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Die Herausgeberinnen

Irmgard Döringer, Diplom-Psychologin, Studienabschluss an der TU Darmstadt mit den Studienschwerpunkten Entwicklungspsychologie, pädagogische Psychologie und klinische Psychologie. Weiterbildung in entwicklungsorientierter Familientherapie nach Virginia Satir. Approbation als Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Seit 1988 als Therapeutin im Autismus-Therapieinstitut Langen bei Frankfurt tätig, ab 2002 in Leitungsfunktion. Unter ihrer Leitung wurde das Frühtherapieprogramm des Autismus-Instituts Langen aufgebaut. Sie ist Gründungsmitglied der Fachgruppe Therapie beim Bundesverband autismus Deutschland und als Referentin von Vorträgen und Seminaren zum Thema Autismus, insbesondere in den Bereichen Früherkennung und Ausbildung/Beruf, tätig. Sie ist Autorin von Artikeln und Fachbüchern zum Thema Autismus.

Barbara Rittmann, Diplom-Psychologin, Abschluss an der Universität Hamburg, Studienschwerpunkte Gesprächspsychotherapie, Kinderpsychotherapie und Selbsthilfegruppen; Approbation als Psychologische Psychotherapeutin; Weiterbildung in integrativer Paar- und Familientherapie bei Martin Kirschenbaum; seit 1987 als Therapeutin am Hamburger Autismus Institut, seit 2009 als Leiterin und Geschäftsführerin. Sie hat das »Hamburger Multimodale Modell der Autismustherapie« entwickelt und ist Gründungsmitglied der Fachgruppe Therapie beim Bundesverband autismus Deutschland. Als freiberufliche Referentin von Vorträgen und Seminaren im In- und Ausland schult sie in allen Bereichen des Autismus und ist Autorin und Herausgeberin von Artikeln und Fachbüchern zum Thema Autismus.

Irmgard Döringer
Barbara Rittmann (Hrsg.)

Autismus: Frühe Diagnose, Beratung und Therapie

Das Praxisbuch

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035163-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035164-6

epub:    ISBN 978-3-17-035165-3

mobi:    ISBN 978-3-17-035166-0

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

 

Andiel-Herche, Martina, Heilpädagogin, Diplom-Sozialpädagogin, lizenzierte Marte-Meo-Supervisorin, Heilpädagogische Kindertagesstättenfachberatung für eine Frühberatungsstelle

Arden, Deborah, Freie Autorin und Mutter eines Sohnes mit Asperger-Syndrom

Aschermann, Magdalena, Sonderpädagogin, M. Ed., Arbeitsschwerpunkt Unterstützte Kommunikation, Therapeutin am Hamburger Autismus Institut

Conev, Swantje, Psychologin B. Sc., Therapeutische Leiterin Standort Hamburg – Altona, Hamburger Autismus Institut, Arbeitsschwerpunkt Autismus-Frühtherapie Hamburger START-Programm

Courant, Johannes, Asperger-Autist, Diagnose im 5. Lebensjahrzehnt, engagiert im Bereich Asperger-Autismus über SHG seit 2015

Döringer, Irmgard, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, Gesamtleitung Autismus-Therapieinstitut Langen und Mitglied der Fachgruppe Therapie des Bundesverbands Autismus Deutschland

Eberhardt, Oliver, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Referent für Fortbildungstätigkeiten, Therapeut am Hamburger Autismus Institut und in eigener Praxis

Lamaye, Susanne, Diplom-Pädagogin, Systemische Therapeutin und Marte-Meo-Supervisorin, Regionalleitung Autismus-Therapieinstitut Langen

Preißmann, Christine, Dr., Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Autismus-Sprechstunde für erwachsene Menschen mit Autismus, Vorträge und Seminare zum Thema Autismus im In- und Ausland, selbst betroffen vom Asperger-Syndrom

Rickert-Bolg, Wolfgang, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Leiter des Autismus-Therapiezentrums Osnabrück, Ausbildung in Integrativer Therapie, Mitglied der Fachgruppe Therapie des Bundesverbands Autismus Deutschland, bundesweite Fortbildungstätigkeit

Rittmann, Barbara, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Leiterin des Hamburger Autismus Instituts, Ausbildung in Gesprächstherapie und systemischer Paar- und Familientherapie, Mitglied der Fachgruppe Therapie des Bundesverbands Autismus Deutschland, Fortbildungstätigkeit im In- und Ausland

Teune, Christine, Diplom-Psychologin, Ergotherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, bundesweite Vorträge, Workshops und Seminare zum Thema Autismus/Autismusdiagnostik

Trikojat-Klein, Stefanie, Heilpädagogin und Autismustherapeutin (DGVT) in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, bundesweite Vorträge und Workshops zum Thema Autismus

Wohlleben, Bärbel, Dr. rer. medic., Diplom-Psychologin, Stellv. Vorsitzende von Autismus Deutschland, LV Berlin e. V., koordinierende Leiterin der Angebote des Landesverbandes, Fortbildungstätigkeit im In- und Ausland

Zacher, Lars, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, psychologische Begleitung und Beratung von Kindertageseinrichtungen zur Arbeit mit und Förderung der Teilhabe von Kindern des Personenkreises § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII

Geleitwort

 

 

 

Das vorliegende Buch befasst sich mit der frühen Diagnostik und frühen Therapie von Kindern aus dem Autismusspektrum. Die Relevanz des Themas ist selbst im erwachsenenpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Alltag, dem ich entstamme, ständig spürbar. »Inwiefern denn das?« mag man sich fragen, und das braucht zumindest eine kleine Erklärung:

Im erwachsenenpsychiatrischen Bereich bildet sich derzeit eine große diagnostische Lücke ab, die dadurch entstanden ist, dass sich die Autismusdiagnostik noch bis in die 1990er Jahre hinein weitgehend auf frühkindliche, schwer betroffene Formen von Autismus fokussiert hat. Insbesondere vor 1985 geborene, hochfunktionale Autisten wurden als Kinder häufig nicht als solche diagnostiziert und dementsprechend auch nicht spezifisch gefördert. Meist gestalten sich die Biographien nicht ganz so schwierig wie diejenige des 60-jährigen Hamburgers, der seit seiner Schulzeit das Haus nicht mehr verlassen hatte1; die Lebensherausforderungen für die spät- oder nicht-diagnostizierten Autisten sind dennoch oft immens und führen sehr häufig zu sekundären psychiatrischen Erkrankungen. Etwa die Hälfte der Betroffenen erleidet beispielsweise (mindestens) eine depressive Episode noch im jungen Erwachsenenalter2. In manchen Fällen scheint es aus meiner Sicht fast so, als sei der Autismus selbst das kleinere Problem, vergleicht man ihn mit den »Sekundärschäden«, die einige Autisten aus Familie, Schule, Ausbildung und Beruf aufgrund des unerkannten Autismus und der fehlenden frühen Förderung davongetragen haben. Insofern ist das Thema der frühen Diagnostizierung und Therapie – als Lücke – auch für den Erwachsenenpsychiater von großer Bedeutung.

