Vorwort

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Ein Blick in die Welt beweist,

dass Horror nichts anderes ist als Realität.“

- Alfred Hitchcock


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Odium bedeutet so viel wie übler Beigeschmack. Ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, das Gesicht zu einer angeekelten Fratze verzogen, eine gewisse Bitterkeit im Mund. Im Kopf rasen die Gedanken: Ist das wirklich richtig? Ist es in Ordnung, so etwas zu schmecken, zu fühlen, zu sehen? Soll es so sein?

Das Odium soll genau dieses Gefühl auslösen. Man soll durch das Lesen dieser Geschichten keine Albträume bekommen, oder sich vor etwas so sehr fürchten, dass es einen nicht mehr loslässt. Aber es soll auch nicht angenehm sein, sich durch die hundert Geschichten zu wühlen. Der Horror in diesem Sammelband besteht aus einer Prise Ekel, Furcht und nüchterner Wahrheit. Wie bei einer unreifen Frucht, ein bitterer, pelziger Geschmack auf der Zunge, der Wunsch, dieses Gefühl irgendwie los zu werden. Ein übler Beigeschmack.

Wie du merken wirst, haben viele Charaktere in den Geschichten genau das gleiche Gefühl. Es sind Menschen, wie du und ich. Sie haben Träume, Wünsche, Ziele, Gefühle, Freunde, Familie und einen Alltag.

Manchmal gibt es alltägliche Situationen in denen man sich einfach nicht wohlfühlt. Manchmal gibt es alltägliche Gefühle, bei denen man denkt, dass sie einem den Kopf zerbrechen würden. Und manchmal wird der Alltag an sich, so plump und langweilig er auch gelegentlich sein kann, unaushaltbar.

Kombiniert man dieses allgemeine, alltägliche Unwohlsein mit etwas Unbekanntem, etwas Unerwartetem, etwas Unfassbarem, dann hat man das Odium. Man kann sich darauf einstellen, dass man den Alltag, wie man ihn kennt, nie mehr so sehen wird, wie früher.

Man wird ins kalte Wasser geworfen und taucht ab. Taucht ab in hundert verschiedene Köpfe, in hundert verschiedene Welten, in hundert verschiedene Situationen.

Einige dieser Gewässer sind bizarr und undurchschaubar, andere liegen klar und unmissverständlich vor einem. Einige Personen handeln, wie man selbst handeln würde, andere hingegen reagieren vollkommen unverständlich. Einige Orte kommen einem bekannt vor, andere hat man noch nie in seinem Leben gesehen.


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Die Ideen für die Geschichten habe ich aus meinem Alltag nehmen können. Sei es die verblassende Erinnerung an die Schule, die Eindrücke aus der abgebrochenen Ausbildung, das Beobachten von Menschen, das Hinterfragen ihrer Taten und Gedanken, das Auf-sich-alleine-gestellt-Sein, oder gar alltägliche Gegenstände, wie Rasierer oder Waschmaschinen und oft aus der Frage: Was wäre wenn?

Viele Geschichten sind dem Bizarro Fiction Genre zuzuordnen. Merkwürdig, undurchschaubar, und durch ihre Fremdartigkeit angsteinflößend.

Zwei Jahre schreibe ich jetzt regelmäßig und es hat sich mit der Zeit herauskristallisiert, dass ich es mag, wenn Geschichten unangenehm sind. Viele der Geschichten entstanden aus unschönen Erlebnissen oder Vorstellungen, bei denen ich mich fragte: Wie könnte man das noch schlimmer machen?

Vor dir liegt das Ergebnis. Das Ergebnis aus unzähligen Stunden in einem kargen Raum mit weißen Wänden, grauen Vorhängen und Tastatur. Das Ergebnis aus halbgarem Allgemeinwissen und alltäglichem Alltag. Das Ergebnis von einem jungen Schriftsteller, der sich wünscht, keine der hundert Geschichten selbst durchmachen zu müssen.

Ein übler Beigeschmack.

Odium, das.


Das ewige Büro

Der graue Opel Corsa von Matthias Reinersmann biegt um 8:45 Uhr auf die gigantische, geteerte Fläche ein. Er braucht einige Minuten, um einen freien Parkplatz zu finden. Offenbar fangen die meisten seiner Kollegen recht früh mit der Arbeit an. Er parkt, steigt aus und geht in die Richtung des großen, aus Backstein gebauten Gebäudes. Es hat gut zehn Stockwerke und scheint nach den Wolken greifen zu wollen.

In der Eingangshalle angekommen nickt er der Empfangsdame zu und stellt sich mit einigen anderen Kollegen, die er mit einem freundlichen »Guten Morgen« begrüßt, in den Fahrstuhl.

Im vierten Stock angekommen, steigt er aus und geht in sein Büro. Er hat sogar ein eigenes Zimmer, einen eigenen Schreibtisch und ein eigenes Fenster.

Er richtet sich gemütlich ein, setzt sich und beginnt mit seiner Arbeit. Gestern wurde er bereits von der blonden, noch recht jungen Chefin, Frau Dörth, herumgeführt und eingearbeitet. Er weiß, wo alles ist. Die Toiletten, die Kaffeemaschine, die Kantine. Alles, was man in dem Bürokomplex zum Überleben braucht.

Der Arbeitstag verläuft gut. Er hat immer etwas zu tun, arbeitet die Papiere auf seinem Schreibtisch systematisch ab. Manchmal kommt ein Kollege vorbei, bringt wichtigere Aufgaben und führt mit ihm ein wenig Smalltalk. Sogar die Klimaanlage in seinem Büro kann er nach Belieben regulieren und das Mittagessen in der Kantine schmeckt auch ziemlich gut. Matthias hätte es auf jeden Fall schlechter erwischen können und ist froh bei einem Unternehmen gelandet zu sein, dass sich wirklich um die Angestellten sorgt.

Das ist für ihn absolut wichtig, denn Matthias hat vor Karriere zu machen. Vor einigen Monaten hat sich seine langjährige Freundin von ihm getrennt, mit der er eigentlich geplant hatte eine Familie zu gründen und Kinder zu zeugen. Doch das alles ist ins Wasser gefallen und da es ewig brauchen würde, bis er einer Person wieder so sehr vertrauen kann, hat er sich ein anderes Ziel gesucht.

Gegen 17 Uhr packt er seinen Kram zusammen und geht für ein kurzes Gespräch in den Raum von Steffen Koltz, einem Kollegen, der sein Zimmer neben Matthias Büro hat. Steffen redet sehr wenig und hat eine fahle, käsige Hautfarbe, sieht ziemlich kränklich aus.

»Ich mach dann mal Feierabend, Steffen.«

»Hm, ja, viel Glück dabei«, grummelt er zurück.

Matthias findet diese Art ziemlich unfreundlich, aber was soll’s. Bestimmt hat sein Kollege nur viel zu tun oder einfach einen schlechten Tag. Aber auch, wenn er immer so drauf sein sollte, dann ist es in Ordnung. Irgendwo müssen sozial inkompetente Leute ja auch arbeiten und solange er seine Arbeit gut macht, kann Matthias über die mangelnde Höflichkeit hinwegsehen.

