Lassalle, Jean Das tote Model

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Uwe Raum-Deinzer

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… comme beauté

 

Du bist die Schönheit, die sich selbst ignoriert.

Vergessen im Nebel der Zeit.

Am Fuße seiner Schatzinsel.

Und die auf den Eroberer wartet.

Wer wird dich vor dem Schicksal retten?

 

Jacques Higelin
1940–2018

1

Sonnenstrahlen durchbrachen das dichte Blätterdach der Palmen im Parc Masséna. Das Musée Masséna war für ein groß angelegtes Fotoshooting ausgewählt worden. Die Rückfront der Villa mit ihrer Säulenterrasse sollte die Kulisse für die aufregendsten und provokantesten Fotos abgeben, die die Modewelt seit Helmut Newton gesehen hatte. So dachte jedenfalls Jules Giraud, der Fotograf.

Das Musée war im neoklassizistischen Stil errichtet worden und präsentierte Exponate aus der Zeit der Belle Époque. Genau das richtige Ambiente für ein Shooting, dachte Jules.

Der Fotograf lief im Park umher und rauchte scheinbar versonnen eine Zigarette. Er schien mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen gesegnet. Tatsächlich war er jedoch hochgradig erregt und nervös. Ein klitzekleiner Zweifel meldete sich, den er sofort wieder vertrieb.

Die Fotos mussten einfach gut werden. Nein, gut war nie gut genug. Damit würde er sich niemals zufriedengeben. Die Fotos, die ihm vorschwebten, mussten spektakulär sein; sie mussten Topspin haben. Bei über neunzig Millionen hochgeladenen Fotos auf Instagram – tagtäglich – war das nicht einfach. Heute glaubte jeder, der ein Smartphone halten konnte, er sei ein begnadeter Fotokünstler.

Jules Giraud würde ihnen zeigen, was einen richtigen Fotografen ausmachte.

Er suchte nicht den Vergleich mit Helmut Newton. Helmut Newton war einzigartig. Nein, darum ging es ihm nicht. Seinen Fotos in der Elle oder der französischen Vogue sollte man auf den ersten Blick ansehen, dass sie echte »Giraud-Arbeiten« waren. Er hatte sich mit der Zeit eine unverwechselbare fotografische Handschrift zugelegt. Eine Prise Glamour, eine kleine Extravaganz, die er und auch nur er besaß.

Jules warf seine Zigarette achtlos zu Boden. Durch die Blätter der Palmen sah er die Kuppel des Hôtel Negresco schimmern. Auf der Promenade des Anglais, die sich sieben Kilometer am Meer entlangschlängelte, tobte der Verkehr, aber das hörte man im hinteren Teil des Parks nicht.

Im Innern des Musée wurden seine Models vor den Augen von Napoleon III. geschminkt und für ihren großen Auftritt zurechtgemacht. Alles musste stimmen; alles musste perfekt sein.

Jules konnte mit Fug und Recht behaupten, dass es seine Models waren. Seine Fotos hatten sie erst zu dem gemacht, was sie jetzt waren: in der ganzen Nation bekannte Gesichter. Er hatte sie auf die Titelbilder aller großen Modezeitschriften gebracht. Er wusste genau, wie er sie inszenieren musste, wie ihre schönsten Seiten am besten zur Geltung kamen.

Wer für ihn und mit ihm nicht knallhart arbeitete, brauchte erst gar nicht zum Shooting erscheinen. Wer aber genauso wie Jules bereit war, alles zu geben, der konnte es mit ihm weit bringen.

Die Mädchen hatten genau die richtige Einstellung; sie brannten für den Job. Sie liebten es, ihre Körper vor der Kamera zu präsentieren und zu posieren. Das war unbedingt erforderlich. Jules’ Kamera war unbestechlich. Sie brachte sofort jede Unsicherheit und jede Verkrampfung zum Vorschein. Seine Fotos sollten natürlich sein. Doch die Mädchen bewegten sich untereinander so unbekümmert und cool, als wäre die Kamera gar nicht anwesend.

Stefanie hatte glänzende schwarze Haare bis zu den Hüften und ein Lächeln, das jedes Herz zum Schmelzen brachte. Sie musste sich nicht einmal darum bemühen. Sie lächelte auf diese unnachahmliche Art und Weise, dass es ihr Geheimnis blieb, wie sie das schaffte.

Marie aus Cannes war der starke Kontrast zu ihr: eine blonde verwunschene Fee, die jeden mit einem einzigen Augenaufschlag verzaubern konnte. Gisèle aus dem Senegal hatte rehbraune Augen und eine mokkafarbene Haut.

Jules’ aufregendstes Model war Anna aus Nizza. Er hatte noch nie ein Mädchen erlebt, mit dem vor der Kamera eine derart große Verwandlung vor sich ging wie mit ihr. Zunächst blieb sie kühl und reserviert. Doch nachdem ihr Make-up aufgetragen war, wurde Anna zu einer anderen Frau. Reifer. Weiblicher. Erotischer. Anna war erst achtzehn Jahre alt. Sie wurde selbstsicherer und emotionaler. Auf ihrem Gesicht erschienen all die Gefühle, die sie für gewöhnlich unter Kontrolle behielt.

Durch das Fenster sah Jules den Models im Inneren des Musée Masséna zu. Annas Lippen wurden von der Make-up-Artistin tiefrot geschminkt – im Kontrast zu ihrem hellen Teint.

Annas wundervolles ovales Gesicht zog ihn magisch an, ließ ihn nicht wieder los. Jules hatte diese Faszination, die von ihr ausging, noch bei keinem anderen Model erlebt. In ihrem Ausdruck lag etwas Magisches. Millionen Leserinnen würden diesen magischen Moment mit ihm teilen. Es war nicht schwer, Anna eine große Karriere vorauszusagen. Sie würde später mal mit allen großen Fotografen zusammenarbeiten.