Rückblickend kann man mit den Spätdiagnostizierten oft darüber sprechen, was sie als Kinder und Jugendliche gebraucht hätten, um besser ins Leben zu finden, und was die Ziele sind, an denen sich eine frühe Förderung orientieren kann. Ein paar Punkte werden dabei immer wieder genannt: Im Zentrum steht oft das Bedürfnis, besser verstanden zu werden in ihren Eigenheiten, Bedürfnissen, Schwächen und Stärken. Autistisches Verhalten wird beispielsweise oft als Angriff fehlinterpretiert und dementsprechend aggressiv beantwortet. Um in der Terminologie zu bleiben: Viele Menschen mit Autismus wünschen sich von ihrer Umgebung mehr »Theory of the (autistic) mind«. Auch ein besseres Verstehen von Reizüberflutungsphänomenen und dem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit wird oft genannt. Im Umgang mit spätdiagnostizierten Autisten begegnet einem sehr häufig eine Vorgeschichte von Schuldzuweisungen und in Aggression verwandelter Hilflosigkeit. Bei fehlender Diagnose und Unterstützung wird nicht selten den Eltern (auch von professioneller Seite) ein Erziehungsversagen unterstellt oder den Kindern selbst, dass sie sich »nur blöd anstellen«. Auch dass diese Schuldzuweisungen gar nicht erst aufkommen, kann durch frühe Psychoedukation gewährleistet werden. In Anbetracht der langen Reihe von Negativerfahrungen mit Gleichaltrigen, die berichtet werden, ist auch ein effektiver Schutz vor Mobbing ein retrospektiv oft genanntes Ziel. Neben der Förderung autistischer Stärken und frühen Hilfen im Stressmanagement wird auch immer wieder der retrospektive Wunsch nach kleinschrittiger Heranführung an »neurotypisches Sozialverhalten« genannt. Vielleicht können die genannten Wünsche als »Leitstern« dienen, wohin eine frühe Therapie die Betroffenen bringen soll.

Für viele Spätdiagnostizierte ist ganz klar, dass sie sich eine frühe Diagnose und Förderung gewünscht hätten. Quintessenz aus Sicht des Erwachsenenpsychiaters ist damit: Frühe Diagnosen und frühe Förderung können das Leben von Menschen mit Autismus in tiefster Weise positiv beeinflussen. Und zwar gerade dann, wenn sie nicht nur im Sinne einer »Normalisierung« auf das Verhalten und Erscheinungsbild der Kinder abzielen, sondern sich vor allem in den Dienst der Tragfähigkeit ihrer Beziehungen, der Förderung ihrer Stärken und der Entwicklung eines gesunden Identitätsgefühls stellen. Aus diesem Grund wünsche ich dem Buch viele interessierte und geneigte Leserinnen und Leser.

Freiburg im November 2019

Priv.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel

1     Kurz & Ishorst-Witte; Hamburger Ärzteblatt 2018, 72.

2     Hofvander et al.; BMC Psychiatry 2009, 9.

Inhalt

  1. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  2. Geleitwort
  3. Vorwort und Vorbemerkungen der Herausgeberinnen
  4. Teil I Frühe Diagnose – frühe Hilfe
  5. 1   Keine Zeit vergeuden: Früherkennung von Autismus-Spektrum-Störungen
    Irmgard Döringer
  6. 2   »Das verwächst sich schon …!« Besonderheiten bei der Diagnosestellung
    Christine Teune und Stefanie Trikojat-Klein
  7. 3   Komorbidität und Differenzialdiagnostik
    Irmgard Döringer
  8. 4   Entwicklungspsychologische Aspekte in der Frühtherapie bei Kindern im Autismus-Spektrum
    Bärbel Wohlleben
  9. Teil II Theorie für die Praxis
  10. 5   Ethische Überlegungen zu autismusspezifischen therapeutischen Frühinterventionen
    Wolfgang Rickert-Bolg
  11. 6   Vorkommen, Geschlechterverteilung und Ursachen
    Barbara Rittmann
  12. 7   Systemische Aspekte in der Frühtherapie von Kindern mit Autismus
    Susanne Lamaye
  13. 8   Bindung und Autismus
    Irmgard Döringer
  14. 9   Kindliche Grundbedürfnisse und Autismus
    Barbara Rittmann
  15. 10 Motivation zum sozialen Lernen bei Autismus
    Barbara Rittmann
  16. 11 Besondere Entwicklungsaufgaben für autistische Kinder und ihre Eltern
    Barbara Rittmann
  17. 12 Beziehungsbedürfnisse der Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung
    Oliver Eberhardt
  18. Teil III Grundlagen der Frühtherapie
  19. 13 Kind, Eltern, Umfeld – eine Einordnung der Frühtherapie in ein therapeutisches Gesamtkonzept
    Barbara Rittmann
  20. 14 Rahmenbedingungen der Autismus-Frühtherapie
    Barbara Rittmann
  21. Teil IV Methodisches Vorgehen in der Frühtherapie beim Kind
  22. 15 Basismethoden
    Barbara Rittmann
  23. 16 Therapieplanung und Methoden der Evaluation
    Barbara Rittmann
  24. 17 Bedeutung des Behandlungsbeginns für eine gelingende Interaktion
    Barbara Rittmann
  25. 18 Entwicklungsbereiche und Interventionen
    Barbara Rittmann
  26. 19 Der TEACCH-Ansatz und Methoden der Unterstützten Kommunikation
    Magdalena Aschermann
  27. 20 »Es kostete Kraft, aber es hat sich sehr gelohnt!« Falldarstellung über einen gemeinsamen Wachstumsprozess von Vater und Sohn in der Frühtherapie
    Swantje Conev
  28. Teil V Eltern- und Familienorientierte Interventionen
  29. 21 Elternberatung
    Barbara Rittmann
  30. 22 Marte Meo – ein videogestütztes Beratungsangebot
    Martina Andiel-Herche und Susanne Lamaye
  31. 23 Elterntraining in der Frühtherapie
    Susanne Lamaye
  32. 24 Wehret den Anfängen – Umgang mit autistischem Kontrollverhalten im Kleinkindalter
    Wolfgang Rickert-Bolg
  33. 25 Der Held und seine Kriegerin – Geschichte einer Mutter
    Deborah Arden
  34. 26 Geschwister autistischer Kinder
    Oliver Eberhardt
  35. Teil VI Zusammenarbeit mit Kindergarten und Schule
  36. 27 »Wie sage ich es den Eltern?« Den Autismusverdacht in der Kita ansprechen
    Barbara Rittmann
  37. 28 Gute Rahmenbedingungen in der Kita
    Lars Zacher
  38. 29 Ein gelungener Übergang von der Kita in die Grundschule
    Barbara Rittmann
  39. Teil VII Perspektivwechsel – Autismus aus Sicht von Menschen im Spektrum
  40. 30 »Das kann ich nicht, aber dafür kann ich ganz viel anderes« – Rückblick auf eine Kindheit mit Autismus
    Christine Preißmann
  41. 31 »Was wäre gewesen, wenn …?« – Rückblick eines Autismus-Betroffenen mit später Asperger-Diagnose
    Johannes Courant
  42. Anhang
  43. Therapieraumausstattung
  44. Therapiematerialien und Medien
  45. Sammlung geeigneter Fingerspielreime und Kinderlieder
  46. Hilfen durch Visualisierung
  47. Nützliche Informationen und Web-Adressen
  48. Gelerntes auf den Alltag übertragen – Therapiefortschritte in der Familie und in der Kita verankern
  49. Empfehlenswerte Autismus-Literatur zum Thema
  50. Anhang zu Kapitel 23
  51. Stichwortverzeichnis

