustande.

Im gleichen Augenblick trat Rektor Farrell gemeinsam mit den Aufsehern in die Speisehalle und lief nach vorne. Sie stellten sich auf ihre Positionen, und Farrell ließ seinen Blick über die Krieger schweifen.

»Kriegerinnen und Krieger, ich bitte um eure Aufmerksamkeit«, begann er, und auch der letzte Krieger schaute jetzt nach vorne. »Wir haben beschlossen, eine neue Zimmereinteilung vorzunehmen. Künftig werden Asmera- und Nimlis-Krieger in einem Zimmer wohnen.«

Ein Aufschrei ging durch die Reihen, wo zuerst Stille herrschte.

Wir hatten zwar gelernt, in Gruppen zu arbeiten, dennoch waren einige nicht gut aufeinander zu sprechen. Gerade nach dem Angriff auf die Akademie verstärkte sich dieses Gefühl. Allerdings teilten sich Camila und ich ein Zimmer, obwohl wir aus verschiedenen Häusern kamen. Doch Camy war nicht wie die anderen Asmera-Krieger, die sich für etwas Besseres hielten und das Kinn nach oben streckten.

»Fantastisch«, murmelte Gideon und bekam dafür einen Schlag auf den Oberarm von Hugo.

»Respektiert diese Entscheidung und macht das Beste aus dieser Situation. Miss Firebear und Professor Hardy werden euch eure neuen Zimmer zeigen.«

Die Gelehrten teilten uns ein. Zum Glück durften Camy und ich zusammenbleiben. Jedoch sollten wir Zuwachs bekommen und mussten daher umziehen.

»Bitte lass es nicht Susan sein«, hauchte Camy, während wir uns auf den Weg zu unserem neuen Zimmer machten. Gideon wurde zusammen mit Hugo und Will in einen großen Raum gesteckt, in dem noch zwei Betten frei waren. Sollte wirklich Susan oder einer ihre Freundinnen bei uns landen, dann würde ich es auf jeden Fall vorziehen, bei den Jungs zu schlafen.

Für mich fühlte es sich befremdlich an, ein neues Zimmer zu beziehen, ohne zu wissen, wen man zu uns verlegen würde. Schon immer hatte ich mich nur langsam an neue Situationen gewöhnt, und das Gleiche galt auch für mein Leben als Kriegerin. Trotzdem versuchte ich, das Beste aus der Situation zu machen, und folgte den Anweisungen von Miss Firebear.

Während ich mich im Flur umsah und wir eine Etage nach oben stiegen, glitten meine Gedanken ab zu Raven. Auch wenn ich das nicht wollte, so musste ich oft an ihn denken. Ich wollte es nicht, aber es passierte. Ich fragte mich, was er gerade machte, ob er mittlerweile vollständig zu Ezuars und seinen Anhängern gehörte. Diese Gedanken machten mich krank. Noch viel schlimmer hatte es mich jedoch getroffen, dass er an Grams Tod schuld war. Und beinahe auch an meinem.

Zum Glück hatte ich Camy und Hugo. Gideon war ständig auf Achse und ließ nichts, was irgendwie mit Raven zu tun hatte, an sich heran. Ich hatte mehrmals versucht, ein Gespräch mit ihm zu führen, doch Gideons aufbrausende Art machte es einem ziemlich schwer.

Ich dachte an die Zeit von Camys Verletzung zurück. Es hatte ewig gedauert, bis Camy die Krankenstation verlassen und wieder ins Zimmer zurückkehren durfte. Professor Slunor hatte geholfen, sie mit Medikamenten und Kräutermischungen zu behandeln. Der Schuss hatte eine recht tiefe Wunde verursacht, und beim Sturz von der Klippe hatte sie sich einige Knochen gebrochen, da sie von den Wellen immer wieder gegen einen der Felsen geschleudert worden war. Auch Gideon war schwer verletzt, aber anders als Camila kam er schneller wieder auf die Beine. Es war purer Wahnsinn, dass er hinterhergesprungen war, doch ohne ihn hätte es Camy nicht geschafft, der stürmischen See lebend zu entkommen.

Slunor erklärte Camy, was sie berücksichtigen musste, damit der Heilungsprozess rasch voranschritt. Und dass sie regelmäßig seine Kräutermischungen zu sich nehmen sollte, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Wo müssen wir hin?«, fragte ich, da Camy den Zettel hatte.

»Wir sind diesmal im Nimlis-Bereich«, sagte sie fröhlich. Endlich gab es etwas mehr Licht in den Fluren.

Dass wir im Nimlis-Bereich wohnten, gefiel mir auch besser.

Ich wollte nicht ständig meckern, aber mein Bedürfnis nach einem neuen Zimmer und vor allem nach einer neuen Mitbewohnerin schwand von Minute zu Minute. Meine Unpässlichkeit reichte mir vollkommen aus, da brauchte ich nicht noch weitere Miseren. Grams hatte mir oft genug gesagt, dass ich manchmal unausstehlich sein konnte und dass ich es nur schwer schaffte, mich auf neue Situationen einzustellen. Mich damit auseinanderzusetzen war nie meine Stärke gewesen, und ich wahrte immer eine gewisse Distanz. Auch wenn ich im Grunde nicht zu den Leuten zählte, die immer brav ihren Mund hielten. Im Gegenteil: Wenn mir etwas nicht passte, dann ließ ich das mein Umfeld durchaus wissen. Und in letzter Zeit hatte ich es einige wissen lassen, wie mies es mir ging. Ich war die letzten Wochen so unglaublich wütend und verwirrt. Es war ein Gefühlschaos, das ich nicht deuten konnte. So viele Fragen standen noch offen, und ich wusste einfach nicht, wo ich Antworten finden sollte. Es gab so viele Dinge, deren ich mir erst jetzt bewusst wurde. So viele Geheimnisse, die hinter verschlossenen Türen schlummerten.