Aber noch war sie sein. Er hatte sie in der Fußgängerzone von Nizza entdeckt und angesprochen. Es kostete Jules erhebliche Überzeugungsarbeit, sie dafür zu gewinnen, vor einer Kamera zu posieren. Anna hatte zuerst entschieden abgelehnt, und er hatte ihr versprochen, zunächst nur Probefotos zu machen. Er wollte ihr zeigen, wie schön sie war. Für Jules waren die Fotos atemberaubend – für Anna ganz okay. Trotzdem gab Anna seinem unermüdlichen Werben um sie schließlich irgendwann nach.

Patrick Laval kam zu ihm herübergelaufen. Er schaffte das Equipment aus dem Auto heran, das auf der Vorderseite zum Eingang parkte. Patrick war sein Assistent. Auf ihn konnte er sich voll und ganz verlassen. Jeder Mann sollte einen Adlatus wie Patrick und eine Muse wie Anna haben, fand Jules.

»Wo willst du die Reflektoren haben?«, fragte Patrick.

»Stell sie erst einmal links und rechts vor den Säulen hin.«

Vor dem Museum herrschte gleißendes Licht. Die Terrasse selbst lag in den Morgenstunden überwiegend im Schatten. Jules wollte sich nicht vom Tageslicht abhängig machen. Viel zu unsicher. Mit einem Belichtungsmesser führte er eine erste Messung durch.

Er nickte Patrick zu. Sie verstanden sich auch ohne viele Worte. Sie wussten genau, was sie voneinander erwarteten. Ein seit vielen Shootings eingespieltes Team. Jules war zweifellos der eloquentere der beiden, ein Mann, der sich gern in den Vordergrund spielte, auch gern mit einem Model an seiner Seite.

Er ging ins Museum und trat zu seinen Models. Das Styling war so gut wie abgeschlossen. Es war genauso, wie er es haben wollte. Seine Spannung stieg wieder. Es konnte gleich losgehen.

»Alle mal herhören, Ladys!« Jules baute sich hinter ihnen auf – er war ein hochgewachsener, athletischer Mann. Er musste nicht erst um ihre Aufmerksamkeit buhlen. »Das wird ein sehr klassisches Shooting werden. Old fashioned, mit einigen kleinen Überraschungen und Stilbrüchen.«

Jules Giraud freute sich diebisch über seinen Coup. So hatte er es mit dem Art Director besprochen, und er hatte sich einige ausgefallene Bildkompositionen einfallen lassen. In den Spiegeln las er die Mimik der Models. Zustimmendes Nicken. Sie wussten, worauf es ankam; sie wussten, was von ihnen erwartet wurde, wie er sie haben wollte.

Nur Anna blieb ungerührt. Natürlich. Das sah ihr wieder einmal ähnlich. Jules konnte nichts in ihrem Gesicht lesen. Vielleicht sollte er es auch nicht. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr. Das musste er auch nicht. Die Hauptsache war, dass sie einen großartigen Job machte.

Die Models liefen auf die Terrasse hinaus. Jules wies ihnen ihre Plätze zu, wo sie sich positionieren sollten. Patrick hatte links und rechts Reflektoren aufgebaut sowie zwei Scheinwerfer. Sogar eine Trittleiter stand bereit, falls er aus einer erhöhten Position Aufnahmen machen wollte.

Jules befand sich in seinem Element. Wenn er fotografierte, war er ganz bei sich selbst. Seinen Models wurden riesige geschwungene Hüte aufgesetzt, so wie beim Pferderennen in Ascot. Sie warfen Schatten auf ihre Gesichter.

»Ja. Genau so. Bleibt so!«, rief Jules ihnen begeistert zu. »So ist es perfekt.«

Klick, klick! Dann noch einmal: Klick, klick, klick!

Er schoss Salven von Fotos aus unterschiedlichen Blickwinkeln; mal aus der Totalen, dann Großaufnahmen.

»Senkt den Kopf zu Boden!«, wies er sie an. »Ja, so. Genau so. Jetzt hebt den Kopf! Nicht zu schnell. Ja, ja. Die Augen weit aufreißen. Ja. Super.«

Stefanie strahlte ihn mit ihren riesigen, glühenden Augen direkt an. Unter dem weißen Hut kamen ihre schwarzen Haare besonders gut zur Geltung.

»Anna, bitte!«, ermahnte Jules sie. »Dein Blick schweift ab. Du sollst direkt in die Kamera schauen«, forderte er sie auf.

Mit zwei Fingern deutete er auf die Linse – in Wahrheit meinte er seine Augen. Oder konnte sie ihn nicht direkt anschauen?

»Was?«, fragte sie aggressiv zurück.

Jules gab keine Antwort. Er wollte vor den anderen Mädchen keinen Streit austragen. Die Atmosphäre zwischen Anna und ihm war schon spannungsgeladen genug.

War es ein Fehler gewesen, Anna zu dem Shooting einzuladen, dachte er.

In dem Moment schaute sie direkt in die Kamera, zögerlich, widerstrebend, aber mit großer Anmut und großem Liebreiz. Anna berührte ihn zutiefst, sie ging ihm unter die Haut. Sie brachte in ihm etwas zum Schwingen, was er sich nicht erklären konnte. Wusste sie, wie unglaublich schön sie war, wie sehr sie Männerherzen höherschlagen ließ?

Auf der Stelle schoss Jules ein Dutzend Fotos von ihr.

»Sehr gut, Anna. Wunderbar. Formidable«, lobte er sie. Es widerstrebte ihm, Anna vor den anderen Models hervorzuheben. Die Mädchen könnten eifersüchtig auf sie werden. »Okay. Du kannst dir eine Auszeit nehmen. Ich mach inzwischen mit den anderen weiter.«

Die Outfits wurden gewechselt. Die großen Hüte verschwanden.

Stefanie, Marie und Gisèle posierten in bleistiftengen Röcken. Große Sonnenbrillen kamen zum Vorschein. Seine Models setzten sie aber nicht auf; sie spielten damit. Sie hielten die Brillen lässig in der Hand. Es sah vollkommen unbeschwert und losgelöst von irgendwelchen Alltagssorgen aus. Die Mädchen genossen ihr Leben. Genau so hatte er sich die Fotos vorgestellt.

Jules schoss eine Serie. Es war an der Zeit, dass er Anna wieder in Szene setzte. Anna gab den Bildern eine gewisse Schwere und auch Tiefe.

