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Michael-André Werner

DAS FALLEN

Roman

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Michael-André Werner

ist Romancier, Satiriker und Herausgeber. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften (u. a. taz und Das Magazin), tritt bei Poetry Slams und Berliner Lesebühnen auf und organisiert und leitet Schreibwerkstätten für Jugendliche und junge Erwachsene.

Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Weißen Raben (2013), dem Reinheimer Satirelöwen (1999), dem Walter-Serner-Preis (1995) sowie mit Stipendien der Stiftung Preußische Seehandlung (1992, 2007) und der Dublin City Writers (2000).

Seine Romane »Schwarzfahrer«, »Ansichten eines Klaus« und »Kopf hoch, sprach der Henker« erschienen bei Aufbau und List, von ihm herausgegebene Textsammlungen bei Rowohlt, Falken und Satyr. »Das Fallen« ist Michael-André Werners vierter Roman.

E-Book-Ausgabe März 2020

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

DANK

Im September 1994 brach in München-Trudering die Straßendecke ein und zog einen voll besetzten Bus in die Tiefe. Der Bus hing in einem Winkel von neunzig Grad in dem Loch, das hintere Ende unten, das vordere oberhalb der Straßenebene. Da sich ein Teil des Bodens mit der Bruchkante des Lochs verhakt hatte, konnte der Bus nicht geborgen werden. Für die Bergung, die mehrere Monate dauerte, musste er zerlegt werden. 36 Menschen wurden verletzt, drei starben.

Im Juli 2009 stürzte im sächsischen Nachterstedt ein etwa 350 Meter langer und 150 Meter tiefer Streifen Land in den Concordiasee, einen durch Flutung der ehemaligen Braunkohlegrube Concordia künstlich geschaffenen See. Bei dem Erdrutsch wurde ein Haus, ein Teil eines zweiten Hauses und ein Stück der Straße in die Tiefe gerissen. Drei Personen starben, über vierzig wurden obdachlos. Der Erdrutsch verursachte eine Flutwelle, der Wasserspiegel stieg.

Im November 2010 brach im thüringischen Schmalkalden der Boden ein. Der Krater war 15 Meter tief und verschlang Gärten, Autos, Garagen und Zäune. Menschen wurden nicht verletzt.

Als die Tür ins Schloss fiel, war Antonias erster Gedanke nicht: »Scheiße!« Ihr erster Gedanke, als die Tür ins Schloss fiel war: »Das passiert mir zum ersten Mal in meinem Leben«, und sie war verblüfft, mehr von dem Gedanken als davon, dass die Tür ins Schloss gefallen war. Dann erst dachte sie: »Scheiße!«

Die Tür war ins Schloss gefallen. Der Schlüssel lag drinnen. Der zur Wohnung, der für die Haustür, der für den Briefkasten, der zum Keller, der zu ihrem Kellerverschlag, der zur Wohnung ihrer Schwester, der Ersatzschlüssel zu ihrer Wohnung, den sie schon längst hatte abmachen und ihrer Nachbarin oder ihrer Schwester geben wollen. Das ganze Bund. Mit dem Autoschlüssel. Unter dem Spiegel, in dem die Postkarte steckte. Auf der der Spruch stand, der ab gestern ihr neues Lebensmotto sein sollte: »Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.«

Sie trat gegen die Tür.

Bis eben hatte sie es eilig gehabt, doch jetzt, ohne Auto … jetzt würde sie eh zu spät kommen. Sie griff nach dem Müllbeutel, lief die Treppe hinunter, sie würde das Fahrrad nehmen müssen, aber das Fahrrad, fiel ihr ein, das Fahrrad war im Hof angeschlossen. Und der Schlüssel vom Fahrradschloss hing ebenfalls am Schlüsselbund, und der für den Käfig, in dem die Mülltonnen eingeschlossen waren, damit kein Fremder seinen Müll in ihre Tonnen werfen konnte, der auch. Aber das fiel ihr erst ein, als sie in den Hof trat. Der Müllbeutel rutschte zwischen ihren Fingern, er war schwer, er war von Treppenabsatz zu Treppenabsatz schwerer geworden und sie konnte ihn nicht gut festhalten, sie hatte zwar einen halbherzigen Knoten gemacht, um das Ganze überhaupt tragen zu können, aber der Beutel war schon so voll gewesen und etwas Glibberig-Nasses hatte oben am Innenrand geklebt, sie hatte nicht viel Platz für den Knoten gehabt und der Glibber hatte sich durch das Verknoten innen und außen verteilt und nun rutschte alles und es fühlte sich zudem so an, als würde der Knoten aufgehen wollen. Der Beutel würde auf den Boden fallen und aufgehen und alles würde herausfallen. Sie wusste es. Es war ihr oft genug passiert. Morgen würde sie diese anderen Beutel kaufen, die mit dem Plastikband im Rand, die konnte man zuziehen und halbwegs bequem tragen, nur das Plastikband würde in die Finger einschneiden. Und die Beutel waren teurer und Antonia arbeitete nicht im Architekturbüro Krösus als Chefarchitektin, sondern nur im Architekturbüro Schröder als Planungskoordinatorassistentin. Aber nicht mehr lange. In ein paar Tagen würde sie befördert werden. Die Zeichen waren klar. Laura, die Planungskoordiniererin, würde Planungschefin werden und sie, Antonia … Sie würde zu spät kommen. Ausgerechnet. Egal. Morgen würde sie diese Beutel kaufen oder gleich heute Abend auf dem Heimweg.