Matthias steigt in den Fahrstuhl und fährt in das Erdgeschoss. Normalerweise ist dort der Eingangsbereich gewesen, doch nun findet er nur einen weiteren Flur mit unzähligen Büroräumen. Er muss kurz über sich selbst lachen. Anscheinend hat er nur irgendwelche Stockwerke miteinander vertauscht oder es wurde ihm einfach nicht gesagt, dass sich der Ausgang auf einem anderen Stockwerk befindet.

Er geht zurück in den Fahrstuhl und fährt in das Untergeschoss. Es kommt ja oft vor, dass, durch einen Hügel oder sonstige Hindernisse, die Gebäude auf der einen Seite Keller sind, auf der anderen allerdings ganz normal zur Straße führen. Doch in diesem Gebäude ist es nicht der Fall.

Matthias findet sich plötzlich in den Räumen des Archivs wieder, schüttelt verwirrt den Kopf und fährt in das erste Stockwerk. Auch hier gibt es nur einen Flur mit Büroräumen. Ein Blick aus dem Fenster verrät ihm, dass er sich auch tatsächlich im ersten Stock befindet.

Also wieder zurück ins Erdgeschoss, irgendwo wird schon eine Tür nach draußen sein. Ein paar Kollegen blicken ihn verwundert an, als Matthias scheinbar ohne Ziel wieder und wieder durch die gleichen Flure geht und bei jedem Mal ein wenig verwirrter aussieht. Irgendetwas wird er hier vertauscht oder falsch verstanden haben.

Also fährt er wieder zurück in den vierten Stock und trottet zurück in sein Büro. Die Hoffnung, dass er Steffen fragen kann zerbricht, als er die Tür zum Büro seines Kollegen aufmacht. Offenbar ist er bereits nach Hause gegangen.

Dafür wartet allerdings Frau Dörth in seinem Zimmer.

»Einen schönen guten Abend, Herr Reinersmann. Na, wie haben Sie sich den ersten Tag gemacht? Ist alles so verlaufen, wie Sie es sich vorgestellt haben?«

Matthias, der seine Chefin ein Stück weit attraktiv findet und sich dementsprechend nicht blamieren will, entschließt sich nicht nach dem Ausgang zu fragen.

»Ja, soweit alles in Ordnung. Es ist wirklich angenehm ein eigenes Büro zu haben.«

»Das glaube ich Ihnen.« Eine kurze Stille breitet sich in dem Zimmer aus und Frau Dörth starrt auf den Boden, als würde sie über etwas nachdenken oder sich schämen, nicht zu wissen worüber sie reden soll. Dann blickt sie Matthias wieder an. »Haben Sie Hunger? Das Essen in der Kantine ist wirklich angenehm.«

»Ich war dort heute Mittag schon, war wirklich gut.«

»Ach, den Fraß können Sie vergessen. Abends werden die richtigen Geschütze ausgefahren. Kommen Sie mit, ich lade Sie ein.«

Von der Freundlichkeit und Offenheit seiner Chefin verwundert, geht er ihr hinterher. Zu Hause würde er sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, da kommt es ihm ganz gelegen auf der Arbeit das Abendessen zu sich zu nehmen. In seiner Wohnung wartet niemand auf ihn und ein gutes Verhältnis mit der Chefin aufzubauen kann für die Karriere auch recht nützlich sein. Und dann auch noch kostenlos. Den Ausgang suchen kann er später immer noch, oder er fragt Frau Dörth beiläufig einfach.

Trotzdem wundert ihn es, dass seine Chefin ihn so ohne weiteres einlädt. Ihm fällt es schwer in diesem Unternehmen, auf diesem Wirtschaftsast an normale Menschenfreundlichkeit zu glauben. Irgendetwas wird es ihr auch bringen, er weiß nur noch nicht, was genau. Das letzte, dass er als neuer Angestellter in einem so vielversprechenden Unternehmen will, ist, als Werkzeug für irgendeine karrieregeile Tusse zu enden.

Das Essen schmeckt tatsächlich viel besser, als das vom Mittag. Nachdem die beiden ein wenig über die Arbeit geredet haben, schweigen sie sich eine Zeit lang an.

»Vielleicht wirkt es ein wenig komisch, Frau Dörth, aber ich hätte eine Frage.«

»Elisabeth, bitte. Was willst du wissen?«

Matthias kommt das plötzliche per du ein wenig komisch vor. Noch komischer, als die Situation sowieso schon ist. Dass man die Chefin in einem so renommierten Unternehmen direkt am ersten Tag duzen kann, fühlt sich nicht richtig an. Aber er spielt mit.

»Ich habe vergessen wo es raus geht. Im Erdgeschoss habe ich jedenfalls keinen Ausgang gefunden. Vielleicht kannst du mir – «

»Oh, der Ausgang. Es gibt schon einen Ausgang, allerdings nicht mehr für heute.«

»W-wie meinen Sie das?«

»Na ja, ich bin zwar deine Chefin, aber mir gehört das Unternehmen nicht. Ich habe auch einen Chef. Herrn Lindenruth. Und er hat gesagt, dass du erst gehen darfst, wenn du den Papierstapel auf deinem Tisch abgearbeitet hast.«

Matthias fällt jeglicher Ausdruck aus dem Gesicht, als er das hört. Sein Chef hält ihn also gegen seinen Willen in dem Gebäude fest, damit er noch mehr arbeitet? Das kann nicht ernst gemeint sein.

»Darf er das denn? Ich habe heute mehr als acht Stunden gearbeitet und habe ein Anrecht auf – «

»Es ist vielleicht streitbar, ja«, meint Elisabeth und nippt an ihrem Tee. »Aber ob das seinen Zweck erfüllt – ich weiß nicht. Auf jeden Fall wird er dich rausschmeißen, wenn du ablehnen würdest. Mach einfach, was er dir sagt. Das macht einen guten Eindruck.«

Deshalb hat Elisabeth ihn auch zum Essen eingeladen. Damit er gestärkt und zufrieden ist, nur damit er einige Überstunden machen kann. Ein ganz perfides Spiel.

Vielleicht hat er sich doch das falsche Unternehmen ausgesucht, wenn er bereits von Tag eins an derartig ausgebeutet wird.

»Danke für das Essen«, grummelt Matthias vor sich hin, während er seinen Stuhl mit einem lauten Knarzen zurückschiebt und sich auf den Weg in sein Büro machen will.

»Ach, Matthias. Was ich vergessen habe zu sagen.«

Matthias dreht sich wieder um und guckt seine Chefin mit ausdruckslosen Augen an. Er zuckt genervt mit den Schultern, was so etwas wie ›Was ist denn noch?‹ bedeutet.

»Dein Büro darfst du nicht mehr zum Arbeiten benutzen. Ich habe dir einen Schreibtisch im Großraumbüro eingerichtet.«

»Für was soll ich es denn sonst nutzen?«

Seine Chefin blickt ihn für einige Sekunden abschätzend an. Matthias merkt, wie in ihrem Kopf die verschiedenen Antworten hin und her rasen.

»Du solltest anfangen zu arbeiten. Je früher dahin, je früher davon«, weicht sie aus.

Eine unbefriedigende Antwort, aber Matthias hat in diesem Unternehmen von diesen Menschen sowieso nichts anderes erwartet.