Jules schaute sich nach ihr um. Keine Anna zu entdecken. »Wo ist Anna?«, rief er. Er schaute ins Innere des Musée Masséna, bemerkte einen Aufseher, der ihn beim Fotografieren beobachtete. Die betörend schönen Models machten ihn wohl an. Nur seine Anna war nirgends zu entdecken.

Unruhe kam auf. Jules’ Gesichtszüge verhärteten sich.

»Schafft mir Anna herbei!«, befahl er schroff.

Er hatte endgültig genug von ihr. Anna glaubte wohl, sich alles erlauben zu dürfen. Für diese Eigenmächtigkeit würde sie sich erklären müssen. Damit kam sie nicht durch.

Die Mädchen schauten sich an, warfen sich fragende Blicke zu und zuckten mit den Schultern. Alle schüttelten sie die Köpfe. Niemand wusste, wo Anna abgeblieben war. Sie mussten nun alle auf sie warten.

»Ich glaube, sie ist zur Toilette gegangen«, warf Louise, die Visagistin, ein. Es klang so verschüchtert, als wüsste sie es selbst nicht genau.

»Dann such sie!«, forderte Jules sie auf. »Sie soll hierherkommen. Jetzt – und nicht erst in fünf Stunden. Sie ist nicht Marilyn Monroe, auch wenn sie sich so fühlen mag.«

Jules verabscheute es, wenn sein Shooting unterbrochen wurde. Er war gerade so schön im Flow gewesen. Es herrschte genau die richtige Atmosphäre in dieser mediterranen Stadt, die er mit seinen Fotos einfangen wollte. Das Publikum liebte das.

Louise machte sich durch die Gänge auf die Suche nach Anna. Am liebsten wäre es ihr, Anna würde gleich in ihrem atemberaubenden Outfit den Korridor entlangkommen. Warum hatte sie nichts gesagt? Jules konnte fuchsteufelswild werden, wenn es nicht weiterging. Das wusste Anna auch. Wollte sie ihn provozieren? Wollte sie, dass er vor allen Anwesenden explodierte?

Louise lief rasend schnell den Saal entlang, schaute sich nach allen Seiten hin um, sah direkt auf das Gemälde und das strenge Gesicht Napoleons III., als könnte er ihr verraten, wo Anna abgeblieben war. Sie warf in jeden herrschaftlichen Saal einen Blick.

Hatte Anna sich versteckt? Louise musste Anna finden, so schnell wie möglich. Sie selbst musste sich erst orientieren, wo sich die Toiletten befanden. Sie wollte verhindern, dass es zum Eklat kam. Anna war ein so eigenwilliges Mädchen. Louise wusste auch nicht, was in ihrem Kopf genau vor sich ging.

Aber darum ging es nicht. Es war jetzt nicht die Zeit, nach Erklärungen zu suchen.

Louise trieb sich zu größter Eile an. Der Kopf rauschte ihr von all den Sinneseindrücken, den Marmorsäulen, den Gemälden, den dicken Stores an den Fenstern.

Zum Glück entdeckte sie am Ende des Gangs eine Marmortreppe. Da musste es sein. Sie schöpfte wieder Hoffnung. Ohne lange zu überlegen, jagte sie die Treppe hoch, nahm zwei, drei Stufen auf einmal. Dass sie Anna nicht auf Anhieb fand, beunruhigte sie weit mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Auf der ersten Etage mussten die Toiletten sein. Louise würde Anna aufspüren und auf der Stelle zum Shooting zurückbringen.

Aber auch dort fand sie die Toiletten nicht.

Louise wurde schwarz vor Augen von der geschwungenen Treppe. Sie hetzte durch einen Saal, fand die Fortsetzung der Treppe bis ins oberste Stockwerk. Ein Labyrinth war das. Louise bemerkte, dass sie nicht weiterkam. Eine Sackgasse. In einem abgedunkelten Raum gab es eine Ausstellung über Jazz in Nizza. Endlich stieß sie auf eine Aufseherin.

»Nein, die Toiletten befinden sich im Untergeschoss. Sie können …«

Aber das hörte Louise schon nicht mehr. In Windeseile rannte sie den Weg zurück. Ein englisches Paar rempelte sie an. Louise wusste selbst nicht genau, was sie antrieb. Eine schreckliche Vorahnung beschlich sie.

Die Visagistin erntete missbilligende Blicke des Aufsichtspersonals. Das war kein Rennparcours. Schon schwenkte sie links auf den Empfang und den Ausgang zu.

Verdeckt und schlecht einsehbar fand sie einen Gang gegenüber der Rezeption mit einem deutlichen Hinweisschild: Toiletten. Die Hetzjagd durch das Treppenhaus hätte sie sich sparen können. Louise schlitterte über den glatten Boden. Beinahe wäre sie ausgerutscht.

Plötzlich stand sie oben an der Treppe, schaute die Stufen hinunter. Was sie sah, ließ sie laut aufschreien.

»Anna!«, stieß sie hervor und dann noch einmal: »Anna!«

Ihr Schrei hallte vom Kellergeschoss durch die ganze Villa.

Keine Antwort. Keine Reaktion.

Am unteren Ende der Treppe lag ein in sich gekrümmter Körper, zweifellos Anna. Der enge Rock war zerrissen. Die Beine merkwürdig gebogen.

Louise stürzte die Treppe hinunter. Die Stufen waren feucht, nein, nass. Rutschig.

Die Visagistin beugte sich zu Anna, kam ihrem Gesicht sehr nahe. Wider besseres Wissen drehte Louise Annas Kopf zur Seite: »Anna, Anna, kannst du mich hören?«

Panik ergriff Louise. Aus einer weit auseinanderklaffenden Wunde über der rechten Augenbraue und auf dem Nasenrücken, sickerte Blut über die Fliesen. Louise tastete reflexartig nach Annas Halsschlagader.

Von ihrem entsetzlichen Schrei angelockt, tauchten die Dame vom Empfang und ein Aufseher auf. Die Frau wollte sie bereits zur Ordnung rufen. Im letzten Moment blieben ihr die Worte im Hals stecken.