Antonia ging trotzdem zum Käfig. Manchmal vergaß einer der Nachbarn, die Tür abzuschließen, vielleicht hatte sie ja Glück. Sie ging zum Käfig, drückte die Klinke – aber nichts. Es war zu, abgeschlossen, natürlich. Wahrscheinlich sogar zweimal. Da stand sie nun, mit einem schweren, undichten, tropfenden, rutschenden Müllbeutel ohne Henkel in der Hand, dessen Knoten aufzugehen drohte. Vorsichtig stellte sie den Müllbeutel ab und hoffte, es hielte erst einmal so, vielleicht auch gerade weil der Glibber das Ganze innen zusammenklebte.

Da stand sie nun. Ohne Wohnungsschlüssel, ohne Hausschlüssel, sie kam weder in den Keller, um den Müll bis heute Abend in ihrem Kellerverschlag zu deponieren, noch in den Müllkäfig noch an ihr Fahrrad, das sie an den Müllkäfig angeschlossen hatte. Sie konnte nicht einmal hineinklettern, denn der Käfig war auch oben zu, eben damit niemand hineinklettern konnte und den Müll in Unordnung bringen oder gar stehlen. Oder seinen eigenen Müll hineinwerfen.

Sie musste den Müllbeutel hier stehen lassen, mitnehmen konnte sie ihn ja schlecht. Wo sollte sie ihn lassen? Am Straßenrand abstellen? Sie würde es nicht mal zur Haustür hinaus schaffen, ohne eine nasse, klebrige Spur zu hinterlassen. Sie würde ihn ein bisschen an die Seite stellen, sie nahm ihn vorsichtig hoch, stellte ihn neben den Käfig, lehnte ihn an das Gitter, heute Abend würde sie wiederkommen, mit Schlüssel, und ihn in die Tonne werfen, wie es sich gehörte, aber im Moment … Vielleicht erbarmte sich ja auch einer ihrer Nachbarn und warf ihn mit weg. Beinah hätte sie über den Gedanken gelacht; niemand im Haus würde ihren Müll anfassen und wegwerfen. Im Gegenteil, heute Abend würden sicher ein paar Zettel daran kleben mit Worten wie »Bitte den Müll wegwerfen, wie es sich gehört!« oder »Schmutzfink!« oder »Was soll denn das!« und »Das melde ich der Hausverwaltung!«.

Sie vergewisserte sich noch mal, dass der Beutel sicher stand, dass er nicht aufgehen würde oder umfallen, und ging zur Tür.

»Frau Lavrenz!«

Sie hatte es geahnt. Befürchtet. Sie hatte sich gewünscht, es würde nicht passieren, wenigstens heute nicht, und jetzt fragte sie sich, wie um alles in der Welt sie derart naiv hatte sein können.

»Frau Lavrenz! Wollen Sie das so stehen lassen?«

Geh weiter, dachte sie, geh einfach weiter, schau nicht nach oben. Aber sie blieb stehen. Schimpfte sich innerlich eine dumme, feige Kuh, sie blieb stehen und schaute doch nach oben in den ersten Stock, wo ihr Hausmeister aus dem Fenster schaute. Das Gesicht ein Stück Dörrobst, mit grauem, wirrem, erstaunlich dichtem Haar, das alles schaute aus einem karierten Pullover, dem sie von hier unten ansah, wie muffig er roch, aber vielleicht war das auch nur die Erinnerung, die sie hatte von den paar Malen, die sie neben ihrem Hausmeister gestanden hatte. Ein dünner, staubiger, muffiger Geruch.

»Das geht so aber nicht!«, rief ihr Hausmeister und zeigte auf den Müllbeutel. »Frau Lavrenz!«

»Guten Morgen«, versuchte Antonia es im Netten. Wenn sie nett war, vielleicht war er dann nicht so grantelig wie sonst, vielleicht konnte sie ihm ihre Lage erklären, aber innerlich beschimpfte sie sich weiter als dumme Kuh, dass sie es überhaupt versuchte.

»Ein Notfall …«, begann sie.

»Da gehen doch die Ratten dran!«, rief ihr Hausmeister, beugte sich etwas weiter aus dem Fenster und zeigte auf den Müllbeutel, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. »Werfen Sie das mal ordentlich weg!«

»Ich habe den Schlüssel oben …«

»Dann holen Sie ihn.«

»Der Schlüssel ist in meiner Wohnung. Ich hab mich ausgeschlossen.«

»So kann das aber nicht bleiben.«

»Ja, ich weiß. Aber ich kann das grad nicht ändern. Ich kann nicht in meine Wohnung.«

»Rufen Sie einen Schlüsseldienst.«

»Ich muss zur Arbeit. Ich mach das heute Abend.«

»So lange kann das da aber nicht stehen bleiben.«

»Jaja, aber ich kann das im Moment nicht ändern. Ein Notfall.«

»Soll ich Ihnen die Wohnungstür aufmachen?«

»Nein.«

»Ich kann das.«

Das war nicht sehr beruhigend zu wissen, dachte sie und beeilte sich zu sagen: »Nein, nein, nicht nötig«, und fügte hinzu: »Sie haben recht. Ich ruf den Schlüsseldienst. Nachher. Wenn ich wieder da bin.«

»So lange kann das da aber nicht …«

»Ich kann den Müll jetzt nicht mitnehmen! Ich muss zur Arbeit.«

Der Hausmeister schüttelte den Kopf.