»Komm schon«, rief Camy mich zu sich, die mich mittlerweile überholt hatte.

Ich muss einfach weitermachen, dachte ich mir. Ein neuer Abschnitt begann, eine neue Phase meines Lebens. Vielleicht schaffte es das Universum dieses Mal, weitere Angriffe auf Unschuldige zu verhindern? Natürlich bezweifelte ich das. Wir befanden uns mitten im Krieg, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Ezuars die Mauern zum Einsturz bringen würde.

Ich spürte es.

In mir machte sich eine Unruhe breit, die mir sagte, dass noch einiges auf uns zukommen würde. Und ich fürchtete mich vor dem, was uns erwartete. Ich war noch lange nicht bereit, in den Kampf zu ziehen gegen Krieger, die viel erfahrener waren als ich.

»Olivya!«, schimpfte Camy.

»Ich komme ja schon!«, brummte ich missmutig, wobei mir der Karton in meinen Armen allmählich zu schwer wurde.

Schließlich gelangten wir vor eine weiße Tür. Von drinnen waren Geräusche zu hören; wir blickten uns an, und uns war klar, dass sich schon jemand im Zimmer befand.

Es konnte nur unsere neue Mitbewohnerin sein. Wie ich solche Veränderungen hasste!

Und ich glaubte, dass es einigen anderen ähnlich erging. Zugegeben, dass ich nun zum Bereich der Nimlis-Krieger gehörte, war nicht das Schlimmste. Und Camila hatte noch viel weniger Probleme damit. Es war ja eigentlich genau das Heer, in das sie gern eingeteilt werden wollte. Sie erzählte mir, wie sehr darunter auch die Beziehung zu ihrer Familie litt. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen: Wie konnte man jemanden verstoßen, bloß weil er nicht in demselben Heer gelandet war wie der Rest der Familie? Camila war kein schlechterer Mensch, nur weil sie für die Hölle kämpfte.

»Versuch einfach zu lächeln«, sagte Camy und verpasste mir einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen. »Auf drei.«

Sie schluckte schwer.

Wir hatten keine Angst vor Susan und den anderen. Doch unsere Situation war schon aufreibend genug, da brachte keine von uns die Nerven auf, nach einem anstrengenden Tag noch Ärger mit den Zimmergenossinnen zu ertragen.

Es war eine Weile vergangen, seitdem ich mit Camy zuletzt in einem Zimmer geschlafen hatte. Ich war regelmäßig bei ihr auf der Krankenstation zu Besuch, aber die meisten Zeit verbrachte ich allein und starrte Löcher in die Decke. Ihre Verletzung forderte all ihre Kraft, damit sie schnell wieder gesund wurde. Währenddessen gab ich mich meinen Hassgefühlen hin, Hass auf mich selbst und Hass auf den Rest der Welt. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, einfach wieder ein normales Leben zu führen. Doch wurde dieser Wunsch durch meinen Zorn unterdrückt, und es blieb kein Platz für ähnliche Gedanken.

Camila öffnete langsam die Tür und linste hinein, bis plötzlich ein lautes Geschrei aus dem Zimmer ertönte.

»Nein!«, schrie Camy und rannte ins Zimmer, um Sera zu umarmen.

»Wir sind in einem Zimmer!«, riefen Camy und Sera gleichzeitig wie dreizehnjährige Mädchen. Ich befürchtete schon, dass mein Trommelfell im nächsten Moment platzen könnte.

Ihr Engel, wo seid ihr?

Ich versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, und umarmte Sera, die mir den Karton abnahm und auf den Boden stellte.

»Bei den Engeln«, begann Sera. »Ich hatte schon befürchtet, dass Clara hier einzieht.« Sera und Clara konnten noch viel weniger miteinander als ich und Su.

Camy warf mir einen überglücklichen Blick zu. Und auch ich war erleichtert, dass Sera zu uns ins Zimmer kam.

»Die neue Mitbewohnerin ist doch nicht so übel«, antwortete ich sarkastisch und ließ mich von Sera erdrücken.

»Ich bin mal auf die neue Lehrerin gespannt«, meinte Sera und entzog sich der Umarmung.

»Neue Lehrerin?«, fragte ich und sah sie erstaunt an.

»Ja, habt ihr es nicht gehört? Es soll eine Vertretung kommen für einen Lehrer, der eine Stufe über uns unterrichtet. Opal hatte es erwähnt, aber ich habe den Namen schon wieder vergessen, welcher Lehrer pausiert«, antwortete sie achselzuckend.

»Warum bist du dann gespannt auf die neue Lehrerin, wenn wir doch mit ihr nichts zu tun haben?«, fragte Camy und legte ihre Sachen auf eines der freien Betten.

»Sie ist wohl eine alte Freundin von Arrow«, murmelte Sera. »Das habe ich zumindest neulich gehört, während Firebear und Arrow sich darüber unterhalten haben.«

Sera war ein wenig in Professor Arrow verknallt, weswegen sie alles interessierte, was ihn irgendwie betraf.

Camy zeigte mir mein Bett und stellte meinen Karton darauf ab. »Zumindest ist es schöner als unser altes Zimmer.«

Ich schaute mich um. Das Zimmer zeichnete sich durch eine hohe weiße Decke aus. Rechts von der Tür stand ein Schreibtisch vor einem barocken Fenster. Ich lernte lieber auf dem Bett. Ganz im Gegensatz zu Camy. Sie schlief immer ein, wenn sie auf einem weichen Untergrund saß und lernte. Das war auch einer der Gründe, warum sie im Krankenzimmer nicht lernen konnte. Sie war zu müde und erschöpft, um auch nur eine Zeile aus den Büchern im Gedächtnis zu verankern.