Sein neuer Arbeitsplatz ist ein Witz. Statt zwei modernen Flachbildschirmen steht auf dem Schreibtisch ein einziger, alter Röhrenmonitor und der Computer braucht gut zehn Minuten, bis er einsatzbereit ist. Der Schreibtischstuhl ist einer der billigsten Variante. Ein paar Plastikteile, die mit Stoff überzogen und mit Watte gestopft worden sind. Eine Springfeder bohrt sich ihm in den Hintern und macht ein ruhiges Sitzen unmöglich. Er will sich einen anderen Stuhl nehmen, doch der Großteil von ihnen sieht noch viel schlimmer aus.

Er fängt um 19 Uhr an den Papierstapel auf seinem neuen Schreibtisch zu bearbeiten und ist um zwei Uhr fertig. Erleichtert nimmt er die Akten mit in das Büro der Chefin, die merkwürdigerweise immer noch da ist und ebenfalls arbeitet. Als er das Zimmer betritt blickt sie freudestrahlend auf, als hätte sie den letzten Menschen vor zehn Jahren gesehen.

»Hier, bitteschön«, murmelt er, während er die Akten nicht ganz behutsam auf den Schreibtisch seiner Chefin knallt. Diese guckt ihn wieder mit diesem merkwürdigen Blick an. Dieser Blick, in dem sich nur die Frage Ernsthaft? widerspiegelt.

»Oh, nein. Ich bin dafür nicht zuständig. Du musst es Herrn Lindenruth persönlich vorlegen.«

»Wo ist sein Zimmer?«

»Neuntes Stockwerk, Zimmer 22. Aber das wird dir nicht sehr viel bringen.«

»Warum?«

»Weil Herr Lindenruth vermutlich schon seit einigen Stunden zu Hause ist. Er kommt jeden Tag um zehn Uhr ins Büro und macht pünktlich Feierabend. Dann kannst du wieder mit ihm sprechen.«

»Und was mache ich jetzt?«

»Nun, du solltest dich erholen. Morgen wird wieder gearbeitet.«

»Also wenn ich es zusammenfasse, mache ich hier Überstunden, habe aber nicht die Erlaubnis das Gebäude zu verlassen und muss hier übernachten?«

»Ja.«

»Ich–« Matthias winkt kopfschüttelnd ab und trottet erschöpft in sein Büro. Tatsächlich hat es sich verändert. Der Schreibtisch wurde raus geräumt. Es ist jetzt nur noch ein mit Teppichboden überzogener Raum.

Matthias ist jetzt gute zwanzig Stunden wach und mindestens fünfzehn davon hat er gearbeitet. Erschöpft legt er sich auf den Boden, formt aus einem Pullover ein Kopfkissen und deckt sich mit seiner Regenjacke zu. Er schläft sofort ein.


Um fünf Uhr wird er wieder wach. Es lohnt sich nicht mehr nach Hause zu gehen, da kann man genauso gut anfangen zu arbeiten. Er macht sich einen Kaffee, geht in das Großraumbüro und schaltet seinen Computer ein. Sein Kopf dröhnt, er fühlt sich, als wäre er in einer anderen Welt. Alles um ihn herum kommt ihm so dumpf und verschwommen vor, als wäre sein Hirn furchtbar weit entfernt.

Fünf Uhr. Acht Stunden Arbeit, also kann er um 13 Uhr Feierabend machen.

Das Großraumbüro füllt sich nach und nach. Nicht erst um sieben Uhr, viele sind schon um halb sechs da. Keiner redet miteinander. Es sehen irgendwie alle so aus, als wären sie in dieser fernen Welt gefangen. Einfach arbeiten und dann nach Hause gehen. So schwer ist es nicht.

Um zehn Uhr steht Matthias auf und geht in das Stockwerk, das Elisabeth ihm genannt hat. Doch er kommt nicht zum Raum 22. In dem Flur steht eine Menschenschlange, die fast bis zum Fahrstuhl reicht. Sie alle wollen offenbar ihre Akten abgeben, damit sie nach Hause können. Sie alle haben anscheinend das gleiche Schicksal wie Matthias.

Auch der fahle Steffen Koltz steht an. Matthias fragt ihn, wie gut die Chancen stehen heute mit dem Chef zu reden. Steffen nuschelt unfassbar stark, als er antwortet.

»Nicht sehr gut. Der ist immer nur eine Stunde im Büro. Dann kümmert er sich um anderes Zeug. Man muss echt Glück haben.«

»Und wenn man die Erlaubnis nicht bekommt, darf man gar nicht raus?«

»Wie denn? Wenn du mir den Ausgang zeigst, um aus dieser Hölle zu entkommen, dann gebe ich dir alles was ich habe. Aber es gibt keinen. Ich hab alles abgesucht.«

»Aber es muss doch irgendwo einen Ausgang geben.«

Darauf antwortet Steffen nicht. Er zuckt mit den Schultern und wendet sich dem Rücken seines Vordermannes zu. Auch Matthias stellt sich an. Er wartet mit den Akten unter den Armen für eine Stunde, blickt ständig auf seine Uhr. Doch als es elf Uhr wird, ist er vielleicht gerade mal ein bis zwei Meter vorangekommen und die Kollegen vor ihm drehen fast gleichzeitig um und schlurfen zum Fahrstuhl. Matthias hat keine Erlaubnis bekommen. Anhand der wenigen Meter, die er vorwärts gehen konnte, rechnet er damit, dass gerade mal drei oder vier Kollegen die Erlaubnis bekommen haben. Also schlurft Matthias zurück in das Großraumbüro.

Das Klima hat sich erschreckend ins Negative gewandelt. Die Luft ist unfassbar stickig geworden und die Wärme, bestimmt über dreißig Grad, ist schweißtreibend. Eine Klimaanlage gibt es nicht und anscheinend kann man keines der Fenster öffnen.

Matthias wechselt sich mit den Getränken ab. Mal trinkt er ein Glas Wasser, das immerhin kalt und erfrischend ist, dann wieder eine Tasse Kaffee, um wach zu bleiben und weiter arbeiten zu können, der nach jeder Tasse wässriger und langweiliger schmeckt.

Um 13 Uhr macht er Feierabend, packt seine Sachen erneut zusammen und versucht den Ausgang zu finden. Er fragt so gut wie jeden Kollegen auf seiner Etage, doch entweder ignorieren sie die Frage, oder sie wissen ebenfalls nicht wo sich der Ausgang befindet.

Irgendwann wird es Abend. Elisabeth kommt in das Großraumbüro und legt Matthias, der seinen Kopf verzweifelt auf seinen Schreibtisch gelegt hat, einen weiteren, großen Stapel Papier auf den Arbeitsplatz. Und wieder lädt sie ihn zum Essen ein.


Dieses Mal betrachtet er in der Kantine die Gesichter der anderen. Sie sitzen zwar gemeinsam am Tisch, doch starren nur vor sich hin und reden nicht miteinander. Nur die blonde Chefin scheint anders zu sein. Sie lacht über alles was er sagt, auch wenn er verbitterte Kommentare über die Arbeitsbedingungen ablässt.

Das geht mehrere Tage so. Die Arbeitszeit ist unerträglich, der Kaffee schmeckt mies, die Müdigkeit nimmt immer mehr zu und er bekommt Rückenschmerzen durch das Schlafen auf dem Boden.

Irgendwann, es ist wieder ein Abend, an dem Elisabeth ihn zum Essen einlädt, beugt sie sich zu ihm und flüstert in sein Ohr.