Vorwort und Vorbemerkungen der Herausgeberinnen

 

 

 

Die in diesem Buch geschilderten Konzepte, Vorgehensweisen und Methoden für die Autismus-Frühtherapie haben sich aus den Erfahrungen zweier großer Autismus-Therapiezentren (ATZ) in Deutschland entwickelt, die von uns beiden Herausgeberinnen seit vielen Jahren geleitet werden: dem Autismus-Therapie-Institut Langen in Hessen (Irmgard Döringer) und dem Hamburger Autismus Institut (Barbara Rittmann). Als Leiterinnen dieser zwei Autismus-Therapiezentren arbeiten wir wiederum vernetzt und eingebettet im Rahmen der bundesweiten Autismus-Therapiezentren und der Fachgruppe Autismus-Therapie3 unter dem Dach des Bundesverbands autismus Deutschland e. V. mit vielen Kollegen zusammen. Auch diese Erfahrungen sind in die geschilderten Konzepte und ihre Einordnung eingeflossen. 

Unser gemeinsames Ziel ist es, den Familien eine möglichst früh einsetzende und interaktionsbasierte Autismus-Frühtherapie anzubieten und dadurch die Entwicklungschancen der Kinder zu verbessern. Uns verbindet dabei eine ressourcenorientierte Grundhaltung, mit der wir in jedem Einzelfall versuchen, eine gute Balance zwischen der Veränderung des Autismus beim Kind und den Notwendigkeiten, die Umfeldbedingungen an die Bedarfe des Kindes mit Autismus anzupassen, zu finden (image Kap. 5). Als (Mit-)Entwicklerinnen der Frühtherapiekonzepte der jeweiligen Einrichtung (Hamburg: START-Programm; Langen: Familienorientierte Frühtherapie – FOFT) sind wir bereits im jahrelangen angeregten Austausch miteinander. Die Konzepte beider Einrichtungen ähneln sich in vielem, aber es gibt auch unterschiedliche Schwerpunkte der frühtherapeutischen Arbeit. Sie sind zum Teil historisch gewachsen oder beispielsweise aufgrund regionaler behördlicher Bedingungen entstanden.

Aus diesen Gründen ist es uns einerseits möglich, sehr viele gemeinsame Konzepte, Vorgehensweisen und Methoden zu schildern, andererseits aber auch spezielle Herangehensweisen herauszustellen, die für interessierte Eltern und Fachkräfte anregend sein können. Zahlreiche Autoren haben uns durch Artikel über ihre Spezialgebiete unterstützt und bereichern das Buch durch sehr facettenreiche Darstellungen. Ausgehend von der Schilderung von Früherkennungszeichen (auch im Vergleich zur neurotypischen Entwicklung) und dem diagnostischen Vorgehen (image Teil I) beschreiben wir im Hauptteil des Buches Theorie, Grundlagen und Praxis der Autismus-Frühtherapie (image Teil II–IV). Eigene Kapitel haben wir der Darstellung eltern- und familienbezogener Interventionen – auch aus Elternsicht – und der Zusammenarbeit mit Kita und Schule (image Teil V und image Teil VI) gewidmet. Wichtig waren uns darüber hinaus auch die Erinnerungen und Einschätzungen von jetzt erwachsenen Menschen im Spektrum in Bezug auf ihre Kindheit (image Teil VII).

Viele Eltern, die nach einer langen diagnostischen Odyssee zu einem ATZ kommen, sind dankbar dafür, dass sie dort mit ihren Sorgen und Ängsten, die sich doch von Eltern nicht autistischer Kinder unterscheiden, wahrgenommen werden und sie spezifische Hilfen einholen können (image Kap. 12). Eltern sagen uns oft: »Jetzt haben wir das Gefühl, angekommen zu sein«.

Für dieses Ankommen ist es jedoch erforderlich, dass die Anzeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung früh erkannt werden und die Familien – auch bei einer begründeten Verdachtsdiagnose – Zugang zu spezifischen Hilfen erhalten.

Wir möchten dazu ermutigen, die Diagnose da, wo es möglich ist, früher als derzeit vielerorts in Deutschland üblich zu stellen. Und wir möchten mit diesem Buch alle an einem solchen Prozess Beteiligten (Erzieherinnen, Frühförderer, Ärzte und andere im Rahmen der frühen Hilfen Tätigen) dazu motivieren, Familien auf diesem Weg zu begleiten.

Vorbemerkungen zu Begriffsklärungen

Genderbezeichnung: Wegen der besseren Lesbarkeit verwenden wir bei allgemeinen Aussagen die männliche Form, gehen aber davon aus, dass sich alle Genderidentitäten genauso angesprochen fühlen.

Fallbeispiele anonymisiert: Die Namen der Kinder oder Personen wie auch einige für die Darstellung nicht relevante Daten sind wegen der notwendigen Anonymisierung verändert worden.