»Rufen Sie einen Krankenwagen!«, schrie Louise. »Schnell!«

Auch Jules und all die anderen Models drängten sich an der Treppe.

»Was ist mit Anna?«, rief Jules besorgt. »Ist ihr etwas passiert?«

Louise richtete sich stumm wieder auf. Jegliches Licht in ihren Augen war erloschen; ihr Gesicht zur Maske erstarrt. Sie schaute zur Seite; sie konnte niemanden ansehen, auch Jules nicht, vor allem nicht Jules. Für ihn musste diese Nachricht wie ein Schock wirken. Louise’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte Annas Puls nicht mehr fühlen.

»Ich glaube, Anna ist tot!«, entgegnete sie zutiefst erschüttert. Louise wollte nicht, dass jemand im Augenblick des schieren Entsetzens sie ansah.

Von weit her hörten sie schon das Sirenengeheul stetig lauter und dröhnender werden.

2

Der Salutschuss hallte weithin hörbar über die Baie des Anges. Midi. Das Signal, dass es Punkt zwölf Uhr war.

Für Bernard Bonnot war der Kanonenschuss vom ehemaligen Schlosshügel das Signal, auf seiner Joggingrunde entlang der Promenade des Anglais das Letzte aus sich herauszuholen. Die Stadt öffnete und weitete sich zum Meer hin mit ihrem breiten Boulevard. Bernard rannte an den berühmten Chaises bleues entlang, aber er nahm sie kaum wahr.

»Quäle dich, du Sau!«, feuerte er sich selbst an.

Eigentlich hatte er das große Verlangen, seine Schritte zu verlangsamen, anstatt in einen schnellen Lauf überzugehen. Die Sonne brannte erbarmungslos. Mit aller Willenskraft hielt Bernard durch, ohne seinem inneren Wunsch nachzugeben. Er durfte jetzt nicht schlappmachen. Sein T-Shirt zierte schon längst ein riesiger Schweißrand. Er wusste, wie wichtig es war, sein Training durchzustehen.

Das hatte er nun davon, dass er sich all die Jahre dermaßen hatte gehen lassen. Er brachte mindestens sechs, wenn nicht gar acht Kilo zu viel auf die Waage. Als Bernard noch Commissaire divisionnaire de Police gewesen war, ging es ihm vor allem darum, äußere Gefahren abzuwehren: in einen Hinterhalt zu geraten oder in ein nicht vorhersehbares Feuergefecht verwickelt zu werden. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass der wahre Feind, die größere Gefahr, in seinem Innern lauerte. Er hatte unter permanentem Stress und Druck gestanden und nicht gemerkt, wie ausgelaugt und erschöpft er gewesen war. Vor vier Jahren passierte es dann plötzlich – ohne jegliche Vorwarnung.

Er war durch den Jardin Albert I. am Pavillon vorbeigeradelt. Der Garten lag gegenüber dem Meer, direkt an der Promenade des Anglais. Von einer Minute zur anderen war ihm schwarz vor Augen geworden. Passanten berichteten, dass er Schlangenlinien gefahren sei. Daran konnte er sich erinnern. Der Weg war ihm auf einmal bedrohlich nahe gekommen. Dass er hart mit dem Kopf aufgeschlagen war, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Er erinnerte sich vor allem an einen höllischen Schmerz, der in seine Brust fuhr; einen Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte, so, als würde sein Körper auseinandergerissen werden. Ein Gefühl der Vernichtung und große Angst gingen damit einher; eine Angst, die er selbst bei seinen gefährlichsten Einsätzen nicht erlebt hatte. Da hatte er genau gewusst, wo der Feind lauerte. Auf einmal aber war er hilflos, was er nur schwer ertragen konnte. Die Angst der Ängste bemächtigte sich seiner: die Todesangst. Das war ein Gefühl, das er nie wieder erleben wollte. Er wurde ohnmächtig und schlug auf dem Gehweg auf.

Als er wieder zu sich kam, beugten sich mehrere Sanitäter über ihn. Er befand sich auf einer Liege. Jemand spritzte ihm ein Medikament in die Vene. Das musste der Notarzt sein. Er hatte unglaubliches Glück gehabt. Wäre es zu einer anderen Zeit an einem weniger öffentlichen Ort geschehen – jede Hilfe wäre wahrscheinlich zu spät gekommen. Der Krankenwagen brachte ihn sofort ins Hôpital l’Archet I.

Dort wurde ein Notfalleingriff vorgenommen, und es wurden ihm blutverdünnende Medikamente gegeben. Damit die Blutgefäße sich nicht wieder schlossen, setzten die Ärzte ihm zwei Stents ein. Er hatte einen akuten Herzinfarkt erlitten.

Bernard Bonnot war der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Von einem Moment zum anderen war nichts mehr so, wie er es gewohnt war. Scheinbar ewige Gewissheiten galten nichts mehr. Er schaute in einen Tunnel der Ungewissheit, wie es mit ihm weitergehen würde. Das kannte er nicht. Er war es bei der Police Judiciaire gewohnt gewesen, Anweisungen zu geben und die Kontrolle der Einsätze zu koordinieren. Seinem Herzen konnte er aber nicht einfach den Befehl geben weiterzuschlagen.

Notgedrungen hatte er lernen müssen, mit sich selbst geduldig zu sein und den Raubbau an seinem Körper und seiner Psyche zu beenden. Das fiel ihm unendlich schwer. Er musste lernen, auf die Hilfe und Unterstützung von Krankenschwestern angewiesen zu sein. Er musste lernen, auch einmal Ratschläge anzunehmen. Als Commissaire divisionnaire trug er die Verantwortung und fällte Entscheidungen für seine Untergebenen. Das war auf einmal infrage gestellt.

Er musste mit dem Rauchen aufhören, seine Ernährung umstellen, und er musste weiter blutverdünnende Medikamente einnehmen, damit es nicht zu einem erneuten Infarkt kam. Stress galt es, unbedingt zu vermeiden. Zu seiner Stellenbeschreibung als Commissaire gehörte Stress aber zwingend dazu.