»Sei um ein Uhr in meinem Büro. Ich habe da eine Überraschung für dich.«

Matthias blickt sie freudestrahlend an. »Darf ich raus?«, platzt es aus ihm heraus.

Elisabeth legt ihren Finger an die Lippen und zischt. Es soll ein Geheimnis zwischen den beiden sein. Matthias freut sich riesig auf die heutige Nacht. Dass die anderen nichts davon mitbekommen sollen, spricht dafür, dass er heute endlich wieder nach Hause gehen darf.

Er arbeitet seinen Papierstapel ab, legt ihn zur Seite und geht pünktlich um ein Uhr zum Büro seiner Chefin. Seine Tasche hat er dabei und die Jacke angezogen.

Er öffnet die Tür, tritt ein und erstarrt. Vor ihm sitzt seine Chefin auf dem Schreibtisch. Um sich herum hat sie Kerzen angezündet, die das Zimmer in ein warmes, angenehmes Licht tauchen. Ihre blonden Haare, die sie sonst immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, fallen ihr jetzt wild auf die Schultern. Alles was sie trägt ist eine dunkelrote Reizunterwäsche. Mehr nicht.

»Nimm mich«, raunt sie.

Matthias, der völlig überfordert von der Situation ist, geht einen Schritt zurück. »W-Wie bitte?«

»Nimm mich und verpass mir ein Baby!«

»Was? Nein! W-Warum sollte ich das tun?«

Elisabeth rutscht von dem Schreibtisch herunter und kommt lasziv auf Matthias zu.

»Ich möchte mir einen Traum erfüllen«, haucht sie. In ihrer Stimme liegt etwas Irres, etwas nicht Berechenbares.

»Ja, aber nicht von mir«, protestiert Matthias, dreht sich um und greift nach der Türklinke.

»Wir sind hier gefangen, Matthias. Wir sind für immer und ewig in diesem Bürokomplex gefangen. Ich hatte draußen ein Leben. Einen Mann. Wir wollten eine Familie gründen. Und jetzt bin ich hier. Ich kann die Fenster nicht öffnen, ich kann niemanden anrufen, ich kann niemandem von draußen Bescheid sagen, dass ich hier gefangen bin. Die Schlange vor dem Büro meines Chefs ist unfassbar lang. Wenn es hochkommt, lässt er zwei Leute in der Woche raus. Bei einem Gebäude in dem 5000 Menschen arbeiten und jeden Tag neue Angestellte dazu kommen. Es gibt keinen Ausweg.«

Matthias seufzt und dreht sich um. »Das habe ich auch bemerkt, aber es ist kein Grund sich vor mir zu entblößen. Wir sind immer noch Kollegen und ich kenne dich doch erst seit einer Woche.«

Elisabeth nickt und die Tränen, die sich langsam in ihren Augen anbahnen, funkeln im Kerzenschein.

»Ich will trotzdem ein Kind großziehen, auch wenn es hier im Büro aufwächst. Hier sind Stifte und Papier zum Malen und man kann Spielzeuge basteln und es gibt Essen und Internet. Es hätte hier alles, was es zum Aufwachsen braucht. Und du bist einfach die beste Wahl. Du bist nicht so hoffnungslos und depressiv wie die anderen. Du wirkst noch menschlich.«

In Matthias Kopf arbeitet es. Er kann sich einfach nicht vorstellen für den Rest seines Lebens in diesem Büro eingesperrt zu sein. Es muss einen Weg hier heraus geben. Es muss einfach.

»Du hast ernsthaft vor in diesem Büro mehrere Jahre zu verbringen? Das ist ein schlechter Witz, oder? Wo sind die Kameras? Wieso verarscht ihr mich?«

»Ich bin seit drei Jahren hier«, antwortet Elisabeth mit einer zugeschnürten Kehle. »Es gibt keinen Ausweg.«

»Auch wenn du hier schon drei Jahre wärst und mich gerade nicht verarscht, dann bist du feige. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde einen Weg aus diesem Gebäude finden. Ich will nicht werden wie diese bleichen Roboterkollegen, die sich nicht einmal mehr unterhalten. Und ich will nicht so werden wie du, die sich, wie eine Nutte, vor ihren Kollegen entblößt. Ich habe noch Hoffnung hier herauszukommen.«

Mit diesen Worten dreht Matthias sich um, reißt die Tür auf und stürzt auf den Flur.

»Und deshalb liebe ich dich.«

Er weiß nicht ob er es sich eingebildet hat, oder Elisabeth tatsächlich ihm ihre Liebe gestanden hat. Wütend rennt er den Flur entlang zu Fahrstühlen. Gibt es in diesem verdammten Gebäude denn nur Verrückte? Eine Woche seines Lebens hat er nun verschwendet, irgendwann ist auch Schluss.

Dann verliert er halt seinen Job, na und? Mit seinen Zeugnissen kann er sich auch überall sonst bewerben.

Wie ein Irrer rennt Matthias durch die Etage, reißt jede Tür auf um zu kontrollieren ob sich dahinter der Ausgang verbirgt. Das wiederholt er auf jeder anderen Etage auch. Doch überall findet er nur die selben Büroräume, die gleichen Teppiche, Tische, Stühle und später, als es wieder Morgen wird, auch die gleichen Menschen. Verwahrloste, hoffnungslose Kreaturen, die sich ohne mit der Wimper zu zucken damit abgefunden haben ihr Leben hier zu verbringen. Er wird niemals so werden. Niemals!

Am frühen Morgen fährt er zurück in das Erdgeschoss. Er hat eine Idee. Wenn es keine Tür gibt, die ihn raus lässt, dann muss er einfach durch eines der Fenster fliehen. Keines der Fenster lässt sich öffnen, aber vielleicht kann man sie einschlagen. Wer soll ihn schon hindern? Die Büropolizei?

Er nimmt sich einen Blumentopf mit irgendeiner Pflanze und schmettert sie mit voller Wucht gegen das Fenster. Draußen kann er auf die Straße blicken. Wie die Passanten umher gehen, die Autos, die an dem Gebäude vorbei fahren. Doch niemand scheint ihn zu bemerken.

Er versucht es noch einmal. Greift nach dem Blumentopf und schmettert ihn mit voller Kraft gegen das Fenster. Doch alles, was zerbricht ist der Ton. Am Fenster bleibt nur eine hellrote Staubschicht zurück. Der Abdruck des letzten Versuchs.

Matthias bemerkt, dass es nicht funktioniert. Er sinkt vor dem Fenster auf die Knie und bricht in Tränen aus. Irgendwie muss es doch einen Weg hier raus geben. Irgendwie muss er doch einen Ausweg finden.

Plötzlich spürt er eine warme Umarmung von hinten.


Zwei Jahre später sitzen Matthias und Elisabeth an ihrem Tisch in der Kantine. Um sie herum stochern immer noch die krank wirkenden Kollegen in ihrem Essen herum. Eine handvoll der fünftausend Gesichter haben sich verändert, es sind die Neuen, die allerdings auch schon nach kurzer Zeit die Hoffnung auf ein freies Leben verloren haben. Aber für Matthias und Elisabeth gibt es auch in Gefangenschaft Träume und Wünsche, die man sich erfüllen kann. Sie unterhalten sich gerade über das neue Computersystem, mit dem beide ein paar Schwierigkeiten haben, doch das Gespräch wird durch ein Weinen unterbrochen.