Autismusbegriff: In der Gemeinschaft der Fachleute und Community der Personen im Autismus-Spektrum gibt es zum Teil unterschiedliche Auffassungen, wie die angemessene Bezeichnung für Menschen mit Autismus wäre. Verwendung finden die Bezeichnungen: autistische Personen, Personen mit Autismus, Autisten, Personen im Autismus-Spektrum, Personen mit ASS, vom Autismus betroffen etc. Welche Bezeichnung einem selbst am passendsten erscheint, hängt einerseits vom eigenen Sprachgefühl und andererseits vom Blickwinkel (z. B. Fachkraft oder Selbstbetroffener) ab. Wir plädieren an dieser Stelle für Vielfalt und haben jedem Autor die Wahlfreiheit gelassen.

Autistisch – neurotypisch: In der Autismus-Community hat sich der Begriff »neurotypisch«, als Bezeichnung für die Menschen, die nicht autistisch sind, zunehmend durchgesetzt. Es sei dahingestellt, ob nichtautistische Menschen alle im Wortsinn neurotypisch sind, aber wir fanden den Begriff ausreichend anerkannt und praktikabel als Abgrenzung der autistischen Entwicklung zur üblichen, regelhaften, altersgemäß zu erwartender Entwicklung von Kindern.

Junge Kinder: Vom Rechtsanspruch auf eine Autismus-Therapie her sind alle Kinder vor der Einschulung Vorschulkinder, auch die Babys und Kleinkinder. Da der Begriff Vorschulkinder in dieser Weise aber nicht im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, sprechen wir in der Regel von jungen Kindern. Dabei meinen wir in der Regel Kinder zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr. Wenn wir speziell Vorschulkinder meinen, werden diese natürlich auch so benannt.

Diskussion um Hans Asperger: Seit einigen Jahren wird vermehrt über die Rolle von Hans Asperger, dem Namensgeber des »Asperger-Syndroms«, im Dritten Reich diskutiert4. Entgegen früherer Einschätzungen scheint er eine aktive Rolle bei der Überweisung von Kindern in die berüchtigte Euthanasieanstalt »Am Spiegelgrund« in Wien gespielt zu haben. Als Herausgeberinnen verwenden wir deshalb den Begriff »Asperger-Syndrom« sehr zurückhaltend und geben dafür dem in den letzten Jahren synonym verwendeten Begriff »hochfunktionaler Autismus« den Vorrang.

Irmgard Döringer

Barbara Rittmann

3     Steinhaus, M. (2014). Gründung einer »Fachgruppe Therapie« innerhalb des Bundesverbandes Autismus Deutschland e. V. Bundesverband autismus Deutschland, autismus, 78, 8–10. 

4     Wikipedia. Hans Asperger. Zugriff am 26.07.2019 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Asperger.

Teil I    Frühe Diagnose – frühe Hilfe

1          Keine Zeit vergeuden: Früherkennung von Autismus-Spektrum-Störungen

Irmgard Döringer

1.1 Einleitung

1.2 Früherkennung – oft spät

1.3 Erste Früherkennungszeichen

1.4 Neue Wege in der Forschung zur Früherkennung

1.5 Was macht Früherkennung so schwierig?

1.6 Einige Ergebnisse neuerer Studien für das erste Lebensjahr

1.6.1 Blickverhalten I: Soziale Orientierung

1.6.2 Blickverhalten II: Visuelle Wahrnehmung

1.6.3 Das andere Gehirn

1.7 Warum ist Früherkennung so wichtig?

1.8 Aktuelle Empfehlungen zur Früherkennung: S3-Leitlinien

1.8.1 Autismus nach ICD und Autismus-Spektrum-Störung: Begriffsklärung

1.8.2 Ab wann ist eine Autismusdiagnose sicher zu stellen?

1.8.3 Früherkennung: Verbesserungsbedarf

1.8.4 Früherkennungszeichen in den ersten 12 Monaten

1.8.5 Früherkennungszeichen: 12–18 Monate

1.8.6 Früherkennungszeichen 18–24 Monate

1.8.7 Früherkennungszeichen ab 24 Monaten

1.8.8 Frühsymptome des hochfunktionalen Autismus

1.9 Screening-Instrumente

1.10 Fazit

Literatur

1.1       Einleitung

Viele Eltern autistischer Kinder nehmen schon im ersten Lebensjahr Auffälligkeiten in der Entwicklung ihrer Kinder wahr. Bereits im Säuglingsalter scheinen autistische Kinder anders als andere Babys zu sein. Während Babys normalerweise mit wenigen Wochen lächeln, wenn sie in ein Gesicht sehen und sich so ihre Umwelt erobern, stellt sich dieses »soziale Lächeln« bei autistischen Babys spät bzw. gar nicht oder nur in deutlich verminderter Form ein. Autistische Kleinkinder zeigen wenig Interesse an sozialen Spielen, brabbeln weniger und die verbale und nonverbale Kommunikation entwickelt sich nicht altersgerecht. Sie nehmen von sich aus kaum Blickkontakt auf, wirken manchmal mit sich selbst zufrieden. Sie scheinen gleichgültig gegenüber körperlicher Zuwendung oder machen sich steif, wenn sie auf den Arm genommen werden. Manche Eltern beschreiben ihre Kinder als autonom und anspruchslos, sie haben das Gefühl, dass ihre Kinder sie nicht brauchen. Andere Eltern wiederum beschreiben ihre Kinder im ersten Lebensjahr als besonders reizbar, sie scheinen empfindlich gegenüber manchen Geräuschen oder essen nur Speisen die eine bestimmte Konsistenz haben. Auch das Schreien der Babys scheint anders, ein typischer Signalcharakter wie z. B. »Hunger«, »Durst« etc. ist für ihre Eltern oft nicht erkennbar. Viele autistische Babys haben darüber hinaus einen ungewöhnlichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Eltern autistischer Kinder stehen also von Anfang an vor besonderen Herausforderungen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, dass diese vor dem Hintergrund einer autistischen Entwicklung bestehen.

Nicht bei allen autistischen Kindern sind die oben beschriebenen Auffälligkeiten jedoch im ersten Lebensjahr sehr ausgeprägt und auch nicht autistische Kinder zeigen die eine oder andere der oben beschriebenen Verhaltensweisen. Gerade bei den eher als ruhig beschriebenen Kindern werden Kinderärzte erst durch das Ausbleiben bestimmter Meilensteine der Entwicklung im Laufe des dritten Lebensjahres aufmerksam, dazu gehören z. B. eine nicht altersgerechte Sprach- und Spielentwicklung, Auffälligkeiten in der sozialen Bezugnahme (reagieren nicht, wenn sie gerufen werden, lenken die Aufmerksamkeit anderer Personen nicht auf sich oder Gegenstände, die für sie interessant sind) oder das nicht mehr altersgemäße Festhalten an Ritualen. Und erst dann beginnt ein meist langwieriger Prozess der Abklärung der Ursachen dieser Entwicklungsabweichungen. Von den ersten Beobachtungen der Eltern bis zur Diagnose »Autismus« vergehen nicht selten mehrere Jahre, die für eine autismusspezifische Frühtherapie verloren gehen.