Seine Frau Danielle hatte ihm dabei geholfen, durch diese schwere und für ihn unerfreuliche Zeit zu kommen. Nach der akuten Phase wurde er in die Reha geschickt. Wichtig und entscheidend war vor allem viel Bewegung. Er musste lernen, mit sich selbst achtsamer umzugehen und die ersten Warnsignale zu erkennen, anstatt sie zu ignorieren.

Die Ärzte rieten ihm, den Dienst bei der Police Judiciaire zu quittieren. Die Gefahr war einfach zu groß, dass er in alte Verhaltensmuster zurückfiel. Ein weiterer Infarkt wäre dann nicht auszuschließen. Bernard Bonnot willigte ein und wurde frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Das war das Beste, was ihm passieren konnte.

Bernard genoss sein Leben als Pensionär. Dass er einmal Commissaire gewesen war, interessierte ihn nicht länger. Im Nachhinein hasste er die Schinderei sogar. Aus einer größeren Distanz betrachtet war er überrascht, wie viel er mit sich hatte machen lassen. Er hatte es als völlig normal empfunden, auch mal sechzig Stunden in der Woche zu arbeiten. Er hatte es aus reiner Pflichterfüllung heraus getan.

Doch das war nun vorbei. Dieses Leben lag hinter ihm. Er musste nicht länger seine Autorität bei jüngeren Kollegen unter Beweis stellen, die ihn herausforderten, ihn und seine Anweisungen infrage stellten. Stattdessen quälte er sich jetzt beim Jogging, achtete auf seinen Blutdruck und seine Cholesterinwerte.

Dafür wurde ihm ein neues Leben geschenkt. Er lebte nun bewusster. Wer einmal am Rand der Klippe gestanden und in den Abgrund geschaut hatte, der wusste kristallklar, dass es auch zu spät hätte sein können. Bernard brauchte nicht mehr über jedes Stöckchen springen, dass ihm hingehalten wurde. Er brauchte nicht mehr sein Leben seiner Karriere als Commissaire unterzuordnen. Wie er das gehasst und verabscheut hatte! Dieses Leben hätte ihn um ein Haar umgebracht. Aber er war nie restlos angstfrei, dass er nicht doch einen zweiten Infarkt erleiden könnte.

Die Stelle im Jardin Albert I. versuchte er zu meiden, denn das verursachte ihm Beklemmungen in der Brust. Es erinnerte ihn zu sehr daran, wie knapp er davorstand, vernichtet zu werden. Das wollte er auf keinen Fall wieder erleben.

Wahrscheinlich hätten sie ihn sowieso rausgeworfen, oder er hätte ein Disziplinarverfahren am Hals gehabt. Es gab nämlich eine Aktion, die schrecklich schiefgelaufen war. Davon wusste niemand. Auch Danielle nicht. Bernard sprach nicht darüber. Mit seinem Herzinfarkt kam er ihnen zuvor.

Noch nie hatte er von seinen Kollegen, aber auch von seinen Vorgesetzten so viel Zuspruch und aufmunternde Worte erhalten wie nach seiner Erkrankung.

»Du schaffst das, BB.« – »BB, halt durch!« – »Wir werden dich vermissen.«

Für sie alle war er nur BB. Sie zogen ihn damit auf, meinten es aber auch respektvoll. Ja, eitel war er. Er brauchte Zuspruch und Komplimente und Anerkennung wie die Luft zum Atmen und machte keinen Hehl daraus.

Umso befreiter und losgelöster genoss er seinen Lauf am Meer entlang, endlich allen Zwängen entkommen. Er brauchte niemandem etwas beweisen, am allerwenigsten sich selbst. Das hielt er sich stets vor Augen.

Vor ihm klingelte ein Radfahrer wie verrückt, weil Bernard einem Touristen auswich und ein kleines Stückchen auf dem Radfahrweg entlanglief.

»Scheißkerl«, brüllte Bernard ihm hinterher. Die Leute wurden immer rücksichtsloser. Heute befand sich jeder auf dem Egotrip, wollte besser, größer und schneller als alle anderen sein. Die Welt war definitiv verrückt geworden.

Auch das brauchte Bernard nicht.

Seine Welt auf einige wenige Vergnügungen zusammengeschnurrt.

Das glitzernde Meer blendete ihn von der linken Seite. Danielle riet ihm ständig zu einer Sonnenbrille, was er genauso häufig ignorierte. Bernard wurde den Verdacht nicht los, dass sie ihn seit seinem Herzinfarkt mehr umsorgte, als für ihn gut war.

Er schaute den jungen blonden Touristinnen hinterher, konnte sich an ihrem Anblick erfreuen, an ihren langen Haaren. Das war etwas, was ihn aufrichtete. Wenn Danielle davon erfuhr, würde sie ihm die Augen auskratzen. Nein, sie wusste das. Sie kannte ihn genau. Er konnte ihr nichts vormachen.

Die großen Hotels verschwanden. Apartmenthäuser mit orangefarbenen Markisen tauchten auf.

Bernard trippelte an der Ampel auf der Stelle, um seinen Schwung nicht zu verlieren. Bei Grün sprintete er los über die Prom’, nahm auf der anderen Seite den schmalen Weg zum Hotel La Vie, das ein wenig zurückversetzt von der Straße lag und seiner Frau gehörte.

Damit hatte er Danielle nach Nizza gelockt. Eine einmalige, günstige Gelegenheit, ein Hotel zu erwerben. Sie stammte ursprünglich aus Rennes in der Bretagne und hatte eine Crêperie in Saint-Malo geführt. Bernard hatte sie während einer dreiwöchigen Schulung an der dortigen Écoles nationales de police kennengelernt. Er hatte jeden Tag mindestens zweimal bei ihr eine Crêpe bestellt, manchmal sogar dreimal, obwohl er die Dinger nicht besonders mochte. Aber Danielle Joubin hatte er vom ersten Moment an gemocht und seinen Blick kaum von ihr abwenden können. Ungeniert hatte er sie angestarrt. Ihre brünetten Haare fielen ihr bis auf die Schultern. Die intensiv leuchtenden Augen … In der Mitte ihres Kinns ein feines Grübchen. Das gefiel ihm besonders gut.