Elisabeth steht auf, geht einmal um den Tisch herum und nimmt das drei Wochen alte Baby auf den Arm. Matthias erhebt sich ebenfalls, stellt sich vor seine Chefin und gibt seinem Sohn zur Beruhigung einen dicken Kuss auf die Stirn.


Wasser und Schlamm

Leon nahm sich das eingepackte Brot, den Apfel und eine Flasche Eistee und verstaute alles in seinem Rucksack. Die dünne Jacke band er sich um seinen Bauch. Er würde sie bei den Temperaturen erst einmal nicht brauchen. Dann ging er zu dem Gastwirt, der hinter seinem Tresen stand.

»Guten Morgen. Ich reise ab und möchte gerne zahlen.«

»Aber selbst verständlich. Das wäre die Übernachtung plus Abendessen, Frühstück und Proviant. Das macht insgesamt–«

»Stimmt’s so?«

Leon hielt dem Wirt einen 100 Euro Schein hin. Der ältere Mann griff danach und verstaute ihn in seiner Kasse.

»Das ist ein gutes Stück zu viel. Vielen Dank! Wohin geht’s denn weiter?«

»Heute möchte ich durch den Bockholtner Wald. In der Jugendherberge in Grieselspring habe ich mir bereits ein Zimmer gemietet. Das wird mein Ziel sein.«

»Das ist eine ganz schön lange Strecke, die Sie da vor sich haben. Und überhaupt sollten Sie im Bockholtner Wald aufpassen. Ein Teil des Waldes ist vor ein paar Jahren zu einem Moor mutiert. Niemand weiß warum oder kann es sich erklären. Jedenfalls ist es nicht so schlimm, wie man aus Märchen kennt, das ganze Menschen im Schlamm versinken, aber es haben sich schon viele Wanderer ihre Knochen gebrochen oder sind in die Teiche gefallen, weil sie den Weg nicht kannten.«

Leon runzelte die Stirn.

»Wie kann ich ihn umgehen?«

»Einfach auf dem Hauptweg bleiben. Dann passiert Ihnen nichts.«

»Na, das werde ich wohl schaffen. Vielen Dank, ich mach mich dann mal auf den Weg.«

»Viel Erfolg und gute Reise!«

Leon nickte dem Wirt zum Abschied zu und schulterte seinen Rucksack. Dann verließ er das Gasthaus.

Er war bereits seit einigen Tagen unterwegs. Wanderurlaub. Weit weg von richtigen Großstädten. Er nächtigte immer nur in kleineren Gasthäusern. Dort wurden die Kunden seiner Meinung nach noch wertgeschätzt und es musste sich Mühe gegeben werden, damit sie nicht von großen Hotelketten verschlungen wurden.


Als Leon auf den kleinen Parkplatz trat, schien ihm die Morgensonne direkt ins Gesicht. Es war angenehm warm. Sehr gemäßigt. Perfekt zum Wandern.

Er ging an den drei parkenden Autos vorbei, die einzigen Urlauber im Gasthaus und das obwohl Ferienhochzeit war. Nach einigen Metern bog er in den Wanderweg ein, an dem eine Karte auf einem Holzpflock angebracht war. 24 Kilometer lagen vor ihm. Neben dem Hauptweg gab es unzählige kleinere Wanderwege, doch er wollte dem Rat des Wirtes folgen und einfach auf dem Hauptweg entlang wandern.

Der Kieselweg vom Parkplatz wandelte sich nach einigen Metern zu einem platt getretenen Waldweg. Er war sehr eben und neben einigen Hügeln gab es in dem Wald fast keine Steigung. Durch die Baumkronen fiel kaum Sonnenlicht, sodass der schattige Wald nur selten von den Strahlen durchbrochen wurde. Leon genoss die Ruhe. Kein einziger Wanderer kam ihm entgegen.

Nach wenigen Stunden änderte sich der Wald. Um Leon herum lagen umgeknickte Bäume, teilweise auch auf dem Gehweg und abgebrochene Äste waren überall verteilt. Hier musste es vor wenigen Tagen einen Sturm gegeben haben. Es hatte auch einen sehr dicken Baum erwischt, der horizontal auf den Pfad gekippt war. Leon sprang leichtfüßig rüber, doch achtete nicht auf den stabilen Ast auf der anderen Seite. Als er aufkam knickte er mit seinem rechten Fuß um. Ein stechender Schmerz zog durch sein Bein und Leon unterband ein Schreien.

Keuchend ließ er sich auf den Stamm nieder und wartete einige Minuten. Doch der Schmerz in seinem Fuß nahm nicht ab. Er konnte unmöglich noch länger warten, sonst würde er erst tief in der Nacht an der Jugendherberge ankommen. Daher ging er weiter. Er humpelte. Jedes Mal, wenn er mit dem verletzten Fuß auftrat, durchzog ihn ein lähmender Schmerz. Auch beim Bewegen wurden die Schmerzen nicht weniger.

Er quälte sich zu einer Weggabelung, an der wieder ein Schild mit einer Wanderkarte stand und suchte seinen Standort. Er hatte ungefähr die Hälfte des Weges geschafft. Zwölf Kilometer noch. Mit kaum aushaltbaren Schmerzen. Leon fluchte innerlich. Der andere Weg war allerdings kürzer, bestimmt drei oder vier Kilometer müsste er weniger gehen.

Er holte sein Handy hervor und blickte auf die Uhrzeit. Es war Mittag. Extrem viel Zeit blieb ihm nicht mehr und in dem Tempo würde er die normale Wanderroute nicht schaffen. Der Hauptweg war sicher, allerdings würde er durch die Abkürzung im Moor viel Weg und Zeit sparen. Und so gefährlich konnte es nicht sein. Schließlich war es Sommer. Die Wege müssten getrocknet sein und die Teiche daher gut erkennbar.

Letztendlich entschied er sich den Weg zum Moor zu nehmen und humpelte weiter. Irgendwann wechselte der Wald zu einer wunderschönen Teichlandschaft. Überall waren kleinere Wassertümpel, an denen die Frösche quakten und Libellen ihre Runden zogen. Die wenigen Bäume und Büsche spendeten allerdings noch genug Schatten, sodass Leon nicht zu heiß wurde. Er versuchte die Schmerzen im Fuß zu ignorieren, doch sie brannten durchgehend und pochten in seinem Kopf. Es musste etwas Schlimmeres sein, als einfach nur ein umgeknickter Fuß.

Neben dem Weg, der, wie Leon vermutet hatte, aus getrocknetem Lehm bestand, fand er irgendwann eine Sitzbank, direkt neben einem kleinen See. Leon guckte kurz auf die Uhr und entschied sich dann, dass es eine gute Idee wäre, zu rasten. Also setzte er sich, aß und trank etwas und ließ die Sonne auf seinen Körper scheinen. Sogar die Schmerzen von seinem Fuß ließen ein wenig nach.

Dann kam ihm eine Idee. Er stand auf, setzte sich an das Ufer vom See, zog seine Schuhe und Socken aus und ließ seine Füße ins Wasser fallen. Eine angenehme Kälte breitete sich aus. Die Schmerzen verschwanden. Leon stützte sich mit seinen Händen ab und ließ seinen Blick auf den See schweifen.