1.2       Früherkennung – oft spät

In Deutschland hinkte die Früherkennung von Autismus lange Zeit im Vergleich zu anderen westlichen Staaten hinterher. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie zur Früherkennung und Frühdiagnostik zeigte in Deutschland folgende Situation: Kinder mit der Diagnose »frühkindlicher Autismus« waren bei der Diagnosestellung im Durchschnitt sechs Jahre alt, Kinder mit der späteren Diagnose »Asperger-Autismus« erhielten diese im Durchschnitt im Alter von neun Jahren. In Ländern wie England oder den USA wurden zu dieser Zeit Autismusdiagnosen schon ein bis zwei Jahre früher gestellt (Noterdaeme, 2010). Zur gleichen Zeit wurden z. B. in den USA und Israel spezielle Frühtherapieprogramme für autistische Kinder im Alter von ein bis drei Jahren entwickelt (z. B. MIFNE in Israel5, ESDM in den USA6). In den Autismuszentren in Deutschland tauchten damals Kinder in diesem Alter gar nicht oder nur äußerst selten auf.

Werden Eltern befragt, wann sie sich zum ersten Mal Sorgen um die Entwicklung ihrer Kinder gemacht haben, so geben diese an, dass dies schon sehr früh der Fall gewesen sei: Eltern von Kindern mit der Diagnose »frühkindlicher Autismus« (Kanner) haben sich in der Regel in den ersten beiden Lebensjahren Sorgen gemacht, Eltern von Kindern mit der späteren Diagnose »Asperger-Autismus« in knapp der Hälfte der Fälle bereits vor dem Alter von drei Jahren (Kamp-Becker, 2010). Viele Auffälligkeiten der Kleinkinder werden von Eltern und Kinderärzten jedoch zunächst körperlichen Krankheiten, dem kindlichen Temperament, Entwicklungsvarianten oder anderen Entwicklungsstörungen zugeordnet (Noterdaeme, 2011).

Trotz der besseren Ausgangslage in England hat eine im Zeitraum von 2004 bis 2014 durchgeführte Studie aufgezeigt, dass das Alter der Kinder, in dem die Diagnose gestellt wurde, innerhalb dieser 10 Jahre nicht gesunken ist. Auch bei den 2014 erfassten Kinder mit einer Autismusdiagnose lag der Prozentsatz der Kinder, bei denen diese Diagnose vor dem 3. Lebensjahr gestellt wurde fast unverändert bei nur knapp 12% (Brett et. al., 2016). Eine Diagnostikrate von 12% im Altersbereich von unter drei Jahren wäre in diesem Zeitraum für unsere deutschen Verhältnisse als sehr gut zu bezeichnen gewesen. Für englische Verhältnisse ist diese Quote – bzw. deren Nicht-Veränderung über die Jahre – insofern erstaunlich, als in diesem Zeitraum das Wissen um und die Aufmerksamkeit für das Phänomen Autismus ja enorm zugenommen und auch das Verständnis der frühen Entwicklung von Kindern mit Autismus beachtliche Fortschritte gemacht hat. Diese Erkenntnisse haben aber offensichtlich nicht Eingang in die Praxis des Gesundheitswesens gefunden und konnten sich nicht in der Verbesserung der Früherkennung niederschlagen. Das macht deutlich, dass der Prozess der Sensibilisierung und Wissensverbreitung Zeit und entsprechende Anstrengungen und Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen (Ausbildung von Ärzten und Diagnostikern, Entwicklung und Umsetzung von geeigneten Screeningverfahren im Gesundheitswesen) erfordert.

Im Rahmen einer aktuellen Evaluationsstudie zur Arbeit der Autismuszentren in Deutschland (Tröster & Lange, 2019) wurde auch das Alter der Klienten bei Diagnosestellung erhoben: Bei Kindern mit der Diagnose »frühkindlicher Autismus« lag diese im Durchschnitt bei 6 Jahren und 2 Monaten, beim Asperger-Syndrom bei 9 Jahren und 8 Monaten – also auch hier keine gravierenden Veränderung im Vergleich zu den Zahlen von vor knapp 10 Jahren.

In den Autismuszentren in Deutschland ist in den letzten Jahren auch dank der guten Zusammenarbeit mit Kinderärzten, Diagnostikstellen, Frühförderstellen und Kitas die Anzahl der Kinder, die im Vorschulalter vorgestellt werden, zwar erfreulich gestiegen, immer noch viel zu selten sind es aber Kinder im Altersbereich der Zwei bis Vierjährigen.

1.3       Erste Früherkennungszeichen

In den letzten 10 bis 15 Jahren ist das Interesse stark gewachsen, mehr über die Entwicklung autistischer Kinder im Baby- und Kleinkindalter zu erfahren und diese zu erforschen. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Anzahl der Autismusdiagnosen in diesem Zeitraum enorm zugenommen hat. Ging man im Jahr 2000 davon aus, dass ungefähr 1 Kind von 250 Kindern von Autismus betroffen ist, so wird heute international von einer Zahl von 1 von 100 Kindern ausgegangen.

Autismus ist also längst keine so seltene Diagnose mehr und es besteht heute Übereinstimmung darüber, dass sich die Früherkennung – und damit einhergehend eine autismusspezifische Förderung und Unterstützung für das Kind und die Familie – positiv auf die weitere Entwicklung der Kinder auswirkt.

In Studien zur frühen Entwicklung autistischer Kinder bestand lange Zeit die wichtigste Informationsquelle – neben Berichten von Eltern – in der Auswertung von Filmaufnahmen, welche die Eltern in den ersten Lebensjahren zu Hause von ihren später als autistisch diagnostizierten Kinder gemacht haben. Durch die systematische Auswertung von Informationen der Eltern und des Filmmaterials konnten wichtige Erkenntnisse über die frühe Entwicklung der Kinder gewonnen werden. Markante Besonderheiten (sog. »Red flags) in der sozialen Interaktion zeigten sich in diesen Analysen jedoch erst im zweiten Lebensjahr:

•  mangelndes Blickfolgeverhalten/Augenkontakt,

•  seltener freudige Gesichtsausdrücke mit Augenkontakt,

•  weniger Teilen von Freude/Interesse,

•  keine Reaktion auf Rufen des Namens,

•  mangelnde Koordination von Blick, Gesichtsausdruck, Geste und Sprache,

•  keine Zeigegesten,

•  ungewöhnliche Prosodie (Sprachmelodie),

•  repetitive Bewegungen/Haltungen von Körper, Armen, Händen, Fingern,

•  repetitive Handlungen mit Objekten.