Mein Blick fiel auf viele kleine Porzellanfiguren in unterschiedlichen Formen und Farben, die auf der Kommode neben Seras Bett standen.

»Gehören die alle dir?«, fragte ich.

»Ich sammle so etwas«, antwortete sie unschuldig und grinste. »Die Figürchen beobachten mich beim Schlafen. Ich finde das irgendwie beruhigend und überhaupt nicht gruselig.«

Ich musste an meine Großmutter denken, die Gläser in allen möglichen Formen gesammelt hatte, um darin ihre Kräuter anzusetzen. Manchmal hatte ich sie auch für eigenartig gehalten, jedoch im positiven Sinne und nicht wie der Rest der Nachbarschaft. Ich dachte an die ganzen Vasen, die sich auf dem Fensterbrett stapelten und die ich nur allzu oft abstauben musste. Eine Beschäftigung, die ich überhaupt nicht mochte.

»Dann sind wir vollzählig«, sagte ich schlicht.

»Wie sich die anderen wohl zurechtfinden?«, fragte Camy und grübelte vor sich hin. Es war immer putzig, dabei zuzusehen, wie sich Camy um andere sorgte. Denn dass man uns nun in neuer Besetzung auf die Zimmer verteilte, war auch ein Grund dazu. Früher konnte man sich nach den Missionen zurückziehen, doch das war jetzt kaum noch möglich. Ich verstand Rektor Farrells Gründe, warum er diese Entscheidung getroffen hatte. Trotzdem war ich der Meinung, dass alles einfach viel zu schnell ging. Die Teams wurden erst allmählich miteinander warm.

»Da ich nichts höre, ist wohl auch noch keiner einem anderen an die Kehle gegangen«, witzelte Sera und grinste frech.

Ich begutachtete weiterhin das Zimmer. Es war geräumiger als unser altes, in das gerade so zwei Betten passten, und es besaß dementsprechend auch mehr Fenster. Hier drang deutlich mehr Licht ein, was dem Zimmer eine freundlichere Atmosphäre gab.

Während Camy und Sera sich über Slunors Kurs unterhielten, packte ich meinen Kram aus der Kiste. Viel mehr hatte ich auch nicht. Camy hatte mir ein paar ihrer Klamotten geschenkt, und ich durfte mir auch etwas aus ihrem Schrank stibitzen. Doch es gab nicht viele Gelegenheiten, andere Kleidung anzuziehen, da wir die meiste Zeit unsere Uniform trugen.

Plötzlich hörte ich Stimmen draußen im Hof. Meine Neugier war geweckt. Ich lief an das Fenster, das dem Bett am nächsten war, und erblickte Nicholas mit einem weiteren Asmera-Krieger. Ich sah nur dessen braunen Schopf, konnte aber nicht erkennen, wer es war.

Der Braunhaarige stand mit dem Rücken zur Akademie, er war fast einen Kopf größer als Nick. Seine Haltung verriet mir, dass er ziemlich angespannt war; dabei hüpfte er ständig von einem Fuß auf den anderen. Nicholas war anscheinend ziemlich genervt von seinem Gegenüber. Während er versuchte, ihm irgendetwas zu erklären, blickte er immer wieder aufgebracht zu ihm hoch.

Lauschen gehörte sich nicht für eine Geisterkriegerin, aber ich musste wissen, worum es in dem Gespräch zwischen den beiden ging.

»Hast du mich verstanden?«, hakte Nicholas eindringlich nach.

»Ja«, ächzte der andere und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Und wann soll es stattfinden?«

»Du wartest, bis ich dir das Zeichen gebe«, erklärte Nick leise und sah sich einmal um, ob auch niemand sie beobachtete.

»Bist du sicher, dass wir das tun sollen?«, fragte der Junge und klang … unsicher, fast verängstigt.

»Jetzt ist nicht die Zeit, um zu zweifeln; du musst dich zusammenreißen. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir es hinter uns«, sagte Nick energisch.

»Aber das widerspricht allem, wofür wir stehen«, erwiderte der Junge zaghaft.

»Konzentriere dich! Es muss getan werden«, bestand Nick und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Er zwang ihn, ihm direkt in die Augen zu schauen, und in dem Moment erkannte ich ihn: Es war Fiete Halfshadow. Ich fragte mich, worüber die beiden sprachen. Gideon traute Nicholas Lowell nicht über den Weg. Und wenn ich ehrlich war, ich genauso wenig.

»Was ist, wenn sie uns erwischen?«, fragte Fiete unsicher. »Dann wird er uns bestimmt nicht aus der Misere helfen.«

Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Ich wusste nicht, über wen sie sprachen, aber ich konnte mir ausmalen, wen sie mit er meinten.

Ezuars.

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und auf einmal bekam ich keine Luft mehr. Panik machte sich in mir breit, als ich daran dachte, wie Ezuars’ Plan aussah. Wenn Nick wirklich zu seinen Anhängern zählte, dann würde er womöglich das ausführen, was Raven nicht zustande gebracht hatte – meinen Tod.

Ich musste noch mehr hören, wollte wissen, ob sie dort unten wirklich meinen Tod besprachen.

»Du hältst dich an unseren Plan! Also keinen Rückzieher!«

Fiete nickte, wirkte aber wenig zufrieden mit der Situation. Zumindest schien er nicht gerade zuversichtlich, was ihren Plan anging. Was auch immer er beinhalten mochte.

»Lya?«, hörte ich plötzlich Camys Stimme. »Was ist da draußen los?«, fragte sie und kam zu mir ans Fenster. Doch als sie hinausschaute, waren Nicholas und Fiete bereits verschwunden.