Plötzlich fühlte er etwas Kaltes an seinen Händen und Beinen. Er schreckte auf und sah, wie sich eine Matschpfütze um ihn gebildet hatte. Dazu kam noch, dass es auf einmal unangenehm zu riechen angefangen hatte. Irgendwie süßlich und penetrant.

Als er aufstand, ertönte ein schmatzendes Geräusch zwischen ihm und dem Matsch. Dann bemerkte er es. Direkt neben sich, durch den flüssigen Matsch ans Ufer gespült, lag eine menschliche Hand. Verwirrt und angeekelt starrte Leon sie einige Momente lang an. Dann riss er sich aus seinen Gedanken, kletterte das Ufer wieder hoch, bis er am Weg ankam, zog sich Socken und Schuhe wieder an, packte seinen Rucksack und eilte den Weg weiter. Das Moor war ein Trugbild. Von wegen keine Tote. Der Wirt hatte doch keine Ahnung. Nach wenigen Schritten fingen die Schmerzen in seinem Fuß wieder an. Obwohl Adrenalin durch seinen Körper gepumpt wurde, verschwand der Schmerz nicht gänzlich.

Nach einigen Minuten endete der Gehweg in einen Bach, gute fünf Meter breit. Das Wasser war nicht tief, das konnte Leon sehen, allerdings wusste er nicht, ob er einsinken würde und was das für ihn bedeuten würde. Auf der anderen Seite konnte er den Wanderweg erkennen. Also folgte er dem Bach, in der Hoffnung, dass er irgendwo dünner werden würde. Er wollte es mit seinem verletzten Fuß nicht wagen weit zu springen. Zu Leons Verwunderung wurde der Bach allerdings immer breiter und breiter und machte einige Male einen Knick nach links, sodass Leon irgendwann wieder an der Sitzbank ankam.

Leon verstand es nicht. Der Fluss war doch auf dem Hinweg noch nicht dagewesen. Er eilte von der Bank weiter in die Richtung der Jugendherberge, doch stoppte schon nach einer Minute. Der Bach war einem Teich gewichen, ungefähr 30 Meter breit. Leon konnte nicht einmal mehr den Boden sehen. Sofort drehte er sich wieder um, wollte zurück ins Gasthaus, einen Arzt und die Polizei rufen, doch die Sitzbank vor ihm stand bereits bis zur Sitzfläche unter Wasser.

Wie konnte das sein? Es regnete nicht. Und trotzdem stieg das Wasser Zentimeter um Zentimeter und ließ Leon immer weniger Platz auf seiner Insel. Er war dort gefangen. Auf der Oberfläche erkannte er die starken Strömungen, die ihn unter Wasser reißen würden, wenn er versuchen würde, von der Insel hinunter zu schwimmen.

Die Fläche, auf der er stehen konnte wurde immer kleiner und matschiger. Sogar die Erde sog sich mit Wasser voll. Er ignorierte die Schmerzen in seinem Fuß und kletterte auf einen Baum. Dort setzte er sich auf einen Ast und holte sein Handy heraus. Kein Empfang. Wieso konnte die Technik nicht einmal funktionieren?

Der Fuß des Baumes war bereits von dem Wasser umspült. Nun gab es keine Insel mehr. Und das Wasser stieg und stieg. Egal wohin Leon guckte, überall war Wasser. Als wäre es einem Meer gewichen, nur das Bäume und Sträucher herausragten. Irgendwann konnte er nicht einmal mehr die Sträucher erkennen. Panisch kletterte er weiter nach oben, riss sich an der Rinde die Haut auf. Sein Fuß pochte ohne Pause. Die Wassermassen unter ihm waren ständig in Bewegung. An manchen Stellen sah er Wirbel, die Laub und Dreck in die Tiefe sogen.

Das Wasser stieg und stieg und Leon kletterte weiter nach oben, bald war er an der Spitze. Er griff nach einem Ast, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Doch dieser brach mit einem lauten Knacken ab. Leon versuchte sich zu halten, krallte mich mit den Fingern und Füßen an das Holz, doch verlor letztendlich das Gleichgewicht und stürzte in die tosende Flut.

Das Wasser riss ihn mit sich und wirbelte ihn umher. Es war warm, wärmer als es eigentlich sein konnte. Leon zappelte, er versuchte an die Wasseroberfläche zu schwimmen, doch er wusste nicht einmal wo sie war. Vor seinen Augen zog nur die trübe Flüssigkeit umher.

Gegen die Kraft der Wassermassen hatte er keine Chance. Der Druck in seinen Ohren stieg, die Luft in seiner Lunge wurde immer weniger. Könnte er doch nur sehen, wo er war.

Langsam wurde er nach unten gezogen. Unablässig rissen die Gezeiten an ihm. Das aufgeschäumte Wasser wandelte sich irgendwann in eine braune Mischung aus Dreck und abgestandener Flüssigkeit. Leon presste seine Augen zusammen. Der Druck wurde immer stärker. Er brauchte Luft! Luft! Luft!

Er atmete tief ein und spürte, wie das Wasser in seine Lungen drang. Es schmerzte, seine Lungen fühlten sich so an, als würden sie zerbersten. Er musste husten. Stark. Dann sog er wieder das Wasser ein. Dieses Mal war sogar Schlamm mit dabei. Er spürte, wie sich der Dreck in seiner Lunge absetzte und riss ein letztes Mal seine Augen auf. Auch durch sie floss der Schlamm, genauso wie durch die Nase und Ohren und füllten seinen Körper, seine Organe mit modrigem Sumpfwasser und Dreck. Schlamm und Wasser. Schlamm und Wasser. Druck auf den Ohren. Schlamm und Wasser. Leon wurde ruhig. Er sah nichts mehr. Er spürte nichts mehr. Er sank nur noch auf den Boden. Das Moor hatte ihn verschlungen. Hatte ihn in sich aufgenommen. Einverleibt.


Leon liegt am Ufer. Sonne fällt ihm ins Gesicht. Der Rest des Körpers ist von Schlamm bedeckt. Heute ist ein guter Tag. Er hofft, dass jemand seine Hand bemerkt und für einen Moment stehen bleibt, damit das Moor wieder etwas zu Fressen bekommt.


Die perfekte Rasur

Von seinem Esstisch konnte Heinz den Mann beobachten. Der Fremde trug ein Paket unter einem Arm, öffnete mit der anderen die Gartenpforte, ging zielstrebig durch den Garten und klingelte. Heinz blieb sitzen. Wieder so ein Vertreter. Versicherungen. Staubsauger. Was auch immer. So etwas brauchte Heinz nicht. Er biss von seinem Brötchen ab und kaute langsam drauf herum, hielt den Garten die ganze Zeit im Blick. Der Fremde klingelte noch einmal.

Nach einigen Sekunden verließ er wieder das Grundstück und verschwand aus dem Blickfeld von Heinz, allerdings hatte er das Paket nicht mehr dabei. Vielleicht war es doch nur ein Zusteller.

Heinz stand auf, ging zur Haustür, öffnete sie und betrachtete das Paket. Es war viereckig, nicht in der Größe eines Staubsaugers, aber auch nicht so klein, wie irgendeine Zahnpastaprobe. Ein Zettel war unter das Paket geklemmt worden. Er hob das Paket und den Zettel auf, legte es auf dem Küchentisch ab und setzte sich wieder vor sein Brötchen.

Zuerst las er den Zettel.

Sehr geehrter Heinz Olberding.