»Aber es geht jetzt nicht. Und ich bin spät dran.«

»Dann müssen Sie früher losgehen.«

»Ich bin so früh losgegangen wie immer. Ich hab mich ausgesperrt und jetzt habe ich es eilig«, rief sie zu ihm hoch. »Ich gehe jetzt!«

»Das kann da nicht bleiben.«

»Ich kann nichts daran ändern!«

»Nehmen Sie Ihren Müll mit.«

»Ich muss zur Arbeit.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Soll ich erst runterkommen?«, rief er zurück.

»Ja, dann können Sie gleich diesen bescheuerten Mülleimerkäfig aufschließen und …«

»Ich trag Ihnen doch nicht den Abfall hinterher«, polterte er.

Diesmal war sie es, die mit den Schultern zuckte, sie zog sie hoch und ließ sie wieder heruntersacken. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren, es war stets sinnlos, mit ihm zu diskutieren, das wusste sie doch. Sie stieß die Hoftür auf, trat in den kühlen Hausflur ein und ging zur Vordertür.

Oben wurde eine Tür aufgeschlossen.

»Frau Lavrenz«, schallte die Stimme des Hausmeisters durch das Treppenhaus. »Ich melde das. Ich melde das der Hausverwaltung.«

Antonia zog die Haustür auf, trat auf die Straße und ging los. Sie atmete auf. Am liebsten würde sie zurück in ihre Wohnung, sich ins Bett legen und nichts mehr hören oder sehen.

»Frau Lavrenz!«, hörte sie über sich eine Stimme. Ihr Hausmeister rief aus dem vorderen Fenster. »Ihr Müll …«

Sie rannte los.

Als sie um die Ecke war, blieb sie stehen. Sie war außer Atem. In der Schule war sie Klassenbeste beim Hundertmeterlauf gewesen. Aber das war Jahre her und sie hatte andere Schuhe angehabt. Sie musste wieder anfangen zu joggen, dachte sie, um wenigstens ein bisschen mehr Kondition zubekommen. Immer noch glaubte sie, ihren Hausmeister schreien zuhören, aber das war Einbildung, sicher war das nur Einbildung. Sie blieb kurz stehen, hielt den Atem an, lauschte. Nein, da war nichts. Wahrscheinlich ging er gerade mit einem sauberen, intakten Müllbeutel hinunter, stopfte ihren in seinen und trug ihren Müll mit spitzen Fingern wieder zu ihrer Wohnung hoch. Nein, da war nichts zu hören. Sie ging weiter.

Bäcker, Bus, Büro, zählte sie in ihrem Kopf auf.

Nein, das war die falsche Reihenfolge. Sie musste zum Bus. Aber sie hatte von dem ganzen Schlüssel-Müll-Hausmeister-Scheiß Hunger bekommen, sie würde es ohne ein trockenes Körnerbrötchen nicht bis ins Büro schaffen. Nein, zuerst Bus, dann Büro, dann Bäcker. Nein, zuerst …

Sie griff in ihre weite Umhängetasche und suchte darin herum, bis sie ein kleines Objekt mit den vertraut abgerundeten Ecken eines Mobiltelefons spürte. Sie drückte auf die einzige Taste, der Bildschirm wurde hell, sie schrieb ein N mit dem Finger darauf, suchte im Telefonbuch, fand zuerst den Eintrag Büro, scrollte dann lieber runter zu L, »Laura«, ihrer Kollegin und dem Nächsten an Freundin, was sie in der Firma hatte, und drückte auf »Wählen«.

Nach drei Klingeln ging Laura ran.

»Antonia?«, fragte sie.

»Laura, guten Morgen, hör zu. Ich komme heute später. – Ich hab mich ausgeschlossen. Ich hab keinen Schlüssel. Und das Auto. Und dann wollte ich den Müll wegbringen. Und mein Fahrrad ist auch …«

»Langsam«, unterbrach sie die Stimme von Laura. »Was ist mit dem Schlüssel?«

»Der ist in meiner Wohnung und ich hab die Tür zugezogen und mich ausgesperrt. Ich komme später.«

»Weil du auf den Schlüsseldienst wartest.«

»Nein, weil ich keinen Schlüssel habe und … «

»Dann ruf doch erst mal den Schlüsseldienst.«

»Ich bin ja schon unterwegs. Und zurück …« – sie dachte an ihren Hausmeister und dass der mit ihrer vollen Mülltüte wahrscheinlich vor ihrer Tür wartete und dass sie ja auch keinen Haustürschlüssel hatte und bei irgendwem würde klingeln müssen und dieser irgendwer könnte nur der Hausmeister sein, weil der immer zu Hause war. »Nein, ich bin schon unterwegs, das mit dem Schlüsseldienst mache ich nachher. Ich will nicht noch später kommen. Kannst du Renate sagen, dass ich mich verspäte?«

»Kann ich machen. Aber warum rufst du sie nicht direkt an. Du weißt doch, dass sie das nicht mag, so über Eck informiert zu werden.«

»Jaaaa … Bitte, tu mir den Gefallen. Sag ihr, ich hätte es versucht, aber es war besetzt und …« Mit etwas Glück war bei ihrer Chefin tatsächlich besetzt. In zwölf von vierzehn Stunden, die sie im Büro verbrachte, war ihr Telefon besetzt, anderthalb Stunden war sie in Sitzungen und der Rest verteilte sich in kleinen Häppchen über den ganzen Tag. Wenn sie nicht sogar außer Haus war, auf Baustellen, auf Ämtern, bei Kunden.

»Mach ich«, sagte Laura.

»Du hast was gut bei mir«, sagte Antonia.

»Und ob ich das habe. Das Mittagessen geht heute auf dich«, sagte Laura.