»Gar nichts«, log ich. »Ich war nur in Gedanken.«

 

Das Mittagessen stand an, deshalb machten wir uns auf in die Speisehalle, wo Hugo und die anderen bereits am Tisch saßen.

»Und wie ist euer neues Zimmer?«, fragte ich und setzte mich mit meinem Tablett Hugo gegenüber.

»Es hat sich nicht viel geändert«, begann Hugo. »Wilson musste ich behalten. Zudem habe ich noch einen Miesepeter als Zimmergenossen bekommen. Und Opal.«

Ich blickte zu Gideon, der gedankenverloren in seinem Essen spielte. Seine Laune verbesserte sich nicht, und ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen.

»Also wir haben uns schon eingelebt«, sagte Sera und ließ es sich schmecken.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte ich Gideon, der mich kaum anschaute.

Er schob sein Tablett beiseite und schüttelte den Kopf. »Heute nicht wirklich.« Schlechter Zeitpunkt, schlechte Mission – kein Wunder, das er nicht gut drauf war.

Ich linste kurz zu Wilson, der sein Essen so schnell in sich reinstopfte, dass ihm kaum Zeit zum Luftholen blieb.

»Iss langsamer!«, mahnte Sera lachend, »sonst wirst du noch ersticken.«

»Kann nicht. Muss gleich auf Mission«, antwortete er mit vollem Mund und aß weiter. Er vertilgte sogar Gideons Portion, der keine Einwände zu haben schien. Wenige Minuten später huschte er auch schon davon.

Das Mittagessen war fast schon beendet, als auf einmal Nicholas mit Clara auftauchte. Warum kamen die beiden so spät? Außerdem irritierte es mich, wie eigenartig sich die beiden verhielten. Besonders Clara blickte nervös um sich, ähnlich wie Fiete.

Irgendwas stimmte nicht, und die Neugier packte mich.

Sera und Camy waren bereits zurück aufs Zimmer gegangen. Ich nutzte die Gelegenheit, Clara, Nick und Fiete vom Eingang aus zu beobachten. Sie waren eine der letzten Gruppen in der Speisehalle und redeten im Flüsterton.

»Olivya.«

Ich sah mich achtsam in der Eingangshalle um, konnte jedoch niemanden entdecken.

»Olivya Whitethrone.«

Erneut nannte jemand meinen Namen.

Es handelte sich um eine junge männliche Stimme, die ich nicht kannte.

»Das ist nicht witzig!«, sagte ich verärgert in die Eingangshalle und dachte, dass sich jemand einen Spaß erlaubte.

»Er versteckt es in seinem Zimmer!«, antwortete die Stimme. »Nicholas versteckt es in seinem Zimmer!«

In meinem Kopf herrschte das Chaos. Verzweifelt schaute ich mich um, aber da war niemand. »Wer versteckt was?«

»Die Waffe!«, antwortete die Stimme und hallte in meinem Kopf. »Das Zimmer befindet sich in der zweiten Etage der Asmera-Krieger. Der zweite Gang von links und die fünfte Tür rechts.«

Ich stand wie angewurzelt da.

»Was denn für eine Waffe?!«

»Seine Waffe!«

»Auch noch hier, Whitethrone«, ertönte plötzlich Nicholas’ Stimme hinter mir und ließ mich herumfahren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich.

»Ich darf sein, wo auch immer ich will«, zischte ich grimmig zurück und schaute ihn herausfordernd an.

Er sollte mir meine Nervosität nicht anmerken. Die Stimme war verschwunden. Ob die anderen sie bemerken hatten? Clara und Fiete tauchten hinter Nick auf und schauten mich hasserfüllt an.

»Solltest du nicht irgendwo sein?«, pöbelte Clara und verzog das Gesicht.

Nick warf ihr einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Er sorgte jedoch dafür, dass Fiete und Clara uns allein ließen.

Nicholas machte einen großen Schritt auf mich zu. Sein Atem streifte meine Wangen, und ich konnte nicht anders, als in dieses intensive Braun seiner Augen zu sehen.

»Ich suche Camy«, behauptete ich und hielt seinem Blick stand. Innerlich schlug ich mir selbst auf die Stirn, weil ich versuchte, mich zu rechtfertigen. Ich konnte mich aufhalten, wo immer ich wollte! Warum antwortete ich diesem Kerl überhaupt?

»Sie hat mit Shadewood nach dir den Saal verlassen«, antwortete er, seinen Blick bedrohlich auf mich gerichtet. Dann glitt er mit seinem Mund an mein Ohr, sodass sich unsere Wangen berührten. »Ich weiß, dass du vorhin am Fenster warst, Whitethrone. Komm mir bloß nicht in die Quere, oder es war das Letzte, was du gehört hast.«

2

Camila

Ein Krieger folgt seinem Instinkt. Und manchmal führt uns dieser direkt an unser Ziel. Auch wenn wir niemals damit gerechnet hätten, es gerade dort zu finden.

Einführung in die Seelengeschichte

 

Es war ohne Sinn und Zweck, aber Sera hatte darauf bestanden, vor dem Unterricht noch in die Bibliothek zu gehen. Mir hätte eine Runde Schlaf echt nicht geschadet. Wir hatten die ganze Nacht mit Reden verbracht, und Lya schien ebenso wie ich völlig erledigt zu sein. Es war für mich wirklich ein Rätsel, wie Sera so gut gelaunt sein konnte. Mir war es unglaublich schwergefallen, überhaupt aus dem Bett zu steigen. Ich gehörte zu der Sorte Mensch, die entweder völlig übermüdet oder munter auf den Beinen war – einen Mittelweg gab es da nicht.