Sie wurden von unserem Unternehmen als einer der wenigen Tester für unser neues Gerät ausgesucht. Selbstverständlich müssen Sie an dem Test nicht teilnehmen, in dem Fall kommt einer der Mitarbeiter in einer Woche wieder und holt das Gerät wieder ab. Sollten Sie sich erfreulicherweise dazu entscheiden an dem Test teilzunehmen, dann werden Sie natürlich eine Entlohnung erhalten. Dafür müssen Sie dem Angestellten, der das Paket wieder abholt nur ein Zeichen geben und schon wird er sich Zeit für Sie nehmen. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung.

Unterschrieben war es von dem Geschäftsführer des Unternehmens. Eine echte Unterschrift, keine schlichte Kopie.

Heinz griff nach seinem Messer, mit dem er wenige Minuten vorher sein Brötchen geschmiert hatte und durchtrennte das Klebeband, damit er die Pappe aufklappen konnte. In dem Kasten lag ein Rasierer. Schlichtes Design, nichts besonderes.

Heinz verstand nicht, weshalb man sich wegen so einem Ding soviel Mühe machte. Schließlich könnte er sich dazu entscheiden nicht an dem Test teilzunehmen, aber den Rasierer trotzdem zu behalten. Ein Verlustgeschäft.

Er holte den Rasierer heraus und legte ihn ins Badezimmer. Er hatte eigentlich ein Gerät, das ohne Probleme funktionierte, aber vielleicht bekam er in der Woche einfach mal Lust auf etwas Neues.

Nachdem er die Pappschachtel weggestellt und den Frühstückstisch aufgeräumt hatte, ging Heinz zur Arbeit, wie jeden Tag. Abends kam er nach Hause, guckte noch ein wenig Fernsehen und ging dann schlafen.


Am nächsten Morgen war der Bart von Heinz so lang, dass er ihn sich wieder rasieren wollte. Er mochte es mit einem glattrasierten Gesicht vor das Haus zu treten. Im Badezimmer steckte er den Apparat in die Steckdose ein, doch es passierte nichts, als er den An-Knopf drückte. Heinz zog den Stecker raus und wieder hinein und versuchte es erneut. Wieder nichts.

Er probierte noch einige andere Möglichkeiten aus, doch der Rasierer blieb tot. Es war nicht verwunderlich, er hatte ihn bereits seit einigen Jahren und rasierte schon lange nicht mehr so gut, wie am ersten Tag. Trotzdem wollte er nicht unrasiert zur Arbeit fahren. Da kam das Testprodukt, das am gestrigen Abend abgegeben wurde, gerade recht.

Der Rasierer funktionierte genauso, wie der Alte. Heinz steckte ihn ein und schaltete ihn an. Er funktionierte, natürlich tat er das. Er stellte die kürzeste Länge ein und fing an sich behutsam zu rasieren. Das neue Modell war nicht halb so laut, wie das Vorherige und irgendwie fühlte es sich auch besser an.

Vielleicht war er einfach zu altmodisch und zu stur, um sich neue Dinge zu kaufen, aber bei diesem Gerät würde es sich wirklich lohnen. Als er sich nach dem Rasieren das Gesicht wusch und zum ersten Mal die Haut berührte durchzog ihn ein gewisses Gefühl der Befriedigung. Sie fühlte sich sanft und glatt an, wie schon seit Jahren nicht mehr.

Heinz war schon etwas älter, doch die Falten schienen wie weg gewaschen. Er blickte auf und betrachtete sich im Spiegel. Tatsächlich sah er irgendwie jünger aus, auch die Haut, die sonst immer durch gräuliche Flecken, kaum zu sehen, aber Heinz hatte es sehr gestört, befleckt war, hatte nun die gesunde Hautfarbe eines Kindes.

Motiviert und mit einem guten Gefühl ging er zur Arbeit. Dort machten ihm seine Kollegen viele Komplimente, sie waren wie verändert zu ihm, obwohl er einfach nur einen anderen Rasierer genutzt hatte. Er würde auf jeden Fall eine Rezension schreiben und sie würde so unfassbar gut ausfallen, dass man denken würde, man hätte Heinz bestochen, damit er das sagt. Gut gelaunt ging er schlafen. Sogar das Kissen fühlte sich viel besser an, irgendwie alles fühlte sich gut an.


Am nächsten Morgen wurde er jedoch von einem Kratzen geweckt. Sein gesamtes Gesicht juckte, Heinz wusste zuerst gar nicht, was los war. Dann stand er auf, ging ins Bad und wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Dieses Mal fühlte sich das Gesicht nicht so gut an. Auch das Jucken verschwand nicht. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und spürte, wie die Bartstoppeln an der Hand entlangglitten. Sie waren hart und rau.

Sonst immer hatte er sich alle paar Tage rasiert, aber so konnte er ja nicht raus gehen. Nicht seit gestern und den ganzen Komplimenten. Heinz schaltete den Rasierer an und fing an sich erneut zu rasieren, doch irgendwie kam das wohlige Gefühl vom vorherigen Tag nicht auf. Er fühlte sich sogar unwohler als sonst.

Das Jucken, von dem Heinz dachte, dass es von den wachsenden Haaren kommt, verschwand nicht und auch das Gefühl, dass dort irgendetwas war, als er mit der Hand über sein Gesicht fuhr wurde nicht weniger, egal wie oft er sich rasierte.

Heinz versuchte mit allen Mitteln dieses Gefühl loszuwerden. Er rasierte sich, fühlte, rasierte sich wieder, fühlte, rasierte sich und ganz plötzlich, nachdem er eine Stunde im Bad gestanden hatte, hatte er wieder das Gefühl. Das Gefühl von sanfter Haut, von einem glatten Gesicht, von einer perfekten Rasur.

Heinz zog sich um und verließ das Haus. Auf zur Arbeit. Im Vorgarten blieb er abrupt stehen. Irgendetwas stimmte nicht. Plötzlich kippte er einfach nach vorne. Ohne sich abzustützen knallte er auf den Kiesweg und eine Blutlache bildete sich um seinen Kopf. Die Fetzen, die früher einmal sein Gesicht waren, hingen in Strähnen von dem Kopf hinunter. Blutige Fleischklumpen, man konnte sogar die Zähne, Zahnfleisch und die Sehnen des Kiefers erkennen. Die Fetzen, die ganz und gar fehlten, lagen im Waschbecken des Badezimmers. Doch Heinz fühlte sich gut. Heinz hatte eine sanfte Haut. Eine perfekte Rasur.


Im Land der Gesetze

Mein Wecker klingelt um sechs Uhr achtundvierzig. Ich lasse ihn klingeln. Einmal. Zweimal. Nach dem dritten Mal schalte ich ihn aus. Wenn er öfter als drei Mal klingeln würde, dann würde er gegen das Weckgesetz verstoßen. Wecker dürfen nicht vier Mal klingeln. Wenn der Wecker ein oder zweimal klingelt, ist das noch vertretbar, wird allerdings auf privaten Grundstücken nicht gerne gesehen.

Ich stehe auf, trage ein schwarzes Shirt und eine kurze, schwarze Hose. Es sind die nach dem Kleidungsgesetz festgelegten Schlafkleidungen. Nach sieben Uhr darf sie niemand mehr tragen, daher ziehe ich mir eine schwarze Jeans und ein weißes Hemd an. So sind die Kleiderordnungen nach dem Kleidungsgesetz nun mal. Man hat sich daran zu halten.