•  (Wetherby et al, 2004)

Keine dieser Auffälligkeiten kann jedoch eine spätere Autismusdiagnose eindeutig und verlässlich vorhersagen.

Ziel jeder Früherkennung und Diagnostik ist jedoch, möglichst viele autistische Kinder zu erfassen und gleichzeitig die Zahl derer gering zu halten, die fälschlicherweise die Diagnose erhalten.

1.4       Neue Wege in der Forschung zur Früherkennung

In den USA und England wird seit einigen Jahren eine neue Forschungsstrategie verfolgt. Statt rückblickend Unterschiede in der Entwicklung autistischer Kinder zu identifizieren, wird versucht, »Risikokinder« schon früh zu erfassen und in ihrer Entwicklung systematisch zu beobachten. Als Risikokinder gelten z. B. Neugeborene, die ein älteres autistisches Geschwisterkind haben. Derzeit wird davon ausgegangen, dass Geschwisterkinder eine höhere Wahrscheinlichkeit (12%–20% Risiko) haben, ebenfalls eine Autismusdiagnose zu erhalten, als Kinder, die in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu einem autistischen Kind (1,2%–1,5% Risiko) stehen (Cheung, 2016, Sandin, 2014). Diese Geschwisterkinder werden von Geburt an über die ersten Lebensjahre in ihrer Entwicklung systematisch beobachtet und untersucht. Anhand der erhobenen Daten wird die Entwicklung der Kinder, die im weiteren Verlauf die Diagnose erhalten, mit der Entwicklung derjenigen Kinder verglichen, die später keine Diagnose im Autismus-Spektrum erhalten haben.

Anhand dieser Studien erhofft man sich Informationen darüber, in welchen Entwicklungsstadien autistische Kinder eine grundlegend andere Entwicklung nehmen als die nicht autistischen Kinder und welche Entwicklungsmerkmale oder Anzeichen eine autistische Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren zuverlässig voraussagen können und zur Früherkennung geeignet sind.

Insgesamt konnten bisher in diesen Studien erkennbare Unterschiede insbesondere im frühen Kommunikationsverhalten (z. B. Reaktion auf den Namen oder soziales Lächeln), Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitssteuerung und der motorischen Entwicklung gefunden werden. Diese waren jedoch oft erst um den ersten Geburtstag herum ausreichend auffällig. Für das erste Lebensjahr konnten bislang in wissenschaftlichen Studien immer noch keine konsistenten Unterschiede in der Entwicklung autistischer und nicht autistischer Kinder identifiziert werden, die eine eindeutige Unterscheidung ermöglichen. Nur in sehr wenigen Studien wird z. B. über eindeutig auffälliges Blickverhalten (z. B. Aufmerksamkeit auf Personen in Videos mit sozialem Aufforderungscharakter richten) oder Auffälligkeiten in der Vokalisation (z. B. weniger brabbeln) im ersten Lebensjahr der später als autistisch diagnostizierten Kinder berichtet.

Insgesamt beruhen die Ergebnisse dieser Studien bisher nur auf sehr kleinen Stichproben und die Bedeutung der dort gewonnenen Ergebnisse werden noch kontrovers diskutiert.

Auch wenn es bisher nicht möglich scheint, eine Diagnose vor dem ersten Lebensjahr zu stellen, gehen die Forschungsbemühungen dennoch dahingehend, verlässliche Früherkennungszeichen für das erste Lebensjahr zu finden (Charman, 2017).

1.5       Was macht Früherkennung so schwierig?

Die Entwicklungsvarianz von Kindern allgemein und auch die der autistischen Kinder im frühen Kleinkindalter ist sehr breit. Das macht es schwierig, Früherkennungsmerkmale zu finden, die autistische Kinder von nicht autistischen Kindern oder von Kindern mit anderen Entwicklungsproblemen oder Behinderungen im ersten Lebensjahr zuverlässig unterscheiden. Auch sind die Überlappungen zwischen den Gruppen oft sehr groß, sodass es schwierig ist, im Einzelfall eine Vorhersage darüber treffen zu können, ob ein spezielles Kind eine Autismusdiagnose erhalten wird. Wenn aus solchen Studien hervorgeht, dass z. B. 70% der später als autistisch diagnostizierten Kinder ein bestimmtes Verhaltensmerkmal aufweisen und dagegen nur 30% der Kinder, die später keine Autismusdiagnose erhalten, so ist das schon überzufällig. Für das einzelne Kind ist aber aufgrund dieses Merkmals keine eindeutige Zuweisung möglich. Es kann jedoch als Warnsignal dienen und eine weitere sorgfältige Beobachtung der Entwicklung des Kindes und erste Frühfördermaßnahmen einleiten.

Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass es kein alleiniges Verhaltens- oder Entwicklungsmerkmal geben wird, welches im frühen Alter für sich gesehen eine Autismus-Spektrum-Störung wird vorhersagen können. Vielmehr wird auch hier eine Kombination mehrerer Merkmale erforderlich sein, anhand derer eine autistische Entwicklung künftig zuverlässig diagnostiziert werden kann.

1.6       Einige Ergebnisse neuerer Studien für das erste Lebensjahr

An dieser Stelle sollen einige ausgewählte Ergebnisse aus der neueren Forschung mit Hochrisikokindern beschrieben werden. Teils weil sie überraschende Ergebnisse hervorgebracht haben, die Fragen aufwerfen oder als Beispiel für derzeit als relevant erachtete Fragestellungen und Forschungsbemühungen stehen.

1.6.1     Blickverhalten I: Soziale Orientierung

Eine Studie mit überraschendem Ergebnis wurde 2017 veröffentlicht. Diese hatte unter anderem folgendes Resultat: Später als autistische diagnostizierte Kinder zeigten im ersten Lebensjahr – allerdings unter Laborbedingungen – keine Auffälligkeiten im Blickverhalten. Vor die Wahl gestellt, haben diese Kinder, wie andere Kinder auch, bevorzugt ihren Blick auf soziale Reize (Gesichter) gerichtet, statt sich unbelebten Objekten zuzuwenden (Vernetti, 2017). Im Vergleich zu nicht autistischen Kindern zeigen sie die Vorliebe für menschliche Gesichter auch über eine längere Entwicklungsphase als nicht autistische Kinder. Ein zunächst überraschendes Ergebnis, da ein auffälliges Blickkontaktverhalten als ein doch wesentliches Merkmal bei autistischen Kindern gilt und man erwartet hatte, dass sie eine Präferenz für Objekte gegenüber Gesichtern auch in der Versuchssituation zeigen würden. Dass dies nicht der Fall war, macht deutlich, dass das Thema Blickverhalten autistischer Kinder einer differenzierten Betrachtung bedarf: Unter den oben beschriebenen Laborbedingungen konnten die Kinder zwischen Alternativen frei wählen, im Alltag begegnen Kinder dem menschlichen Gesicht in der Regel in Rahmen von komplexen sozialen Situationen mit deutlichem Aufforderungscharakter. Daher scheint es nicht verwunderlich, wenn unter diesen komplexen realen Bedingungen autistische Kinder anders als unter Laborbedingungen reagieren.