»Sie sehen aus, als kämen Sie direkt aus dem Urlaub«, hatte Danielle gesagt.

Er hatte laut aufgelacht. »Sie meinen wegen meiner Bräune? Da, wo ich herkomme, ist es eben sehr schön. Ich komme aus Nizza. An dreihundert Tagen im Jahr scheint dort die Sonne«, hatte er gesagt und unüberhörbar betont, wie stolz er auf seine Stadt war.

»Ach, Nizza«, machte sie eine wegwerfende Bemerkung. »Das mondäne Nizza. Nizza ist doch nur etwas für die Reichen und Schönen.«

»Nein, das stimmt nicht«, hatte er ihr widersprochen. »Ich lebe mein ganzes Leben schon in Nizza. Ich bin dort geboren. Bin ich etwa reich und schön? Ich arbeite für den Staat. Ich bin Commissaire.«

Für Danielle waren die Leute in Nizza hochnäsig, eingebildet, hielten sich für etwas Besonderes. Bernard bildete da zuerst keine Ausnahme. Im Gegenteil: Er bestätigte auf krasse Weise ihre Vorurteile. Ausgeschlossen. Nach zehn Tagen war sie Bernards Essenseinladung gefolgt, und sie hatten einen traumhaften Abend miteinander verbracht. Dem noch weitere folgten.

Nach seiner Rückkehr an die Côte d’Azur führten sie eine Fernbeziehung mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Bis Bernard das leer stehende Hotel in Nizza entdeckte. Wäre das nicht etwas für Danielle? – Keine Chance. Danielle würde niemals die Bretagne für das snobistische Nizza verlassen, dachte er.

Doch inzwischen hatte Bernard auch andere Facetten in seinem Wesen gezeigt, die Danielle ihm gar nicht zugetraut hatte. Er ließ in seinem Werben um sie nicht nach. Das imponierte ihr. Als er ihr dann den Vorschlag mit dem Hotel machte, klein, aber fein, war es um sie geschehen. Er würde sich sogar an dem Kredit beteiligen.

Bernard lief im Hotel nach oben durch, wo ihre Privaträume lagen. In der Küche riss er den Kühlschrank auf, setzte eine Packung O-Saft an den Mund, ohne sich ein Glas zu nehmen. Er musste seinen Verlust an Flüssigkeit und Elektrolyte erst einmal ausgleichen.

Nachdem er die Packung halb leer getrunken hatte, fühlte er sich besser. Vor Minuten glaubte er noch, er müsse jeden Augenblick verdursten. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich rasend schnell.

Danielle schlich um ihn herum, schob ihn vom Kühlschrank weg zur Seite.

»Na, wie war ich, Katze?«

Er nannte sie Katze, weil in dem Hitchcock-Film Über den Dächern von Nizza mit Gary Grant und Grace Kelly die Figur, die Brigitte Auber spielte, auch Danielle hieß. Sie entpuppte sich am Ende des Films als die wahre Katze, die über die Dächer von Nizza und Cannes kletterte, in Hotelsuiten eindrang und wertvolle Colliers stahl.

Bernard wollte Danielle damit aufziehen. Es war aber auch anerkennend gemeint. Sie leitete und führte ihr Hotel geräuschlos wie eine Katze.

»Nicht schlecht«.

Bernard hatte sich verbeten, die Zeit zu messen. Er wollte keinen neuen Leistungsdruck erzeugen; er wollte aber schon wissen, ob er Fortschritte erzielte. Seinen Blutdruck bekam er in den Griff, aber die überflüssigen Pfunde wollten einfach nicht purzeln und die Cholesterinwerte nicht sinken. Dafür kochte Danielle einfach zu gut. Er konnte da nicht widerstehen.

Im Ruhestand hatte Bernard eine Schwäche für französische und amerikanische Kriminalfilme entwickelt. Für Fahrstuhl zum Schafott von Louis Malle, für Nur die Sonne war Zeuge von René Clement. Oder auch für die neueren Filme von Quentin Tarantino. Das war das Einzige, was ihn noch mit seiner Arbeit als Commissaire verband.

»Kann ich dich was fragen, BB?«

»Klar doch.«

Langsam beruhigte sich sein Atem wieder. Bernard gab sich souverän. Es musste Danielle wichtig sein, sonst hätte sie ihn auf der Stelle duschen geschickt. Bernard war gespannt darauf, was kommen würde. Er hoffte nur, sie würde ihn nicht auswählen, um die angekündigte Gruppe aus Strasbourg in Empfang zu nehmen. Danielle hatte ein Händchen dafür, auch auf schwierige Zeitgenossen zuzugehen. Sie konnte jedem das Gefühl geben, sie sei hocherfreut, ihn begrüßen zu dürfen.

Bernard konnte das nicht. Er redete gern Klartext. Begriffsstutzige Menschen machten ihn wütend, und er empfand es als eine persönliche Beleidigung, wenn sie nicht die einfachsten Dinge kapierten.

Danielle hingegen ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Sie erklärte es ihren Gästen auch das vierte oder fünfte Mal, wenn sie was nicht verstanden. Da kochte Bernard innerlich längst. Ihm konnte es nie schnell genug gehen. Es brauchte eine starke Willensanstrengung, nicht aufbrausend zu werden. Als Commissaire war das kein Problem gewesen. Seine Untergebenen kuschten einfach. In einem Hotel ging das nicht. Er vertrieb damit nur die Gäste, und das konnte sie sich nicht erlauben. Denn dann bekam er es mit der Katze zu tun, die genau wusste, wie sie ein Hotel zu führen hatte. Dann war sie in ihrem Element. Sie war die Macherin.

Aber jetzt druckste Danielle herum, was für sie eher ungewöhnlich war. Sie strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. Eine Übersprunghandlung. Ihre Haare waren lang, reichten ihr bis über die Schulter.