»Geht auch morgen? Ich glaube, ich arbeite heute besser durch.«

»Gut, dann bis später.«

»Bis gleich.« Antonia drückte auf »Beenden« und steckte das Gerät ein.

Sie war an der Kreuzung angekommen, an der Hauptstraße, wo zwei Buslinien fuhren, wo an jeder Ecke ein Geschäft war: eine Apotheke, eine Spielhalle, ein Drogeriemarkt und ein Bäcker mit Stehcafé schräg gegenüber. Antonia schaute nach links, ob der Bus kam, aber es war keiner in Sicht. Sie ging zur Haltestelle, schaute auf die Uhr ihres Handys, dann auf den Fahrplan, noch acht Minuten. Genug Zeit, noch schnell zum Bäcker zu laufen, sich eine Kleinigkeit zu essen zu kaufen. Dann würde sie versuchen, auf der Fahrt zum Büro durch die halbe Stadt ein bisschen zu sich selbst zu kommen. Sie schaute nach links und rechts und noch mal nach links und lief zum Bäcker, ohne auf die Ampel zu achten, quer über die Kreuzung, ein schlechtes Beispiel für Kinder, aber es waren auch keine Kinder in Sicht.

Dann schob sie die Tür auf. Vor ihr waren nur zwei Kunden, eine junge Frau im gestreiften T-Shirt und ein Malergeselle, dem Alter nach zu schließen, in einer mit vielen Farben bekleckerten weißen Latzhose. Die Frau zahlte gerade, nahm die Tüte vom Glastresen und ging.

»Bitte?«, wandte sich die Verkäuferin an den jungen Handwerker. Der schaute sich das Angebot an. Die Verkäuferin blickte zu Antonia, die lächelte, aber da hatte sich die Verkäuferin auch schon wieder dem Malergesellen zugewandt. »Bitte!«

»Jaaa«, sagte der, »ich hätt’ gern zwei belegte Baguettes. Einmal Salami«, er zeigte in die Vitrine, »und einmal – ist das Ei?«

»Mozzarella«, sagte die Verkäuferin.

»Ja«, sagte der Mann, »dann einmal Ei.«

»Das ist Mozzarella.«

»Wo haben Sie denn Ei?«, fragte er.

»Ei ist aus.«

»Können Sie schnell eins mit Ei machen?«

Die Verkäuferin rief etwas nach hinten, schrill und in einer Sprache, die Antonia nicht verstand, und von hinten antwortete eine andere Frauenstimme, ebenso schrill und in derselben Sprache, und die Verkäuferin sagte: »Ei ist aus. – Muss erst kochen.«

Der Maler schaute sie an, als wollte er sagen: Gut.

»Dauert zehn Minuten, muss hart kochen und abkühlen.«

Dann mach ihm doch sein Ei-Baguette und bedien inzwischen mich, dachte Antonia, aber da sagte der Malergeselle schon: »Dann einmal Mortadella da.«

»Mozzarella. – Wir haben keine Mortadella. Wir haben Salami, Mozzarella, Schinken und Ei. Ei ist aus.«

»Dann Schinken«, sagte der junge Mann. »Einmal Schinken und einmal Ei.«

»Ei ist aus.«

»Äh, Salami, einmal Schinken, einmal Salami.«

»Einmal Salami, einmal Schinken«, wiederholte die Verkäuferin. »Ist das alles?«

»Jaaaaa«, sagte der Maler langsam und wandte sich der Kuchenauslage zu. »Und ein Pfannkuchen.«

»Erdbeer, Kirsche, Nutella, Eierlikör oder Pflaumenmus?«

»Was ist das da mit den Streifen?«

»Nutella.«

»Nee«, sagte er. »Ist das mit dem groben Zucker Pflaumenmus?«, fragte er.

»Ja, das ist Pflaumenmus.«

»Hm. Dann … einmal Kirsche.«

»Einmal Kirsche. – Noch etwas?«

Nein! Um Himmels willen nicht noch etwas!, dachte Antonia. Bitte!

»Ja«, sagte er und blickte in die Kuchenauslage, während die Verkäuferin die beiden Baguettes einpackte. »Ach nein, nicht mehr.«

Antonia atmete aus, lauter, als sie eigentlich wollte. Der junge Mann drehte sich zu ihr um. Sie versuchte zu lächeln, aber er drehte sich, ohne zu reagieren, wieder zum Tresen.

»Sechs zwanzig«, sagte die Verkäuferin und legte zwei Tüten auf den Tresen. Der junge Mann zahlte und ging.

»Zwei …«, sagte Antonia und lächelte, aber die Verkäuferin drehte sich nur um und ging nach hinten in die Backstube, oder was immer sich hinter dem Vorhang aus Plastikperlen verstecken mochte. »Moment bitte«, rief sie nach vorn.

»Jaja«, sagte Antonia leise zu sich selbst, dann schaute sie auf ihr Handy, ging zur Tür, warf einen Blick nach draußen, vorbei an einem von innen an die Scheibe geklebten übergroßen Brot, darunter die Worte »Krustenbrot, lecker!«, und sah den Bus vorbeifahren. Verdammt! Das konnte doch nicht sein. Antonia schaute auf die Uhr ihres Handys. Der Bus war zu früh. Oder viel zu spät.

»Bitte!«, rief die Verkäuferin hinter ihr, die sich wieder hinter der Verkaufstheke eingefunden hatte.

»Ja, hallo«, begann Antonia und drehte sich um, »ich hätte gern ein Krusten… Quatsch, nein, zwei Körnerbrötchen.«

»Sind aus«, sagte die Verkäuferin.