Die Diskussion um das Ergebnis dieser Studie zeigt noch eine andere Fragestellung auf: Wir dürfen nicht allein das Blickverhalten autistischer Kinder bewerten, sondern müssen die Frage stellen: Wie verarbeiten die Kinder das, was sie sehen, welche Bedeutung oder welchen Informationsgehalt hat das menschliche Gesicht für die autistischen Kinder im sozialen Kontext? Es passiert leider noch oft, dass bei Kindern ein Autismusverdacht nicht bestätigt oder eine bestehende Diagnose angezweifelt wird, wenn ein Kind Blickkontakt oder andere sozial relevante Verhaltensweisen zeigt. Es wird dann nicht hinterfragt, ob mit diesem Verhalten ein kommunikativer Signalcharakter bzw. eine kommunikative Absicht verbunden ist. Wir erleben in der Praxis, dass Blickkontakt bei autistischen Kindern nicht unbedingt im Rahmen sozialer Bezugnahme erfolgt, sondern vielfältige andere Funktionen erfüllen kann. Ein autistisches Kind kann z. B. auch gelernt haben, dass das Zeigen auf einen Gegenstand in der Interaktion mit anderen lohnend sein kann, ohne dass damit der innere Prozess der geteilten Aufmerksamkeit (gemeinsames Fokussieren, Interessen Teilen) stattfindet. Bei solchen Bewertungen allein auf der Verhaltensebene kann leicht übersehen werden, dass auch schon kleine (autistische) Kinder in der Lage sein können, sich Verhaltensweisen durch Imitation anzueignen, ohne die dahinterliegende komplexe soziale Bedeutung zu verstehen.

1.6.2     Blickverhalten II: Visuelle Wahrnehmung

Ein weiteres interessantes Ergebnis brachte eine Untersuchung zur visuellen Wahrnehmung (Cheung et al., 2016). Erwachsene autistische Menschen verfügen im Vergleich zu nicht autistischen Menschen über ausgeprägte Fähigkeiten zur Detailwahrnehmung. In der hier beschriebenen Studie von Cheung et al. wurde der Frage nachgegangen, ob diese Fähigkeiten schon im Kleinkindalter vorliegen. Den Kindern wurden Bilder gezeigt, in denen jeweils 8 Buchstaben in Kreisanordnung angebracht waren, wobei jeweils 1 Buchstabe von den anderen abwich. Tatsächlich zeigte sich, dass Kinder, die später eine eindeutige Autismusdiagnose erhalten haben schon im Alter von neun Monaten im Vergleich zu den anderen Kindern auffällig häufiger den abweichenden Buchstaben beachten. Diese Tendenz zeigte sich nicht bei Kindern, deren spätere Entwicklungsabweichung nicht den vollständigen Kriterien einer ASS entsprachen. Erst im Alter von 2 Jahren scheinen die nicht autistischen Kinder ein ähnliches Interesse an Details entwickelt zu haben.

Dieses Ergebnis könnte nicht nur im Hinblick auf eine frühe Diagnose von Bedeutung sein. Abweichungen in der Wahrnehmung autistischer Menschen stehen seit Jahren im Fokus von Betroffenen, der Forschung und der klinischen Praxis. Dabei geht es zunehmend darum, Besonderheiten in der autistischen Wahrnehmung als Stärken zu sehen, anzuerkennen und in der beruflichen Praxis zu nutzen. Kenntnisse über Wahrnehmungsbesonderheiten autistischer Menschen schon im Kleinkindalter könnten auch in eine ressourcen- und stärkenorientierte Frühintervention einfließen.

1.6.3     Das andere Gehirn

Die bisher beschriebenen Forschungen zur Früherkennung beruhen auf Verhaltensmerkmalen der Kinder. Im Gegensatz dazu wird über Untersuchungen des Gehirns (MRT, EEG) versucht, frühe körperliche Abweichung in der Gehirnentwicklung zu identifizieren. In der aktuellen Ursachentheorie geht man davon aus, dass dem Autismus eine andere (neuronale) Gehirnentwicklung zugrunde liegt, die schon in der frühen pränatalen Entwicklung angelegt ist (image Kap. 6.3). Die aktuelle Forschung beschäftigt sich nun damit, ob und welche Unterschiede in der (neuronalen) Gehirnentwicklung autistischer Menschen im Vergleich zu nicht autistischen (»neurotypischen«) Menschen schon früh erfasst werden können. Derzeit finden Untersuchungen mittels Messung der Hirnaktivität, EEG, MRT oder sog. Eye-Tracking statt.

Auch hier steht die Forschung noch in den Anfängen. Einzelne Studien ergaben Hinweise darauf, dass schon bei kleinen autistischen Kindern

•  das Hirnwachstum vergrößert,

•  die neuronale Erregbarkeit (bei sozialen Stimuli werden andere Hirnareale aktiviert) verschieden,

•  die Konnektivität (Vernetzung von Hirnarealen) verändert

sein kann.

Für einen routinemäßigen Einsatz zur Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung reichen die Erkenntnisse jedoch noch nicht aus. Auch ist die Art der Diagnostik sehr aufwändig und kann für die Kinder stressbeladen sein, sodass sie auch aus diesem Grund derzeit kaum für eine regelhafte Autismusdiagnostik geeignet scheint.

1.7       Warum ist Früherkennung so wichtig?

Heute besteht Übereinstimmung darin, dass sich eine frühe Diagnose und damit einhergehend eine frühe Förderung günstig auf die Entwicklungsprognose autistischer Kinder auswirkt. In den nächsten Jahren ist eine Anstrengung dahingehend zu erwarten, Indikatoren zu finden, die eine spätere autistische Entwicklung zu einem sehr frühen Zeitpunkt vorhersagen können. Studien zur frühen Entwicklung autistischer Kinder können darüber hinaus zu einem besseren Verständnis von Entwicklungsverläufen führen und uns Hinweise über geeignete Ziele geben und zur Verbesserung von Frühinterventionen beitragen. Ziel sollte dabei immer sein, die Lebensqualität von Kindern mit Autismus und ihrer Familien zu verbessern.