»Hast du vom Tod des Mädchens im Musée Masséna gehört?«

Wie Bernard das hasste! Es war nicht das, was Danielle ihn hatte fragen wollen. Das war eine Frage und eine Feststellung zugleich. Er kannte das genau. Dafür war er lange genug Commissaire gewesen, die Finten und Ausflüchte der Leute genau zu durchschauen. Danielle traute sich nicht, ihn direkt zu fragen. Sie versuchte, das Terrain zu erkunden. Das passte gar nicht zu ihr.

»Ja, hab ich.« Bernard verdrängte den Polizisten in sich. Dieser Abschnitt seines Lebens lag hinter ihm, auch wenn er ihn nicht komplett ausblenden konnte. »Ich habe darüber in Nice-Matin gelesen. Üble Geschichte. Tragisch, wirklich tragisch, stürzt die Treppe zur Toilette hinunter.« Er hatte immer noch keine Ahnung, worauf Danielle hinauswollte.

»Anna hieß sie. Anna Piat. Gerade einmal achtzehn Jahre alt. Wunderschön«, sagte Danielle, als wollte sie Bernard damit imponieren. »Sie war Model. Ihre letzten Aufnahmen im Musée Masséna werden nun ihr Vermächtnis sein.«

»Ja, ich weiß«, sagte er beklommen. Doch was konnte er dagegen tun, dass sie zu Tode gestürzt war? Wie man hörte, war es ein Unfall, ein tragischer Unfall. Die Treppe zu den Toiletten sei nass gewesen, wie sich herausgestellt hatte. Und kein Hinweisschild war aufgestellt gewesen. Ein Albtraum war das für jeden, der dafür verantwortlich war. Das vergaß niemand; das holte einen sein ganzes Leben immer wieder ein. Ein Mensch war dabei ums Leben gekommen.

Warum interessierte sich Danielle für das Mädchen so sehr, dachte Bernard. Anna Piat hieß sie. Danielle schien ja bestens informiert zu sein.

»Kennst du sie?«, fragte er.

»Nein«, erklärte Danielle kopfschüttelnd, »aber Claire kennt sie!«

»Ach ja«, rief Bernard. »Claire kennt sie!«

Er war jetzt hellwach. Er wartete ab, was kommen würde. Fügte Danielle nun weitere Erklärungen hinzu? Es erzeugte stets ein ungutes Gefühl, wenn jemand jemanden kannte, der auf nicht natürliche Weise ums Leben gekommen war.

Danielle hatte Claire kennengelernt, als sie erst wenige Wochen in Nizza war. Alles war noch neu und ungewohnt für sie. Außer Bernard kannte sie niemanden; sie wollte aber auch nicht allein auf ihn angewiesen sein. Claire führte ein Institut de Beauté. Nach ihrem ersten Besuch bei Claire freundeten sich die beiden Frauen an. Danielle ging schnell aus sich heraus, konnte auf Menschen zugehen und sie für sich gewinnen.

Danielle hatte Claire zu sich eingeladen und wollte ihr kleines Hotel präsentieren, auf das sie so stolz war. Dabei lernte Bernard sie ebenfalls kennen. Damals war er noch Commissaire gewesen. Claire blieb aber vornehmlich die Freundin seiner Frau, die Geheimnisse mit ihr teilte, von denen er nichts wissen musste.

Danielle schwieg jetzt überraschend, steckte einen Finger zwischen die Lippen. Das tat sie nur, wenn sie verlegen und unsicher war. Warum aber sollte sie das sein?

Bernard wartete geduldig und nachsichtig. Es fiel Danielle offenbar schwer, darüber zu sprechen.

»Du kannst mich auslachen, wenn du willst …«, begann sie.

»Aber ich lach dich nicht aus«, widersprach Bernard. »Hast du das bemerkt?«

Sie ergriff ihn am Arm, an seinem schweißnassen Arm, und lachte, lachte laut und befreiend. Das tat Danielle gut. Ihre Anspannung löste sich; es war ihr wichtig, mit dem Mann, mit dem sie zusammenlebte, lachen zu können.

»Du pirschst dich heran, Katze. Worüber soll ich nicht lachen?«

»Claire glaubt nicht an einen Unfall.«

»Nein?«, sagte Bernard und setzte deutlich hörbar mindestens drei Fragezeichen dahinter. Danielle hatte endlich ausgesprochen, was ihr auf der Seele brannte.

»Nein«, bekräftigte sie dieses Mal mit Nachdruck.

»Was ist es denn, wenn es kein Unfall war?«

»Kennst du das Gefühl, dass man etwas nicht in Worte fassen kann, aber man genau weiß: Hier stimmt was nicht! Natürlich kennst du dieses Gefühl auch, BB.«

Bernard wurde auf einmal in eine Ecke gedrängt, in die er gar nicht hinwollte. Die Katze, seine Katze, versuchte leise und unaufdringlich Fakten zu schaffen. Auf einmal war sie wieder energiegeladen.

»Ja, ich weiß, es gab eine Untersuchung«, führte Danielle aus. »Annas Körper wurde in die Gerichtsmedizin gebracht. Das Herz weigert sich und sträubt sich mit aller Macht gegen das, was der Verstand weiß, aber nicht akzeptieren kann. Nimm von mir aus an, dass Claire sich vehement weigert, dass Anna auf diese blöde, lächerliche Weise aus dem Leben gerissen wurde. Eine nasse Treppe! Gibt es einen banaleren Tod?«

»Auch an einem Herzinfarkt zu sterben ist banal«, warf Bernard ein. »Ist der Tod nicht immer banal?«

Danielle ließ sich nicht ablenken. Sie wusste genau, dass Bernard diese Unterhaltung nicht führen wollte. »Claire hat ihre Zweifel. Verstehst du das denn nicht?«, appellierte sie an sein Mitgefühl. »Sie kann Annas Tod, so wie die Behörden es jetzt darstellen, nicht akzeptieren.«

»Natürlich verstehe ich sie. Sie wird damit leben müssen. Die Zweifel wird ihr kaum einer nehmen können. Was glaubt sie, was es sonst gewesen ist?«

So direkt darauf angesprochen, wich Danielle aus. Es war offensichtlich, dass BB nichts mit der Sache zu tun haben wollte. Wenn sie von vorneherein auf Granit stieß, wurde sie vorsichtig. »Könntest du nicht …« Danielle brach ab; sie suchte nach einem neuen Einstieg. »Solange Claire nicht weiß, wie Anna genau ums Leben gekommen ist, kann sie ihren Tod nicht akzeptieren und verarbeiten. Das wird immer eine aufgerissene Wunde bleiben. Du brauchst auch nicht viel zu tun. Sprich mit ihr, BB. Bitte. Hör dich ein wenig um. Du weißt, wie schwer es ist, längere Zeit im Ungewissen leben zu müssen.« Sie spielte auf die Zeit an, unmittelbar nachdem er ins Hospital gekommen war.