»Aber da …« Antonia zeigte in einen der Körbe mit den Brötchen hinter der Verkäuferin. Mohnbrötchen, Körnerbrötchen, Zwiebel- und normale Kaiserbrötchen lagen da.

»Ja«, sagte die Verkäuferin, »sind vorbestellt.«

»Alle?«

»Alle, sind abgezählt. – Wir haben noch Mohnbrötchen, Kuchenbrötchen, Zwiebelbrötchen …«

»Nein«, sagte Antonia.

»… Splitterbrötchen …«

»Dann zwei Kaiserbrötchen«, sagte Antonia, etwas lauter, als sie eigentlich wollte.

Die Verkäuferin drehte sich um, schaute in einen der Körbe, offenbar überrascht, doch noch Kaiserbrötchen zu haben. Dann griff sie nach einer Papiertüte, schüttelte sie mit einer über Jahre eingeübten Handbewegung auf und packte zwei Kaiserbrötchen ein. Sie wickelte sie gekonnt zu, legte sie auf den Tresen und tippte etwas in die Kasse. »Achtzig Cent«, sagte sie.

Antonia öffnete ihre kleine Geldbörse und legte einen Euro auf den Geldteller. »Schon gut«, sagte sie, winkte ab, damit die Verkäuferin nicht noch anfing, ihr das Wechselgeld in einzelnen Centstücken aus der Kasse und der Backstube zusammenzusuchen, griff nach der Tüte und lief mit einem »Wiedersehen« zur Tür und aus dem Laden.

In der Ferne sah sie den nächsten Bus von der Haltestelle abfahren. Wahrscheinlich der reguläre, der nach Fahrplan. Wenigstens das klappte heute Morgen. Sie schaute nach links und rechts, ließ ein Auto vorbei und lief los. Der Bus machte keine Anstalten, ihre Haltestelle anfahren zu wollen. Niemand stand dort. Antonia winkte, damit der Fahrer sie sah.

Dann fiel sie.

EINS

Antonia fiel.

Sie fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Die Fahrbahn war weggesackt, die Asphaltdecke eingebrochen und in die Tiefe gestürzt. Antonia hatte ein leises Knistern gehört, es aber nicht einzuordnen vermocht. So hatte sie es ignoriert, nicht beachtet, der ankommende Bus und der Gedanke, ihn nicht zu verpassen, hatten ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Sie hatte das Knistern nicht einmal lokalisieren können. Passanten sagten später vielleicht, es sei von überallher gekommen, was natürlich nicht stimmte, denn es kam aus der Erde. Zuerst ein Knistern, dann bildete sich ein kleiner Riss auf der Straße, dann ein kleines Loch, das rasch immer größer wurde, als würden viele kleine, unsichtbare und sehr hungrige Tiere sehr schnell den Asphalt wegknabbern, aber da war das Knistern schon zu einem Krachen und Brechen und Poltern geworden; immer größere Stücke fielen in die Tiefe und unter ihnen auch Antonia, auf die der Rand des Loches unglaublich schnell zugeschossen gekommen war und ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Antonia fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Und fiel.

Sie drehte sich um sich. Es hatte keine drei Sekunden gebraucht, da war sie von der Helle durch ein kurzes Zwielicht in eine absolute Dunkelheit gefallen. Die alles um sie verschluckte. Ein weißer Punkt flog vorbei. Von unten nach oben, von unten nach oben, von links nach rechts, von unten nach oben, von schräg unten nach schräg oben, immer wieder, immer wieder, von links nach rechts, immer wieder, immer langsamer wurde er, immer langsamer, immer kleiner. Und kleiner. Und kleiner.

Antonia fiel immer noch.

Und fiel.

Und fiel.

Das war das Loch, dachte Antonia. Der Punkt da, das war das Loch, durch das sie gefallen war. Nicht »Hilfe, Hilfe, Hilfe« oder »O Gott, ich sterbe, jetzt sterbe ich«, das alles dachte sie nicht, nur: »Das war das Loch.« Das war ein punktförmiges Stück Himmel und Antonia drehte sich um sich selbst im Fallen, immer und immer wieder um sich selbst, und jetzt hörte sie ein Rauschen an ihren Ohren, als stünde sie in einem Sturm, in einem Orkan, als stünde sie an der Reling der Fähre von Rostock nach Trelleborg und es wehte eine steife Brise. Es rauschte um sie herum und der Punkt wurde jetzt langsamer und zog von oben nach unten in ihrem Blickfeld vorbei. Und jedes Mal wusste sie, dass das da, der Punkt, dass der Punkt da oben war und sie war unten. Und erst jetzt wurde sie sich bewusst, wo sie sich befand und wo sie sich eben noch befunden hatte. Dass sie in ein Loch gefallen sein musste, in der Straße, dass ihr rechtes Knie schmerzte und sich heiß anfühlte, sie musste damit irgendwo angestoßen sein, wie beim Rollschuhfahren, als sie hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte. Sie war in das Loch gefallen und da war es, das Loch, genau vor ihr, es war stehen geblieben, genau vor ihrer Nase sozusagen, nur ganz, ganz weit weg, ein winzig kleines, helles Loch, das still stand, oder das fast still stand, das sich langsam um einen imaginären Punkt vor ihrer Nase drehte, das einen kleinen Kreis beschrieb. Einen Kreis, der allmählich immer größer wurde.

Also lag sie auf dem Rücken.

Nein, sie fiel.