Wir gehen heute davon aus, dass autistische Kinder schon von Geburt an mit einer anderen Wahrnehmung ausgestattet sind und anders auf Signale ihrer Umgebung reagieren als nicht autistische Kinder. Von erwachsenen autistischen Menschen wissen wir, dass ihre Wahrnehmung anders organisiert ist. Sie haben beispielsweise andere Aspekte ihrer Umgebung im Fokus als nicht autistische Menschen, sie nehmen z. B. Details mehr im Vordergrund wahr (s. o. Untersuchung zur visuellen Wahrnehmung) oder verarbeiten Informationen aus der Umwelt anders. Viele autistische Menschen berichten darüber hinaus über Über- und Unterempfindlichkeiten gegenüber sensorischen Reizen und/oder dass sie Reize aus der Umgebung nur schwer filtern oder ausblenden können. So kommt es fast permanent zu Reizüberflutungen und Überforderungen, Erfahrungen, die mit starken Angstgefühlen einhergehen (image Kap. 18.6) und denen das kleine Kind mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten reagiert: sich abwenden, Rückzug, Sicherheit und positive Gefühle in Stereotypien und Ritualen suchen, Schreien sind nur einige davon. Und Eltern – insbesondere dann, wenn sie keine Erklärung für das Verhalten des Kindes haben – reagieren ihrerseits häufig mit Schuldgefühlen, Hilflosigkeit, Resignation und Verzweiflung. Nicht selten kommen ungünstige Kreisläufe in Gang (image Kap. 25).

Eine frühe Diagnose kann dazu beitragen, dass wir (die Eltern, Therapeuten, Pädagogen) diesen Kindern ein geeignetes Umfeld zur Verfügung stellen in dem sie sich gut entwickeln können (z. B. Vermeidung von permanenter Über- oder Unterforderung, Berücksichtigung von Ressourcen). Wir könnten schon früh Eltern darin unterstützen, eine sichere Bindung mit ihrem Kind herzustellen (image Kap. 8). In vielen Fällen ist es möglich, sekundäre Folgen wie z. B. Verhaltens- und emotionale Probleme weitgehend zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren (image Kap. 25). Auch wenn davon auszugehen ist, dass Autismus auch bei einer frühen Förderung nicht geheilt werden kann, ist es unsere Erfahrung, dass wir Entwicklungsverläufe günstig beeinflussen, die Folgen des Autismus mildern und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben langfristig positiv unterstützen können.

Im Zusammenhang mit den oben erwähnten Hochrisikostudien gab es auch schon erste kleine Interventionsstudien: Ein Teil der Eltern mit einem autistischen Kind bekamen bei Geburt eines Geschwisterkindes ab dem 9. Lebensmonat über 5 Monate lang eine videogestützte Interaktionsberatung für das Geschwisterkind. Ziel war, die Eltern darin zu unterstützen, die dyadische Interaktion mit ihrem (Risiko-)Kind synchron zu gestalten, d. h., in zeitlich abgestimmter und rhythmisch passender Weise auf die Signale ihres Kindes zu reagieren. Im Vergleich zu Eltern, die eine solche Unterstützung nicht bekamen, ist diesen Eltern die Synchronisierung besser gelungen und es konnten positive Effekte auf das Interaktionsverhalten der Kinder gefunden werden. Die Kinder waren insgesamt aktiver (in der Interaktion) und initiierten von sich aus mehr soziale Interaktionen. Auch zeigte sich ein positiver Einfluss auf den Verlauf der autistischen Symptomatik, wenn das Kind später mit Autismus diagnostiziert wurde. Diese positive Tendenz zeigte sich bei den Kindern noch im Alter von 3 Jahren, also auch gut 1½ Jahre nach Beendigung der Interaktionsberatung (Green, 2016).

Auch hier steht die Forschung noch in ihren Anfängen und solche Ergebnisse müssen in weiteren Studien geprüft werden. Sie unterstützen jedoch z. B. schon frühere Studien von Sigman et. al, in denen positive Langzeiteffekte von früher synchroner Interaktion der Eltern mit ihrem autistischen Kind und Sprachfähigkeiten der Kinder im Alter von 12 Jahren aufgezeigt werden konnten (Mundy, P., Sigman, M. & Kasari, C., 1990).

Aus Sicht der Autorin sind solche Studien auch relevant, weil sie deutliche Hinweise darauf geben, dass entwicklungspsychologisch längst anerkannte relevante Zusammenhänge (hier: Bedeutung der Synchronizität in der frühen Eltern-Kind-Interaktion) auch für autistische Kinder gelten und deren Relevanz gerade in der Frühtherapie daher nicht unterschätzt werden darf (Döringer, 2017) (image Kap. 21, 22, 23). Die aktive Teilnahme von Kindern an sozialen Interaktionsprozessen ist eine notwendige Voraussetzung für eine regelgerechte sozial-kommunikative und neurobiologische Entwicklung und hat Einfluss auf die sozial-kognitive Entwicklung im späteren Lebensalter der Kinder (Mundy, 2005)

1.8       Aktuelle Empfehlungen zur Früherkennung: S3-Leitlinien7

2016 wurden von der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) in Deutschland neue Leitlinien zur Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störung herausgegeben (Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik). Federführend war die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) unter Leitung von Frau Prof. Dr. Freitag und Prof. Dr. Kai Vogeley. Mehrere Fachgesellschaften waren einbezogen (u. a. autismus deutschland e. V., aspies e. V., Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum-Störung). Ziel dieser Leitlinien ist in erster Linie, Handreichungen bzw. Empfehlungen zur Diagnostik bereitzustellen, die weitgehend evidenzbasiert sind bzw. auf breitem Konsens der am Prozess beteiligten Fachverbände basiert, dort wo noch keine evidenzbasierten Erkenntnisse vorliegen. Bestehende englischsprachige Leitlinien (NICE England, SIGN Schottland) wurden einbezogen.

1.8.1     Autismus nach ICD und Autismus-Spektrum-Störung: Begriffsklärung

Autismus wurde in der Vergangenheit in den Klassifikationssystemen für (psychische) Erkrankungen (ICD-10, DSM-4) unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen eingeordnet. Dabei wurden drei Formen von Autismus unterschieden:

•  der frühkindliche Autismus/autistische Störung/Kannerautismus,

•  das Asperger-Sydrom

•  der atypische Autismus (nur ICD-10)

Diese Unterscheidung geht auf die Erstbeschreibungen des Autismus durch Leo Kanner (USA) und Hans Asperger (Österreich)8