Ich gehe in meine Küche, suche mir eine der blauen Schüssel heraus und stelle sie auf den Tisch. Eigentlich muss ich sie gar nicht suchen. Ich habe nur blaue Schüsseln. Mein Nachbar hat mir letztens seine Schüsselsammlung gezeigt. Er hat rote Schüsseln, aber die gleiche Küche. Ich finde meine Schüsseln besser.

Ich fülle Haferflocken in die Schüssel. Genau einhundertfünfundzwanzig Gramm. Soviel darf ich morgens essen. Das Ministerium für Nahrung und Ernährung misst jeden Monat die Größe und das Gewicht der Bürger nach, um die Rationen fair verteilen zu können.

Ich greife nach einer Milchtüte und messe den Inhalt in einem Becher. Es sind genau zweihundert Milliliter. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe noch nie Milch weggelassen, geschweige denn mehr getrunken, als ich durfte. Das würde schließlich gegen das Ernährungsgesetz verstoßen. Und das würde nun wirklich zu weit gehen.

Ich setze mich auf den Stuhl an meinem Frühstückstisch in meinem Frühstückszimmer. Hinter mir befindet sich das Bücherregal mit den alten Gesetzbüchern. Es reicht einmal um den gesamten Raum herum und geht bis an die Decke. Und das sind gerade mal die Bücher aus dem letzten Jahr. Aber für was soll man seinen Lohn sonst ausgeben, außer für Sexspielzeug aus Bobbys Begattungs- und Bestattungsshop und für Gesetzbücher.

Ich esse meine Haferflocken. Mal mache ich meinen Löffel sehr voll, mal sehr wenig. Mal kaue ich langsam, mal schlinge ich den Hafermatsch einfach hinunter. Es ist ein Genuss so essen zu dürfen, wie man will. Dafür gibt es nämlich noch kein Gesetz. Wichtig ist nur, dass man etwas isst.

Ich esse meine Schüssel leer und wasche sie sofort ab. Nach dem Reinigungsgesetz darf schmutziges Geschirr nicht länger als zehn Minuten an der freien Luft liegen. In der Gastronomie dürfen es fünfzehn Minuten sein. Dafür muss das Geschirr auch einen höheren Sauberkeitsstatus erreichen, als in einem privaten Haushalt.

Ich ziehe mir mein schwarzes Sakko über und verlasse mein Haus. Meine Nachbarn gehen ebenfalls an die frische Luft. Erst begrüße ich den Rechten, Herrn Mueller, dann den Linken, Herrn Mühler. Das gehört sich so.

In einer Reihe gehen wir in die Richtung der Bahnstation. Wir reden nicht, denn das würde uns von unseren Gedanken an die Arbeit ablenken. Für Smalltalk gibt es jeden Tag um dreizehn Uhr die Smalltalk Pause. Dort sind allerdings nur oberflächliche Fragen gestattet. Vor einigen Jahren wurde das Kommunikationsgesetz eingeführt, weil es viel zu viele Menschen gab, die Hass verbreitet haben oder uns mit tiefsinnigen Fragen verwirrt haben. So etwas hat der Wirtschaft drastisch geschadet und wenn der Wirtschaft geschadet wird, ist das nicht gut.

Hass und Neid. So etwas gibt es in unserer Gesellschaft nicht mehr.

Am Bahnsteig entdecke ich ein Kaugummi auf dem Boden. Ich betaste es. Mir fällt auf, dass es erst seit einigen Minuten dort liegen muss. Für so etwas habe ich einen Kurs gemacht. Einen vom Bahnhofsleiter gesponserten Kurs, um erkennen zu können, wie lange etwas auf dem Boden liegt. Der Umwelt zuliebe. Und für einen schönen Bahnhof. Niemand mag hässliche Bahnhöfe.

Ich löse mich von der Reihe, die weiter in Richtung der Gleise geht und stelle mich vor einen Anzeigeroboter.

»Hallo. Bitte stecken Sie Ihre Identifikationskarte in den Schlitz über dem rot blickenden Licht.«

Ich hole meine Geldbörse aus meiner Tasche. Neben 37 Euro und 25 Cent habe ich auch meine Identifikationskarte mitgenommen. Ich hole sie heraus und schiebe sie in den Schlitz.

»Hallo, Bürger Nummer 018AG74-834HBT. Bitte wählen Sie das Verbrechen aus, das Sie melden wollen.«

Der Anzeigeroboter ist glücklicherweise auf den Bahnhof eingestellt, sodass auf dem großen Bildschirm von Anfang an die Option Verschmutzung von Bahnhofseigentum durch Kaugummis vorhanden ist. Ich bestätige meine Auswahl und gebe an, dass es ein unbekannter Täter war, der den Boden verschmutzt hatte.

Dann gehe ich zu meinem Bahngleis. Meine Nachbarn und Freunde stehen in Zweierreihen vor den Gleisen und warten auf die Einfahrt des Zuges. Sie dürfen nicht alleine dort stehen. Geschweige denn in Dreier- oder Viererreihen. Es gibt zwar kein Gesetz vom Staat aus, jedoch ist die Bahnhofsordnung auf Bahnhöfen schon sehr wichtig.

Ich stelle mich neben einen nervösen Burschen. Er seufzt erleichtert, denn wenn er weiterhin alleine gewesen wäre, hätten ihn die Sicherheitsleute mitgenommen.

Der Zug fährt ein. Man hört das Quietschen der Reifen. Normalerweise bleibt der Zug mit den Türen direkt vor den Reihen stehen, doch als sich die Türen öffnen und die ersten beiden einsteigen wollen, stößt sich einer die Schulter. Er schreit laut auf und bricht zusammen.

Sofort kommt ein Sicherheitsmann angelaufen und zerrt den jungen Schaffner aus seiner Kabine. Er hat zu spät gebremst und somit das Leben von vielen Menschen gefährdet.

Der Schaffner versucht sich loszureißen. In seiner Ausbildung muss man ihm erzählt haben, was mit Menschen passiert, die Fehler machen. Was mit Versagern passiert. Unter der Treppe öffnet sich eine Tür und ein neuer Schaffner kommt heraus. Der Verkehr wird schnell wieder fortgesetzt.

In dem Zug bekommt jeder einen Sitzplatz. Früher war das nicht so. Früher, als man sich noch entscheiden konnte, wohin man fährt. Es war eine schlimme Zeit.

An der Endstation steige ich aus und schließe mich der Reihe an, die in die Richtung des Bürogebäudes geht, in das ich auch muss.

Jeder trägt eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und ein schwarzes Sakko. Es sieht toll aus. Niemand fühlt sich besser als der andere. Niemand ist besser als der andere. Es ist alles gut.

Morgen ist Freitag. Es ist der einzige Tag in der Woche an dem man frei hat. Dort kann man sich zu einem großen Teil entscheiden, was man macht. Geht man ins Schwimmbad? Geht man ins Kino? Oder geht man doch lieber auf den Rummelplatz?

Diese drei Möglichkeiten gibt es. Nicht mehr und nicht weniger. Und für jede Möglichkeit gibt es ein eigenes Gesetzbuch. Ich habe jedes doppelt, weil mir die Einbände so gut gefallen.