Der Wind rauschte in ihren Ohren, ihre Haare flatterten um ihren Kopf, sie konnte spüren, wie sie an der Kopfhaut zogen, wie kleine Kinder: »Spiel mit uns, spiel mit uns, los, steh auf und spiel mit uns.« Aber sie konnte nicht aufstehen, weil sie nicht lag, weil sie fiel, und ihre Haare, die flatternden Haare schlugen ihr ins Gesicht, weil sie nicht aufstehen wollte. Und wenn sie lag, so hätte sie das ja auch spüren müssen am Rücken, den Beinen, den Armen. Ihre Arme, wo waren ihre Arme? Sie spürte nichts bis auf das Zerren des Windes, sie hörte nichts, nur das Rauschen des Windes, sie sah nur den winzigen Punkt über sich und dass er sich leicht im Kreis drehend von ihr entfernte. Sie versuchte, ihre Hände, ihre Arme zu spüren, sie versuchte, sich Übungen aus dem Yoga-Unterricht in Erinnerung zu rufen, wie man langsam das Gefühl wieder in die Arme und Beine bis in die Finger- und Zehenspitzen schickt, es gelang nicht, ihr fiel nichts ein, sie machte Fäuste aus den Fingern. Sie wusste nicht, ob sie ihre Hände wirklich spürte oder ob sie es sich einbildete, es fühlte sich jedenfalls anders an als eben noch. Sie hatte große, weiche Kugeln aus Luft, aus Wind in den Händen. Sie öffnete die Handflächen wieder, sie gab sich jedenfalls Mühe, dies zu tun. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein würde, seine Hände zu schließen und wieder zu öffnen? Im Dunkeln. Ja, es fühlte sich so an, es fühlte sich an, als wäre es anders als eben, als gäbe es einen Unterschied zwischen offen und geschlossen, zwischen Faust und flacher Hand und einzelnen Fingern. Beuge deine Arme, dachte sie, vielleicht konnte sie es spüren, wenn sich ihre Hände berührten. Sie bewegte sich, sie versuchte es, irgendetwas tat sich, der Punkt wanderte jetzt nach rechts oben. Also drehte sie sich wieder. Oder immer noch. Im Fallen.

Sie fiel.

Sie fiel immer noch.

Und immer noch.

Und immer noch.

Und immer noch.

Und erst jetzt erkannte sie: Sie fiel immer noch. Nicht dass sie fiel. Sondern dass sie immer noch fiel. Dass sie nirgendwo angekommen, nirgendwo aufgekommen war. Sie fiel jetzt – wie lange schon? Wie tief schon? So tief zu fallen, war doch unmöglich. Sie fiel jetzt seit einer Minute? Seit zwei Minuten? Und schnell, sonst würde der Wind nicht so rauschen und ihr das Haar ins Gesicht peitschen. Es konnte nicht sein. Sie wusste, wie es war zu fallen. Sie war gefallen in ihrem Leben, ein paar Stufen hinunter, eine Kante hinab, einmal, auf einer Baustelle … ach, nein. Aber es war immer ein kurzer Schrecken gewesen, dann das Aufkommen, dann ein Schmerz, der bald vorbei gewesen war. Jetzt fiel sie. Ein kurzer Schreck. Ein Schmerz. Ihr Knie. Aber der ging nicht vorbei. Kein Aufkommen. Es konnte nicht wirklich sein, dass sie fiel, dass sie immer noch fiel. Aber sie fiel. Sie fiel noch immer und fiel und fiel und fiel und fiel. Und um sie herum war es finster. Finster bis auf das Loch dort oben, der Punkt. Wo war der Punkt? Sie drehte den Kopf. Sie versuchte, den Kopf zu drehen. Sie meinte, den Kopf zu drehen. Sie wusste es nicht. Sie tat, was sie immer tat, wenn sie den Kopf drehen wollte, sie folgte ihren eingeübten, abrufbaren Bewegungen, ihren Reflexen, sie gab ihren Nerven, ihren Muskeln die Befehle, die sie ihnen immer gab, ohne nachzudenken, aber jetzt dachte sie nach, jetzt überlegte sie, was zu tun sei, wie sie bisher den Kopf gedreht, den Arm gehoben hatte. Sie tat so als ob. Aber sie konnte nicht feststellen, ob der Kopf sich wirklich bewegte, sie hatte keinen Bezugspunkt, der letzte, den sie bis eben noch gehabt hatte, war verschwunden.

Da. Da! Da war der Punkt. Unendlich langsam wanderte er von links oben in ihr Blickfeld, eben noch war er kaum wahrnehmbar im Augenwinkel gewesen. Jetzt saß er links oben. Nur eine Ahnung fast. Wenn sie hinschaute, war er verschwunden. Wenn sie wegschaute, sah sie ihn am Rand ihres Blickfeldes, das war längst eine endlos schwarze Fläche. Sie wusste, dass er da war, knapp neben ihrer Wahrnehmung. Jost hatte es ihr einmal erklärt: dass man in der Dunkelheit einzelne Lichtpunkte nicht sehen konnte, weil die Zellen, mit denen man scharf sah, nicht lichtempfindlich genug sind, und die, mit denen man Licht sah, nicht in der Mitte der Netzhaut lagen, sodass man nicht direkt schauen konnte.

Sie hatten auf dem Dach ihres Wohnhauses gelegen und in den Himmel geblickt, wolkenlos war er gewesen, Tausende und Tausende von Sternen, da fiel es nicht auf, dass man den einen oder anderen nicht sah, weil man ihn direkt anschaute.

Doch Jost hatte ihr die Venus gezeigt, zeigen wollen, aber Antonia hatte sie nicht finden können.