Ich will zurück ins Bett.

»Wieso sind wir eigentlich so früh aufgestanden?«, murmelte Lya und gähnte laut durch den Flur.

Sera eilte voraus. »Stellt euch nicht so an.«

Olivya und ich seufzten gleichzeitig.

Gideon hatte ich gestern Abend nicht mehr gesehen. Ich war die halbe Nacht damit beschäftigt gewesen, über meinen Sturz in den Abgrund nachzudenken, nachdem Sera schließlich eingeschlafen war. Gideon hatte mich gerettet, und ich hatte ihm bis heute noch nicht einmal dafür gedankt. Er hatte mich auf der Krankenstation besucht, aber ich tat so, als würde ich schlafen. Vielleicht war es kindisch, wie ich mich verhielt, aber ich war noch immer wütend auf ihn. Genauso wie ich wütend auf Charles war. Er hatte mich kein einziges Mal besucht, sondern seine Zeit lieber mit seinen Freunden verbracht. Ich war so enttäuscht von allem, dass ich mich voll und ganz auf das zu konzentrieren versuchte, was vor mir lag: die Akademie und die Missionen. Mit Gideon wechselte ich kaum noch ein Wort, und wenn er mal zu einem von uns etwas sagte, kam auch nichts Nettes dabei heraus. Seitdem uns sein bester Freund verlassen hatte, war er nicht mehr derselbe. Und auch wenn ich es nicht wollte, so fing ich an, mir Sorgen um ihn zu machen.

Die gesamte Situation war eigenartig. In der Akademie herrschte eine gedrückte Stimmung, die Gelehrten waren angespannt, und wir fühlten, dass vor den Mauern etwas lauerte. Keiner wusste, wie der nächste Tag aussehen würde. Manchmal bekam ich Angst. Angst vor dem, was noch kommen würde.

Während Sera und Lya in die Klasse gingen, versuchte ich mich abzulenken. Entschlossen schob ich die Gedanken an den Krieg und an die Gefahr beiseite und konzentrierte mich auf den bevorstehenden Tag. Allerdings gelang es mir nicht ganz, und immer stieg eine leichte Panik in mir hoch. Möglicherweise war ich ja paranoid geworden. So sehr ich mich auch bemühte, die Kriegerin zu sein, die man von mir erwartete, es funktionierte einfach nicht. Ich war einfach nicht dazu geschaffen, auf Jagd zu gehen. Manchmal glaubte ich, dass mein Großvater recht behielt, wenn er mich »eine Schande der Geisterkrieger« nannte. Ich hoffte inständig, dass meine Zeit kommen würde, an der ich die Akademie und die Jagd hinter mir lassen könnte. Wie gern würde ich mich voll und ganz der Pflanzenheilkunde widmen. Aber dies war noch ein weit entfernter Traum.

Mit großen Schritten lief ich in die Klasse und nahm neben Olivya Platz, die hinter Hugo saß. »Sieh mal an, wer heute pünktlich ist.« Hugo schenkte mir ein freches Grinsen, und ich warf einen Stift nach ihm.

Olivyas Miene veränderte sich schlagartig, als Nicholas und Fiete in die Klasse spazierten. »Was ist los?«, fragte ich, doch sie zuckte nur mit den Achseln und drehte sich nach vorne. Mein Blick verharrte bei Nick, der seinerseits Lya nicht aus den Augen ließ und sich auf einen Platz in der hinteren Reihe setzte.

Sera musterte ihn scharf, ehe sie ihm einen verachtenden Blick zuwarf.

»Guten Morgen«, begrüßte Miss Firebear die Klasse. Sie legte ihre Sachen auf dem alten Holzpult ab und schnappte sich gleich die Kreide. »Heute reden wir über die Zwischenwelt und ihren Ursprung.«

Normalerweise würde die Klasse bei solch einem Thema aufstöhnen, aber selbst dazu fehlte den Kriegern die Motivation.

Abgesehen von Nicholas.

»Wieso reden wir nicht über Ravens Suspendierung?«, warf Nick in den Unterricht ein. Plötzlich herrschte Totenstille, kein Laut war zu hören.

Ich verkrampfte mich, da es sich um ein empfindliches Thema handelte. Die Sache mit Raven wurde nach seinem Weggang unter den Tisch gekehrt. Man hatte ihn als einen von Ezuars Gefolgsleuten abgestempelt, und daher gab es dazu auch nichts Weiteres zu sagen.

Mein Blick fiel auf Lya, die wie erstarrt dasaß, als Nick seinen Namen erwähnte. Hugo und Will drehten sich gleichzeitig zu Nick um.

Miss Firebear setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. »Das ist kein Thema für meinen Unterricht, Mr Lowell.«

»Wieso denn nicht? Immerhin ist es eine Tatsache, dass ein Krieger wegen einer Anschuldigung die Akademie verlassen musste«, entgegnete Nick und erhob sich. »Ich meine, ich bin nicht der Einzige, der das so sieht, nicht wahr?« Er ließ seinen Blick durch die Klasse schweifen. »Während Raven keinen Fuß in die Akademie setzen darf, macht sich Olivya hier breit. Ich finde das ungerecht.« Er sagte das mit so einer Leichtigkeit in der Stimme, als hätte er diese Rede einstudiert. Seine ganze Haltung wirkte wie ein inszenierter Auftritt, und die Klasse war seine Bühne.

»Das reicht jetzt, Lowell!«, schimpfte Miss Firebear und klopfte auf den Tisch, um Nicks Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Ich will kein weiteres Wort mehr von Ihnen hören!«

»Was genau findest du ungerecht, Nick?!«, fragte Sera barsch und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nur wegen Raven wäre Olivya fast gestorben. Und nicht nur sie, auch Hugo, Camy und Gideon waren in großer Gefahr.«

»Du hältst am besten den Mund, Liebes«, zischte Nick und musterte Sera herablassend.