»Nein, nein!« Bernard schwenkte entschieden die O-Saft-Packung. »Es tut mir leid. Du weißt genau, dass ich kein Commissaire mehr bin. Es tut mir leid. Wenn Claire bezweifelt, dass es ein Unfall gewesen ist, warum geht sie dann nicht zur Police Judiciaire und berichtet, was sie weiß oder beobachtet hat?« Bernard war es wichtig, dass Danielle nicht dachte, dass er hartherzig sei. »Hast du Claire etwa versprochen, dass ich etwas für sie tun kann?«

»Nein, ich habe ihr nichts versprochen. Du musst das verstehen, BB, sie fühlt sich unsicher. Sie zweifelt. Sie fragt sich, was sie tun soll. Claire weiß zwar nichts Genaues, hat aber das unangenehme Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Und dieses Gefühl wird sie nicht los. Ich habe ihr gesagt, dass ich mit dir reden werde.«

»Dann ist es ja gut.« Bernard war erleichtert, dass er sich zu nichts verpflichtet fühlen musste. »Du weißt genau, dass ich kein Commissaire mehr bin. Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann für Claire nichts tun.«

BB ließ sie abblitzen. Danielle stand hilflos, unbeholfen und wütend da, weil er sie abwimmelte. »Du brauchst ja nicht viel zu tun, BB. Rede einfach mit Claire. Hör dir wenigstens einmal ihre Bedenken an, warum sie ein so verdammt ungutes Gefühl hat.«

»Nein, auf keinen Fall. Ausgeschlossen.«

Danielle schüttelte den Kopf. Sie wusste aus Erfahrung, dass Bernard in manchen Dingen verdammt stur war und sich nichts sagen ließ. Auch Bernard war sich dessen bewusst. Es würde sich noch zeigen, wer von ihnen beiden den größeren Dickkopf hatte, denn so leicht würde sich Danielle auf keinen Fall abspeisen lassen.

3

Was vergab sich Bernard eigentlich dabei, fragte sich Danielle. Es kostete ihn doch nichts, wenigstens kurz mit Claire zu reden, ihr einige Fragen zu stellen und sich bei seinen alten Kollegen umzuhören? Das war nicht zu viel von ihm verlangt.

Er aber blieb stur – stur und borniert.

Warum weigerte er sich, auch nur im Entferntesten etwas mit seinem früheren Leben als Commissaire zu tun zu haben? Das war kindisch und albern oder sogar neurotisch. Wovor fürchtete er sich, wenn er kurz einmal als Commissaire aktiv werden würde?

Oder verschwieg er ihr etwas?

Gab es etwas, was sie, Danielle, nicht wissen durfte?

Die Katze lag auf der Lauer.

Es war völlig zwecklos, ihn direkt darauf anzusprechen. Sie brauchte auch nicht anzudeuten, er könnte sich vor etwas fürchten. BB würde es schlicht leugnen, so, wie er früher immer geleugnet hatte, dass er Schmerzen in der Brust hatte, bevor er einen Herzinfarkt bekam.

Die Katze musste sich auf leisen Sohlen an ihn heranschleichen. Danielle liebte den Film mit Brigitte Auber noch mehr, seitdem ihr Mann sie Katze nannte. Nicht Bernard besaß den größeren Dickschädel, sondern sie. Die Bretonen galten als die stursten und unbeirrbarsten Menschen in ganz Frankreich.

»Es tut mir leid«, sagte Danielle in die Dunkelheit hinein, »dass ich wieder davon anfange.« Sie lag neben BB in ihrem Doppelbett, hörte bereits seine regelmäßigen Atemzüge. Gleich würde er einschlafen. »Anna geht mir nicht aus dem Kopf.«

Er grummelte etwas vor sich, was sie nicht verstand.

»Anna war ein wunderschönes Mädchen. Ihr standen alle Möglichkeiten offen.« Danielles Gesichtsausdruck veränderte sich. Aber das sah Bernard nicht. »Ich habe gehört, sie mochte es nicht, fotografiert zu werden.«

»Warum das denn?«, entfuhr es Bernard. Er schlief offenbar nicht so tief, wie er vorgab. »Sie sah doch super aus. Sexy. Erotisch.«

»Aha, da spricht der Kenner! Gefällt sie dir?« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Hat sie dir gefallen?«

Bernard wurde verlegen, strich sich mit der rechten Hand über sein Haar. Er war offenbar dabei, in ihre aufgestellte Falle zu stolpern. »Sie hat wohl jedem Mann gefallen, der Augen im Kopf hat«, gab er eine ausweichende Antwort. »Das ist nicht besonders schwer.«

Bernard war jetzt putzmunter. An Schlaf war nicht länger zu denken. Er schaltete die Nachttischlampe an, richtete seinen Oberkörper im Bett auf. »Hey, Baby!« Er klatschte beide Hände zusammen. »What do you want?«

So hatte ihn vor Jahren am Washington Square in New York ein schwarzer Dealer angesprochen, der ihm Drogen verkaufen wollte. Bernard versuchte offensichtlich, die Geschichte ins Lächerliche zu ziehen, ging es Danielle durch den Kopf.

Sie schaute zu ihm auf, mit Wärme und Mitgefühl. »Du weißt genau, was ich von dir will«

»Ja.«

»Umso besser.«

Bernard schaute sie nicht an. Er rang mit sich, über den Rubikon zu schreiten. Etwas hielt ihn zurück. Starke Hemmungen und Abwehrmechanismen rumorten in ihm.