»Da!« Er war näher an sie herangerückt, hatte mit dem Finger in den Himmel gezeigt: »Da. Du musst daran vorbeischauen.«

Wie sollte sie an etwas vorbeischauen, wenn sie nicht wusste, wo dieses Etwas war, woran sie vorbeischauen sollte?

Antonia blickte sich um, bewegte den Kopf, spürte es im Nacken, dass sie ihren Kopf bewegte, aber der helle Punkt war verschwunden, weg. Sie drehte den Kopf, sie fand ihn nicht mehr. Hatte sie sich wieder gedreht? Drehte sie sich immer noch? Woher kam der Wind? Wohin musste sie schauen? Vom Wind weg. Denn der Wind kam von unten. Denn sie fiel ja und der Wind war kein Wind, sondern die Luft, durch die sie fiel. Sie drehte den Kopf. Sie hoffte, den Kopf zu drehen. Wo sollte sie nun suchen? Vielleicht war der Punkt direkt vor ihrer Nase und sie sah ihn nicht. Nein. Weg. Der Punkt war verschwunden. Vielleicht schon zu weit weg, zu klein. Sie war schon zu weit. Zu weit gefallen. Wie tief?

Sie fiel.

Sie fiel noch immer.

Wie tief konnte sie fallen? Wie lange fiel sie jetzt? Wie schnell, wie langsam? Vielleicht fiel sie gar nicht. Sie träumte. So tief, so lange konnte sie nicht fallen. Nicht auf der Erde. Sie lag zu Hause im Bett und träumte. Dass sie den Schlüssel vergessen hatte. Das mit dem Müll. Den Ärger mit ihrem Hausmeister. Das Gehetze. Dass sie ins Loch gefallen war. Das alles träumte sie.

Sie lachte. Kurz. Ein Auflachen. Ein »Ha!«. Es klang seltsam. Es fühlte sich seltsam an im Hals, und im Mund.

»Ha«, sagte sie. »Ha.« Noch mal. »Ha.« Lauter. »Ha! Ha. Ha.« Jedes »Ha« wurde von dem rauschenden Wind an ihren Ohren davongetragen. »Ha.« Sie hörte jedes »Ha« kurz in ihrem Kopf. »Ha. – Haha.«

»Ha.«

»Hallo.«

»Hallo?«

»Hallo, ist da jemand?«

»Hallo, wo bin ich?«

Dumme Frage. Sie fiel doch. Wer sollte sie beantworten? Wer sollte sonst noch hier sein? Und wenn schon – wer würde das beantworten können? Wenn sie doch fiel. Und sie fiel ja.

»Hier.«

»Ha!«

»Hier.«

»Ich bin hier.«

»Hallo.«

Nein.

Sie fiel.

Sie musste sich konzentrieren.

Konzentrieren.

Sie fiel. Sie fiel immer noch. Sie fiel noch immer. Sie fiel tiefer. Und tiefer. Und tiefer. Weiter. Und weiter. Dem Erdmittelpunkt entgegen. Sie würde in eine Höhle fallen. In eine riesige Höhle, Sie würde die Höhlendecke durchbrechen und auf den Höhlenboden aufschlagen. Dann wäre sie tot. Wenn sie irgendwo aufkam, wenn sie irgendwann nicht mehr fiel, war sie tot. Sie würde auf dem Höhlenboden aufschlagen und nur ein paar Dinosaurier, die sich vor dem Aussterben dorthin hatten retten können, würden sich wundern, was da grad vom Himmel gefallen war. Dann würden sie weiteräsen. Sie hatte einmal einen Film gesehen, wo tief in der Erde große Höhlen waren mit Sauriern und anderen Tieren und seltsamen Pflanzen und Pilzen und funkelnden, selbst leuchtenden Edelsteinen. In diese Höhlen waren ein paar Abenteurer hinabgestiegen, um sie zu erforschen. Sie waren nicht gefallen. Es war ein Film gewesen, ein ausgedachter Film, keine Dokumentation. In der Erde konnte es gar keine so riesigen Höhlen geben, schon gar nicht so tief unten. Wie tief mochte sie jetzt sein? Wie lange fiel sie? Sie könnte es ausrechnen.

Antonia erinnerte sich an die Fallgeschwindigkeit. Einer ihrer Architekturprofs hatte damals in einer Vorlesung gesagt: »Ganz wichtig. Da müssen Sie überall ein Geländer dranbauen. Überall. Rundrum. Vergessen Sie nicht: Der menschliche Körper fällt mit einer Geschwindigkeit von 9,81 Metern pro Sekunde und ist bei einem geländerlosen Gebäude von fünfzehn Metern Höhe, das ist ungefähr die fünfte Etage, in anderthalb Sekunden tot oder liegt im Koma, wenn er Pech hat. Fällt er aus dem vierten Stock, ist er in 1,2 Sekunden tot, fällt er aus dem dritten, in 0,9 Sekunden, ab dem zweiten Stock hat er eine Überlebenschance von fünfzig Prozent, das ist fies, nicht nur, weil wir da das Koma natürlich mitzählen. Und selbst bei einem Fall aus dem ersten Stock kommt er ohne einen Knochenbruch selten davon.

Und denken Sie daran: Das Geländer muss mindestens in Brusthöhe sein. Die Brusthöhe ist in Deutschland definiert bei 90 bis 110 Zentimeter. Also nehmen Sie nicht sich selbst zum Vorbild – Sie sind Architekten und nicht Gott. Sie sollen das Geländer nicht nach ihrem Bilde machen. Schon gar nicht als Frau, die Höhe kann sich von Jahr zu Jahr ändern und wenn Sie erst mal über dreißig sind, wird es für Ihre Kunden einfach zu gefährlich.«

Später war er wegen dieses Spruchs von einer Studentin wegen Sexismus angezeigt worden und vor ein Unigremium gestellt, das die Anschuldigung aber nach ein paar Sitzungen abgewiesen hatte. Er wechselte dann trotzdem die Uni.