»Sonst was?«

»Du solltest deine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die für deinen Horizont zu hoch sind«, provozierte Nicholas und lachte spöttisch.

»Ist ja klar, dass du auf Ravens Seite bist«, mischte sich auf einmal Gideon ein, und seine Stimme klang so ernst wie nie. »Ich glaube nicht, dass Raven der Einzige hier auf der Akademie war, der auf Ezuars Seite kämpft.« Mein Herz klopfte wie wild, und ich befürchtete, dass die anderen es auch hören könnten. Die Angst, die gegen meine Brust hämmerte. Möglicherweise hatte Gideon recht, und Raven ist nicht der Einzige, der auf Ezuars Seite steht. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viele Anhänger noch hier lebten. Wie viele sich im Schutz der Akademie suhlten und dabei ihren Sturz wünschten.

Gideon und Nick warfen sich vielsagende Blicke zu.

»Möchtest du etwas loswerden, Gid?!«, zischte Nick.

Und wie es abzusehen war, nahm sich Gideon der Provokation an und stand von seinem Platz auf.

»Schluss jetzt!«, mahnte Miss Firebear rechtzeitig, bevor die beiden aufeinander losgehen würden. »Mr Lowell! Sie verlassen meinen Unterricht und begeben sich gleich zum Rektor. Ich dulde keinen Unruhestifter in meiner Klasse.«

Nick erhob sich seufzend von seinem Platz. Er ließ einen hasserfüllten Blick über die Klasse wandern, ehe er das Zimmer verließ und Miss Firebear zum Rektor folgte.

 

Der Tag war vergangen, und ich hatte ihn unversehrt überstanden. Um ehrlich zu sein, war er nicht so schlimm, wie zunächst angenommen – wenn ich Nicks Auftritt von heute Morgen ausklammerte.

Im Zimmer war niemand anwesend. Olivya hatte gemeinsam mit Hugo und Sera Training. Demnach war ich auf mich allein gestellt.

Als ich meine Bücher auf mein frisch bezogenes Bett warf, fühlte ich mich auf einmal hundemüde. Ein bisschen Schlaf täte jetzt gut. Doch meine innere Stimme wollte, dass ich mich in der Akademie umsah. Ich war nicht allzu oft im Nimlis-Bereich gewesen, da man jemanden wie mich in der schwarzen Uniform hier nicht gerne sah. Vermutlich würde mich meine Wissbegier noch einmal umbringen.

Die Akademie war ungewohnt ruhig. Ich hörte niemanden in den Gängen, nirgendwo einen Laut, und alle schienen wie vom Erdboden verschluckten worden zu sein.

Ich öffnete die Tür meines Zimmers und linste hinaus.

Wo die wohl alle steckten?

Prüfend ließ ich meinen Blick einmal durch den Flur schweifen: niemand zu sehen. Wie ein Eindringling schlich ich durch die Gänge. Als ich Geräusche vor mir hörte, breitete sich instinktiv eine Höllenangst in mir aus, obwohl ich nichts Verbotenes tat. Immerhin war ich jetzt hier im Flügel untergebracht. Ich setzte meine Erkundung fort und sah mir das helle Gebäude an, das so viel schöner war als unsere finstere Ecke.

Mit der Zeit wurde mir langweilig, und auch das Herumspazieren war nichts anderes, als die Zeit totzuschlagen. Schließlich ging ich wieder zurück auf mein Zimmer und beschloss, etwas Ordnung zu schaffen. Wir hatten gestern noch nichts eingeräumt und die meisten Sachen einfach stehen lassen. Daher nutzte ich die Gelegenheit, mir die bessere Hälfte im Schrank zu ergattern.

Während ich meine Kleider aufhängte, entdeckte ich, dass der Boden des Schranks hohl war. Zumindest hörte es sich danach an.

Ich tastete den Bereich ab und bemerkte, dass eine der hinteren Ecken leicht nach oben gewölbt war. Als ich die Spitze nach oben drückte, ließ sich die weiße Platte herausziehen.

»Da ist ein Fach«, flüsterte ich, als ich es entdeckte. Ich legte die Platte auf den Boden und ertastete den Innenraum des Fachs. Dabei stieß ich auf etwas Eckiges, das sich wie eine Kiste anfühlte.

Vorsichtig hob ich sie heraus, öffnete den Deckel und erblickte Papier darin.

Briefe, um genau zu sein.

Dann legte ich die Kiste auf den Boden und schaute nach, ob sie noch etwas enthielt, aber bis auf die Briefe war dort nichts zu finden.

Ich zog den ersten Brief aus der Kiste und las die Initialen A. N. G.

Diese waren auf allen Briefen zu erkennen.

Ich öffnete einen der Briefe, denn es interessierte mich, was in ihnen geschrieben war. Ich wusste nicht, wer zuvor in dem Zimmer gewohnt hatte. Es konnte gut möglich sein, dass die Briefe einem der Mädchen vor mir gehörten.

Der Tag würde kommen, an dem ich alles offenbaren muss. Es ist meine Aufgabe, Ezuars zu stoppen und die falschen Fassaden all jener einzureißen, die sich auf seine Seite gestellt haben. Ich weiß nicht, ob ich nicht schon lange tot sein werde, bevor das hier jemand liest. Doch sollte der Krieg andauern und sogar weitere Generationen in Mitleidenschaft ziehen, wird kein Weg daran vorbeiführen, dass zu tun, was unserem Dasein widerspricht. Das Töten eines Lebewesens.