9,81 Meter pro Sekunde, das waren 588 Meter pro Minute. Wie lange fiel sie jetzt? Waren es schon fünf Minuten? Zehn? Konnte man zehn Minuten lang fallen? 588 Meter pro Minute. Wenn sie seit zehn Minuten fiele, dann wären das 5880 Meter. So hoch wie der Kibo im Kilimandscharo. Unmöglich. Als die Menschen aus den obersten Stockwerken des World Trade Centers sprangen, fielen sie 42 Sekunden lang. 411 Meter. Sie kamen schon tot unten an. Die Angst. Der Stress. Konnte man bei solch einem Sprung, solch einem Fall überhaupt noch atmen? Verlor man das Bewusstsein, weil man keine Luft mehr bekam? Wieso sprang man aus einem Haus, das sowieso einstürzen würde? Vom sicheren Tod in den sicheren Tod. Vielleicht in den schnelleren Tod. Wieso nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen oder sich eine Scherbe suchen und sich die Pulsadern aufritzen? Aus einem Fenster im 110. Stock, aus 400 Metern Höhe springen. Was sie wohl als Letztes gesehen hatten? New York. Die Straßen unter sich.

Antonia sah hier nichts.

Es sollten fast sechs Kilometer sein? Unmöglich. Doch Antonia fiel. Fiel noch immer. Es rauschte an ihren Ohren. Sie spürte den Wind, die Luft zwischen ihren Fingern, sie fühlte, wie sie jemand an den Schultern zog. Am Arm. Am Kopf. Es zog hinunter. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht. Ihre Haare streiften ihr Gesicht. Es kitzelte. Sie fiel und fiel. Und drehte sich dabei. Immer noch. Sie drehte sich um sich selbst. Es zog an ihr. Das Unten zog an ihr. Der Wind zerrte sie nach oben. Das Unten gewann. Es zog an ihren Armen, an ihren Beinen, es zog an ihrem Kopf, an jedem Haar einzeln, an den Knien und Schultern. Am Hals. Und dann erinnerte sie sich: ihre Tasche. Der Gurt lief über ihre Schulter, am Hals entlang, er zog sie hinab. Aber nein. Natürlich fiel sie, sie fiel und fiel und fiel und die Tasche fiel mit ihr und der Gurt zerrte an ihr, wie die Schwerkraft an ihr zerrte. Wie ihre Arme an ihr zerrten und ihre Beine. In ihrem Knie pochte es. Ihr Kopf zerrte an ihrem Hals. Ihre Arme an ihren Schultern. Sie drehte sich und wirbelte und die Luft an ihren Ohren rauschte, scht, scht, scht, wie vorbeirasende Autos. Wie die Strommasten neben der ICE-Strecke. Antonia musste schlucken, die Tasche, der Gurt drückte auf ihren Kehlkopf. Antonia schluckte noch einmal. In ihrem Kehlkopf brannte es, stach es. Sie musste würgen, ihr Hals krampfte sich zusammen. Vielleicht war es auch das Drehen, das Herumwirbeln, das Nichtwissen, wo oben, wo unten war. Ihr war schlecht. Es drückte in ihrem Magen, ihre Speiseröhre zog sich zusammen, es drückte hinten in ihrem Hals. Antonia versuchte, nach der Tasche zu greifen, es gelang ihr nicht. Die Tasche rutschte weg oder Antonia konnte sich nicht nach ihr strecken und überhaupt wusste sie nicht, wie sie sich bewegen könnte, wenn sie fiel, ob sie sich bewegen konnte. Antonia spielte Fangen mit der Tasche, aber die war geschickter in dem Spiel als sie. Die Tasche war schneller. Die Tasche wich ihr aus. Die Tasche war ein großer Fisch und sie waren unter Wasser. Die Tasche duckte sich. Jetzt würgte die Tasche sie, drückte ihr den Hals zu, die Luft ab, war hinter ihr und zog am Gurt und Antonia versuchte, nach hinten zu greifen, sie versuchte es ja, bekam die Tasche aber nicht zu fassen. Antonia griff an ihren Hals, nach dem Gurt, zerrte daran, atmete, atmete, tastete weiter mit einer Hand, mit der anderen Hand. Sie ließ ihre Hände dem Gurt folgen, bis zur Tasche. Jetzt konnte sich die Tasche nicht mehr ducken, verstecken im Dunkel ja, aber nicht vor ihren Händen, vor den Fingern. Und dann hatte Antonia sie. Nahm sie in die Arme. Drückte sie ganz fest an sich, an ihren Körper, an ihren Bauch. Und noch immer drehte Antonia sich dabei, wirbelte um sich selbst, um ihre Achse. Wusste nicht, wo diese verlief. Nicht durch den Kopf, einmal durch sie hindurch und am Damm zwischen Möse und Poloch wieder hinaus. Nicht zu den Schultern hinein und links über dem Knubbel des Beckens, dem Hüfthöcker wieder hinaus. Oder links in den Bauch hinein und rechts wieder raus, wie bei den Figuren eines Kickertischs. Wenn sie es genau beobachtete, sich genau konzentrierte, glaubte sie zu spüren, dann begann die Achse am linken Schlüsselbein, vollführte einen brezelförmigen Knoten in ihrem Brustkorb und kam zum Bauchnabel wieder heraus.