 

Der Brief endete hier. Er enthielt weder ein Datum noch eine Unterschrift. Ezuars war ein Unsterblicher, demnach konnte dieser Brief Jahrzehnte alt sein.

Ich steckte ihn wieder zurück und nahm den nächsten aus der Kiste. Bis auf die Initialen war darauf ebenfalls nichts weiter zu erkennen.

Der Tag war sehr anstrengend. Je länger ich nach Antworten suche, umso mehr entdecke ich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich seine Anhänger fassen und töten würden. Ich wollte mit Prayt sprechen, doch er schien mir zu hektisch. Er wusste, was uns blühen würde, wenn sie hinter unser Geheimnis kamen. Doch ich muss einen Weg finden, zu entkommen. Nicht für mich oder Prayt, sondern für das Baby. Es soll nicht in einer grausamen Welt aufwachsen. Ich werde alles dafür tun, um diesem Grauen ein Ende zu setzen.

 

Prayt?

Sollte damit womöglich Prayt Clockhell gemeint sein?

Verwundert schüttelte ich den Kopf. Es war sicher alles nur ein Zufall.

Ich schnappte mir den nächsten Brief, aber darauf war nichts geschrieben. Es waren lediglich Symbole. Vier, um genau zu sein. Und sie waren nacheinander gezeichnet, so als würde es einen Grund geben, warum sie in einer Reihenfolge standen.

Das erste Symbol war ein X mit einem Dach darüber.

Gefolgt von einem Symbol, das aussah wie ein Dreizack, der nach oben zeigte.

Das dritte Symbol waren zwei Pfeilspitzen, die zueinander zeigten. Auf der linken Seite verband sie ein senkrechter Strich.

Und zu guter Letzt gab es einen Pfeil, der ebenfalls nach oben gerichtet war.

Ich grübelte vor mich hin, da ich diese Symbole noch nie zuvor gesehen hatte, und fragte mich, welche Bedeutung sie hatten.

Im Flur hörte ich Schritte, die langsam näherkamen. Ich legte die Briefe zurück in die Kiste, stellte sie wieder zurück in das untere Fach, legte die Platte obendrauf und brachte im Schrank alles wieder an seinen Platz.

Im nächsten Moment betrat Olivya das Zimmer. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Eigentlich war sie meine beste Freundin. Ich wusste nicht, warum ich ihr die Briefe verheimlichte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und sah mich stirnrunzelnd an.

»Ja«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. »Warum auch nicht. Wo ist Sera?«, lenkte ich vom Thema ab, während sie ihre Sachen auspackte.

»Sie wollte kurz zu Opal«, antwortete sie und legte ihre Sachen aufs Bett.

Es wurde still, und für einen Augenblick dachte ich, Lya hätte bemerkt, dass ich ihr etwas verheimlichte. Doch sie schien in ihrer eigenen Welt versunken zu sein.

Als ich gerade etwas sagen wollte, ertönte plötzlich eine Stimme.

»Olivya.«

Ich sah mich im Zimmer um, und mein Blick fiel schließlich auf Lya, die mich mit großen Augen ansah. »Du hast es auch gehört, oder?«

Ich nickte.

»Vielleicht ruft dich jemand aus dem Flur«, sagte ich, lief zur Tür und spähte hinaus, aber es war niemand zu sehen.

»Olivya Whitethrone.«

Ich schluckte.

»Er hat die Waffe.« Es war eine männliche Stimme, die scheinbar aus dem Nichts kam. Sie hallte wie ein Echo durch die hohen Decken der Akademie.

Olivya setzte sich auf und strich die roten Haare aus dem Gesicht. »Wer hat die Waffe?«, fragte sie auf einmal

»Wer ist das?«, flüsterte ich perplex. Mit wem redete sie – oder besser gefragt, wer redete mit ihr?

Lya zuckte mit den Achseln.

Im Flur war niemand zu sehen, und außer uns beiden war auch niemand im Zimmer. Die einzige logische Schlussfolgerung, die mir in den Sinn kam, war ein Geist.

Doch wenn es ein Geist war, wieso gingen dann die Alarmglocken nicht los. Die Aufseher waren doch genau für solche Situationen da. Warum ertönten keine Stimmen, die von den Professoren stammten, oder platzten Aufseher in das Zimmer, in dem die Stimme hallte?

»Er hat die Waffe, Olivya Whitethrone.«

»Wer hat die Waffe?«, grübelte Lya. »Nicholas?«

Ich sah sie fragend an.

»Nick?«, flüsterte ich.

»Nicholas Lowell«, antwortete die Stimme.

Ich schüttelte den Kopf, weil mir alles viel zu schnell ging. In meinen Gedanken herrschte ein großes Durcheinander, und ich war im Augenblick überfordert.

Lya wurde wütend. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«, rief sie entnervt. Ich verstand sie nur zu gut. Ein Geist, den niemand fasste, Nick und eine Waffe? Da fehlten mir noch Informationen, um daraus einen Zusammenhang herstellen zu können.

Doch die Stimme war verschwunden. Gerade als wir uns in Sicherheit glaubten, tauchten auf der Wand Buchstaben auf – als würde jemand in diesem Augenblick etwas an die Wand schreiben:

Mit der Waffe wird er ihn töten!

Erstarrt vor Schreck, blickte ich zu Olivya und hauchte: »Wer wird wen töten?« Lya erhob sich vom Bett. Mein Herz hämmerte wie verrückt. Ich hatte das Gefühl, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Jemand sollte sterben, und die Waffe dafür sollte Nicholas haben? Es schien fast so, als wäre ich nicht die Einzige mit einem Geheimnis.

»Was passiert hier?«, fragte ich Olivya nervös.

Wollte sich jemand einen Spaß mit uns erlauben? Allerdings war eine Mordankündigung nicht witzig.

Mein Puls schoss in die Höhe. »Das klingt nicht gut.«

Olivya nickte und warf mir einen verzweifelnden Blick zu.

Plötzlich übermannte mich eine unbestimmte Furcht und brachte mich zum Schwitzen. Die Stimme ertönte erneut und wiederholte ständig Lyas Namen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich in einem Traum oder in der Realität befand. Mein Magen krampfte sich zusammen, und mir wurde auf einmal ganz schlecht, was vermutlich daran lag, dass meine Furcht zunahm. So erging es mir für gewöhnlich, wenn ich auf Mission war und Geister in meine Nähe kamen. Meine Knie begannen zu zittern, während es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Doch es dauerte nicht lange, bis wieder Stille herrschte.

Reiß dich zusammen, Camy!

Ich linste erneut in den Flur, um zu sehen, ob sich dort jemand befand.

Doch er war immer noch leer. Es war ein Zeitpunkt gekommen, an dem ich erneut bemerkte, wie sehr ich meine Aufgabe hasste. Jederzeit konnten uns Geister aufsuchen und ihr Unwesen treiben. Als Krieger musste man darauf gefasst sein, aber es würde nie eine Situation sein, an die ich mich gewöhnen konnte. Zumal Geister einem die Arbeit nicht erleichterten. Sie sprachen nur in Rätseln, den Rest musste man sich oft selbst zusammenreimen.

»Camy«, flüsterte Lya und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

»Hallo?«, wisperte ich mit flacher Atmung.

»Wenn er siegt, gibt es keine sichere Welt mehr.«

Die Stimme tönte rasiermesserscharf durch unser Zimmer und jagte mir einen erneuten Schauder über den Rücken. Am liebsten wäre ich zu einem der Gelehrten geflohen. Doch Lyas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wollte sie der Stimme folgen. »Findet die Waffe!«

»Sagst du mir, was hier los ist?«, stammelte ich. Ich wusste weder, was das für eine Waffe sein sollte, noch was Nicholas damit zu tun hatte. Auf einmal kam mir Gideons Aussage von heute Morgen wieder in den Sinn. Dass es vielleicht noch mehr Krieger auf der Akademie gab, die auf der dunklen Seite standen. Und wenn ich es einem Krieger zutrauen würde, dann wäre es sicherlich Nick gewesen. Er war nicht wie die anderen Asmera-Krieger. Seit meinem ersten Tag auf der Akademie war Nick für mich immer im Dunkel geblieben. Selbst hinter die Fassade des fiesesten Kriegers konnte man blicken. Doch Nick wirkte unantastbar. Man könnte meinen, er wäre ein reicher und schlecht erzogener Junge. Aber ich glaubte, dass das nur Schein war. Und wenn Gid recht behielt, dann hatte dieser Schein lange gehalten.

»Woher weißt du von der Waffe?«, fragte Lya.

»Ich weiß sehr viel«, antwortete er. »Ich versuche nur, euch zu helfen, Olivya.«

»Woher kennst du meinen Namen?«, hakte Olivya mit zittriger Stimme nach. Der letzte Geist, der in der Akademie auftauchte, hieß Nax und war ein Anhänger von Ezuars. Zudem wartete er darauf, dass Raven seinen Plan in die Tat umsetzte.

Die Stimme seufzte. »Ich weiß über alles Bescheid, was hier passiert, Olivya.« Meine innere Stimme riet mir dazu, einfach nach draußen zu gehen und das alles hier zu ignorieren. Wer immer dieser Geist war – ich glaubte nicht daran, dass er uns helfen wollte. Wieso meldete er sich dann erst jetzt zu Wort? Wenn er doch alles wusste, was hier passierte?

Nachdem die Stimme verstummt war, versuchte ich, mich ein wenig zu beruhigen, und setzte mich auf mein Bett. Ich wartete darauf, dass Lya etwas dazu sagte. Immerhin hörte sie scheinbar einen Geist, und so wie das klang, war es nicht das erste Mal.

»Willst du wirklich das tun, was er verlangt?«, fragte ich Lya, die nachdenklich wirkte.

»Ich habe ihn gestern schon einmal gehört. Als ich Nick bespitzelt habe«, antwortete sie.

Ich sah sie verwirrt an. »Du hast Nick verfolgt?«

»Nicht verfolgt, aber ich wollte wissen, was er im Schilde führt. Immerhin haben Nick und Raven viel Zeit miteinander verbracht. Gid glaubt, dass er auch ein Anhänger ist.«

Gid hielt jeden für einen potenziellen Feind. Er war schon vor Ravens Verrat angriffslustig und provokant. Auch wenn ich ihm bei Nick recht gab, würde er sich sein nächstes Opfer suchen, wenn auch Nicholas aus dem Weg wäre.

»Er hat mich gestern bedroht, Camy«, sagte Lya. »Ich glaube, dass Gid mit seiner Vermutung richtig liegt.«

Die letzten Wochen waren für uns alle schwer. Wir wurden darauf vorbereitet, dass es jeden Augenblick zum Krieg kommen könnte. Wer wollte schon so leben? Jeden Tag mit der Gewissheit aufstehen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Allein bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinab. Olivya verhielt sich mir gegenüber normal, als könne sie nichts aus der Fassung bringen. Doch ich wusste, dass das nur gespielt war. Sie war verwirrt, wusste nicht weiter und fand sich in einem Netz voller Lügen. Sie setzte eine Maske auf, um mir nicht zeigen zu müssen, wie es wirklich in ihrem Inneren aussah. Aber vielleicht wollte sie auch selbst die Realität ausblenden.